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Dean Koontz - Jane Hawk ermittelt (3in1)

SUIZID

Der rätselhafte Selbstmord ihres Mannes ist nur der Anfang eines ungeahnten Albtraumes: Auf der Suche nach einer Erklärung für seinen Tod entdeckt FBI-Agentin Jane Hawk einen landesweiten Anstieg unerklärlicher Suizide. Als sie der Spur weiterfolgt, erhält sie eine unmissverständliche Warnung: Ein Unbekannter dringt in ihr Haus ein und bedroht ihren Sohn. Jemand Mächtiges scheint dahinterzustecken. Da Jane nicht mehr weiß, wem sie trauen kann, geht sie in den Untergrund. Getrieben von dem Willen, ihre Familie zu schützen und den Tod ihres Mannes zu rächen, macht sie die Jäger nun zu Gejagten.

GEHETZT

Die allseits beliebte Lehrerin Cora Gundersun beendet ihr Leben und das vieler Unschuldiger in einem riesigen Feuerball. Als später nach Hinweisen für ihre Tat gesucht wird, findet man ein Tagebuch, das nur den Schluss zulässt, dass die Täterin geisteskrank war.
Jane Hawk weiß es besser - hat sich ihr Mann doch ebenfalls aus heiterem Himmel das Leben genommen. Auf ihrer Suche nach Antworten hat sie eine Verschwörung bis in höchste Regierungskreise entdeckt - und jagt nun deren Hintermänner. Mittlerweile ist die FBI-Agentin die meistgesuchte Person der USA. Doch ihre mächtigen Gegner haben nicht damit gerechnet, dass Jane bereit ist, alles zu riskieren, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.

GEFÜRCHTET

Als Ex-FBI-Agentin Jane Hawk im Tod ihres Mannes ermittelte, stieß sie auf eine Verschwörung von höchstem Ausmaß: Eine elitäre Gruppe, die Arkadier, haben sich vorgenommen, die USA nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Dazu nutzen sie Nano-Kontrollmechanismen, die ihrem Opfer den freien Willen rauben. Die sogenannten »Angepassten« führen aus, was ihnen gesagt wird - und wenn es der eigene Selbstmord ist.
Immer mehr Arkadier fürchten die Enttarnung durch Jane. Je höher sie in deren Ränge vorstößt, desto gefährlicher wird es für sie - und ihren fünfjährigen Sohn Travis.


  • Erscheinungstag: 23.03.2020
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 1568
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749950270
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Dean Koontz

Dean Koontz - Jane Hawk ermittelt (3in1)

HarperCollins®

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Copyright © 2017 by HarperCollins
in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:
The Silent Corner
Copyright © 2017 by Dean Koontz
erschienen bei: Bantam Books, New York

Leseprobe:
Copyright © 2017 by Dean Koontz
Originaltitel: »The Whispering Room«
Erschienen bei: Bantam Books, New York

Published by arrangement with
Penguin Random House LLC, New York

Covergestaltung: Cornelia Niere
Coverabbildung: ber1a / Shutterstock
Redaktion: Tobias Schumacher-Hernández
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783959677486

www.harpercollins.de

Für Gerda. Du rockst mich.

Die großen zivilisatorischen Fortschritte … zerstören fast die Gesellschaften, in denen sie sich ereignen.

ALFRED NORTH WHITEHEAD

Ich blicke in dieses ganze Wespennest oder einen Bienenstock hinab … und werde Zeuge, wie sie mit Wachs bauen und Honig machen und Gift brauen und an Schwefel ersticken.

THOMAS CARLYLE, Sartor Resartus

Der stille Winkel: Leute, die tatsächlich vom Radar verschwunden und durch keine Technologie aufzuspüren sind, sich aber trotzdem ungehindert bewegen und das Internet nutzen können, halten sich im »stillen Winkel« auf.

TEIL EINS

ROCK MICH

EINS

Jane Hawk wachte in der kühlen Dunkelheit auf und konnte sich im ersten Augenblick nicht erinnern, wo sie eingeschlafen war, sondern wusste nur, dass sie wie immer in einem breiten französischen Bett lag – mit ihrer Pistole unter dem Kissen, auf dem der Kopf eines Gefährten geruht hätte, wenn sie nicht allein unterwegs gewesen wäre. Das Brummen von Dieselmotoren und die Geräusche von Lkw-Reifen auf Asphalt erinnerten sie daran, dass dies ein Motel in der Nähe der Interstate und dass es … Montag war.

Mit Leuchtziffern in sanftem Grün verkündete der Radiowecker die schlechte, aber nicht ungewohnte Nachricht, dass es 04:15 Uhr war: zu früh, als dass sie ihre acht Stunden Schlaf bekommen hätte; zu spät, um noch mal einschlafen zu können.

Sie blieb eine Zeit lang liegen und dachte darüber nach, was sie verloren hatte. Sie hatte sich vorgenommen, in Gedanken nicht länger in der bitteren Vergangenheit zu verweilen. Damit beschäftigte sie sich jetzt weniger als früher, was als Fortschritt hätte gelten können, wenn sie nicht in letzter Zeit angefangen hätte, sich auszumalen, was noch alles verloren gehen konnte.

Jane nahm frische Kleidung und ihre Pistole mit ins Bad. Sie schloss die Tür und klemmte den Stuhl, den sie am Vorabend nach dem Einchecken aus dem Zimmer mitgenommen hatte, unter die Klinke.

Das Zimmermädchen hatte so schlampig geputzt, dass in der Ecke über dem Waschbecken ein radförmiges Spinnennetz hing, das größer war als ihre Hand. Als sie gegen 23 Uhr ins Bett gegangen war, hatte in dem Netz nur ein kleiner Nachtfalter gezappelt. Im Verlauf der Nacht war er mit durchsichtigem Körper und mattgrauen, brüchig wirkenden Flügeln zur leeren Hülse eines Falters geworden. Die fette Spinne beobachtete jetzt zwei gefangene Silberfische: spärlichere Kost, auch wenn es nicht lange dauern konnte, bis ein weiterer Leckerbissen in ihre Falle aus klebrigen Fäden geriet.

Das Licht einer Natriumdampflampe ließ die Milchglasscheibe des kleinen Fensters im Bad golden aufleuchten. Es war so winzig, dass nicht mal ein Kind hätte hindurchklettern können. Andererseits hätte es ihr wegen seiner geringen Abmessungen auch nicht als Fluchtweg im Notfall dienen können.

Jane legte ihre Pistole auf den Toilettendeckel und ließ den Plastikvorhang offen, während sie duschte. Das Wasser war heißer, als sie in einem Zweisternemotel erwartet hätte; es lockerte ihre verkrampften Muskeln und steifen Gelenke, aber sie konnte nicht so lange unter der Dusche bleiben, wie sie sich gewünscht hätte.

ZWEI

Ihr Schulterholster bestand aus dem eigentlichen Halfter mit beweglichen Verbindungsstücken, einer Halterung fürs Reservemagazin und verstellbaren Riemen aus Wildleder. So hing die Waffe dicht unter ihrem linken Arm: eine Position, in der sie unter ihren maßgeschneiderten Blazern praktisch unsichtbar war.

Außer dem Reservemagazin am Schulterholster hatte sie zwei weitere Magazine in den Jackentaschen – mit dem in der Waffe steckenden Magazin insgesamt vierzig Schuss.

Allerdings konnte der Tag kommen, an dem vierzig nicht genug waren. Es gab keine Verstärkung, kein Team, das für den Fall, dass alles schiefging, in einem Van hinter der nächsten Straßenecke wartete. Diese Zeiten waren vorerst, wenn nicht sogar endgültig vorbei. Sie konnte sich nicht für einen endlos langen Kampf bewaffnen. Reichten vierzig Schuss nicht aus, würden auch achtzig oder achthundert nicht genügen. Was ihre Fähigkeiten oder ihr Durchhaltevermögen betraf, gab sie sich keinen Illusionen hin.

Sie trug ihre beiden Koffer zu dem Ford Escape hinaus, öffnete die Heckklappe, stellte das Gepäck hinein und sperrte den Wagen ab.

Auf der noch nicht aufgegangenen Sonne musste es einige Eruptionen gegeben haben. Der helle, silbern glänzende Mond im Westen reflektierte so viel Licht, dass seine Krater keine Schatten warfen. Er sah nicht wie ein fester Himmelskörper aus, sondern schien ein Loch im Nachthimmel zu sein, durch das reinweißes, fast bedrohlich wirkendes Licht aus einem anderen Universum einfiel.

Am Empfang gab sie den Zimmerschlüssel zurück. Der Kerl hinter der Theke – kahl rasierter Schädel, Kinnbart – fragte fast so, als interessiere ihn das wirklich, ob alles zu ihrer Zufriedenheit gewesen sei. Sie hätte beinahe Ich schätze, wegen all der Käfer sind viele Ihrer Gäste vermutlich Insektenforscher gesagt. Aber sie wollte nicht, dass er mehr von ihr in Erinnerung behielt als die Vorstellung, sie nackt zu sehen. Sie sagte: »Yeah, bestens«, und ging hinaus.

Beim Einchecken hatte sie das Zimmer bar bezahlt und sich mit einem ihrer gefälschten Führerscheine ausgewiesen. Diesem Ausweis nach hatte soeben Lucy Aimes aus Sacramento das Motel verlassen.

Im Vorfrühling ausgeschlüpfte geflügelte Insekten klickten in den konischen Reflektoren der Deckenlampen der überdachten Passage, und ihre übersteigert spinnenbeinigen Schatten zappelten auf den hell angestrahlten Betonplatten.

Auf ihrem Weg zu dem Diner nebenan, der zu dem Motel gehörte, nahm sie die Überwachungskameras wahr, sah aber nicht hin. Solchen Überwachungen konnte niemand mehr entgehen.

Die einzigen Kameras, die ihr gefährlich werden konnten, waren die auf Flughäfen, Bahnhöfen und an sonstigen Brennpunkten, die mit Computern verbunden waren, auf denen in Echtzeit hochmoderne Software zur Gesichtserkennung lief. Fliegen konnte sie deshalb nicht mehr. Sie fuhr mit dem Auto überallhin.

Als dies alles begonnen hatte, trug sie ihr naturblondes Haar lang. Jetzt war sie eine kurzhaarige Brünette. Veränderungen dieser Art konnten jedoch nicht verhindern, dass man erkannt wurde, wenn nach einem gefahndet wurde. Wenn sie sich nicht fingerdick mit Make-up zuspachteln wollte, was ebenfalls unerwünschte Aufmerksamkeit erregen würde, konnte sie nicht viel tun, um ihre individuellen Gesichtszüge so zu verändern, dass die automatische Gesichtserkennung nicht mehr funktionierte.

DREI

Ein Käseomelett aus drei Eiern, eine doppelte Portion Bacon, Würstchen, zusätzliche Butter zum Toast, keine Bratkartoffeln, Kaffee statt Orangensaft. Sie lebte von Proteinen, aber zu viele Kohlenhydrate bewirkten, dass sie sich körperlich und geistig träge fühlte.

Die Bedienung kam, um ihr Kaffee nachzuschenken. Sie war ungefähr dreißig, auf verwelkende Weise hübsch, zu blass und zu mager, als zehre und bleiche das Leben sie von Tag zu Tag mehr aus. »Haben Sie von Philadelphia gehört?«

»Was denn?«

»Irgendwelche Verrückten haben einen Privatjet auf einen vierspurigen Expressway während der Rushhour abstürzen lassen. Im Fernsehen heißt’s, die Maschine war vollgetankt. Der Highway brennt fast eine Meile weit, eine Brücke ist eingestürzt, Menschen sind in brennenden Autos und Lastwagen eingeschlossen. Grauenvoll. Wir haben in der Küche einen Fernseher. Kaum auszuhalten. Sie sagen, dass sie’s für Gott tun, aber sie haben den Teufel im Leib. Was sollen wir bloß gegen sie unternehmen?«

»Keine Ahnung«, sagte Jane.

»Ich glaube nicht, dass das irgendjemand weiß.«

»Das denke ich auch.«

Die Bedienung ging in die Küche zurück, und Jane aß ihr Frühstück auf. Ließ man sich von den Nachrichten den Appetit verderben, konnte man bald gar nicht mehr essen.

VIER

Der schwarze Ford Escape schien die Detroiter Standardausführung zu sein, aber er hatte einige Überraschungen unter der Motorhaube und konnte jeden Streifenwagen mit der Aufschrift DIENEN UND BESCHÜTZEN abhängen.

Den Escape hatte Jane vor zwei Wochen in Nogales, Arizona, direkt gegenüber von Nogales, Mexiko, gegen Barzahlung gekauft. Das in den USA gestohlene Fahrzeug hatte in Mexiko eine neue Fahrgestellnummer und mehr Pferdestärken bekommen und war zum Verkauf in die Staaten zurückgebracht worden. Die Ausstellungsräume des Händlers bestanden aus mehreren Scheunen einer ehemaligen Ranch; er machte keine Werbung, stellte keine Rechnungen aus und zahlte auch keine Steuern. Auf Wunsch lieferte er kanadische Kennzeichen und garantiert echte Papiere der Zulassungsstelle von British Columbia.

Als der Tag anbrach, war sie noch immer in Arizona, raste auf der Interstate 8 nach Westen. Die Nacht wich zögernd dem Tag. Als die Sonne hinter dem Ford langsam über den Horizont aufstieg, wurden die hohen Zirruswolken vor ihr rosa, bevor sie sich korallenrot verfärbten, während der Himmel allmählich immer intensiver blau wurde.

Manchmal hörte sie auf langen Autofahrten gern Musik: Bach, Beethoven, Brahms, Mozart, Chopin, Liszt. An diesem Morgen zog sie Stille vor. In ihrer gegenwärtigen Stimmung hätte selbst die beste Musik misstönend geklungen.

Vierzig Meilen nach dem Sonnenaufgang überquerte Jane die südliche Staatsgrenze Kaliforniens. In der folgenden Stunde verdichteten sich die weißen Schleierwolken, sanken ab und bildeten dann eine geschlossene graue Wolkendecke. Wieder eine Stunde später waren die Wolken düster, dunkelgrau, bedrohlich geworden.

Kurz vor dem Westrand des Cleveland National Forest verließ sie die Interstate bei der Kleinstadt Alpine, in der General Gordon Lambert mit seiner Frau gewohnt hatte. Am Vorabend hatte Jane eine ihrer alten, aber noch immer nützlichen Landkarten konsultiert. Sie wusste, dass sie imstande sein würde, das Haus zu finden.

Bei der Modifizierung des Ford Escape in Mexiko war auch das Navigationssystem ausgebaut worden – einschließlich des Transponders, der sonst eine ständige Satellitenortung des Fahrzeugs ermöglicht hätte. Es hatte keinen Zweck, vom Radar zu verschwinden, wenn der Wagen, den man fuhr, ständig über Wi-Fi seine Position meldete.

Obwohl Regen so natürlich war wie Sonnenschein, obwohl die Natur absichtslos funktionierte, erschien Jane der aufziehende Sturm bedrohlich. In letzter Zeit war ihre Liebe zur Natur mehrfach durch den vielleicht irrationalen, aber tief sitzenden Verdacht auf die Probe gestellt worden, Mutter Natur arbeite bei bösen und destruktiven Unternehmen mit der Menschheit zusammen.

FÜNF

Alpine hatte vierzehntausend Einwohner, von denen ein gewisser Prozentsatz an die Macht des Schicksals glaubte. Weniger als dreihundert von ihnen gehörten dem Stamm Viejas der Kumeyaay-Indianer an, die das Viejas-Spielkasino betrieben. Jane hatte kein Interesse an Glücksspiel. Jede Minute ihres Lebens glich einem Würfelspiel, und damit war ihr Bedarf reichlich gedeckt.

Das mit Pinien und Lebenseichen bestandene Geschäftsviertel von Alpine hatte den malerischen Charme einer Siedlung im Grenzland. Manche Gebäude stammten tatsächlich aus der Zeit des Wilden Westens, aber andere, neuere Bauten imitierten diesen Stil mit unterschiedlichem Erfolg. Die vielen Antiquitätengeschäfte, Galerien, Souvenirläden und Restaurants ließen auf einen saisonunabhängigen Tourismus schließen, der älter als das Spielkasino war.

San Diego, die achtgrößte Stadt der USA, war keine dreißig Meilen entfernt und lag gut fünfhundert Meter tiefer. Überall, wo mindestens eine Million Menschen dicht gedrängt lebten, musste an jedem beliebigen Tag ein beachtlicher Prozentsatz das Bedürfnis haben, aus dem Bienenstock an einen weniger geschäftigen Ort zu flüchten.

Am Ortsrand von Alpine stand auf etwa tausend Quadratmetern Grund das weiße Holzhaus der Lamberts mit seinen schwarzen Jalousien von einem Lattenzaun umgeben und mit Korbstühlen auf der Veranda. An einem Fahnenmast in der Nordostecke des Grundstücks waren die Stars and Stripes gehisst, deren rot-weiße Streifen träge in der Brise flatterten, während das Feld mit den fünfzig Sternen sich klar sichtbar von den düster dräuenden Wolken abhob.

Weil die Geschwindigkeit hier auf fünfundzwanzig Meilen begrenzt war, konnte sie langsam daran vorbeirollen, ohne den Anschein zu erwecken, sich auffällig für das Haus zu interessieren. Sie konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Aber wenn sie vermuteten, Jane könnte herkommen, weil ein gemeinsames Schicksal sie mit Gwyneth Lambert verband, würden sie fast bis zur Unsichtbarkeit vorsichtig sein.

Sie kam an vier weiteren Villen vorbei, bevor die schmale Straße als Sackgasse endete. Dort wendete sie und parkte den Escape so, dass sie schnell losfahren konnte.

Die fünf Häuser standen auf einem Hügelrücken mit Blick auf den El-Capitan-See. Jane folgte einem leicht abfallenden Fußweg durch lichten Baumbestand und über eine mit jungem Gras bestandene freie Fläche, die im Hochsommer weizengelb leuchten würde. Am Ufer ging sie nach Süden weiter und blickte über den See hinaus, der friedlich und aufgewühlt zugleich wirkte, weil die dräuenden Wolken sich in seinem Wasser spiegelten. Zwischendurch achtete sie auch auf die Häuser links von sich und sah zu ihnen auf, als bewundere sie jedes einzelne. Ihre Zäune ließen erkennen, dass die Grundstücke knapp unterhalb des Hügelrückens endeten. Nur der weiße Lattenzaun der Lamberts setzte sich zum See hinunter fort.

Sie ging an zwei weiteren Villen vorbei, bevor sie umkehrte und den Hang zu dem weißen Holzhaus hinaufstieg. Die Hintertür im Gartenzaun öffnete sich, als Jane die Klinke herabdrückte.

Sie schloss die Tür hinter sich und sah zu den Fenstern auf, die mit hochgezogenen Jalousien und geöffneten Vorhängen anscheinend möglichst viel von dem grauen Tageslicht einlassen sollten. Sie konnte niemanden erkennen, der über den See hinausblickte oder sie zu beobachten schien.

Umkehren kam nicht mehr infrage, also ging sie den Zaun entlang zur Vorderseite des Hauses. Während die Wolken noch tiefer herabsanken und die Flagge in einer Brise rauschte, die schwach nach dem bevorstehenden Regen oder dem Wasser des Sees roch, stieg sie die Stufen zur Veranda hinauf und klingelte an der Haustür.

Im nächsten Augenblick öffnete ihr eine schlanke, attraktive Frau, die Jane auf Mitte fünfzig schätzte. Zu Jeans trug sie einen Pullover und eine mit Erdbeeren bestickte knielange weiße Schürze.

»Mrs. Lambert?«, fragte Jane.

»Ja?«

»Uns verbindet etwas, worauf ich hoffentlich zurückgreifen kann.«

Gwyneth Lambert zog leicht die Augenbrauen hoch, lächelte schwach.

Jane sagte: »Wir haben beide einen Marine geheiratet.«

»Das verbindet uns allerdings. Was kann ich für Sie tun?«

»Wir sind beide verwitwet. Und ich glaube, dass dieselben Leute die Schuld daran tragen.«

SECHS

In der Küche roch es nach Orangen. Gwyn Lambert war mit solcher Energie dabei, große Mengen von Orangen-Schokolade-Muffins zu backen, dass man zwangsläufig vermuten konnte, auf diese Weise wehre sie die Trauer ab, die sie nicht an sich heranlassen wollte.

Auf den Arbeitsflächen standen neun Backbleche mit jeweils einem halben Dutzend abgekühlter Muffins, die in Frischhaltefolie darauf warteten, an Freunde und Nachbarn verteilt zu werden. Ein zehntes Blech mit noch warmen Muffins stand auf dem Tisch in der Essnische, während im Backofen sechs weitere Muffins perfekt aufgingen.

Gwyn gehörte zu den imponierenden Meisterköchinnen, die kulinarische Wunder ohne sichtbare Nachwirkungen produzieren. Keine Schüsseln mit Teigresten oder sonstiges Geschirr im Ausguss. Keine Mehlspuren auf den Arbeitsflächen. Keine Krümel auf dem Fußboden.

Jane lehnte einen Muffin dankend ab, nahm aber gern einen starken schwarzen Kaffee. Dann saßen ihre Gastgeberin und sie sich am Küchentisch gegenüber, während aus ihren Bechern träge aromatischer Dampf aufstieg.

»Habe ich richtig verstanden, dass Ihr Nick Lieutenant Colonel war?«, fragte Gwyn.

Jane hatte ihren echten Namen genannt. Das Band zwischen Gwyn und ihr garantierte, dass ihr Besuch geheim blieb. Wenn sie unter diesen Umständen einer Frau, die mit einem Marine verheiratet gewesen war, nicht trauen konnte, durfte sie niemandem trauen.

»Colonel«, stellte Jane richtig. »Er hat den Silver Eagle getragen.«

»Mit zweiunddreißig? Dann waren die Sterne schon zum Greifen nahe.«

Gordon Lambert, Gwyns Ehemann, war Lieutenant General gewesen: drei Sterne, nur einen Dienstgrad unter den ranghöchsten Offizieren des Marine Corps.

Jane sagte: »Nick hatte das Navy Cross, die DDS und eine ganze Brust voll weiterer Orden.« Das Navy Cross rangierte nur eine Stufe unter der Medal of Honor. Nick, der übermäßig bescheiden war, hatte nie über seine Auszeichnungen gesprochen, aber Jane hatte manchmal das Bedürfnis, ein bisschen mit ihm anzugeben, um sich zu vergewissern, dass er gelebt und durch seine Existenz die Welt sicherer gemacht hatte. »Ich habe ihn vor vier Monaten verloren. Wir waren sechs Jahre verheiratet.«

»Schätzchen«, sagte Gwyn, »da müssen Sie blutjung geheiratet haben.«

»Keineswegs. Mit einundzwanzig. Wir haben eine Woche nach meiner Versetzung aus Quantico ins Bureau geheiratet.«

Gwyn wirkte überrascht. »Sie sind beim FBI?«

»Falls ich jemals wieder zurückgehe. Im Augenblick bin ich beurlaubt. Wir haben uns kennengelernt, als Nick zum Combat Development Command in Quantico abkommandiert war. Er hat sich nicht um mich bemüht. Ich musste um ihn werben. Bei mir war’s Liebe auf den ersten Blick, und ich kann verdammt stur sein, wenn ich etwas haben will.« Sie war überrascht, als ihr Herz sich verkrampfte und ihre Stimme stockte. »Diese vier Monate kommen mir manchmal wie vier Jahre vor … und dann wieder wie vier Stunden.« Sie bedauerte ihre Gedankenlosigkeit sofort. »Verdammt, das tut mir leid. Ihr Verlust ist frischer als meiner.«

Gwyn winkte ab, obwohl sie Tränen in den Augen hatte. »Ein Jahr nach unserer Hochzeit – das war 1983 – war Gordie in Beirut, als Terroristen einen Anschlag auf die Kaserne der Marines verübt haben, bei dem es zweihundertzwanzig Tote gegeben hat. Er war so oft an irgendwelchen Brennpunkten, dass ich ihn mir tausendmal tot vorgestellt habe. Ich dachte, das würde mich auf den Tag vorbereiten, an dem jemand bei mir anklopfen würde, um mir mitzuteilen, Gordie sei im Einsatz gefallen. Aber ich war nicht darauf vorbereitet, wie … wie’s dann passiert ist.«

Medienberichten nach war Gordon Lambert an einem Samstagmorgen vor gut zwei Wochen, während seine Frau im Supermarkt war, an den See hinuntergegangen. Mitgenommen hatte er eine Pumpgun mit kurzem Lauf. Er hatte sich ins Gras gesetzt mit dem Rücken zum Ufer. Wegen des kurzen Laufs hatte er den Abzug der Schrotflinte mühelos erreichen können. Bei Gwyns Rückkehr hatten sich auf der Straße Streifenwagen gedrängt, die Haustür hatte offen gestanden, und ihr Leben war für immer verändert gewesen.

Jane sagte: »Darf ich Sie etwas fragen?«

»Ich leide, aber ich bin nicht gebrochen. Nur zu!«

»Könnte es sein, dass er nicht allein an den See gegangen ist?«

»Nein, garantiert nicht. Eine Nachbarin hat ihn gesehen. Er hat etwas getragen, was sie leider nicht als Schrotflinte erkannt hat.«

»Diese Leute auf dem Wasser, die Augenzeugen waren … steht fest, dass sie nichts damit zu tun hatten?«

Gwyn wirkte verständnislos. »Wie meinen Sie das?«

»Vielleicht wollte Ihr Mann sich mit jemandem treffen. Vielleicht hat er die Waffe zu seinem Schutz mitgenommen.«

»Und ist ermordet worden? Ausgeschlossen! In der Nähe waren vier Boote unterwegs. Mindestens ein halbes Dutzend Leute haben alles gesehen.«

Die nächste Frage widerstrebte Jane besonders, weil sie andeutete, mit der Ehe der Lamberts könnte es nicht zum Besten gestanden haben. »War Ihr Mann … war Gordon in letzter Zeit deprimiert?«

»Niemals. Manche Menschen geben die Hoffnung auf. Gordie war lebenslänglich an sie gefesselt, ein unverbesserlicher Optimist.«

»Genau wie Nick«, sagte Jane. »Für ihn war jedes Problem nur eine Herausforderung. Er hat Widrigkeiten geliebt.«

»Wie ist’s passiert, Schätzchen? Wie haben Sie ihn verloren?«

»Ich war dabei, das Abendessen zu machen. Nick ist auf die Toilette gegangen. Als er nicht zurückgekommen ist, habe ich ihn vollständig bekleidet in der Badewanne sitzend aufgefunden. Er hatte sich mit seinem Kampfmesser, einem Ka-Bar, die linke Halsschlagader durchgeschnitten.«

SIEBEN

Dies war ein nasser El-Niño-Winter gewesen, der zweite in einem halben Jahrzehnt, während es sonst normal geregnet hatte – eine Klima-Anomalie, die eine lange Dürreperiode beendet hatte. Jetzt wurde es draußen finster, als sinke die Abenddämmerung herab. Der zuvor spiegelglatte See war auf einmal mit weißen Schaumkronen bedeckt, während die Brise wie der Vorbote des nahenden Sturms auffrischte.

Während Gwyn die letzten Muffins aus dem Backofen holte und zum Abkühlen auf den Herd stellte, schien das Ticken der Wanduhr lauter zu werden. In den vergangenen Wochen war Jane von allen möglichen Uhren gepeinigt worden. Manchmal hatte sie sich eingebildet, sie könne ihre Armbanduhr ticken hören; das war so lästig geworden, dass sie die Uhr abgenommen und ins Handschuhfach des Fords oder in Motels unters nächste Kissen gelegt hatte, bis sie sie wieder brauchte. Falls es so war, dass ihre Zeit ablief, wollte sie nicht auch noch hartnäckig an diese Tatsache erinnert werden.

Als Gwyn ihnen Kaffee nachschenkte, fragte Jane: »Hat Gordon einen Abschiedsbrief hinterlassen?«

»Keine Zeile, keine SMS, nichts auf der Mailbox. Ich wusste nicht, ob ich traurig oder froh darüber sein sollte.« Sie stellte die Kanne wieder in die Kaffeemaschine und kehrte an ihren Platz zurück.

Jane versuchte, die Küchenuhr zu ignorieren, die bestimmt nur in ihrer Einbildung lauter tickte. »In meinem Nachttisch habe ich immer einen Block mit Stift. Nick hat darauf eine Abschiedsnotiz hinterlassen, wenn man es so nennen will.« Die unheimlichen vier Sätze ließen jedes Mal ihr Herz erstarren, wenn sie an sie dachte. Sie zitierte sie: »Mit mir ist irgendetwas nicht in Ordnung. Ich muss. Ich muss unbedingt. Ich muss unbedingt tot sein.«

Gwyn stellte ihren Becher ab, ohne daraus getrunken zu haben. »Klingt verdammt merkwürdig, nicht wahr?«

»Und wie! Polizei und Gerichtsmediziner dachten das auch. Der erste Satz war sauber und ordentlich geschrieben, aber dann ist seine Schrift immer schlechter geworden. Als hätte er zu kämpfen, um seine Hand unter Kontrolle behalten zu können.«

Sie starrten in den dunkler werdenden Tag hinaus, schwiegen einige Zeit, bis Gwyn sagte: »Wie schrecklich für Sie, dass Sie ihn gefunden haben.«

Diese Bemerkung erforderte keine Antwort.

Jane starrte in ihren Kaffee, als versuche sie, im reflektierten Licht der Deckenlampe ihre Zukunft zu lesen, und sagte: »Die Selbstmordrate hierzulande ist im vergangenen Jahrhundert auf ungefähr zehneinhalb pro hunderttausend Einwohner zurückgegangen. Aber in den beiden letzten Jahrzehnten wurde der historische Durchschnitt von zwölfeinhalb wieder erreicht. Bis April letzten Jahres, als die Rate zu steigen begann, sodass sie am Jahresende vierzehn pro hunderttausend betrug. Im Normalfall wären das über achtunddreißigtausend Selbstmörder, zu denen nun weitere viereinhalbtausend kamen. Und meines Wissens liegt sie dieses Jahr bei fünfzehneinhalb – bis Dezember wären das fast achteinhalbtausend über der historischen Selbstmordrate.«

Während sie Gwyn diese Zahlen nannte, rätselte sie wieder über sie nach, ohne sich auch nur andeutungsweise erklären zu können, was sie bedeuteten oder weshalb sie mit Nicks Tod in Verbindung zu stehen schienen. Als Jane wieder aufsah, stellte sie fest, dass Gwyn sie aufmerksamer als bisher musterte.

»Schätzchen, soll das heißen, dass Sie wegen dieser Sache recherchieren? Ja, das tun Sie, verdammt noch mal. Es steckt also noch mehr dahinter, als Sie bisher erzählt haben, nicht wahr?«

Sogar sehr viel mehr, aber Jane wollte und durfte nicht zu viel sagen, um die Witwe Lambert nicht in Gefahr zu bringen.

Gwyn ließ nicht locker. »Erzählen Sie mir nicht, dass wir uns wieder in einem Kalten Krieg mit all seinen schmutzigen Tricks befinden. Sind unter den zusätzlichen Selbstmördern viele Soldaten?«

»Ziemlich viele, aber nicht überproportional viele. Betroffen sind alle möglichen Berufe: Ärzte, Polizeibeamte, Anwälte, Lehrer, Journalisten … Aber diese Selbstmorde sind ungewöhnlich. Erfolgreiche Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, ohne Depressionen, Lebenskrisen oder finanzielle Probleme. Sie passen einfach nicht ins übliche Schema von potenziellen Selbstmördern.«

Eine stürmische Bö traf das Haus und ließ die Hintertür erzittern, als rüttele jemand an der Klinke, um zu sehen, ob abgeschlossen war.

Neue Hoffnung verlieh Gwyns Gesicht einen rosigen Schimmer, und ihr Blick wirkte lebhafter als zuvor. »Soll das heißen, dass Gordie vielleicht … was? Dass er unter Drogen gestanden hat? Dass er nicht wusste, was er tat, als er mit seiner Schrotflinte an den See gegangen ist? Ist das denkbar …?«

»Tut mir leid, das weiß ich nicht, Gwyn. Ich habe bisher nur kleinste Puzzleteilchen gefunden und kann noch nicht sehen, was sie bedeuten – wenn sie überhaupt etwas bedeuten.« Sie wollte einen Schluck Kaffee trinken, aber ihr Becher war leer. »Hat Gordon sich in letzter Zeit nicht wohlgefühlt?«

»Na ja, er war mal erkältet. Und er hatte eine schmerzhafte Zahnwurzelentzündung.«

»Schwindelanfälle? Verwirrtheit? Kopfschmerzen?«

»Gordie war kein Mann für Kopfschmerzen. Oder für irgendwas anderes, was ihn hätte bremsen können.«

»Diese Sache wäre in Erinnerung geblieben: eine schlimme Migräne mit Lichtblitzen, die das Sehvermögen beeinträchtigen.« Jane sah, dass die Witwe Lambert wusste, was sie meinte. »Wann war das, Gwyn?«

»Auf der WIC, der ›What If Conference‹, letzten September in Vegas.«

»Was ist die WIC?«

»Das Gernsback Institute lädt Zukunftsforscher und Science-Fiction-Autoren zu einer viertägigen Konferenz mit Podiumsdiskussionen ein. Es ermutigt sie, außerhalb der engen Grenzen nationaler Verteidigungsinteressen zu denken. Welche Gefahren übersehen wir bisher, was könnte in einem Jahr, in zwanzig Jahren weit wichtiger sein, als wir bisher vermuten?«

Sie legte zwei Finger an die Lippen und runzelte kurz die Stirn.

»Irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte Jane.

Gwyn zuckte mit den Schultern. »Nein. Ich habe mich nur gefragt, ob ich darüber reden sollte. Aber die WIC ist kein großes Geheimnis oder sonst was. In den letzten Jahren haben die Medien viel darüber berichtet. Wissen Sie, das Institut lädt zu den Podiumsdiskussionen vierhundert Experten ein – Offiziere aller Teilstreitkräfte, Zukunftsforscher und Ingenieure wichtiger Rüstungskonzerne –, die auch Fragen stellen dürfen. Eine großartige Veranstaltung, bei der auch die Ehefrauen willkommen sind. Für uns gibt es ein Damenprogramm, aber die Diskussionen bleiben geheim. Und glauben Sie mir, die WIC ist keine verdeckte Bestechung.«

»Das habe ich auch nicht vermutet.«

»Das Institut ist politisch neutral und will keine Gewinne erzielen. Es hat auch keinerlei Verbindungen zur Rüstungsindustrie. Wer eingeladen wird, muss Flug und Hotel selbst bezahlen. Gordie hat mich zu drei Konferenzen mitgenommen. Er war ganz begeistert.«

»Aber letztes Jahr hatte er dort einen schlimmen Migräneanfall?«

»Den einzigen seines Lebens. Am dritten Tag hat er den ganzen Vormittag im Bett gelegen und gelitten. Ich habe ihm zugesetzt, er solle die Rezeption bitten, ihm einen Arzt zu schicken. Aber Gordie war der Überzeugung, was nicht gerade eine Schusswunde sei, vergehe irgendwann von selbst. Sie wissen ja, wie Männer immer das Bedürfnis haben, sich selbst irgendwas zu beweisen.«

Jane nickte zustimmend. »Nick hat etwas gezimmert und sich die Hand verletzt, als sein Stechbeitel abgerutscht ist. Eigentlich hätte er vier oder fünf Stiche gebraucht. Aber er hat die Wunde selbst gesäubert, Neosporin aufgetragen und sich einen dicken Verband gemacht. Ich hatte Angst, er könnte eine Blutvergiftung bekommen oder die Hand verlieren, und er hat meine Besorgnis rührend gefunden. Rührend! Dafür hätte ich ihm am liebsten eine geknallt. Tatsächlich habe ich ihm eine geknallt.«

Gwyn lächelte. »Das kann ich nachfühlen. Jedenfalls war die Migräne mittags wieder weg, und Gordie hatte nur eine einzige Diskussion versäumt. Als ich ihn nicht dazu überreden konnte, zu einem Arzt zu gehen, war ich im Spa und habe mir eine sündhaft teure Massage gegönnt. Aber woher wussten Sie das mit der Migräne?«

»Einer der Leute, mit denen ich gesprochen habe, ein Witwer in Chicago, hat mir erzählt, seine Frau – die sich in ihrer Garage erhängt hat – habe zwei Monate zuvor die erste und einzige Migräne ihres Lebens gehabt.«

»War sie auf einer What If Conference?«

»Nein. Ich wollte, die Sache wäre so einfach. Bisher gibt es kaum derartige Verbindungen zwischen den Opfern. Nur zarte Fäden, dürftige Hinweise. Diese Frau war Vorsitzende einer Organisation für Behindertenarbeit. Allem Anschein nach war sie glücklich, erfolgreich und sehr beliebt.«

»Hatte Ihr Nick auch einen Anfall?«

»Erwähnt hat er keinen. Die verdächtigen Selbstmörder, die mich interessieren … in den Monaten vor ihrem Tod haben manche über kurze Schwindelanfälle geklagt. Oder seltsame, sehr intensive Träume. Oder starkes Zittern der Lippen und der linken Hand, das nach ein bis zwei Wochen wieder verschwand. Und manche hatten tagelang einen bitteren Geschmack im Mund. Aber bei Nick sind keine ungewöhnlichen Symptome aufgetreten. Absolut keine.«

»Sie haben die Angehörigen dieser Leute befragt?«

»Ja.«

»Wie viele?«

»Mit Ihnen bisher zweiundzwanzig.« Jane deutete Gwyns Gesichtsausdruck richtig und fügte hinzu: »Yeah, ich weiß, das ist eine fixe Idee. Vielleicht jage ich nur einem Phantom nach.«

»Dafür sind Sie nicht der Typ, Schätzchen. Manchmal ist’s verdammt schwer … trotz allem weiterzumachen. Wohin sind Sie als Nächstes unterwegs?«

»In der Nähe von San Diego lebt jemand, mit dem ich reden möchte.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Aber die Konferenz in Vegas interessiert mich. Sie haben nichts darüber aufbewahrt, vielleicht eine Broschüre oder ein Programm für diese vier Tage?«

»Vielleicht liegt oben in Gordons Arbeitszimmer etwas. Ich sehe gleich mal nach. Noch etwas Kaffee?«

»Nein danke. Ich habe heute schon zu viel getrunken. Aber ich müsste auf die Toilette.«

»Die ist gleich neben der Haustür. Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen.«

Als Jane sich einige Minuten später auf dem blitzsauberen, spinnenlosen Gäste-WC die Hände wusch, betrachtete sie nachdenklich ihr Spiegelbild. Und fragte sich nicht zum ersten Mal, seit sie vor zwei Monaten zu diesem Kreuzzug aufgebrochen war, ob sie damit den schlimmsten aller möglichen Fehler gemacht hatte.

Sie hatte so viel zu verlieren, nicht nur ihr Leben. Am wenigsten ihr Leben.

Durchs Abzugsrohr der Toilette, das den ersten Stock durchzog, erhob der zunehmende Wind seine Stimme im Erdgeschoss wie ein Troll, der aus seinem Schlupfwinkel unter einer alten Brücke in ein Haus mit Aussicht umgezogen ist.

Als sie aus dem WC kam, hallte von oben ein Schuss.

ACHT

Jane zog ihre Pistole, hielt sie mit beiden Händen, ließ sie aber auf den Fußboden gerichtet. Dies war nicht ihre FBI-Dienstwaffe, die sie nicht tragen durfte, solange sie beurlaubt war. Aber diese gefiel ihr ebenso gut, vielleicht sogar noch besser: eine MK23 Combat Competition von Heckler & Koch, Kaliber .45 ACP.

Der Knall war ein Schuss gewesen. Unverkennbar. Kein Schrei zuvor, kein Schrei danach, keine Schritte.

Sie wusste, dass ihr niemand gefolgt war auf der Fahrt von Arizona hierher. Hätte jemand schon hier auf sie gewartet, hätte er sie erledigt, als sie ahnungslos am Küchentisch sitzend von Witwe zu Witwe gesprochen hatte.

Vielleicht hielt der Kerl Gwyn fest und hatte den Schuss abgegeben, um Jane nach oben zu locken. Das war nicht sehr logisch, aber andererseits ließen die meisten Verbrecher sich von Gefühlen leiten und wiesen in Bezug auf Logik und Vernunft Defizite auf.

Ihr fiel eine weitere Möglichkeit ein, mit der sie sich aber noch nicht befassen wollte.

Falls es im Haus eine Hintertreppe gab, waren sie vermutlich in der Küche. Jane waren zwei geschlossene Türen aufgefallen. Hinter einer lag die Speisekammer, wie sie jetzt erkannte. Die andere führte vielleicht in die Garage hinaus. Oder in einen Hauswirtschaftsraum. Okay, die Vordertreppe war also der einzige Weg nach oben.

Die Treppe gefiel ihr nicht. Wenig Platz, um seitlich auszuweichen. Keine Rückzugsmöglichkeit, weil man dabei dem Schützen den Rücken zukehren würde. War man erst mal unterwegs, musste man die schmale Treppe mit dem Absatz in der Mitte, auf der man sich wie in einer Schießbude vorkam, ganz hinauf.

Auf dem Treppenabsatz blieb Jane tief gebückt, schlüpfte rasch um den Pfosten. Über ihr war niemand. Ihr Herz hämmerte fast hörbar laut. Sie verbiss sich ihre Angst. Was sie zu tun hatte, wusste sie. Sie hatte es schon früher getan. Einer ihrer Ausbilder hatte von einem Ballett ohne Strumpfhose und Tutu gesprochen: Man brauchte nur die Schritte zu kennen und genau zu wissen, wann sie zu machen waren, damit einem nach der Vorstellung metaphorisch gesprochen Blumenbuketts zugeworfen wurden.

Die letzten Stufen. Ein Profi hätte versucht, sie hier zu erledigen. Schräg nach unten ließ sich mit der Pistole knapp unterhalb der Sichtlinie präziser zielen als schräg nach oben, da Janes Pistole einen Teil der Treppe verdeckte.

Oben an der Treppe … und weiterhin am Leben.

In geduckter Haltung dicht an der Wand bleiben. Die Hände an der Pistole. Arme leicht gebeugt ausgestreckt. Stehen bleiben und horchen. Niemand auf dem Flur.

Nun ging es darum, Türen zu passieren, was kaum besser als die Treppe war. Während sie eine Schwelle überschritt, konnte sie ohne Weiteres durchsiebt werden.

Gwyneth Lambert, deren Kopf nach links gesunken war, saß im Schlafzimmer in einem Sessel. Ihre rechte Hand, deren Finger noch locker die Pistole hielten, lag in ihrem Schoß. Das Geschoss war in die rechte Schläfe eingedrungen, hatte das Gehirn durchbohrt, war an der linken Schläfe ausgetreten und hatte den Teppich mit Knochensplittern, Haarbüscheln, Blut und Gehirnmasse überzogen.

NEUN

Die Szene wirkte nicht gestellt. Dies war ein echter Selbstmord. Kein Schrei vor dem Schuss, keine Schritte oder sonstige Geräusche danach. Nur die Bewegung und die Ausführung – und Entsetzen oder Erleichterung oder Bedauern in dem Augenblick dazwischen. Die aufgezogene Nachttischschublade verriet, wo die zur Selbstverteidigung gedachte Waffe gelegen haben musste.

Obwohl sie Gwyn nicht lange genug gekannt hatte, um aufrichtig um sie zu trauern, empfand Jane dumpfe, aber schmerzhafte Traurigkeit und hellen Zorn – Letzteren deshalb, weil dies kein gewöhnlicher Selbstmord, keine Folge von Verzweiflung oder Schwermut war. Für eine Frau, die erst vor zwei Wochen ihren Mann verloren hatte, hatte Gwyn sich vorbildlich gehalten. Sie hatte Muffins für Freunde und Angehörige gebacken, die ihr in den dunklen Stunden beigestanden hatten, und sich bemüht, nach vorn zu blicken. Außerdem glaubte Jane, auch nach kurzer Bekanntschaft zu wissen, dass es Gwyneth niemals eingefallen wäre, eine trauernde Witwe dadurch zu quälen, dass sie ihr zumutete, einen weiteren Selbstmord zu entdecken.

Ein plötzliches lautes Piepsen ließ sie herumfahren und ihre Pistole hochreißen. Niemand. Das Geräusch kam von nebenan. Jane näherte sich vorsichtig der Verbindungstür, bis sie das Piepsen als das Signal erkannte, mit der die Telefongesellschaft ihre Kunden darauf aufmerksam machte, dass sie vergessen hatten, den Hörer aufzulegen.

Sie trat über die Schwelle in Gordon Lamberts Arbeitszimmer. An den Wänden hingen gerahmte Fotos, die ihn als jungen Mann im Kampfanzug oder mit anderen Marines an exotischen Orten zeigten. Gordon in Ausgehuniform, hochgewachsen und gut aussehend, beim Händedruck mit dem Präsidenten. Eine gerahmte Flagge, die ein Feuergefecht erlebt hatte.

Der Telefonhörer baumelte an seinem Spiralkabel dicht über dem Teppich. Jane zog ein Taschentuch heraus, das sie nur eingesteckt hatte, um Fingerabdrücke zu vermeiden, legte den Hörer auf und fragte sich dabei, mit wem Gwyn gesprochen haben mochte, bevor sie ihren tödlichen Entschluss gefasst hatte. Sie nahm den Hörer wieder ab und versuchte erfolglos den automatischen Rückruf.

Gwyn war eigentlich nach oben gegangen, um eine Broschüre oder ein Programm einer What If Conference zu finden. Jane trat an den Schreibtisch, zog eine Schublade auf.

Das Telefon klingelte. Das überraschte sie nicht. Die Nummer des Anrufers war unterdrückt.

Sie nahm den Hörer ab, sagte aber nichts. Die Person am anderen Ende der Leitung war jedoch ebenso diskret. Im Hintergrund war Musik zu hören – ein alter Song von America, vor Janes Geburt aufgenommen: A Horse With No Name.

Sie legte auf. Wegen der großen Abstände zwischen den Häusern war es unwahrscheinlich, dass der Schuss gehört worden war. Aber sie hatte keine Zeit zu verlieren.

ZEHN

Vielleicht würde jemand kommen. Oder vielleicht hatten sie in dieser Gegend keinen Agenten, aber das Vorsichtsprinzip erforderte, dass sie mit feindlichen Besuchern rechnete. Ihr blieb keine Zeit, das Arbeitszimmer des Generals zu durchsuchen.

Im Erdgeschoss wischte sie alles ab, was sie vielleicht berührt hatte. Dann spülte sie die Kaffeebecher und – löffel ab und räumte sie weg. Obwohl niemand sie hören konnte, arbeitete sie flink und leise. Sie war von Woche zu Woche in allen Dingen leiser geworden, als bereite sie sich darauf vor, ein Gespenst zu werden.

Auf der Toilette fesselte ihr Spiegelbild kurz ihre Aufmerksamkeit. Die Aufgabe, die sie sich vorgenommen hatte, war so fantastisch, und die Entdeckungen, die sie machte, waren so seltsam, dass das Unmögliche manchmal fast möglich erschien – in diesem Fall, dass ihr Spiegelbild sichtbar bleiben würde, um sie zu belasten, wenn sie den Raum verließ.

Als Jane das Haus durch die Vordertür verließ, konnte sie nicht anders, als sich wie der Engel des Todes zu fühlen. Sie kam, eine Frau starb, sie ging. In der Offenbarung heißt es, der Tod wird nicht mehr sein. Hatte die Bibel recht, konnte auch der Tod sterben.

Auf dem Weg an den Nachbarhäusern vorbei sah sie niemanden am Fenster stehen, niemanden auf der Veranda, kein trotz des aufziehenden Sturms im Freien spielendes Kind. Die einzigen Geräusche erzeugte der böige Wind, der durch Bäume und um Häuser pfiff, als habe die ausgerottete Menschheit ihre Behausungen intakt zurückgelassen, damit Wind und Wetter sie allmählich zerstören konnten.

Jane fuhr noch ein Stück geradeaus, bog dann nach einer halben Meile rechts und gleich wieder links ab, während sie die Straße hinter sich im Rückspiegel beobachtete. Als sie bestimmt wusste, dass sie nicht beschattet wurde, fuhr sie zur Interstate weiter und war bald nach Westen Richtung San Diego unterwegs.

Irgendwann würde der Tag kommen, an dem die Erde ständig so präzise überwacht wurde, dass auch Autos ohne Transponder geortet werden konnten. In dieser zukünftigen Welt hätte Jane es nicht mal geschafft, das Haus der Lamberts zu erreichen.

ELF

An einem Novemberabend, sechs Tage vor Nicks Tod, als sie im Bett auf ihn gewartet hatte, während er sich die Zähne putzte, hatten die Fernsehnachrichten eine Meldung gebracht, die Jane fasziniert hatte und an die sie in letzter Zeit immer wieder denken musste, als hänge sie irgendwie mit dem zusammen, was sie gegenwärtig durchmachte.

Die Meldung hatte von Wissenschaftlern gehandelt, die mithilfe lichtempfindlicher Proteine und Lichtwellenleitern Gehirnimplantate entwickelten. Ihrer Darstellung nach kommunizieren wir ständig mit unserem Gehirn: Unsere Sinne liefern ihm Informationen, die es interpretiert und in Befehle umsetzt. Implantate sollten dazu dienen, solche Befehle weiterzuleiten, wenn die Kommunikation wegen eines Schlaganfalls oder einer Querschnittslähmung unterbrochen war. Beispielsweise sollte ein Gelähmter Prothesen bewegen können, indem er lediglich daran dachte, sie zu bewegen. Mit Implantaten sollten Menschen, die wegen der Motoneuron-Krankheit in ihren Körpern eingesperrt waren und nicht einmal sprechen konnten, ihren Beitrag zum Gespräch denken können. Ihre von lichtempfindlichen Proteinen in Lichtimpulse umgewandelten Gedanken würden von einem Rechner verarbeitet und als Sprache ausgegeben werden.

Damals hatte Jane darüber gestaunt, wie schnell sich alles wandelte, sodass sie vielleicht schon bald in einer Welt aus Wundern und Zauberei leben würden.

Jetzt war sie in einer Welt aus Horror und Gewalt gefangen, in der diese alte Fernsehmeldung keine Bedeutung zu haben schien. Und trotzdem erinnerte sie sich immer wieder daran, als sei sie ungeheuer wichtig.

Dass sie sich an den Bericht erinnerte, lag vielleicht nicht an seinem Inhalt, sondern an etwas, was Nick kurz darauf zu ihr gesagt hatte. Als er ins Bett gekommen war, waren Jane und er nach einem anstrengenden Tag zu erschöpft gewesen, um sich zu lieben, aber sie hatten es genossen, noch eine Zeit lang miteinander zu plaudern. Kurz bevor sie eingeschlafen war, hatte er ihr die Hand geküsst und gesagt: »Du rockst mich.« Seine Worte folgten ihr in wundervolle Träume, in denen sie in allen möglichen seltsamen Situationen gesprochen wurden, stets sehr zärtlich und liebevoll.

ZWÖLF

Im Benny’s at the Beach fesselte der Anschlag auf den Berufsverkehr in Philadelphia die Besucher, wie es sonst nur die Übertragung des Stanley Cups vermochte. In der an sieben Tagen in der Woche ununterbrochen geöffneten Bar gab es genügend Sportübertragungen, um jeden Fan zufriedenzustellen, aber an diesem Tag liefen mittags auf den beiden Fernsehern hinter der Theke die Nachrichten und statt vergangener Siege und Spielerstatistiken vermeldete der Liveticker Opferzahlen und Statements von aufgebrachten Politikern.

In Wirklichkeit lag das Benny’s nicht am Strand, sondern war zwei Blocks von der Brandung entfernt, und wenn es wirklich seit fünfzig Jahren beliebt war, wie ein Schild verkündete, gehörte es bestimmt nicht mehr Benny – falls es ihn je gegeben hatte. Seine Gäste schienen der Mittelschicht anzugehören, die im vergangenen Jahrzehnt dramatisch geschrumpft war. Um diese Tageszeit hatte noch niemand so viel getrunken, um angesichts der Horrorbilder zu krakeelen, aber Jane konnte den Zorn, die Angst und das Bedürfnis nach Nähe und Gemeinschaft, das sie alle hergeführt hatte, fast körperlich spüren.

Sie aß in der hintersten Sitznische, die schmaler als die anderen war und nur zwei statt vier Plätze aufwies. Die beschichtete Granit-Tischplatte war bestimmt aus Resopal gewesen, als dies noch Bennys Reich gewesen war. Die Tische, die Muster der Kissen- und Barhockerbezüge und der Marmorboden mit Schachbrettmuster erhoben Anspruch auf Wohlstand und Status, der sich nie ganz erfüllt hatte, aber so amerikanisch war, dass Jane ihn unerwartet rührend fand.

Zu den Gästen gehörte der Kolumnist eines Lokalblatts, der hier eigentlich nur lunchen und ein, zwei Biere hatte trinken wollen, aber seinen journalistischen Instinkt nicht ganz unterdrücken konnte. Sie beobachtete, wie er sich mit Notizblock, Stift und einer Flasche Heineken bewaffnet durch den länglichen Raum bewegte, seine Visitenkarte verteilte und sich die Kommentare von Gästen zum jüngsten Terroranschlag notierte.

Er war ungefähr vierzig mit sorgfältig gestylter Frisur, für die er bestimmt viel Geld ausgab. Weil er stolz auf seinen knackigen Hintern war, trug er Jeans, die eine Idee zu eng waren. Um seine kräftigen Unterarme zu zeigen, trug er die Hemdärmel aufgekrempelt, obwohl es dafür eigentlich nicht warm genug war.

Zu ihrer Sitznische kam er als Reporter und als Mann mit Berechnung im Blick, die manche Frauen – nicht jedoch Jane – anstößig gefunden hätten. Er war kein Prolet und konnte nicht wissen, dass sie freiwillig aus dem Spiel ausgeschieden war. Sie wusste recht gut, dass Männer stets Notiz von ihr nahmen, und war sich bewusst, dass er sich umso lebhafter an sie erinnern würde, wenn sie ein dreiminütiges Interview höflich oder spöttisch ausschlug.

Er hieß Kelsey, und sie sagte, sie heiße Mary, und er nahm auf ihre Aufforderung hin ihr gegenüber Platz. »Schrecklicher Tag.«

»Kann man wohl sagen«

»Haben Sie Freunde oder Angehörige in Philadelphia?«

»Nur Mitbürger.«

»Yeah. Aber es schmerzt trotzdem, nicht wahr?«

»Das ist nur angemessen.«

»Was sollten wir Ihrer Meinung nach dagegen tun?«

»Sie und ich?«

»Wir alle.«

»Erkennen, dass es Teil eines größeren Problems ist.«

»Und das wäre?«

»Ideen sollten nicht mehr gelten als Menschen.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Interessant! Können Sie das ein bisschen erläutern?«

Ihre Erklärung bestand daraus, dass sie zwei Wörter umstellte und einen Widerspruch eliminierte: »Menschen sollten mehr gelten als Ideen.«

Kelsey wartete darauf, dass sie weitersprach. Als sie stattdessen den vorletzten Bissen von ihrem Hamburger nahm, sagte er: »Meine Kolumne ist nicht politisch, sondern bringt Human-Interest-Storys. Was würden Sie sagen, wenn Sie sich ein politisches Etikett ankleben sollten?«

»Angewidert.«

Er lachte, notierte sich etwas. »Das könnte die größte Partei von allen sein. Woher kommen Sie?«

»Miami«, log sie. »Wissen Sie, für welche Story Sie sich mal interessieren sollten?«

»Nämlich?«

»Die zunehmende Selbstmordrate.«

»Nimmt sie denn zu?«

»Das können Sie googeln.«

Er beobachtete sie weiter, selbst als er einen Schluck aus seiner Bierflasche nahm. »Wieso interessiert ein Mädchen wie Sie sich für so morbide Dinge?«

»Ich bin Soziologin«, behauptete sie. »Hatten Sie schon mal den Verdacht, solcher Scheiß wie der Anschlag in Philadelphia könnte anderen Zwecken dienen?«

Obwohl er Human-Interest-Storys schrieb, hatte er den scharf sezierenden Blick eines Kriminalreporters, der Schicht für Schicht bloßlegte. »Welchen anderen Zwecken?«

Sie zeigte auf den Fernsehschirm. »Ich meine diese Story, über die jede Stunde etwa eine Minute lang berichtet wird.«

Ein ehemaliger Gouverneur von Georgia hatte seine Frau, einen Großspender für seine Wahlkämpfe und dann sich selbst erschossen.

»Sie meinen die Gräueltat in Atlanta«, sagte Kelsey und zitierte damit eine Schlagzeile der Boulevardpresse. »Scheußliche Sache.«

»Wäre sie gestern passiert, wäre das eine große Story gewesen. Aber weil sie gleichzeitig mit Philly passiert ist, wird sich nächste Woche keiner mehr an sie erinnern.«

Er schien nicht zu verstehen, was sie andeuten wollte. »Seine Frau und der Spender sollen eine Affäre gehabt haben, heißt es.«

Jane, die mit dem Hamburger fertig war, benutzte ihre Serviette. »Da haben Sie eines der größten Mysterien unserer Zeit.«

»Nämlich?«

»Wer zum Teufel sind diese anonymen Quellen, aus denen unsere Informationen stammen?«

Er lächelte, deutete auf ihre leere Flasche. »Darf ich Sie zu einem Dos Equis einladen?«

»Danke, aber eines ist mein Limit. Wissen Sie, dass auch die Mordrate nach oben gegangen ist?«

»Klar, darüber haben wir berichtet.«

Die Bedienung kam, und Jane verlangte die Rechnung. Dann beugte sie sich über den Tisch zu Kelsey hinüber und flüsterte: »Raten Sie mal, welche Zahl als Nächstes nach oben gehen wird.«

Er brachte seinen Kopf dichter an ihren heran und fragte: »Welche denn?«

»Mord mit anschließendem Selbstmord. Der Gouverneur war vielleicht nur ein Vorbote. Gewissermaßen die nächste Phase.«

»Die nächste Phase wovon?«

Nachdem sie bis dahin aufrichtig gewesen war, verzog sie keine Miene, als sie jetzt zu der Fantasie überleitete, die ihn abschrecken würde. »Von dem, was in Roswell angefangen hat.«

Er war ein zu erfahrener Journalist, um sein Lächeln gefrieren oder seinen Blick trüb werden zu lassen. »Roswell, New Mexico?«

»Dort sind sie zuerst gelandet. Sie sind hoffentlich kein UFO-Leugner?«

»Natürlich nicht«, sagte er. »Das Universum ist unendlich. Kein intelligenter Mensch kann glauben, dass wir darin allein sind.«

Bis die Bedienung mit der Rechnung kam, hatte Kelsey sich jedoch geweigert, anzubeißen, als Jane ihn fragte, ob er an Entführungen durch Außerirdische glaube. Er hatte sich bei Mary aus Miami für ihre Antworten bedankt und war zum nächsten Interview weitergegangen.

Als sie sich durch die mittags voll besetzte Bar schlängelte, nachdem sie bar gezahlt hatte, sah sie sich – vielleicht intuitiv – um und stellte fest, dass der Kolumnist ihr nachstarrte. Als er wegsah, hob er sein Handy ans Ohr.

Er war bloß ein Kerl, der sich für sie interessiert hatte, ein Kerl, den sie ziemlich clever abgewimmelt hatte, nur ein Kerl, dem noch immer gefiel, was er sah. Das Handy war ein Zufall; es hatte nichts mit ihr zu tun.

Trotzdem eilte sie rasch davon, sobald sie draußen war.

DREIZEHN

Weiße Drachensegel flitzten vor dräuend grauen Sturmwolken durch die Brandung; Möwen kamen vom Meer herein und suchten sich misstönend schreiend sichere Plätze in Hausgiebeln und den Wedeln von Phönixpalmen.

Jane hätte auf dem Parkplatz der Sportsbar parken können. Das hatte sie nicht getan. Stattdessen hatte sie den Ford zwei Blocks weit entfernt an einer Parkuhr abgestellt.

Sie näherte sich dem Escape auf der anderen Straßenseite und schien sich gar nicht für ihn zu interessieren, während sie die nähere Umgebung absuchte, um festzustellen, ob der Wagen observiert wurde.

Nicht zum ersten Mal sagte sie sich, so zitterten Menschen, die an schlimmem Verfolgungswahn litten, sich durchs Leben, aber sie hielt sich trotzdem noch für normal.

Auch als sie keine Überwacher sah, ging sie noch einen Block weiter, bevor sie die Straße überquerte und sich dem Escape von hinten näherte.

Der Journalist hatte sich für ihre Antworten bedankt, und Jane war tatsächlich immer auskunftsfreudig gewesen, was ihre Gefühle, Hoffnungen, Absichten und Überzeugungen betraf. Schon aus diesem Grund erwies sich ihre jetzige Isolation als schwer zu ertragen. Weil Freundschaft Vertrautheit voraussetzte, musste sie vorläufig alte Freunde meiden und durfte keine neuen Bindungen eingehen. Sich jemandem anzuvertrauen konnte ihren Tod oder den ihrer Vertrauten bedeuten.

Als sie das Haus verkauft, als sie alles, was sie besaß, zu Geld gemacht hatte, um es an einem Ort zu verstecken, wo es nicht leicht zu finden war, hatte sie angenommen, diese erzwungene Einsamkeit könnte ein halbes Jahr dauern. Jetzt, nach zwei Monaten und fast dreitausend Meilen auf der Straße, traute sie sich nicht mehr, die Dauer ihres Unternehmens abzuschätzen.

Jane fuhr an, ordnete sich in den Verkehrsfluss ein. Anders als ihr Wagen sendete fast jedes Auto, jedes SUV, jeder Lkw und jeder Bus ständig seine Position zugunsten kommerzieller Sammler von Metadaten, Polizeidienststellen … und wem auch immer die Zukunft gehörte.

VIERZEHN

Die neue Zentralbibliothek von San Diego – je nach Standpunkt des Betrachters ein postmoderner Triumph oder ein bedauerlicher Stilmischmasch – hatte neun Geschosse mit fast vierzehntausend Quadratmetern und war für Janes Zwecke zu groß. Ihre Ebenen wurden unangenehm gründlich überwacht und waren im Notfall nicht leicht ungesehen zu verlassen. Sie machte sich auf die Suche nach einer Zweigstelle.

Ihren Laptop hatte sie schon vor Wochen entsorgt. Heutzutage dienten PCs ebenso als Standortmelder wie die Navis von Kraftfahrzeugen. Am liebsten arbeitete sie an Computern in öffentlichen Bibliotheken. Je nach den Informationen, die sie brauchte und online lesen musste, blieb sie selbst dann nie lange am selben Ort.

Sie fand eine Zweigstelle im Stil einer spanischen Mission: abgekupferte, aber ehrliche Architektur mit Klosterdachziegeln, blassgelbem Verputz und Sprossenfenstern mit Bronzerahmen. Wie sie’s sich angewöhnt hatte, fuhr sie zunächst an ihrem Ziel vorbei und parkte eineinhalb Blocks weiter in einer Seitenstraße. Sie nahm nur ein kleines Notizbuch, einen Stift und ihre Geldbörse mit und versteckte ihre Umhängetasche unter dem Fahrersitz, bevor sie ausstieg und den Wagen absperrte.

In der Bücherei gab es viele Gänge und wenige Computer. Jane entschied sich für einen, der möglichst weit von dem entfernt war, an dem ein mürrisch wirkender Mann saß, dessen bloße Erscheinung andere Besucher aufzufordern schien, seine Nähe tunlichst zu meiden.

Der hünenhafte Kerl mit wilder schwarzer Lockenmähne und dem mit grauen Strähnen durchwobenen Prophetenbart eines Straßenpredigers, der derbe Schnürstiefel, eine Tarnhose, ein grünes Flanellhemd und eine voluminöse schwarze Daunenjacke trug, verstand es anscheinend, von der Bibliothek gesperrte Seiten aufzurufen, und sah sich Pornografie ohne Ton an.

Er würdigte Jane keines Blickes und berührte sich nicht etwa selbst. Er saß mit beiden Händen auf dem Tisch da und schien die Action auf dem Bildschirm mit einer Mischung aus Langeweile und Verständnislosigkeit zu verfolgen. Es gab Drogen wie Ecstasy, die nach langem, schwerem Missbrauch das Gehirn daran hinderten, Endorphine zu produzieren, sodass man ohne chemische Unterstützung keine Begeisterung, keine Freude und kein Wohlbefinden mehr spüren konnte. Vielleicht war das bei ihm der Fall, denn sein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht blieb ausdruckslos, während er einer Statue gleich auf den Monitor starrte.

Jane rief die Seite des Gernsback Institute auf, das neben weiteren Events die jährliche What If Conference veranstaltete. Sie verfolgte den Zweck, »die Fantasie führender Persönlichkeiten in Handel und Industrie, Wissenschaft, Ministerien und den schönen Künsten auf der Suche nach ungewöhnlichen Lösungen für die großen Probleme, vor denen die Menschheit steht, zu auf Fakten basierenden Spekulationen anzuregen.«

Gutmenschen. Für Leute mit bösen Absichten gab es keine bessere Tarnung als eine Non-Profit-Organisation mit dem Ziel, die Lage der Menschheit zu verbessern. Die meisten Mitarbeiter des Instituts waren vermutlich gutwillig und taten auch Gutes, aber das bedeutete noch längst nicht, dass sie die verdeckten Absichten seiner Gründer oder ihren eigentlichen Auftrag begriffen.

In ihrem Notizbuch hielt sie die Informationen fest, die sie voraussichtlich für ihre Ermittlungen brauchen würde. Dazu benutzte sie selbst entwickelte Buchstaben- und Zahlencodes, damit niemand anders ihre Notizen lesen konnte. Im Augenblick trug sie die verschlüsselten Namen der neun Mitglieder des Verwaltungsrats des Instituts ein, von denen sie nur einen – David James Michael – erkannte.

David James Michael. Der Mann mit den drei Vornamen. In ihrer Sammlung von Namen, Daten und Orten kam er auch anderswo vor. Sie würde später ihr Notizbuch durchblättern, um ihn zu finden.

Der Obdachlose hatte die Pornoseite verlassen und sah sich jetzt Hundefilme auf YouTube an – wieder ohne Ton, mit beiden Händen auf der Tischplatte, sein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht ausdruckslos starr.

Nachdem Jane sich abgemeldet und Notizbuch und Stift eingesteckt hatte, stand sie auf, ging zu dem Kerl hinüber und legte zwei Zwanzigdollarscheine neben seine Tastatur. »Danke für Ihren Dienst für unser Land.«

Er sah zu ihr auf, als habe sie ihn in einer ihm unbekannten Sprache angesprochen. Seine Augen waren nicht blutunterlaufen, auch nicht trüb vom Saufen, sondern grau und klar und scharf beobachtend.

Als er nichts sagte, deutete Jane auf die Tätowierung auf seinem rechten Handrücken: eine blaue Speerspitze als Hintergrund, darin ein erhobenes Schwert in Gold, das von drei goldenen Blitzstrahlen geteilt wurde. Das Abzeichen der Army Special Forces Airborne, darunter die Buchstaben DDT. »Kann kein leichter Dienst gewesen sein.«

Sein Nicken galt den vierzig Dollar, als er sagte: »Es gibt welche, die dringender Geld bräuchten als ich.« Er hatte die heisere Stimme eines Bären mit Halsentzündung.

»Aber ich kenne sie nicht«, sagte sie. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie’s ihnen von mir geben würden.«

»Das kann ich machen.« Er griff nicht nach den Scheinen, sondern wandte sich wieder den Hundevideos zu. »Hier in der Nähe gibt’s eine Suppenküche, die immer Spenden brauchen kann.«

Jane wusste nicht, ob sie das Richtige getan hatte, aber sie hatte nicht anders handeln können.

Sie sah sich um, als sie die Nische verließ, in der die Computer aufgereiht waren, aber er sah ihr nicht nach.

FÜNFZEHN

Der Sturm war noch immer nicht losgebrochen. Der Mittagshimmel über San Diego war bedrohlich grau, als seien all die Wassermassen und potenziellen Blitze, die sich über dem fernen Alpine angesammelt hatten, unbemerkt in Richtung Großstadt gezogen, um die bevorstehende Sintflut zu verstärken. Manchmal entwickelten das Wetter und die Geschichte sich viel zu langsam für Ungeduldige, die gespannt darauf warteten, wie es weitergehen würde.

Als Jane in dem Park, an dem die Bibliothek lag, auf einem der gewundenen Fußwege unterwegs war, entdeckte sie einen kleinen Springbrunnen. Sie setzte sich auf eine der Parkbänke mit Blick aufs Wasser, das in vielen dünnen Strahlen aufstieg und von einer leichten Brise in silberne Tropfen aufgelöst ins Becken herabfiel.

Um diese Tageszeit war im Park nicht viel los. Sie sah nur ein halbes Dutzend Leute, von denen zwei mit ihren Hunden unterwegs waren – bestimmt etwas rascher als bei heiterem Wetter.

Jane zog das Notizbuch aus einer Innentasche ihres Blazers, blätterte in der länger werdenden Namensliste und fand eine frühere Eintragung für David James Michael. Wie ihre Recherche in der Bibliothek ergeben hatte, saß er im Verwaltungsrat des Gernsback Institute, das die What If Conferences organisierte, an denen Gordon und Gwyneth Lambert, die nun beide Selbstmord verübt hatten, auf Einladung teilgenommen hatten.

Ein Vermerk hinter dem Namen Michael verwies auf den Selbstmord von T. Quinn Eubanks in Traverse City, Michigan. Eubanks, der nicht nur reich geerbt, sondern auch persönlich viel geleistet hatte, hatte im Verwaltungsrat von drei Wohltätigkeitsorganisationen gesessen, darunter dem Seedling Fund, in dem David James Michael einer seiner Kollegen gewesen war.

Wie sie weiterermitteln musste, war damit klar – wenigstens so klar, wie irgendwas in diesen Fällen wurde.

Als Erstes musste sie jedoch in Chicago anrufen.

Wie immer hatte sie ein Wegwerfhandy mit Prepaidkarte in der Tasche. Ihres Wissens war es nicht möglich, solche Handys zu orten. Auch wenn die Gefahr bestand, dass diese Billigmodelle heutzutage ihren Standort meldeten, bezahlte Jane sie immer bar und brauchte anschließend keinen Ausweis, um sie zu aktivieren.

Eine Schar Mädchen in Schuluniform hastete von einer Nonne in Alltagskleidung wie von einer Glucke, die zu fürchten schien, der Sturm könnte jeden Augenblick losbrechen, zur Eile gedrängt vorbei.

Aber die Luft war noch zu still. Eine kühle Luftmasse und wärmere Luft würden wie tektonische Platten zusammenprallen, sodass plötzlich Wind aufkam, bevor wenige Minuten später ein Platzregen einsetzte.

Weil sie auf ihr Wettergefühl vertraute – und nicht im Auto telefonieren wollte, in dem sie unter Umständen festsaß, falls ihr Handy doch geortet werden konnte –, holte sie ihr billiges Mobiltelefon hervor und tippte Sidney Roots Nummer ein.

Sidneys Frau Eileen war die in Chicago lebende Vorkämpferin für die Rechte behinderter Menschen gewesen, von der Jane Gwyn Lambert erzählt hatte. Eileen Root hatte den ersten und einzigen Migräneanfall ihres Lebens während eines auswärtigen Seminars erlitten und sich drei Wochen später in der Garage ihres Hauses erhängt.

Wie Janes Mann hatte Sidneys Frau eine Nachricht hinterlassen, die noch beunruhigender und rätselhafter als Nicks Mitteilung war. Sweet Sayso sagt, dass er all diese Jahre einsam war; warum hat Leenie aufgehört, ihn zu brauchen, er war immer für Leenie da, jetzt muss ich für ihn da sein.

Weder Sidney noch die drei bereits erwachsenen Kinder, die er mit Eileen – Leenie – hatte, hatten jemals von einem Mann namens Sayso gehört.

Kurz nach der Beurlaubung durchs FBI war Jane zu Beginn ihrer inoffiziellen Ermittlungen nach Chicago gereist und mit Sidney Root zusammengetroffen, bevor sie entdeckt hatte, dass sie wegen ihrer Nachforschungen ins Visier einer geheimnisvollen Verschwörung geraten war, die so wenig greifbar war wie eine Gespensterbande. Weil sie damals noch ihren richtigen Namen benutzt hatte, nannte sie ihn auch jetzt, als Sidney sich nach dem dritten Klingeln meldete.

»Oh ja, ich habe vor ein paar Tagen versucht, Sie anzurufen«, sagte er, »aber die Nummer, die Sie mir gegeben hatten, war abgemeldet.«

»Ich bin umgezogen, bei mir hat sich viel verändert.« Das war alles, was er als Erklärung von ihr zu erwarten hatte. »Aber ich bin weiter an dieser Sache dran, suche weiter eine Erklärung und hoffe, dass Sie ein paar Minuten Zeit für mich haben.«

»Klar. Ich mache nur rasch meine Tür zu.« Root arbeitete als Architekt in einem großen Büro mit vier Partnern zusammen. Sekunden später meldete er sich wieder. »Okay, was kann ich für Sie tun?«

»Ich weiß, dass die Welt der Wohltätigkeitsorganisationen unendlich groß ist und Ihrer Frau vertrauter war als Ihnen, aber können Sie sich daran erinnern, dass Eileen von einem Gernsback Institute gesprochen hat?«

Er überlegte kurz, antwortete dann: »Sagt mir nichts.«

»Wie steht’s mit dem Seedling Fund?«

»Auch unbekannt.«

»Nun zu ein paar Namen. David James Michael?«

»Hmmm … sorry, nein.«

»Quinn Eubanks?«

»Mit Namen konnte ich nie viel anfangen.«

»Das Seminar in Boston, bei dem Eileen die Migräne hatte – Sie haben gesagt, es sei eine Veranstaltung der Universität Harvard gewesen.«

»Ja, das können Sie nachschlagen.«

»Das habe ich bereits getan. Aber ich frage mich, ob Eileen unmittelbar davor oder danach an einer anderen Veranstaltung teilgenommen hat.«

»Eileen hat ihre Arbeit sehr ernst genommen. Sie hatte einen vollen Terminkalender. Auswendig weiß ich das nicht, aber ich könnte nachsehen.«

»Dafür wäre ich Ihnen dankbar, Sidney. Sagen wir … bis morgen um diese Zeit?«

»Sie lassen also noch immer nicht locker!«

»Denken Sie an die Selbstmordstatistiken, die ich Ihnen gegeben habe.«

»Ja, ich weiß. Aber wie Sie damals gesagt haben: Sehen Sie sich an, wie verrückt es auf der Welt zugeht, wie Hass und Gewalt regieren, dann brauchen Sie keine weitere Erklärung dafür, weshalb immer mehr Leute depressiv sind.«

»Nur war Eileen nicht depressiv.«

»Nein, das war sie nicht. Aber …«

»Und Nick auch nicht.«

»Sie war nicht depressiv«, sagte Sidney, »aber deswegen wollte ich Sie neulich anrufen. Sie erinnern sich an die Mitteilung, die sie hinterlassen hat?«

Jane zitierte den Anfang aus dem Gedächtnis: »Sweet Sayso sagt, dass er all diese Jahre einsam war …«

»Anfangs haben wir das ziemlich für uns behalten«, sagte Sidney, »weil … nun, weil dieser merkwürdige Text so gar nicht nach Eileen geklungen hat. Wir wollten nicht, dass die Leute sie für … nicht ganz richtig im Kopf hielten. Aber vor Kurzem hat ihre Tante Faye das Rätsel gelöst. Gewissermaßen. Als kleines Mädchen von vier oder fünf Jahren hatte Eileen einen imaginären Freund namens Sayso. Mit ihm hat sie geredet, über ihn hat sie Geschichten erzählt. Irgendwann hat sich das wieder gegeben. Wer weiß, wieso sie zuletzt wieder auf ihn zurückgekommen ist?«

Jane lief bei der Vorstellung, ein längst vergessener imaginärer Freund fordere eine Fünfzigerin auf, mit ihm in den Tod zu gehen, ein kalter Schauder über den Rücken. Hätte sie ihre Reaktion jedoch erklären sollen, wäre sie in Verlegenheit geraten.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Sidney plötzlich.

»Einigermaßen. Aber ich schlafe nicht gut.«

»Ich auch nicht. Wenn ich aufwache, weil ich schnarche, entschuldige ich mich bei ihr für den Lärm. Ich vergesse, dass sie nicht mehr da ist.«

»Ich reise viel, übernachte in Motels«, sagte Jane, »aber ich kann in keinem Doppelbett schlafen. Nick war ein großer Kerl. Also muss es ein breites französisches Bett sein. Sonst gestehe ich quasi ein, dass er nicht mehr da ist, und schlafe überhaupt nicht.«

»Sind Sie vom FBI noch immer beurlaubt?«

»Yeah.«

»Hören Sie auf meinen Rat, gehen Sie wieder zum Dienst. Arbeiten Sie, statt eine Erklärung für etwas zu suchen, was sich niemals ganz wird erklären lassen.«

»Vielleicht tue ich’s«, log sie.

»Ich will Ihnen nichts einreden, aber mir hat meine Arbeit geholfen.«

»Vielleicht tue ich’s«, log sie noch mal.

»Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, damit ich anrufen kann, sobald ich weiß, ob Eileen damals auf einer weiteren Veranstaltung war.«

»Ich rufe Sie morgen an«, sagte sie hastig. »Danke, Sidney. Sie sind ein Schatz.«

Als Jane das Gespräch beendete, schien sie im Park allein zu sein. Die Fußwege und Rasenflächen waren verlassen, so weit ihr Auge reichte. Nirgends eine stolzierende Taube. Nirgends ein vorbeihuschendes Eichhörnchen.

Zur falschen Zeit am falschen Ort konnte eine Großstadt so einsam wie die Arktis sein.

Auf den im Norden und Süden vorbeiführenden Straßen brauste der Verkehr mit Motorenlärm, dem Zischen von Druckluftbremsen, gelegentlichem Hupen und dem Scheppern eines losen Gullydeckels. Auch als sie sich von dem plätschernden Springbrunnen wegbewegte, wirkte der Verkehrslärm seltsam gedämpft, als liege der Park hinter Schallschutzfenstern.

Die unter Druck stehende Luft blieb still, der Himmel war voller dunkelgrauer Wolkenberge, aus denen bald eine Sintflut über die Stadt hereinbrechen würde, die Fenster aller Gebäude in der City leuchteten hell, und die mit Licht fahrenden Autos glitten durch die falsche Dämmerung wie Tauchboote, die Unterwasserrouten folgten.

Jane war erst wenige Schritte von dem Springbrunnen entfernt, als sie auf ein Summen wie von einem Wespenschwarm aufmerksam wurde. Sie hörte es erst über, dann hinter sich, aber als sie sich um die eigene Achse drehte, bis sie wieder den Palmenhain vor sich hatte, sah sie die Quelle dieses Geräuschs sieben Meter von sich entfernt schweben: eine Drohne.

SECHZEHN

Der hochwertige Quadrocopter in Zivilausführung, sehr viel kleiner als jede Militärdrohne, erinnerte an einen unbemannten Mondlander en miniature. Er hatte Ähnlichkeit mit dem DJI Inspire 1 Pro, war aber etwas größer: ein Fluggerät für ungefähr siebentausend Dollar. Immobilienmakler ließen solche Geräte Videos von ihren Objekten machen, und die Zahl der kommerziellen Anwendungen stieg von Tag zu Tag. Beliebt waren sie auch bei wohlhabenden Hobbypiloten, die von echten Drohnenbegeisterten bis zu »Spannern« mit Hightech-Equipment reichten.

Das in kaum drei Metern Höhe im Schatten unter den üppigen Wedeln der Phönixpalmen schwebende Gerät verkörperte den gefürchteten Maschinengott aus tausend Filmen und Storys: ein fast zerbrechlich wirkendes Ding, dessen Anblick sie wie ein Keulenschlag traf, während Angst sie durchzuckte. Dabei verstieß das Fluggerät gegen alle Vorschriften für zivile Drohnen, zumindest soweit Jane sie kannte.

Sie glaubte keine Sekunde lang, das Auftauchen einer Drohne hier im Park könnte bloßer Zufall sein. Die Kamera in dreiachsiger Kardanaufhängung blieb unbeirrbar auf sie gerichtet.

Irgendwie hatte sie ihren Standort verraten. Wann sie einen Fehler gemacht hatte, war jetzt unwichtig; eine genaue Analyse hatte Zeit bis später.

Erreichte die Drohne mit einem zusätzlichen Akku die doppelte Flugdauer einer Inspire 1 Pro, konnte sie dreißig bis vierzig Minuten in der Luft bleiben. Das bedeutete, dass sie in der näheren Umgebung gestartet worden sein musste – vermutlich von einem Überwachungswagen aus.

Der Drohnenoperator würde sie nicht mehr aus den Augen lassen, bis genügend Polizeibeamte eintrafen, um sie zu verhaften. Oder vielleicht steckte dahinter kein legitimes Exekutivorgan. Dann würde sie einfach … überwältigt und entführt werden. Sie waren hinter ihr her. Die allgewaltigen, fast mystischen sie. Aber Jane hatte keine Ahnung, wer sie sein könnten.

Jedenfalls waren sie bereits in der Nähe.

Der Park wirkte noch immer menschenleer. Bestimmt nicht mehr lange.

Jane versuchte nicht, sofort zu flüchten, sondern bewegte sich stattdessen auf die Drohne zu, als ihr etwas an dem Gerät auffiel, was genaueres Hinsehen erforderte. Dank ihres Muts entdeckte sie frühzeitig, dass dies entweder keine Zivilausführung oder ein radikal modifiziertes Gerät war. Vielleicht täuschten die Schatten und die schlechten Lichtverhältnisse ihr etwas vor, auch wenn das unwahrscheinlich war, oder vielleicht ließ ihr Verfolgungswahn sie einen Schalldämpfer sehen, der den dünneren Lauf einer Waffe umgab, aber sie wusste genau, dass Verfolgungswahn nichts damit zu tun hatte.

Die Drohne war bewaffnet worden.

Als das Gerät auf sie zuschwebte, wich sie hinter den dicken Stamm einer Phönixpalme aus. Hätte sie wegzulaufen versucht, wäre sie von hinten erschossen worden.

In diesem verzweifelt kurzen Augenblick in sicherer Deckung zog sie die Heckler & Koch aus dem Schulterhalfter.

Ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren, um das ganze Ausmaß der Gefahr zu erfassen. Das Gewicht sprach dagegen, dass in eine zivile Drohne eine Waffe mit großem Magazin eingebaut worden war. Unbewaffnet wog eine normale Drohne mit Kamera und Batterie ungefähr dreieinhalb Kilo. Das zusätzliche Gewicht einer Waffe mit Munition musste Stabilität und Flugdauer ungünstig beeinflussen. Also würde es eine wenig zielsichere Kleinkaliberwaffe mit ein paar Schuss Munition sein.

Aber natürlich brauchte sie nur einmal zu treffen.

Jane erwartete, dass die ferngesteuerte Mordwaffe von links anfliegen würde. Dann hörte sie, wie die Drohne die massive alte Palme rechts umflog.

Bevor die Kamera sie erfassen konnte, wich sie nach links aus. Mit dem Rücken zu dem dicken Stamm der riesigen Palme blieb sie im Kielwasser der Drohne, die weiter um den Baum kreiste.

Der Schießmechanismus würde keine vollwertige Handfeuerwaffe sein. Kein Pistolengriff, kein Standardmagazin. Nur das Notwendigste. Eine Waffe Kaliber .22 mit drei oder vier Schuss gegurteter Munition.

Sie hatte den Vorteil, hören zu können. Die Drohne hatte ein Auge, aber kein Ohr. Ihr Operateur war praktisch taub.

Aber Kupfermantelgeschosse mit Hohlspitzen konnten selbst als Kaliber .22 aus naher Entfernung tödlich sein.

Jane beendete das Versteckspiel. Sie trat von dem Baumstamm weg, näherte sich der Drohne entschlossen von hinten.

Das Blickfeld des Operateurs umfasste nur ungefähr siebzig Grad. Er schien eine Gefahr im toten Winkel zu ahnen. Mit zornigem Hornissensummen begann die Drohne plötzlich, sich im Schwebeflug um die Hochachse zu drehen.

Mit ihrer Pistole in beiden Händen gab Jane aus Kernschussweite drei, vier, fünf Schüsse ab, deren Explosionen wie Flipperkugeln von den Stämmen des Palmenhains abzuprallen schienen. Das verdammte Gerät bestand vor allem aus Fahrwerk und Luftschrauben, einem schmalen Rumpf und der Kamera in Kardanaufhängung – kein sehr großes Ziel, sodass sie sich wünschte, ihre Pistole wäre eine Schrotflinte. Andererseits war diese Großmutter des Terminators nicht gepanzert oder sonst wie gegen feindliches Feuer geschützt. Von einem oder mehreren Schüssen getroffen, verlor sie ein großes Bauteil, kippte seitlich ab, prallte gegen eine andere Palme und schlitterte durchs Gras, bis sie zum Stillstand kam. Viele Tausend Dollar wurden binnen Sekunden zu Schrott.

Sie konnte nicht ahnen, dass es eine zweite Drohne gab, bis sie vom Springbrunnen her auf Jane zugerast kam.

SIEBZEHN

Zwei Drohnen, ein Überwachungswagen, von dem aus sie gesteuert wurden, und bestimmt ein halbes Dutzend oder mehr Kerle zu Fuß, die bald wie aus dem Nichts auftauchen würden: Sie verfügten über Ressourcen, und sie hatten es auf Jane abgesehen – vielleicht erbitterter, als sie bisher geglaubt hatte.

Als sie sich herumwarf, um vor der zweiten Drohne zu flüchten, blockierte ihr die massive alte Phönixpalme den Weg. Bevor sie um den Stamm herumlaufen konnte, stanzte ein Dutzend schlanker Stahlnadeln, die sie nur um Zentimeter verfehlten, eine senkrechte Linie ins Holz.

Das hätte sie sich denken können. Eine kaum fünf Kilo schwere Drohne konnte nicht einmal den Rückstoß einer Schusswaffe mit Kaliber .22 kompensieren und dabei zielsicher bleiben. Diese fast rückstoßfreie Waffe verschoss mit Druckluft Stahlpfeile. Nein, keine Pfeile, denn die Befiederung fehlte – eigentlich waren es Armbrustbolzen. Gift? Betäubungsmittel? Vermutlich Letzteres. Sie würden sie vernehmen wollen, daher wäre aus Janes Blickwinkel Gift vorzuziehen gewesen.

Außer Sichtweite der Straße schlängelte sie sich von dem surrenden Fluggerät verfolgt zwischen Palmen hindurch, aus denen empört kreischende Vögel aufflogen, die lautstark dagegen protestierten, dass sie aus den Palmwedeln vertrieben und in den aufziehenden Sturm hinausgejagt wurden. Wegen ihrer weit ausladenden Kronen waren die Abstände zwischen den Palmen größer, als Jane sich gewünscht hätte, weil sie so weite Strecken ohne Deckung zurücklegen musste. Während sie Haken schlagend unterwegs war, wurde ihr klar, dass die Drohne bei Windstille ungefähr zwanzig Meter in der Sekunde zurücklegen konnte – also viel schneller war, als sie rennen konnte. Sie würde ihr nicht mehr lange ausweichen können. Und sie durfte nicht hoffen, sie wie die erste Drohne austricksen zu können. Das Gerät mochte dumm sein, aber der Drohnenoperateur war es nicht.

Die Schießerei würde die Polizei auf den Plan rufen, aber das war nicht unbedingt gut. Vor zwei Monaten, als diese Sache angefangen hatte, hatte Jane die Erfahrung gemacht, dass nicht alle Cops auf der Seite der Gerechten standen. In diesen gefährlichen Zeiten, in denen Schatten ihrerseits Schatten warfen und Dunkelheit oft als Licht galt, waren Gerechte und Ungerechte schwer zu unterscheiden.

Während sie auf ihrem Hindernismarathon, den sie nur verlieren konnte, Haken schlagend von einer Phönixpalme zur nächsten lief, aus denen sie sich nicht wie ein Vogel Phönix erheben würde, wenn sie ermordet wurde, spürte sie ein Zupfen am rechten Ärmel. Als sie an sich herabsah, entdeckte sie drei der dünnen Stahlbolzen, die den Jackenärmel durchbohrt und ihren Arm nur um Haaresbreite verfehlt hatten.

In der frühen Dämmerung dieses düster bewölkten Nachmittags zuckte jähe Helligkeit apokalyptisch über den Park, als wolle sie alles entzünden, was sie berührte, und eine unmittelbar bevorstehende Welt voller Asche ankündigen. Zugleich wichen alle Schatten in die Objekte zurück, von denen sie geworfen wurden, oder griffen zitternd über die Fußwege und Rasenflächen aus wie heimatlos gewordene Gespenster auf der Suche nach einer neuen Bleibe. Dass ein Blitz vom Himmel herabgezuckt war und in der Nähe eingeschlagen hatte, wurde Jane erst eine halbe Sekunde nach dem Aufleuchten bewusst, als ein schmetternder Donnerschlag den Boden unter ihren Füßen erzittern ließ.

Zu den vielen Dingen, die sie in Quantico gelernt hatte, gehörte, dass man beherzigte, was einem in der Ausbildung eingebläut worden war, und das tat, was sich für Tausende Gesetzeshüter in Tausenden Fällen bewährt hatte – aber zu erkennen imstande war, wann Dienst nach Vorschrift zu einem Nachruf und einer Post-mortem – Belobigung führen würde, und dann auf seine Intuition vertraute, die verlässlicher als alles Angelernte war. Nach dem blendend hellen Blitzstrahl fluteten die vertriebenen Schatten zurück, als folgten sie dem Ruf des Donnergrollens. Als der Tag sich um Jane herum verfinsterte, warf sie sich zu Boden, wälzte sich auf den Rücken und glich so einem Menschenopfer auf einem Aztekenaltar, während der fliegende Terminator über ihr schwebte, wie um das Blut seines Opfers einzufordern. Sobald sie sah, dass die Drohne im Schwebeflug ihre Waffe ausrichtete, riss sie die Pistole hoch und jagte die restlichen fünf Schuss hinaus.

Glitzernde Stahlbolzen flogen an Janes Gesicht vorbei und bohrten sich ins Erdreich, als die nächste Salve sie verfehlte. Die getroffene Drohne wich schwankend zurück, als versuche sie, Höhe zu gewinnen. Weil sie einen Rotor verloren hatte, taumelte sie stattdessen heftig, kippte seitlich ab, als sie eine Kurve zu fliegen versuchte, und beschleunigte auf eine Lücke zwischen den Bäumen zu. Dann krachte sie mit mindestens zehn Metern in der Sekunde gegen einen Palmenstamm, an dem sie wie eine überreife Frucht zerplatzte.

Jane war wieder auf den Beinen, ohne zu wissen, wie sie sich aufgerappelt hatte. Sie zog das leere Magazin heraus, steckte es ein, rammte ein Magazin mit zehn Schuss in die Heckler & Koch, schob sie ins Holster und rannte los.

ACHTZEHN

Am Rand des Palmenhains, auf der freien Fläche in der Nähe des Springbrunnens, sah Jane sie endlich kommen. Vom Parkplatz der Bibliothek aus, der westlich von ihr lag, rannten zwei Kerle in ihre Richtung, und drei weitere kamen von der nördlich verlaufenden Straße in den Park gespurtet. Auch wenn keiner von ihnen Uniform trug, waren sie bestimmt keine harmlosen Bürger, die hier joggten, um fit zu bleiben.

Der Ford Escape stand einen Straßenblock weiter südlich an einer Parkuhr, aber Jane wollte sie nicht zu ihrem Auto führen, das sie vielleicht noch nicht kannten.

Sie flüchtete über die größte Rasenfläche des Parks nach Osten und war froh, dass sie Kohlenhydrate mied, jeden Abend Gymnastik machte und regelmäßig joggte.

Selbst aus der Ferne war zu erkennen, dass ihre fünf Verfolger groß genug waren, um sich als NFL-Abwehrspieler zu qualifizieren: riesige Kerle mit gewaltigen Muskelpaketen und enormen Kräften. Aber Jane wog zweiundfünfzig Kilo und jeder ihrer Verfolger mindestens das Doppelte, sodass der Energieverbrauch der Männer beim Laufen weit höher war. Sie dagegen war schlank und fit, und ihre Motivation – Überleben – befeuerte sie weit wirkungsvoller als alles, was diese Kerle antreiben mochte.

Sie sah sich nicht um. Dabei wäre sie nur langsamer geworden. Sie würde eingeholt werden – oder auch nicht, denn solche Rennen wurden oft von dem gewonnen, der das meiste Vertrauen in sein Durchhaltevermögen besaß.

Ein zweiter Blitz zuckte herab, heller als der erste, und schlug in den höchsten Baum in weitem Umkreis ein: eine Lebenseiche, von deren Stamm ein Regen aus brennenden Holzsplittern und glühender Rinde niederging. Ein abbrechender riesiger Ast trug ein Gewirr aus Zweigen, das an eine fantastische Mikrowellenantenne erinnerte, die Signale unzähliger ferner Welten auffing.

Obwohl die herabkrachende Masse sie nicht erreichte, hob Jane einen Arm vors Gesicht und schützte ihre Augen vor den aufstiebenden brennenden Holzsplittern, Rindenstücken und ovalen braunen Blättern, die sie sekundenlang wie ein Hornissenschwarm umgaben.

Als die letzten Splitter herabregneten und der Donner durch die City davonrollte, als Jane den Ostrand des Parks erreichte, öffnete der dunkle Himmel plötzlich seine Schleusen, und es begann in Strömen zu gießen: dicke, harte Tropfen, die durch Laub und Gras zischten, auf den Asphalt klatschten, die Metalldeckel von Mülltonnen leise scheppern ließen und als Folge der Blitzschläge einen Hauch von beißendem Ozongeruch mitbrachten.

Die silbrigen Regenfluten waren plötzlich von roten Fäden durchzogen, als aufleuchtende Bremslichter zeigten, dass Autofahrer auf die plötzliche Sichtverschlechterung reagierten. Ohne eine Sekunde zu zögern, sprang Jane vom Gehsteig auf den schwarz glänzenden Asphalt und schlängelte sich von wildem Hupen und Reifenquietschen begleitet zwischen zwei Ampeln über die Straße. Polternd arbeitende Scheibenwischer zeigten ihr viele verblüffte und einige wütende Gesichter, bevor sie hinter neuen Sturzbächen auf den Frontscheiben verschwammen.

Auf der anderen Straßenseite wandte sie sich nach Süden, rannte in vollem Tempo weiter und wich den wenigen Fußgängern aus, die vielleicht irritiert, aber nicht überrascht waren, eine junge Frau ohne Schirm zu sehen, die es eilig hatte, Schutz zu finden. An der ersten Ecke bog sie nach Westen ab und spurtete einen halben Block weit, bevor sie die Straße gegen eine schmale Gasse eintauschte und schon nach wenigen Metern in einem nur für Fußgänger geeigneten engen Durchgang verschwand.

Auf halber Strecke in dieser Passage zwischen hohen Häusern riskierte sie endlich einen Blick nach hinten. Sie sah keinen der fünf Kerle aus dem Park, aber sie wusste, dass sie nicht alle abgeschüttelt haben konnte. Sie waren irgendwo in der Nähe, und sie musste darauf gefasst sein, ihnen überraschend zu begegnen.

Sie machte nur lange genug halt, um ihr Handy in den nächsten Gully zu werfen. Trotz des Regens hörte sie es ins dunkle Wasser jenseits der Gitterstäbe klatschen, bevor sie sich aufrichtete und weiterrannte.

NEUNZEHN

Der enge Durchgang mündete in eine große Straße. Jane wollte sie eben überqueren, als ihr auf der gegenüberliegenden Seite und fünfzig Meter links von ihr ein dunkel gekleideter großer Mann auffiel, der klatschnass wie sie auf dem Gehsteig stand, ohne auf die vorbeihastenden Fußgänger zu achten. Er konnte irgendwer sein, der nach jemandem Ausschau hielt, aber sie wich intuitiv in die Gasse zurück, aus der sie gekommen war.

Kurz bevor sie außer Sichtweite war, sah sie, dass er sie entdeckt hatte. Er hob den Kopf und verharrte, wie ein Jagdhund für einen Augenblick erstarrt, wenn er die Witterung seiner Beute aufnimmt.

Jane verschwand in dem kaum zwei Meter breiten Durchgang, rannte weiter, wischte sich Regenwasser aus den Augen und fand ihr keuchendes Atmen entmutigend. Ihre Kehle war heiß und kratzig. Ihr Herz hämmerte. Und sie hatte Seitenstechen und Sodbrennen.

Verrückt, diese Menschenjagd am helllichten Tag, in einer belebten Großstadt. Verrückt und unglaublich, aber nicht unglaublicher, als dass Nick sich mit seinem Ka-Bar die Kehle durchgeschnitten, Eileen Root sich in ihrer Garage erhängt oder Dschihadisten ein Flugzeug auf einen überfüllten Expressway hatten stürzen lassen.

Als sie die Gasse erreichte, durch die sie zuvor gestürmt war, und sich bewusst war, dass ihr Verfolger sie vermutlich auf der Straße einholen würde, sah sie vor dem Hintereingang eines Restaurants den Lieferwagen einer Bäckerei stehen. Der Fahrer in gelber Regenjacke stapelte vier große Kunststoffboxen auf eine Sackkarre, die er in die Küche des Kunden schob.

Jane flitzte zur Fahrertür, sah durch die teilweise beschlagene Scheibe, stellte fest, dass der Beifahrersitz leer war, und hastete nach hinten. Aber sie entschied sich gegen den Laderaum, weil der Fahrer eine der Hecktüren angelehnt gelassen hatte, als habe er hier noch mehr zu liefern. Stattdessen stieg sie vorn ein, zog die Beifahrertür zu und ließ sich so tief in den Fußraum gleiten wie nur möglich.

Regen floss in Bächen über die Frontscheibe, und beide Seitenfenster waren im unteren Drittel beschlagen. Die Innenbeleuchtung war ausgeschaltet, die Anzeigen der Instrumente waren dunkel. Solange sie im Fußraum blieb, war sie vermutlich nicht zu sehen – außer ihr Verfolger riss eine der Türen auf. Aber er würde eher vermuten, sie habe in dieser Gasse einen unverschlossenen Hintereingang entdeckt, wahrscheinlich den des Restaurants.

Während sie sich bemühte, ruhig zu atmen, hörte sie draußen Geräusche. Im lauten Prasseln des Regens konnte sie nicht erkennen, was es war.

Dann war das typische Knistern und Knacken eines Funkgeräts zu hören, die Worte blieben aber unverständlich.

Der Mann mit dem Funkgerät war nahe, allzu nahe. Er musste praktisch neben dem Lieferwagen stehen. Seine tiefe Stimme klang gedämpft, aber sprach jetzt deutlich genug. »Einen halben Block östlich von euch. Hinter einem Restaurant, das sich Donnatina’s nennt.«

Dann knisterte und knackte es erneut, ohne dass Jane die andere Stimme verstehen konnte.

»Okay«, sagte der Mann neben ihr. »Ihr beiden vor dem Eingang. Durchsucht das Lokal, auch die Toiletten, treibt sie raus.«

Seine Stimme wurde leiser, als er seinen Platz verließ und zum Hintereingang des Donnatina’s ging.

Jane überlegte, ob sie ihre Pistole ziehen sollte. Aber im Fußraum zusammengekauert, mit dem Rücken zwischen Sitz und Tür eingeklemmt und mit dem Lenkrad vor sich würde sie kaum einen gezielten Schuss abgeben können.

Außerdem würden sie ihr keinen Grund liefern, als Erste zu schießen. Unabhängig davon, ob sie eine entfernt legitime Autorität vertraten oder einer verbrecherischen Organisation angehörten, würden sie sie entführen wollen, um sie verhören zu können.

Sie.

Auch wenn Jane sie jetzt vielleicht nicht benennen konnte, würde sie eines Tages ihre Identität kennen. Das hatte sie Nick versprochen, und obwohl sie dieses Versprechen einem Toten gegeben hatte, würde sie es verdammt noch mal halten, weil es ihr so heilig war wie früher ihr Ehegelöbnis.

Einige Minuten vergingen, bis der Fahrer die Hecktür öffnete.

Das Schiebefenster zwischen Fahrerhaus und Laderaum stand offen. So konnte sie deutlich hören, wie der Kerl mit dem Funkgerät den Fahrer ausfragte. »Haben Sie eine Frau gesehen, brünett, eins siebzig, attraktiv, aber durchnässt wie ich?«

»Wo gesehen?«

»Hier in der Gasse. Vielleicht auf dem Weg ins Lokal?«

»Wann soll das gewesen sein?«

»Seit Sie hier sind.«

»Ich hab Zeug geliefert.«

»Sie haben sie also nicht gesehen?«

»Bei diesem Scheißwetter, mit hochgeschlagener Kapuze und gesenktem Kopf?«

Eine neue Stimme mischte sich ins Gespräch ein. »Die Bitch ist clever, Frank. Sie ist irgendwo anders.«

Frank sagte: »Ich könnte sie echt umbringen!«

»Reg dich ab. Wer ist diese Plastikbanane?«

Der Fahrer in der gelben Regenjacke sagte: »Ich fahre diese Tour seit fünf Jahren, ich hab hier noch nie eine attraktive Frau gesehen.«

Dem Neuankömmling erklärte Frank: »Ausfahrer. Weiß nichts.«

»Ich weiß bloß, dass ich bei solchem Scheißwetter arbeiten muss. Wer seid ihr Leute überhaupt – Cops oder so was?«

»Das wollen Sie lieber nicht wissen«, sagte Frank.

»Ist wohl besser«, meinte der Fahrer und machte sich daran, weitere Kunststoffboxen mit Backwaren auszuladen.

Jane wartete, horchte nach draußen und erwartete fast, ein Gesicht am Seitenfenster auftauchen zu sehen: verschwommen und bedrohlich wie ein Traumgesicht.

Der Regen prasselte weiter. Blitze und Donnerschläge gab es keine mehr. Kalifornische Regengüsse wurden selten von viel Pyrotechnik begleitet.

Dann kam der Fahrer zurück. Sie hörte, wie er die Sackkarre in den Laderaum stellte. Er knallte die Hecktür zu, ohne mit jemandem zu sprechen.

Jane war kurz davor, sich aufzurappeln und auszusteigen, aber dann hörte sie wieder eine kratzige Stimme aus einem Funkgerät, das wegen des schlechten Empfangs weit aufgedreht worden war.

Die Fahrertür wurde geöffnet, und der Ausfahrer schwang sich hinters Lenkrad, bevor er leicht zusammenzuckte, als er sie entdeckte.

»Bitte nicht«, flüsterte sie.

ZWANZIG

Der Ausfahrer war etwa in Janes Alter. Sein breites, freundliches Gesicht war sommersprossig mit rostroten Augenbrauen, die vermuten ließen, dass er unter der leuchtend gelben Kapuze rothaarig war.

Er knallte seine Tür zu, ließ den Motor an, schaltete die Scheibenwischer ein und fuhr von dem Restaurant weg. Schon bevor sie das Ende des Blocks erreichten, sagte er: »Okay, sie sind weg. Sie können sich jetzt aufsetzen.«

»Ich bleibe lieber noch eine Weile hier unten. Dann können Sie mich bei Ihrem nächsten Stopp absetzen.«

»Das könnte ich.«

»Danke.«

Er bremste am Ende des Blocks. »Aber wenn Sie ein bestimmtes Ziel haben, könnte ich Sie auch dorthin fahren.«

Jane musterte ihn prüfend. »Wie heißen Sie?«

»Ethan Hunt, ob Sie’s glauben oder nicht.«

»Warum sollte ich das nicht glauben?«

»Na ja, Ethan Hunt – wie Tom Cruise in den Mission-Impossible – Filmen.«

»Ah. Damit werden Sie oft aufgezogen, was?«

»Nicht von Leuten, die wissen, was hinter meinem Job als Ausfahrer steckt. Ungefähr einmal im Monat entschärfe ich eine Atombombe im Kofferformat und rette die Welt.«

»Wow, einmal im Monat?«

»Na ja, alle sechs Wochen.«

Sein Lächeln gefiel ihr. Es war weder sarkastisch noch eingebildet wie heutzutage bei so vielen Leuten.

»Ich müsste zu meinem Auto.« Sie sagte ihm, wo es geparkt war. »Aber wenn Sie einen dieser Schlägertypen sehen, fahren Sie einfach weiter.«

Sie schlängelte sich aus dem Fußraum hoch und setzte sich neben ihn.

Regenwasser floss über die Straßen, und die Rinnsteine liefen über. Die Lichter entgegenkommender Fahrzeuge ließen den Niederschlag wie Schneeregen aussehen, der den Asphalt mit einer Eisschicht zu überziehen schien.

»Wahrscheinlich frage ich lieber nicht nach Ihrem Namen«, sagte Ethan Hunt.

»Ist vielleicht besser für Sie.«

»Sie halten wohl nichts von Schirmen?«

Jane sagte: »Der Wasserleichen-Look ist so kleidsam.«

»Sähe eine Wasserleiche auch nur halb so gut aus wie Sie, würde ich sie sofort heiraten.«

»Danke. Glaube ich.«

»Ich fahre einen Umweg, um mich zu vergewissern, dass alles sicher ist.«

»Das habe ich schon gemerkt.«

»Außerdem möchte ich noch etwas länger mit Ihnen zusammen sein.«

»Die letzte Kofferbombe ist schon länger her, was?«

»Kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Das vorhin waren ein paar üble Kerle.«

»Ja, ich weiß.«

»Wissen Sie bestimmt, dass Sie allein mit ihnen fertigwerden?«

»Wollen Sie sich freiwillig melden?«

»Niemals. Die würden mich wie einen Käfer zerquetschen. Ich meine nur.«

»Ich komme schon zurecht.«

»Für mich wär’s schrecklich, etwas anderes denken zu müssen.« Er hielt neben ihrem Escape. »Keine Schlägertypen in Sicht.«

»Sie sind ein lieber Kerl, Ethan Hunt. Vielen Dank.«

»Dass diese Sache zu einem Date führen könnte, ist unwahrscheinlich, was?«

»Glauben Sie mir, Ethan, ein Date mit mir wäre die Hölle.«

Jane stieg in den Regen aus, und als sie die Tür schloss, hörte sie ihn sagen: »Aber langweilig wäre es nicht.«

EINUNDZWANZIG

Die Leute, die zu verstehen schienen, was den Anstieg von Selbstmorden bewirkt hatte, die ihn vielleicht sogar herbeigeführt hatten, hatten offenbar enge Verbindungen zu Janes bisher unbekannten Sicherheitsdiensten. Sie musste annehmen, dass sie auch Einfluss bei bundesstaatlichen Behörden hatten, zu denen die California Highway Patrol gehören würde.

Auf der Fahrt aus der Stadt mied sie die Freeways, auf denen es von CHP-Patrouillen wimmelte. Dort gab es auch Kontrollstellen, an denen der Verkehr sich leicht verlangsamen oder anhalten ließ. Die Drohnen hatten Videos von ihr gemacht, und die Männer, vor denen sie zu Fuß geflüchtet war, hatten gesehen, dass ihr Haar jetzt nicht mehr blond, sondern brünett und kürzer war. Die Fahnder würden längst ihre neue Personenbeschreibung in den Händen halten.

Eigentlich hatte sie nur ein paar Meilen die Küste entlang nach La Jolla fahren wollen, um einen Mann aufzusuchen und ihm eine Frage zu stellen, deren Beantwortung über ihre Zukunft entscheiden konnte. Stattdessen fuhr sie auf vom Regen überfluteten Straßen in Richtung Küste, machte einen Bogen um La Jolla und erreichte das Naturschutzgebiet Torrey Pines.

Ab dort benutzte sie den County Highway S12. An dieser Küstenstraße lag eine Kette von malerischen Strandorten, die von Del Mar und Solano Beach bis nach Oceanside im Norden reichten.

Sie fuhr auf den Strandparkplatz, der bei diesem Wetter leer war. Unter dem Beifahrersitz angelte sie eine flache Werkzeugtasche hervor, aus der sie einen Schraubenzieher holte.

Sie stieg trotz des Unwetters aus. In den hohen Tannen heulte stürmischer Wind. Schräg auftreffender Regen spritzte mit einem Zischen wie von tausend zornigen Schlangen vom Asphalt hoch.

Obwohl ihre nassen Finger von dem Schraubenzieher abrutschten, gelang es ihr, die beiden Kennzeichen abzuschrauben – unbemerkt, soweit sie das beurteilen konnte.

Falls es in der Nähe des Parkplatzes, auf dem sie den Ford zurückgelassen hatte, um in die Bibliothek zu gehen, Überwachungskameras gegeben hatte, was fast unvermeidlich war, würden ihre Verfolger bald das Videomaterial aus der Umgebung des Parks sichten, in dem sie beinahe geschnappt worden war. Sie würden hoffen, Aufnahmen zu finden, die sie beim Abstellen ihres Wagens und ihre Rückkehr dorthin zeigten. Deshalb musste Jane damit rechnen, dass sie wussten, dass sie einen schwarzen Ford Escape mit kanadischen Kennzeichen fuhr.

In Kalifornien interessierte die Polizei sich nur selten für Wagen ohne Kennzeichen, weil Händler bei Verkäufen keine Überführungskennzeichen mitlieferten. Deshalb war es besser, ohne Kennzeichen zu fahren, als welche am Auto zu lassen, die in ein, zwei Stunden auf der Fahndungsliste jedes Cops stehen konnten.

Sie schob die Kennzeichen unter den Fahrersitz, setzte sich ans Steuer und ließ den Motor an. Wieder klatschnass, stellte sie die Heizung höher und ließ die Lüftung mit voller Leistung arbeiten.

Als die Scheibenwischer das Regenwasser von der Frontscheibe schoben, sah sie den nahen Pazifik, vom Sturm aufgewühlt und nebelverhangen, der nicht wie Wasser gegen die Küste brandete, sondern einem Meer aus grauem Rauch glich, der dem Feuer eines gewaltigen Atominfernos entstieg.

ZWEIUNDZWANZIG

Nach einem Tankstopp in Cardiff-by-the-Sea verließ Jane die Küstenstraße, um auf der Interstate 5 weiterzufahren. Sie war jetzt über zwanzig Meilen von San Diego entfernt, und die Interstate lohnte das Risiko, weil sie höhere Geschwindigkeiten erlaubte.

Sie verließ das Unwettergebiet nördlich von Oceanside, wo die mit Sträuchern bewachsene Küstenebene im harten kalten Licht eines Vorfrühlingstags wenig einladend wirkte.

Als sie unterwegs Zeit zum Nachdenken hatte, wurde ihr klar, dass es ihr erster Fehler gewesen war, Gwyneth Lamberts Frage Wohin wollen Sie als Nächstes? zu beantworten. Sie hatte gesagt, sie müsse jemanden in der Umgebung von San Diego aufsuchen.

Das Band zwischen Gwyn und ihr hatte Jane Vertrauen zu ihr fassen lassen. Frauen von Marines. Witwen von Marines. Eine aus drei Strängen bestehende Verbundenheit: Dienst, Pflicht und Trauer. Sie hatte die Frau gemocht. Sie hatte keinen Grund zu der Annahme gehabt, Gwyn sei irgendwie kompromittiert und stehe am Rand eines emotionalen Abgrunds.

Mit wem hatte Gwyneth telefoniert, bevor sie sich erschossen hatte? Wieso hatte sie überhaupt mit jemandem gesprochen? Um zu melden, dass Jane als Nächstes nach San Diego wollte? Wenn sie … die krakenartigen sie keinen Agenten in Alpine hatten, war es zu Fahndungszwecken nützlich, ihr nächstes Ziel zu kennen.

Aber die »Umgebung von San Diego« umfasste ungefähr zweihundertfünfzig Quadratkilometer, auf denen bis zu einer halben Million Menschen lebten. Das konnte die Suche vielleicht etwas eingrenzen, aber es lieferte keinen Hinweis auf ihren genauen Aufenthaltsort.

In den letzten Wochen mussten ihre Verfolger erkannt haben, dass sie für ihre Internetrecherchen Bibliothekscomputer benutzte. Im Großraum San Diego gab es jedoch zahllose Büchereien, davon viele an Colleges und Universitäten. Dass sie versuchen würde, mehr über das Gernsback Institute und die What If Conferences zu erfahren, von denen Gwyn ihr erzählt hatte, lag auf der Hand. Aber um Jane zu finden, hätten sie imstande sein müssen, alle Anfragen aus Bibliotheken im Großraum San Diego in Echtzeit zu erfassen. Und dann hätten sie in der Lage sein müssen, einschlägige Anfragen zur IP-Adresse des Computers zurückzuverfolgen.

Wenn das Netz sich schon um sie zugezogen hatte, als sie noch in der Bibliothek gewesen war und dem obdachlosen Veteranen vierzig Dollar geschenkt hatte, war es ihr zweiter Fehler gewesen, sich im Park nebenan Zeit zu lassen und Sidney Root in Chicago anzurufen. Kannten sie alle zweiundzwanzig Personen, die ihr bisher Auskünfte erteilt hatten, würden sie vermutlich mit erneuten Kontaktaufnahmen rechnen. Die Überwachung der Telefone so vieler Leute, die bei unterschiedlichen Anbietern waren, stellte eine Riesenaufgabe dar, von der Jane nicht mal wusste, ob sie beim gegenwärtigen Stand der Technik möglich war.

Falls das alles technisch möglich war, würden sie auch ihren Anruf orten und durchs Mikrowellenlabyrinth von Millionen von Mobilfunkgesprächen zu ihrem Wegwerfhandy zurückverfolgen müssen, um Jane mithilfe der GPS-Funktion im Park aufzuspüren.

Alles binnen Minuten.

Vielleicht hatten sie diesmal nur Glück gehabt. Aber selbst dann erschien ihr die Organisation, die nach ihr fahndete, plötzlich schlagkräftiger und mit größerer Reichweite ausgestattet als jede Polizei, effizienter als alle Behörden, die sie kannte, und praktisch allgegenwärtig und allwissend.

Selbst wenn ihr Fahrzeug identifiziert war, würde sie es hoffentlich noch eine Zeit lang benutzen können. Ihre finanziellen Ressourcen waren begrenzt, und dies war ihr zweites Auto seit Beginn dieser Odyssee.

In San Juan Capistrano bog sie von der Interstate 5 auf den State Highway 74 ab. Während der Escape die schroffen, mit Chaparral bedeckten Hügel im Cleveland National Forest erkletterte, verfinsterte Janes Stimmung sich rascher als der schwindende Tag. Die fast wüstenähnliche Landschaft, die in dieser Jahreszeit noch grün war, wurde von Wanderern und Naturfreunden geschätzt, sogar als schön empfunden. Ihr erschien sie unwirtlich und trostlos, als läge vor den Fenstern des Fords ein ums Überleben kämpfender Planet unter einer sterbenden Sonne.

Dann der Abstieg zum Lake Elsinore und darüber hinaus. Eine ländliche Welt, die isoliert wirkte. Grüne Weiden zwischen Heckenreihen. Private Zufahrten, die von der Staatsstraße weg zu versteckt gelegenen Häusern führten. Einzelne kleine Pappel- und Nadelwälder, die bewiesen, dass unter diesem Landstrich, der sonst kahl gewesen wäre, ein Grundwassersee lag.

Die Abgelegenheit war eine Illusion, denn das lebhafte Southern California war im Westen leicht erreichbar, und selbst in diesem ruhigeren ländlichen Bezirk hatten »Kleinstädte« wie Perris oder Hernet immerhin siebzig- bis achtzigtausend Einwohner.

Jane erreichte eine mit Lebenseichen bestandene Zufahrt, bog rechts ab und hielt an einem massiven weißen Holztor, dessen Zwischenräume mit Maschendraht vergittert waren. Sie fuhr ihr Fenster herunter und streckte eine Hand nach der Sprechanlage aus. Anzumelden brauchte sie sich nicht. Als sie ihren persönlichen fünfstelligen Code eingab, schwang das Tor nach innen auf.

Dahinter lag der für sie wichtigste Ort der Welt.

DREIUNDZWANZIG

Das weiße Holzhaus war ein bescheidenes Heim, abgesehen von dem Luxus einer um das ganze Haus führenden breiten Veranda.

Duke und Queenie, die auf dieser Veranda zwischen den Korbsesseln lagen, sprangen auf, als der Ford das Ende der langen Zufahrt erreichte. Die beiden Schäferhunde, Prachtexemplare mit breiter Brust, gut angesetzten Rippen und geradem Rücken, waren nicht nur Familientiere, sondern auch scharfe Wachhunde.

Jane hielt hinter Gavins geliebtem apfelgrünen 1948er-Ford-Pick-up, den er selbst restauriert und mit LaSalle-Stoßstangen von 1937 und einem LaSalle-Kühlergrill aus Edelstahl modifiziert hatte, sodass ein Street Rod in einzigartigem Stil entstanden war.

Die Hunde erkannten Jane, weil sie das Fahrerfenster offen gelassen hatte, um sicherzustellen, dass sie Witterung von ihr bekamen, noch bevor sie ausstieg.

Sie kamen lautlos die Verandatreppe herunter und spurteten dann wild schwanzwedelnd auf sie zu. Wäre Jane eine Fremde gewesen, hätten sie sich ihr ganz anders angenähert, sie wachsam und bedrohlich umkreist.

Jane ließ sich auf ein Knie sinken, streichelte beide Hunde und drückte sie abwechselnd an sich. Sie leckten ihr die Hände, eine freundliche Begrüßung, die sie sich gern gefallen ließ, auch wenn manche sie abstoßend gefunden hätten. Die beiden waren die Hüter ihres Schatzes, und sie schlief besser, weil sie wusste, dass sie hier wachten.

Obwohl sie diese Hunde liebte und die Disziplin bewunderte, die Gavin ihnen anerzogen hatte, waren sie nicht der eigentliche Grund für ihren Besuch. Nach einer Minute richtete sie sich auf und ging von den sich spielerisch balgenden Schäferhunden begleitet auf das Haus zu.

Mit dem beschwingten Schritt einer beidbeinig Amputierten, deren Prothesen unter den Knien begannen, in gefederten Schaufeln endeten und sie zu einer guten Langstreckenläuferin machten, kam Jessica durch die Haustür auf die Veranda. Rabenschwarzes Haar. Cherokee-Teint. Mit ihrer angeborenen Schönheit, die sie ihrem Gen-Pool verdankte, war sie eine faszinierende Erscheinung.

Ihre Beine hatte sie vor neun Jahren verloren, als sie als Dreiundzwangjährige in Afghanistan gedient hatte. Sie war eine Zivilangestellte der U. S. Army gewesen, aber Sprengfallen machten keinen Unterschied zwischen Kämpfern und Nichtkombattanten. Obwohl sie in jenem gottverlassenen Land die Beine verloren hatte, hatte sie dort Gavin gefunden, der an vielen Orten gekämpft hatte, aber unversehrt davongekommen war. Die beiden waren seit nunmehr acht Jahren verheiratet.

Jane lief die Stufen hinauf, bevor Jess sie hinunterhüpfen konnte, und sie umarmten sich auf der Veranda, während die Hunde sie umdrängten, mit den Schwänzen an die Korbsessel klopften und vor Freude über dieses unerwartete Wiedersehen winselten.

»Wieso hast du nicht angerufen?«, fragte Jess.

»Erzähl ich dir später.«

Sie hatte drei Wegwerfhandys in Reserve, alle aktiviert. Gekauft waren sie bei drei verschiedenen Händlern in weit voneinander entfernten Städten. Da sie noch keines davon benutzt hatte, konnten ihre Verfolger nichts von ihnen wissen, aber die Ereignisse in San Diego hatten sie so verschreckt, dass sie nicht gewagt hatte, diesen speziellen Ort anzurufen, diesen sicheren Hafen in einer zunehmend gefährlichen, chaotischen Welt.

»Gut siehst du aus«, sagte Jess.

»Und du lügst wie gedruckt.«

»Er redet dauernd von dir.«

»Ich denke dauernd an ihn.«

»Gott, ich freue mich, dich zu sehen.«

Der Junge trat aus der Haustür. Seine blauen Augen glänzten vor Aufregung, aber er war schüchtern, hielt sich im Hintergrund der Veranda und achtete im Augenblick nicht auf die Hunde, mit denen er sonst umhertollte. In den letzten zwei Monaten hatte Jane ihn nur einmal gesehen, und damals hatte er sich wie heute kaum getraut, sie anzusprechen oder zu ihr zu laufen, als fürchte er, sie könnte sich wie in seinen Träumen in Luft auflösen.

Schon mit fünf Jahren war Travis ganz sein Vater. Nicks lockiges braunes Haar. Nicks schmale Nase, sein energisches Kinn. Die Intensität seiner Präsenz und die – zumindest für seine Mutter – aus seinem Blick sprechende Intelligenz erinnerten fast unheimlich an Nick.

»Du bist’s wirklich«, flüsterte er.

Jane sank auf die Knie, nicht nur, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein, sondern auch, weil sie sich plötzlich schwach fühlte und sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Er warf sich in ihre Arme, und sie hielt ihn an sich gedrückt, als könnte jeden Augenblick jemand versuchen, ihn ihr zu entreißen. Sie konnte nicht aufhören, ihn zu berühren, sein Gesicht zu küssen. Der Geruch seines Haars war so berauschend wie die Weichheit seiner jungen Haut.

Als sie sich auf die Suche nach der Wahrheit gemacht hatte, hätte sie sich nie vorstellen können, dass sie sich im Kampf gegen Leute wiederfinden würde, die so mächtig und unbarmherzig waren, dass sie ihr als Erstes drohten, ihr einziges Kind zu ermorden, das einzige, das sie vielleicht haben würde, diesen Jungen, der das lebende Zeugnis für die große Liebe war, die sie mit seinem Vater verband.

Sie wusste keinen anderen Ort, an dem sie ihn so beruhigt und zuversichtlich hätte verstecken können wie hier. Vor zwei Monaten waren Jessica und Gavin noch Fremde für ihn gewesen, aber inzwischen waren sie seine Familie.

Von dem leidenschaftlichen Wunsch bewegt, Nicks Namen reinzuwaschen und zu beweisen, dass er nicht aus eigenem Antrieb Selbstmord verübt hatte, hatte sie einen Weg eingeschlagen, auf dem es kein Zurück mehr gab. Diese Leute, die sie entlarven wollte, würden sie nicht entkommen lassen, falls sie unterlag, sondern sie unter allen Umständen liquidieren. Sie hatten etwas grausig Neues in diese Welt gebracht, dessen Zweck Jane noch immer nicht klar war, und wollten ihre Ziele, was immer sie sein mochten, um jeden Preis verwirklichen. Morde hatte es schon so viele gegeben, dass zwei weitere – Mutter und Sohn – für sie nicht mehr als eine Unannehmlichkeit sein würden. Jane wusste wenig, aber sie wusste bereits zu viel und stellte noch mehr Vermutungen an, sodass sie nicht riskieren durfte, sich Hilfe suchend an jemanden zu wenden, bevor sie alles wusste.

Der Junge klammerte sich an sie. »Ich liebe dich, Mom.«

Sie sagte: »Ich liebe dich auch. Mehr, als du ahnen kannst. Du rockst mich, Kid.«

TEIL ZWEI

IM KANINCHENBAU

EINS

Im goldenen Licht des Spätnachmittags, unter lockeren weißen Quellwolken mit hellen Rändern, zeigte Travis seiner Mutter die Pferde.

Der Stall stand tief im Schatten der Lebenseichen, die das ganze Jahr über ihre kleinen ovalen Blätter abwarfen.

Das Laub wurde mehrmals in der Woche zusammengerecht. Die wellenförmigen parallelen Linien, die der Rechen in dem weichen Boden zurückließ, erinnerten an Muster, die mancherorts Schamanen in Felsen meißelten, um die geheimnisvollen Wendungen des Schicksals, die endlosen Zyklen des niemals zu ergründenden Universums zu symbolisieren.

Bella und Sampson, Stute und Hengst, hatten ihre Boxen nebeneinander. Ihnen gegenüber gab es zwei leere Boxen, eine davon mit niedrigerer Tür für ein Pony, das bald einziehen sollte.

Die Pferde machten lange Hälse, um den Besuchern entgegenzusehen, und wieherten zur Begrüßung halblaut.

In einem Pappbecher hatte Travis einen geviertelten Apfel, zwei Stücke für jedes Pferd. Die Tiere nahmen die Leckerbissen mit weichen Lippen von seiner flachen Hand auf.

Der Junge sagte: »Gavin hat noch nicht das richtige Pony gefunden.«

Vor vier Wochen hatte Jane dem Wunsch ihres Sohns, reiten zu lernen, und Gavins Vorschlag, ein Pony für Travis zu kaufen, zugestimmt.

»Sampson könnte ich noch nicht reiten, aber mit Bella käme ich bestimmt zurecht, wenn ihr mich lassen würdet. Sie ist lammfromm.«

»Und ungefähr fünfzehnmal größer als du. Außerdem wäre Sampson vielleicht eifersüchtig, wenn jemand außer Jess sie reiten würde. Er will der Einzige für Bella sein.«

»Können Pferde eifersüchtig werden?«

»Klar doch. Genau wie Duke und Queenie, wenn du einen von ihnen länger streichelst als den anderen. Hunde und Pferde leben schon so lange mit Menschen zusammen, dass sie teils ähnliche Gefühle entwickelt haben.«

Bella streckte den Kopf weit über die Tür ihrer Box, damit Travis ihr die Wangen tätscheln konnte, was sie besonders liebte.

»Aber ich wette, dass ich Bella reiten könnte, wenn Sampson nichts dagegen hätte.«

»Vielleicht könntest du’s, Cowboy. Aber ein richtiger Reiter, ein Profi, wird nur, wer Geduld hat und bereit ist, Schritt für Schritt zu lernen.«

»Ein richtiger Reiter. Das wäre so cool!«

»Dein Dad ist auf einer Ranch aufgewachsen, hat mit siebzehn Rodeos geritten. Deshalb liegt dir das im Blut. Aber du hast auch seinen gesunden Menschenverstand geerbt. Sei also ein braver Junge und hör auf deinen Verstand.«

»Das tue ich.«

»Ja, ich weiß.«

Sie fuhr mit einer Hand über Sampsons muskulösen Hals, folgte der Drosselrinne und spürte seinen kräftigen Puls an ihrer Handfläche.

Der Junge fragte: »Bist du noch immer auf der Suche nach … dem Killer?«

»Ja. Jeden Tag.«

Sie hatte ihm nicht gesagt, dass sein Vater Selbstmord verübt hatte, und würde das nie tun. Wer Travis diese Lüge erzählt hätte, wäre für immer ihr Feind gewesen.

»Ist das nicht unheimlich?«, fragte er.

»Nein, nicht unheimlich«, log sie. »Manchmal ein bisschen gefährlich, aber du weißt, dass ich das seit Jahren beruflich mache, ohne auch nur eine Schramme davongetragen zu haben.«

Im letzten Jahr vor ihrer Beurlaubung hatte sie den Profilern der Abteilungen 3 und 4 zugearbeitet, die sich speziell mit Massenmördern und Serienkillern befassten.

»Nicht mal eine Schramme?«

»Ganz recht.«

»Weil du deinen Verstand einsetzt, was?«

»Genau.«

Sampson fixierte sie mit seinem klaren, ausdrucksvollen Blick. Nicht zum ersten Mal hatte Jane den Eindruck, ähnlich wie Hunde könnten Pferde menschliche Empfindungen weit besser deuten als umgekehrt die Menschen ihre. In den dunklen Augen des Hengstes ahnte sie Bewusstsein für die Angst, die sie leugnete, und ihre zweifache Trauer darüber, den Ehemann verloren zu haben und von ihrem Sohn getrennt zu sein.

ZWEI

Nach dem Abendessen und einer Runde Frisbee mit den beiden Hunden, nachdem sie Travis aus einem Buch vorgelesen hatte, das Jessica vor drei Tagen angefangen hatte, nachdem er eingeschlafen war und Jane noch einige Zeit sein Gesicht, in dem sie Nick und sich selbst erkannte, betrachtet hatte, kam sie ins Wohnzimmer neben der Küche.

Jess und Gavin saßen in ihren Sesseln, und die Hunde dösten vor dem offenen Kamin. Licht verbreitete nur das Kaminfeuer, in dem große Holzscheite knisterten und knackten, um zwischendurch aufzuflammen, wenn eingeschlossenes Harz Feuer fing.

Für Jane standen ein weiterer Sessel und auf einem Beistelltischchen ein Glas Cabernet Sauvignon bereit. Sie war für beides dankbar.

Der Fernseher war ausgeschaltet, und die Musik überraschte Jane etwas, denn es schien kein Genre zu sein, das Gavin und Jess bevorzugten. Dies war ein Anthologie-Album mit Will Ackerman an der Akustikgitarre und Klaviersoli von Liz Story und George Winston.

Die elegante Schlichtheit dieser Musik machte den Raum so zuverlässig friedvoll wie das Kaminfeuer.

Wieso nur Feuerschein den Raum erhellte, welchen Zweck die Musik hatte, erkannte sie, als sie nach dem ersten Schluck Wein fragte: »Was wird aus Philadelphia gemeldet?«

»Dreihundertvierzig Tote«, sagte Gavin.

Jess sagte: »Die Behörden rechnen mit mindestens hundert weiteren Toten. Und noch viele mehr sind verletzt, haben Verbrennungen, sind entstellt.«

Gavins linke Hand lag zur Faust geballt auf seiner Armlehne; die Rechte umfasste sein Weinglas. »Das Fernsehen bringt praktisch nichts anderes mehr. Versucht man, etwas anderes zu sehen, kommt man sich … wie ein Unmensch vor.«

»Der Teufel soll mich holen, wenn ich mir das ansehe«, sagte Jess. »Wie darüber berichtet wird, ist’s keine Tragödie, kein Horror und bestimmt keine Kriegsberichterstattung. Das Ganze ist ein Schauspiel, und wer sich auf diese Sichtweise einlässt, dessen Seele zerfällt zu Staub.«

DREI

Nick und sie hatten Jessica und Gavin Washington vor gut einem Jahr in Virginia bei einer Benefizveranstaltung zugunsten von Kriegsinvaliden kennengelernt. Jess war im Fünftausendmeterlauf gestartet – nicht bei den Behinderten, sondern im Feld der normalen Sportlerinnen – und hatte die Ziellinie weniger als eine Minute hinter Jane überquert.

Ohne lange Diskussionen über den Zustand der Welt hatten die vier sich an sprachlichen Nuancen, Gesten und Gesichtsausdrücken, aber auch aus Dingen, die gesagt oder nicht gesagt wurden, als Seelenverwandte erkannt.

Ein Vierteljahr später hatten sie eine ähnliche Veranstaltung gemeinsam besucht und waren seither wie Freunde von Kindesbeinen an. Ihre Ungezwungenheit im Umgang miteinander erinnerte an Geschwister, die sich sehr nahestanden.

Gavin lebte davon, dass er Sachbücher über militärische Themen schrieb, und hatte in neuerer Zeit eine Romanserie begonnen, die im Special-Forces-Milieu spielte. Noch hatte er keinen Bestseller geschrieben, aber seine Bücher erschienen bei einem großen Verlag, und er genoss einen wachsenden Ruf, der ihn überraschte, weil er eher zufällig zum Schreiben gekommen war.

Jessica, die ehrenamtlich für die Belange von Veteranen arbeitete, hatte bewiesen, dass sie außer überragender Organisationsgabe das Talent besaß, andere dazu zu bringen, Zeit und Geld zu opfern, ohne erst Schuldgefühle in ihnen wecken zu müssen.

Von den Vorzügen, die Jane an Gavin schätzte, nahm seine Liebe zu Jess den ersten Platz ein. Viele Kerle hätten Jess ihre Liebe erklärt, bis sie beide Beine unterhalb der Knie verlor, und wären dann spurlos verschwunden. Gavin hatte sie nie ohne Prothesen gekannt, die ihm anscheinend nicht mehr bedeuteten als irgendein anderes Hilfsmittel wie beispielsweise eine Lesebrille.

Als jemand, nach der sich früher viele umgedreht hatten, hatte Jane in den Blicken vieler Männer Begierden gesehen, die unerfüllt bleiben mussten, sich aber trotzdem nicht verbergen ließen. Sah Gavin sie jedoch an, hätte er ein Mönch oder ihr Bruder sein können, denn er ließ nichts als den Wunsch nach Freundschaft erkennen.

Nick und sie hatten Anfang Dezember mit den Washingtons zu einem langen Wochenende nach Vegas fliegen wollen – aber so lange hatte Nick nicht mehr gelebt.

Mitte Januar machten Janes hartnäckige Weigerung, den Tod ihres Mannes für Selbstmord zu halten, und ihre Recherchen wegen anderer merkwürdiger »Selbstmorde« Leute auf sie aufmerksam, die sie mit unverstellt bösartiger Verachtung betrachteten. Namenlos, gesichtslos sprachen sie eine so überzeugende Bedrohung gegen Travis aus, dass sie wusste, dass der Junge und sie in Gefahr wären, selbst wenn sie einlenkte und die Ermittlungen einstellte.

Außerdem würde sie sich ihnen nie unterwerfen, nicht heute, nicht morgen.

Bei Angehörigen oder langjährigen Freunden wäre Travis nicht sicher gewesen. Hätten die falschen Leute ihn finden wollen, wäre er binnen Kurzem aufgespürt worden.

Jess und Gavin Washington lebten nicht unter dem Radar, aber sie verzichteten ganz darauf, sich in den sozialen Medien zu tummeln. Wie Jane und Nick hatten sie keine Facebook-Seite und keinen Twitter-Account, vielleicht weil sie als erfahrene Krieger intuitiv davor zurückschreckten, alle Tarnung abzuwerfen und im Scheinwerferlicht zu posieren. Keine Internetrecherche hätte ihre Namen verlinkt. Ihre Freundschaft florierte dank persönlicher Treffen an wechselnden Orten, gewöhnlicher Briefe, die keine unauslöschliche elektronische Fährte hinterließen, und gelegentlicher Anrufe. Selbst wenn jemand die gespeicherten Verbindungsdaten ausgewertet hatte, waren diese Gespräche nicht häufig genug gewesen, um den Verdacht zu erregen, ihre Freundschaft könnte so eng sein, dass Jane dem Ehepaar Washington ihren einzigen Sohn anvertrauen würde.

Sobald ihr klar wurde, dass sie ihr bürgerliches Leben aufgeben und in den Untergrund gehen musste, hatte sie ihren ersten Wagen ohne GPS gekauft: einen uralten Chevy von einem Gebrauchtwagenhändler, noch kein gestohlenes Fahrzeug, das in Mexiko modifiziert und getunt worden war. Mit Travis war sie quer durch Amerika, von Virginia nach Kalifornien gefahren und hatte ihre FBI-Ausbildung dazu benutzt, sicherzustellen, dass sie nicht beschattet wurden und keine Fährte hinterließen, indem sie stets bar zahlte und sich unauffällig verhielt.

Sie hatte die Washingtons nicht vorgewarnt, weder von einem Münztelefon aus noch über ein Wegwerfhandy, weil sie sich sagte, selbst ein so flüchtiger Kontakt sei zu riskant. Tatsächlich fürchtete sie jedoch, Jess und Gavin würden es ablehnen, die Verantwortung für Travis zu übernehmen, was bedeutet hätte, dass sie in höchster Gefahr ohne Alternative dastand.

Aber die beiden hatten nicht abgelehnt. Stattdessen hatten sie zugesagt, ohne eine Sekunde zu zögern.

In ihrem Innersten hatte Jane stets gewusst, dass sie die beiden richtig einschätzte und sich im Notfall auf sie würde verlassen können. Trotzdem hatte ihre Bereitwilligkeit sie zu Tränen gerührt, obwohl sie in den Tagen nach Nicks Beisetzung den Tränen abgeschworen und sich alle Anzeichen für Schwäche oder Selbstzweifel verboten hatte, bis diese Sache überstanden war.

Ihren Sohn in Kalifornien zurücklassen zu müssen war ein schmerzlicher Verlust gewesen. Wenn sie nicht mit Travis zusammen war, fühlte sie sich, als fehle ihr ein wichtiges Körperglied.

Wieder in Virginia, verkaufte sie das Haus, löste alle Konten auf und versteckte das Geld an einem Ort, an dem nur sie darüber verfügen konnte. Ihre Feinde schienen die vorübergehende Einstellung der Ermittlungen als bedingungslose Kapitulation zu werten. Als sie jedoch erkannten, dass Jane wieder auf ihrer Fährte war, stellten sie ihr erbarmungslos nach.

VIER

Bei sanfter Musik und dem leisen Schnarchen zufriedener Hunde im Feuerschein vergingen zwei Stunden mit Wein und Gesprächen, aber ohne nochmalige Erwähnung des Terroranschlags in Philadelphia, bevor Jane sich zurückzog, um in Travis’ Zimmer zu schlafen. Jessica hatte ihr das Bett im Gästezimmer beziehen wollen, aber Jane konnte es nicht ertragen, von ihrem Sohn getrennt zu sein, denn sie würde schon allzu bald wieder allein unterwegs sein.

Sie wollte ihn nicht aufwecken, indem sie sich das Bett mit ihm teilte. Stattdessen saß sie in eine Wolldecke gewickelt in einem Sessel, hatte die Beine auf einem Hocker hochgelegt und beobachtete, wie er bei gedämpftem Licht schlief.

Sie hatte jetzt nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte, als Rache und diesen kostbaren Jungen. Sie würde ihre Rache genießen, aber wenn sie für eine Sache sterben musste, wäre der einzig gute Tod einer für ihn gewesen.

Sie fand lange keinen Schlaf, weil Erinnerungen in ihr aufstiegen …

FÜNF

Sie ist an jenem Januartag zu Hause, sitzt an ihrem PC und sammelt weitere Berichte amerikanischer Lokalzeitungen über merkwürdige Selbstmorde, weil viele davon es nicht in die überregionalen Medien geschafft haben.

Travis ist in seinem Zimmer, baut mit seinen Lego-Steinen. Seit Nicks Tod hat er nicht mehr viel gespielt, und diese neue Begeisterung könnte der erste Schritt auf dem Weg zurück in eine normale Kindheit sein – oder ein stiller Ausdruck seiner Ängste und des Gefühls, in einer Welt, die ihm den Vater genommen hat, schutzlos zurückgeblieben zu sein.

Mit glänzenden Augen und ernster Miene an der Tür ihres Arbeitszimmers stehend fragt der Junge: »Mommy, was bedeutet das?«

Sie sieht vom Bildschirm auf. »Was bedeutet was?«

»Nadsat. Was heißt das?«

»Sorry, damit kann ich nichts anfangen.«

Er wendet sich kichernd ab und trabt den Korridor entlang in sein Zimmer zurück.

Jane steht vor einem Rätsel, aber sie ist zugleich bezaubert und hoffnungsvoll, denn dies ist das erste Mal seit Wochen, dass sie ihn lachen gehört hat.

Eine Minute später ist er wieder da. »Nein, das war falsch. Nadsat schreibt man in einem Wort. Kann ich etwas Milch plus haben?«

»Milch plus was, Schatz?«

»Weiß ich nicht. Warte, ich frage mal nach.« Wie zuvor kichernd läuft er in sein Zimmer zurück.

Nadsat, Milch plus … Janes Verstand ist mit den Einzelheiten unwahrscheinlicher Suizide beschäftigt und rätselt über die beunruhigenden Abschiedsbriefe nach, die manche Selbstmörder hinterlassen haben, aber allmählich steigt eine Erinnerung in ihr auf – aus einer Zeit, die so lange wie Cäsars Rom zurückzuliegen scheint: aus ihren College-Jahren.

Als sie von ihrem Bürostuhl aufsteht, erscheint der Junge, dessen Begeisterung unübersehbar ist, erneut an ihrer Tür. »Mr. Droog sagt, dass du weißt, was Milch plus ist.«

Ja, nun fällt es ihr wieder ein. Als Neunzehnjährige und im letzten College-Jahr – sie hatte abgekürzt – ist sie von Anthony Burgess’ Roman Clockwork Orange beeindruckt. Er handelt von einer zukünftigen Gesellschaft, die rapide in Gesetzlosigkeit und brutaler Gewalt versinkt, und beeinflusst ihre Berufswahl in Richtung Verbrechensbekämpfung.

In dem Roman ist Nadsat der Dialekt junger britischer Ganoven: aus Romani, Russisch und Kindersprache zusammengesetzt und in Gypsy-Melodie gesprochen. Milchbars servieren Milch mit einer Vielzahl von Drogen. Die durchgeknallten, ultrabrutalen Ganoven nennen sich Droogs.

Jane ist nun höchst besorgt.

An der Tür wartet Travis in einem Zustand unschuldiger Begeisterung, ohne zu ahnen, dass seine nächsten Worte bei ihr Entsetzen auslösen werden.

»Mr. Droog sagt, dass er und ich etwas Milch plus trinken und dann ein echt lustiges Spiel spielen werden, das ›Vergewaltigung‹ heißt.«

»Schatz, wann hast du mit diesem Mr. Droog gesprochen?«

»Er ist in meinem Zimmer, er ist echt lustig.« Während der Junge das sagt, wendet er sich schon wieder ab.

»Travis, nein! Komm zurück!«

Er hört nicht auf sie. In den Flur hinaus und fort. Sein Getrampel entfernt sich.

Bis die Polizei nach einem Notruf eintrifft, vergehen in ihrem Viertel durchschnittlich drei Minuten. In diesem Fall gibt es keinen Unterschied zwischen drei Minuten und der Ewigkeit.

Sie reißt eine Schreibtischschublade auf, schnappt sich die Pistole, die sie hineingelegt hat, als sie sich an den PC gesetzt hat.

Nadsat, Milch plus, Droog …

Dies ist kein gewöhnlicher Einbrecher. Jemand hat sich intensiv mit ihrer Biografie beschäftigt. Bis zurück in ihre Schulzeit.

Im selben Augenblick wird ihr klar, dass sie Gegenwind erwartet hat: eine Reaktion auf ihre hartnäckigen Recherchen wegen der neuesten Selbstmordwelle. Gegenwind, aber keinen kühnen, bösartigen Angriff wie diesen.

Weil in diesem Augenblick alle eingebläuten Regeln vergessen sind und sie ebenso panisch handelt wie jemand, der nie die FBI-Akademie in Quantico absolviert hat, weiß Jane später nicht mehr, wie sie ins Zimmer ihres Sohns gelangt ist. Sie erinnert sich nur, dass er an der Tür stehend leicht verwundert fragte: »Wo ist er hin?«

Die Tür des Kleiderschranks ist geschlossen. Jane baut sich seitlich davon auf, öffnet die Tür mit der linken Hand, hält ihre Pistole in der Rechten und ist bereit, ihn kampfunfähig zu machen, ihn zu erschießen, wenn er hervorbricht. Aber er ist nicht in dem Schrank.

»Bleib hinter mir, ganz nahe, leise und nahe«, flüstert sie.

»Du willst ihn doch nicht etwa erschießen?«

»Leise und nahe!«, wiederholt sie so scharf, wie er es von ihr nicht kennt.

Sie kann sich nichts Schlimmeres vorstellen, als das Haus mit einem Kind im Schlepp sichern zu müssen. Dabei können tausend Dinge schiefgehen. Aber sie kann Travis nicht hier zurücklassen, darf nicht riskieren, dass er für immer fort ist, wenn sie zurückkommt.

Als braver kleiner Junge bleibt er dicht hinter ihr. Er hat Angst, sie hat ihn erschreckt, aber das ist in Ordnung, weil es bedeutet, dass er zumindest ahnt, was hier auf dem Spiel steht.

Ihre eigene Angst ist so groß, dass ihr fast schlecht wird, aber sie drängt die Übelkeit zurück, beherrscht sie.

Auf dem Küchentisch liegt ein Exemplar von Clockwork Orange – als Geschenk und als Warnung.

Die Hintertür steht offen. Zuvor war sie abgesperrt. Allzu viele Leute sind im Umgang mit Schlössern leichtsinnig. Jane kennt ihren Wert, würde bei Tag und Nacht nie ein Schloss unabgesperrt lassen.

»Hast du ihn reingelassen?«, flüstert sie.

»Nein, niemals, nein«, versichert der Junge ihr, und sie glaubt ihm.

Das Telefon klingelt. Es hängt bei der Küchenzeile an der Wand. Sie starrt es an, weil sie jetzt keine Ablenkung brauchen kann. Der Anrufbeantworter ist nicht eingeschaltet. Das Telefon klingelt, klingelt, klingelt. Ein Anrufer, der es so lange klingeln lässt, muss wissen, dass sie zu Hause ist.

Schließlich nimmt sie den Hörer ab, sagt aber nichts.

»Ein rührend zutrauliches Kind«, sagt der Anrufer, »und so fein und zart.«

Was sie antwortet, spielt keine Rolle. Aber was dieser Mann sagt, könnte ihr ungewollt Hinweise geben.

»Nur so zum Spaß könnten wir den kleinen Scheißer in einen Höllenpfuhl in der Dritten Welt bringen, ihn einer Terrorgruppe wie dem IS oder der Boko Haram überlassen, die bedenkenlos Sexsklaven halten.«

Zwei Eigenschaften machen die Stimme unvergesslich. Erstens imitiert der Sprecher ganz schwach einen englischen Akzent – und tut das schon so lange, dass er ihm zur zweiten Natur geworden ist. Das hat Jane schon bei anderen gehört, oft von Absolventen von Ivy-League-Unis, die einem ungefragt mitteilen, welches ihre Alma Mater ist und wie viele Generationen ihrer Familie schon dort studiert haben, um einen wissen zu lassen, dass sie der intellektuellen Elite angehören. Zweitens hat er eine hohe Tenorstimme, die fast zu einem Alt wird, wenn er ein Wort wie »zutraulich« und »Terrorgruppe« zu stark betont.

Als sie weiter schweigt, dringt der Anrufer in sie. »Hören Sie mich? Ich will wissen, ob Sie mich hören, Jane.«

»Ja. Ich höre Sie.«

»Manche dieser harten Typen sind so schrecklich scharf auf kleine Jungen wie auf kleine Mädchen. Er könnte sogar herumgereicht werden, bis er zehn oder elf ist, bevor irgendein Barbar seiner überdrüssig wird und ihm den hübschen kleinen Kopf absäbelt.«

Bei den Wörtern »schrecklich« und »Barbar« wieder beinahe eine Altstimme.

Sie hält den Hörer so fest umklammert, dass ihre schweißnasse Hand schmerzt.

»Verstehen Sie, weshalb das nötig war, Jane?«

»Ja.«

»Gut. Wir wussten, dass Sie’s verstehen würden. Sie sind eine kluge Frau. Sie wären mehr nach meinem Geschmack als Ihr Sohn, aber ich würde nicht zögern, Sie mit ihm zu den Boko-Boys zu schicken. Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram, dann wird alles gut.«

Er unterbrach die Verbindung.

Als sie den Hörer auflegte, klammerte Travis sich an sie. »Tut mir leid, Mommy. Aber er war so nett.«

Sie ließ sich auf ein Knie nieder und drückte ihn an sich – ohne jedoch die Pistole wegzustecken. »Nein, Schatz, er war nicht nett.«

»Er hat nett gewirkt und war lustig.«

»Böse Leute können vorgeben, nett zu sein, und es ist nicht immer leicht, sie zu durchschauen.«

Sie behält ihn bei sich, als sie zur Hintertür geht, um sie zu schließen und abzusperren.

An diesem Tag kauft sie den uralten Chevy bei dem Gebrauchtwagenhändler.

Noch am selben Abend treten Travis und sie die Fahrt nach Kalifornien an zu Jess und Gavin Washington.

SECHS

Als er leise wimmerte, stand sie aus dem Sessel auf, um nach ihm zu sehen. Unter geschlossenen Lidern waren rasche Augenbewegungen zu erkennen, und er verzog im Tiefschlaf träumend das Gesicht.

Jane legte ihm eine Hand auf die Stirn, um sich zu vergewissern, dass er kein Fieber hatte, was natürlich der Fall war. Sie strich ihm das Haar aus der Stirn, was auch den Albtraum zu vertreiben schien. Er wachte nicht auf, aber sein Gesicht entspannte sich, und er wimmerte nicht mehr.

Seit dem Tag, an dem Mr. Droog ihnen den Besuch abgestattet hatte, wusste Jane, dass diejenigen, die nicht wollten, dass sie sich weiter mit der Selbstmordserie befasste, gute Kontakte zu Regierungsstellen hatten. Sie waren nicht unbedingt eine staatliche Organisation, aber sie waren gut vernetzt.

Ihre Hintertür war mit zwei Stangenschlössern von Schlage gesichert, den besten Schlössern, die man kaufen konnte. Um beide so rasch und leise zu öffnen, musste Mr. Droog einen Schlossöffner Marke LockAid benutzt haben: einen automatischen Dietrich, der nur an die Polizei verkauft wurde. Aus nachvollziehbaren Gründen wurden diese Geräte unter Verschluss gehalten, und jeder Polizeibeamte, der eines dienstlich benutzen wollte, musste einen auf eine einzige Adresse beschränkten gerichtlichen Durchsuchungsbeschluss vorlegen, bevor er es gegen Unterschrift ausgehändigt bekam.

Vielleicht waren sie keine Vollzugsbeamten, vielleicht nicht mal im Staatsdienst – höchstwahrscheinlich nicht –, aber sie hatten gute Quellen in beiden dieser Welten.

Das schloss Jane auch aus zwei weiteren Gründen.

Sie hätten eine Autoentführung oder einen Einbruch vortäuschen und sie erschießen können. Sie hätten einen Unfall, einen Brand oder eine Gasexplosion arrangieren können, um Travis und sie zu beseitigen. Sie mordeten bedenkenlos und ohne die geringste Reue zu empfinden. Aber statt sie einfach zu liquidieren, hatten sie Jane gewarnt, und ihr fiel nur ein möglicher Grund für diesen Gnadenerweis gnadenloser Leute ein: Als Anerkennung ihres Status als FBI-Agentin erwiesen sie ihr diese professionelle Höflichkeit – aus eigenem Entschluss oder weil jemand im Bureau oder einer anderen Behörde sie dazu aufgefordert hatte.

Außerdem war die Warnung, die sie erhalten hatte, ungewöhnlich drastisch gewesen und mit der kühlen Überzeugung vorgebracht worden, ihre Drohung wahr machen und den Jungen den wüstesten Mördern und Kinderschändern am anderen Ende der Welt übergeben zu können. Ein Transport dieser Art war nichts, was ein aus modernen Thrillern bekannter schurkischer Banker oder Geschäftsmann im richtigen Leben ohne Weiteres hätte arrangieren können. Mr. Droog hatte sie wissen lassen, dass sie Beziehungen hatten, vielleicht zu korrupten Leuten in den Geheimdiensten oder dem Außenministerium, die imstande waren, Travis zu verschleppen und zu einem Leben voller Demütigungen und sexueller Gewalt in der Fremde zu verurteilen, nur um sie zum Schweigen zu bringen oder sie zu ärgern, wenn sie sich nicht den Mund verbieten ließ.

Das Problem bei einer so abscheulichen Drohung war jedoch, dass sie Jane davon überzeugte, wie vollkommen bösartig sie waren. Mit dem Teufel konnte man nicht paktieren, weil der Teufel keine Ehre besaß und sich niemals an eine getroffene Vereinbarung halten würde. Wenn die Warnung Jane davon abhielt, die Wahrheit zu ergründen, wenn sie sich davon zu reiner Feigheit reduzieren ließ, würden diese Leute sie irgendwann dadurch belohnen, dass sie Travis und sie trotzdem liquidierten, wenn sie sich irgendwann sicher zu fühlen begann und in ihrer Wachsamkeit nachließ.

So blieb ihr nur eine Rolle zu spielen übrig: David gegen Goliath. Aber Jane bildete sich nicht ein, sie mit einer Steinschleuder zu Fall bringen zu können. Sie hatte es nicht nur mit einem Riesen zu tun. Ihres Wissens waren die anderen ein Heer von Goliaths, und ihre Chancen, aus dieser Sache siegreich und lebend hervorzugehen, tendierten gegen null.

Trotzdem musste man mit den Karten spielen, die man bekam, und wenn die Joker Wildcards waren, hoffte man, einen zu bekommen, bevor das Spiel zu Ende war.

Jetzt kehrte sie in den Sessel zurück, legte die Füße wieder auf den Schemel. Sie zog die Decke enger um sich.

Sie konnte sehen, was der Wecker auf dem Nachttisch anzeigte – 23:36 Uhr.

Endlich wurden ihre Augen schwer. Auf die Innenseite ihrer Lider wurden schwache Sternenbilder projiziert, deren langsames Kreisen sie angenehm benommen machte und in einer Abwärtsspirale dem Schlaf entgegentrug.

SIEBEN

Irgendwann nachts wurde Jane halb wach, als sie hörte, wie einer der Hunde an der Schwelle der Schlafzimmertür herumschnüffelte.

Gavin behauptete, wenn Jess und er zu Bett gingen, schliefen die Hunde niemals gleichzeitig, sondern lösten einander ab, um abwechselnd durchs Haus zu patrouillieren. Das hatte er ihnen nicht beigebracht, das steckte den Schäferhunden in den Genen.

Ob das Duke oder Queenie war, ließ sich nicht feststellen. Jedenfalls gab der Hund sich damit zufrieden, dass Travis schlief und alles in Ordnung zu sein schien. Auf dem Mahagoniboden klickten seine Krallen leise, als er seine Runde fortsetzte.

Als Jane wieder einschlief, kehrte auch sie im Traum in die Vergangenheit zurück und war ein Kind, behaglich in warme Decken gehüllt, während es draußen schneite und wachsame Hunde für ihre Sicherheit sorgten. Aber dies war kein Bild aus ihrer Kindheit, sondern ein Fantasiebild, denn sie hatte keine Hunde gehabt, nie ein Gefühl der Sicherheit gekannt.

ACHT

Jane stellte die Kaffeemaschine an, toastete Brot und bestrich es mit Butter. Gavin schlug Eier auf, um Rührei zu machen, und kümmerte sich um die Bratkartoffeln in der Pfanne. Jess briet Schinkenstreifen mit Zwiebeln und gelbem Paprika an und kippte sie auf eine Warmhalteplatte.

Obwohl die Hunde zuvor gefüttert worden waren, blieben sie hoffnungsvoll aufmerksam, hüteten sich aber davor, jemanden zu behindern.

Wie sie die Zubereitung des Frühstücks zelebriert hatten, um von Janes bevorstehender Abreise abzulenken, sodass sie nach mehr Arbeit ausgesehen hatte, als sie in Wirklichkeit war, futterten sie auch demonstrativ, als seien sie alle ausgehungert. Und ihre Unterhaltung war etwas zu laut, etwas zu hektisch, ihr Lachen teilweise künstlich.

Travis erzählte, was sie an diesem Tag unternehmen könnten, als ob seine Mutter noch daran teilhaben könnte, bis hin zum Abendessen und dem Spiel mit der leuchtenden Frisbeescheibe. Er machte Vorschläge für den Namen des Ponys und sprach darüber, wie er’s zum ersten Mal satteln würde, als könnte Jane ihn bei seinem ersten Ausritt in einigen Tagen sehen. Sie ließ ihn reden und beteiligte sich auch an der Namensdiskussion, obwohl sie recht gut wusste, dass sie bald wegfahren würde. Dies war nur von Herzen kommendes Wunschdenken, solange noch Zeit war, den bevorstehenden Tag wegzuwünschen und zu hoffen, an seiner Stelle einen Tag, wie er sein sollte, herbeiwünschen zu können.

Als es dann Zeit wurde, nachdem sie sich von Jess und Gavin verabschiedet hatte, begleitete der Junge sie allein zu dem Ford Escape hinaus. Er fand ihn cool und saß einige Zeit mit ihr darin, während sie sich daran erinnerten, wie sie damals im Januar mit einem viel klapprigeren Wagen quer durch Amerika gefahren waren.

Als er spürte, dass es keine weitere Verzögerung mehr geben durfte, wandte er sich dem Seitenfenster zu und rieb sich die Augen mit den Fingerknöcheln. Er nahm einen salzigen Knöchel zwischen die Zähne und biss darauf. Jane konnte sehen, dass er fest zubiss und sich bemühte, weitere Tränen zurückzuhalten.

Sie forderte ihn nicht auf, nicht zu weinen. Wenn er das allein schaffte, würde seine Selbstbeherrschung ihm mehr bedeuten.

Und sie versicherte Travis auch nicht, letzten Endes werde alles gut ausgehen. Sie konnte ihn nicht belügen. Er hätte jede Lüge sofort erkannt und wäre darüber erschrocken, dass sie das Bedürfnis hatte, die Dinge besser hinzustellen, als sie tatsächlich waren.

»Hier bist du sicher«, sagte sie.

»Ich weiß.«

»Fühlst du dich hier sicher?«

»Yeah.«

»Und du wolltest immer einen Hund.«

»Die beiden sind gute Hunde.«

»Ja. Besondere Hunde.«

»Wann kannst du jemanden verhaften?«

»Ich mache Fortschritte.«

»Du bist beim FBI. Du kannst sie verhaften.«

»Erst muss man Beweise sammeln«, sagte Jane – und fragte sich, ob sie das Beweismaterial jemals richtig würde deuten können.

»Ja, ich weiß.«

»Klasse. Du bist ein richtiger FBI-Sprössling, weil du all dieses Cop-Zeug weißt.«

Travis sah sie wieder an. Seine Augen waren gerötet, aber an den Wimpern saßen keine neuen Tränen. Bewundernswert, dieser zähe kleine Kerl.

Aus einer Jeanstasche zog er ein halbes ovales Medaillon mit dem in Silber gefassten und in Speckstein geschnittenen Profil einer Frau. An einem Rand war ein defektes Scharnier angelötet. Vielleicht hatte das Medaillon eine Locke einer Geliebten enthalten, als es noch vollständig gewesen war und an einer Silberkette gehangen hatte.

»Nachdem du letztes Mal hier warst, hab ich das hier unten am Bach gefunden. Sie sieht dir ähnlich.«

Das konnte Jane nicht bestätigen, aber sie sagte: »Irgendwie schon, nicht wahr?«

»Ich hab gleich gewusst, dass es Glück bringt.«

»Wie wenn man einen glänzenden neuen Penny findet.«

»Mehr Glück. Du bist zurückgekommen und alles.« Seine Miene war ernst, als er ihr das Medaillon hinhielt. »Daher sollst du es haben.«

Jane begriff, dass sie ebenso ernst bleiben musste. Sie nahm den Glücksbringer entgegen. »Ich behalte ihn immer in der Tasche.«

»Du musst auch mit ihm schlafen.«

»Das tue ich.«

»Jede Nacht!«

»Jede Nacht«, bestätigte sie.

Der Gedanke an einen letzten Kuss, eine letzte Berührung schien zu viel für ihn zu sein. Er öffnete seine Tür, glitt aus dem Wagen, schloss die Tür und winkte Jane zum Abschied zu.

Sie reckte einen Daumen hoch, dann fuhr sie davon. Als sie der Zufahrt zur State Road hinaus folgte, war er noch lange im Rückspiegel zu sehen: eine unbewegliche kleine Gestalt, die mehr und mehr schwand, bis der Weg abknickte und eine Allee aus Eichen sich zwischen sie schob.

NEUN

Letzte Nacht war ihr das Tal abgelegen erschienen, weil sie es so hatte sehen wollen: ein Zufluchtsort hinter dem Horizont der modernen Welt, den die Zivilisation des mechanisierten Bienenstocks noch nicht erfasst hatte, sodass jeder einzelne Mensch ohne die erzwungene Intimität des digitalen Kollektivs für sich allein existieren und daher sicher sein konnte.

Als sie nun wieder nach Westen fuhr, war sie bald auf einem kurvenreichen Asphaltband unterwegs, das sich leicht abfallend durch mit Chaparral bedeckte Hügel schlängelte, die sich seit Tausenden von Jahren nicht mehr verändert hatten. Im klaren harten Morgenlicht wirkte diese Beinahe-Wüste nicht natürlich, sondern wie das Ergebnis einer Katastrophe, als habe das letzte Gefecht am Ende aller Tage schon vor langer Zeit auf diesem Terrain gewütet.

Die Folgen dieses Krieges waren in den weitläufigen geschäftigen Küstenstädten zu besichtigen, und als sie nun in Sicht kamen, ließ die Nähe des Tals – und die ihres Kindes – zu all den Gefahren der unruhigen Gegenwart sich nicht länger leugnen.

Sie konnte nur hoffen, dass Travis dort in Sicherheit sein würde, bis sie Wesen und Zweck der Verschwörung hinter der zunehmenden Zahl von Suiziden in den USA ergründet hatte und genügend Beweise besaß, um mit der Story an die Öffentlichkeit gehen zu können. Selbst in dunkelster Zeit war Hoffnung noch eine Rettungsleine, auch wenn sie manchmal dünn wie ein Faden war.

ZEHN

Von Capistrano Beach aus folgte Jane dem Coast Highway nach Norden, nach Newport Beach, um dann landeinwärts nach Santa Ana weiterzufahren.

Auch wenn es weniger wahrscheinlich war, dass der Ford Escape ohne die kanadischen Kennzeichen einem Cop auffiel, wäre er mit kalifornischen Kennzeichen noch unauffälliger gewesen.

Ein Kennzeichen zu stehlen kam nicht infrage. Zeigte der Bestohlene den Diebstahl an, stand die Nummer eine Stunde später in ganz Amerika auf der Fahndungsliste.

Die Datenbank im National Crime Information Center enthielt ständig aktualisierte Informationen über vermisste oder mit Haftbefehl gesuchte Personen in allen fünfzig Bundesstaaten sowie gestohlenes Eigentum, wozu Autos, Lastwagen, Boote, Flugzeuge, Wertpapiere, Waffen und Autokennzeichen gehörten. Lokale, staatliche und nationale Polizeidienststellen hatten Zugang zur NCIC-Datenbank und nutzten sie regelmäßig.

Daher wollte sie Kennzeichen kaufen, statt welche zu stehlen. Ein Verkäufer ließ sich in Santa Ana leichter als sonst wo im Orange County finden.

Diese einst blühende Stadt hatte einen langjährigen Niedergang erlebt, bevor dort in letzter Zeit eine Gentrifizierung eingesetzt hatte. Trotz aller Anstrengungen derer, die Santa Ana zu neuer Blüte führen wollten, gab es jedoch viele heruntergekommene Viertel, von denen einige gefährlich waren.

Wo Armut und Verfall regierten, stand im Allgemeinen weniger Geld für öffentliche Dienste zur Verfügung. Wo die Polizei sparen musste – und oft nicht respektiert wurde –, gediehen Banden wie Pilze an feuchten, dunklen Orten, was es leichter machte, an bestimmte Dinge heranzukommen.

Sie fuhr umher, bis sie ein Industriegebiet fand, das ausländische Konkurrenz, schlechte Wirtschaftspolitik und Gesetzgeber mit den besten Absichten zugrunde gerichtet hatten. Leere Fabrikhallen mit abplatzendem Putz, fleckige Klinkermauern. Verrostete Blechdächer. Eingeworfene Fensterscheiben.

Firmenparkplätze, auf denen früher Arbeiter und Angestellte geparkt hatten, standen jetzt leer; ihr Asphalt war mit flachen Mulden übersät, die an Gräber erinnerten, wenn die Särge vermoderten und der Boden einsank.

Ein lang gestrecktes Gebäude aus Hohlblocksteinen mit Wellblechdach war in zwölf Doppelgaragen umgebaut worden, über denen eine Werbetafel auf dem Dach verkündete: SICHERE GARAGEN UND HOBBYWERKSTÄTTEN ZU VERMIETEN. Fünf der breiten Tore waren hochgefahren, und Männer arbeiteten an Autos, die über Montagegruben oder auf den betonierten Vorplätzen standen.

Sie schienen jung zu sein, die meisten Anfang zwanzig, und Jane vermutete, dass einige von ihnen unangemeldete Autowerkstätten betrieben. Andere arbeiteten wahrscheinlich an ihren eigenen Fahrzeugen: maximal getunte Hotrods und tiefergelegte Karren, die vor Kraft kaum fahren konnten.

Jane parkte etwas abseits und entschied sich für einen jungen Hispano, der auf Knieschonern ein perlgraues 1960er-Cadillac-Cabrio polierte, das vorbildlich restauriert war. Als sie herankam, legte er Autowachs und Polierscheibe weg und stand auf.

Die Kerle in den anderen Werkstätten ließen ebenfalls die Arbeit liegen, um Jane anzustarren. Vielleicht weil sie gut aussah. Vor allem jedoch, weil sie nicht hierherzugehören schien und Leute von außerhalb ihnen fast immer Scherereien machten.

Der Mann mit dem Caddy hatte einen Bürstenhaarschnitt und einen Zapata-Schnauzer. Er trug Arbeitsstiefel, Jeans und ein ärmelloses T-Shirt. Seine Miene war ausdruckslos wie ein Stück Holz.

Seine muskulösen Arme waren mit großflächigen Tätowierungen bedeckt, die aber, nach Stil und Motiven zu urteilen, keine Gefängnisarbeiten waren. Auf seinem rechten Arm flog ein Schwarm Engel vom Handrücken zum Bizeps hinauf, wo sie sich um eine Madonna mit Kind in einem Strahlenkranz scharten. Ein wundervoll gezeichneter Tiger erkletterte seinen linken Arm und sah sich oben mit zur Seite gedrehtem Kopf um. Er fletschte noch nicht die Zähne, aber in seinen goldenen Augen stand eine unmissverständliche Warnung.

»Klasse Wagen«, sagte sie und deutete auf den Caddy.

Er sagte nichts.

»Das sind Speichenräder von Dayton, stimmt’s? Und Radialreifen, die wie Diagonalreifen aussehen, die damals gefahren wurden.«

Seine braunen Augen mit gelben Einsprengseln hatten Feuersteinen geglichen, aus denen Funken stieben konnten. Jetzt wirkten sie schlagartig nicht mehr abweisend.

Er sagte: »Excelsior Sport Radials von Coker.«

»Ihr Wagen?«

»Ich stehle nicht.«

»Das wollte ich nicht andeuten.«

»Dumm von Ihnen, dass Sie denken, hier gäb’s Stoff.«

»Ich nehme keine Drogen. Und ich glaube nicht, dass jeder Mexikaner dealt.«

Nach kurzem Schweigen, währenddem er den Stahl in ihrem Blick registrierte, sagte er: »Yeah, das ist meiner.«

»Wundervoll restauriert.«

Als er sich nicht dazu äußerte, sah sie zu den anderen Kerlen hinüber, die wieder zu arbeiten vorgaben, und wandte sich dann erneut an den Caddyfahrer. »Ich sitze in der Klemme. Ich kann mich freikaufen. Aber ich brauche Hilfe.«

Er erwiderte ihren Blick. »Was rieche ich?«

»Sie riechen einen Cop.«

»Und Sie sind Gedankenleserin, was?«

Jane spürte, dass eine glatte Lüge ihn verstummen lassen würde, dass sie etwas Wahrheit einfließen lassen musste. »Ich bin FBI-Agentin, gegenwärtig beurlaubt.«

»Aus welchem Grund beurlaubt?«

»Damit ich wehrlos bin, während sie mir etwas anhängen, was ich nicht getan habe.«

»Vielleicht soll mir was angehängt werden.«

»Wieso gerade Ihnen? Wir brauchen keine Kerle auszutricksen, um die Gefängnisse zu füllen, wenn eine Million Arschlöcher im ganzen Land freiwillig hinter Gitter will.«

Nach einer weiteren Pause, in der er Jane prüfend musterte, sagte er: »Aber ich muss Sie durchsuchen.«

»Das verstehe ich.«

Also führte er sie in die Garage, in den dunklen rückwärtigen Teil.

Er begann bei ihren Knöcheln und arbeitete sich die Beine entlang nach oben vor, tastete sie ab, ob sie verkabelt war. Innenseite der Oberschenkel, Gesäß, Taille, den Rücken hinauf, um die Brüste … seine kräftigen Hände packten ohne Entschuldigung zu, sein Gesicht blieb ausdruckslos, seine Art geschäftsmäßig.

Als er die Pistole entdeckte, schlug er ihren Blazer auf, um Holster und Waffe zu begutachten. Aber er fasste die Heckler & Koch nicht an.

Er trat einen Schritt zurück und fragte: »Okay, worum geht’s?«

»Ich gebe Ihnen fünfhundert für die Kennzeichen des Caddys, und Sie melden sie erst nach einer Woche als gestohlen.«

Er dachte darüber nach. »Tausend.«

Jane hatte fünf Hunderter zusammengefaltet in einer Tasche ihrer Jeans stecken. »Sechshundert.«

»Tausend.«

»Siebenhundert.«

»Tausend.«

»Sie sind ein Halsabschneider.«

»Ich bin nicht zu Ihnen gekommen. Sondern Sie zu mir.«

»Weil Sie nicht wie ein Pirat ausgesehen haben. Achthundert.«

Er überlegte, dann sagte er: »Her damit.«

Sie zählte ihm acht Scheine in die offene Hand.

»Ich stelle meine Lady in die erste Garage. Sie kommen mit dem Ford in die zweite. Die Kennzeichen tauschen wir dort drinnen.«

»Die Kerle hier draußen wirken interessiert und haben scharfe Augen«, sagte sie. »Wenn ich wegfahre, sehen sie Ihre Kennzeichen an meinem Wagen.«

»Die Jungs machen mir keine Sorgen. Auf die kann ich mich verlassen. Aber wir wissen nicht, wer auf der Straße vorbeifährt.«

Als die beiden Wagen in der Garage standen, wurde das breite Tor heruntergefahren und sperrte die frische Luft aus, sodass der Öl- und Benzingeruch sich verstärkte.

Jane fühlte sich isoliert und war wachsam, aber nicht ängstlich.

Nachdem der Caddy-Besitzer die Kennzeichen gewechselt hatte, kam er zu ihr, als das Tor wieder nach oben ratterte. »Ich lasse ihn hier, fahre stattdessen meinen normalen Wagen. Du willst eine Woche, ich gebe dir zwei, bevor ich den Cops die Kennzeichen als gestohlen melde.«

»Auf einmal bist du großzügig, aber ich frage mich …«

»Bei so ernsten Dingen lüge ich nicht.«

»Das wollte ich nicht andeuten. Ich meine nur: Ich weiß, dass du bis sieben zählen kannst – aber wirklich auch bis vierzehn?«

Er lachte überrascht. »Bonita chica, wenn ich wüsste, wo sie welche machen wie dich, würde ich morgen hinziehen.«

ELF

Die Verkäuferin in dem Perückengeschäft am Santa Monica Boulevard im trendigen West Hollywood fand, die lila Perücke mit krapproten Strähnchen passe ideal zu Janes Teint. »Aber zu Ihrer großartigen Haut würde alles passen.«

In der Kosmetikabteilung gab es purpurroten Lipgloss und glitzernden Lidschatten. Die Verkäuferin fand es aufregend, dass Jane von unscheinbar zu auffällig wechseln wollte. »Wie eine junge Anwältin auszusehen wird Ihnen nicht gerecht. Sie haben eine klasse Figur, die Sie zeigen sollten, bevor der lange Niedergang beginnt. Was werden sie im Büro dazu sagen?«

»Ich habe etwas Geld geerbt«, sagte Jane. »Arbeiten muss ich nicht mehr. Ich kündige morgen.«

»Was haben Sie vor? Ein letztes Mal ins Büro gehen, Ihren neuen heißen Look präsentieren und dem Chef sagen, was er Sie kann?«

»Genau.«

»Sensationell!«

»Nicht wahr?«

»Zeigen Sie’s ihnen richtig.«

»Das mache ich«, sagte Jane, obwohl sie nicht recht wusste, wie sie das anstellen sollte.

Auf der anderen Straßenseite und einen halben Block weiter östlich kaufte sie in einer Boutique, deren Verkäuferinnen wie attraktive Cyborgs aus der Zukunft aussahen, Schlaghosen von Buffalo Inka im Retrolook und eine Bikerjacke aus Kalbsleder, nach Aussage ihrer Verkäuferin eine perfekte Imitation einer Jacke von Comptoir des Cotonniers, wer zum Teufel das auch sein mochte.

Außerdem entschied sie sich für hohe Plateauschuhe aus Schlangenleder mit Knöchelriemen, die perfekte Kopien eines Modells von Salvatore Ferragamo sein sollten. Diesen Namen hatte Jane schon einmal gehört, auch wenn sie ihn für einen Eishockey- oder Fußballstar gehalten hatte.

Zuletzt kaufte sie ein Paar lange schwarze Seidenhandschuhe mit Silberstickerei. Ohne sie hätten die praktisch kurzen Fingernägel einer Berufstätigen ihr neues It-Girl-Image beschädigt. Außerdem wollte sie dort, wohin sie unterwegs war, keine Fingerabdrücke hinterlassen.

Shopping machte ihr wenig Spaß, weil sie Schulterhalfter und Pistole unter dem Fahrersitz des Fords hatte zurücklassen müssen. Von der Perücke bis zu den Handschuhen fühlte sie sich schutzlos nackt.

Von West Hollywood aus fuhr sie durch weniger schicke Viertel.

Die nordwestlichen Vororte von Los Angeles jenseits der Santa Monica Mountains hatten jahrzehntelang floriert und waren stetig gewachsen. Aber heute spiegelten zu viele Teile von Van Nuys, Reseda, Canoga Park und anderer Gemeinden den allmählichen Niedergang Kaliforniens wider.

Die glitzernden Küstenstädte blieben meist luxuriös, aber hier, in der Westhälfte des San Fernando Valley, breitete sich überall Schäbigkeit aus.

Jane kam an einigen Motels vorbei, die den Kampf gegen Ratten und Kakerlaken verloren hatten und anscheinend wochenweise an Crack-Junkies vermieteten, die zu viert in einem Zimmer schliefen.

In einem besseren Viertel wirkte ein Haus einer nationalen Motelkette noch immer vertraut freundlich. Sie checkte ein, zahlte bar, legte einen falschen Ausweis vor und konnte nun darauf vertrauen, nicht nachts aufstehen zu müssen, um einen Streit zwischen einem Meth-Freak und einem Junkie zu schlichten.

Sie begann ihre Verwandlung von unscheinbar zu auffällig.

ZWÖLF

Hier gab es Jobs, manche sehr gut bezahlt, und das zentrale Geschäftsviertel gab sich alle Mühe, fortschrittlich, jugendorientiert und ein hipper Ort für Leute zu sein, die an die Existenz hipper Orte glaubten. Einige blinde Schaufenster beschädigten das Bild von allgemeinem Wohlstand, aber der Leerstand war nicht epidemisch.

Auf jedes dritte Geschäft oder Restaurant, das aussah, als hänge darin mindestens ein Che-Guevara-Poster, kam ein sturer steinzeitlicher Ladeninhaber, der Strickkostüme für ältere Ladies anbot, oder ein italienisches Lokal mit All-you-can-eat-Knoblauchbrot, das sich nicht Trattoria nannte.

Jane interessierte nur ein Geschäft, über dessen Tür VINYL stand, lediglich dieses eine Wort, das suggerierte, hier werde tatsächlich etwas verkauft, ohne allzu viele lästige Kunden anzulocken. Allerdings lagen in den grün gestrichenen Schaufenstern keine Waren; sie gestatteten auch keinen Blick ins Innere des Geschäfts.

Bimmelnde Glocken meldeten Jane an, als sie die Ladentür aufstieß. Der Raum stand voller Schallplattenkästen, zwischen denen Gänge nach hinten führten. Die Kästen enthielten alte 78er-Schallplatten aus der Ära vor CDs und MP3s.

An den Wänden hingen gerahmte Konzertprogramme und Poster von Bing Crosby bis zu den Beatles. Das Vinyl war ein Fachgeschäft für Audiophile, die authentische Aufnahmen seelenloser CD-Perfektion vorzogen. Zumindest schien dies das Geschäftsmodell zu sein.

Auf einem Hocker hinter der Theke saß eine stark geschminkte junge Frau mit langem Gesicht, großen Augen und schulterlangen rabenschwarzen Locken. Sie hatte in der Kehlgrube einen kleinen Totenschädel eintätowiert und musste Hunderte von Stunden vor einem Spiegel verbracht haben, um ihren gelangweilten Blick zu perfektionieren.

Aus dem Plattenspieler neben ihr kam Dust in the Wind von der Rockband Kansas, und Jane konnte sich vorstellen, dass sie den ganzen Tag nichts anderes spielte.

Jane legte ein Kärtchen, auf das sie mit Filzschreiber folgenden Text geschrieben hatte, auf den Ladentisch: DAS FBI DARF MIT EINER ZEITLICH UNBEGRENZTEN GERICHTLICHEN ANORDNUNG JEDES WORT AUFNEHMEN, DAS HIER GESPROCHEN WIRD.

Statt den Text zu lesen, fragte die Verkäuferin: »Was … sind Sie taubstumm oder was? Wir spenden nichts.«

Jane zeigte ihr den Mittelfinger in einem schwarzen Seidenhandschuh und tippte dann damit auf das Kärtchen.

Daraufhin geruhte die Schwarzgelockte, den Text zu lesen. Falls sie ihn verstand, blieb sie bewundernswert gelassen.

Auf dem zweiten Kärtchen stand: WENN JIMMY RADBURN NICHT FÜR 20 JAHRE HINTER GITTER WILL, MUSS ER JETZT MIT MIR REDEN.

Das Grinsen des tätowierten Totenschädels schien breiter zu werden, als die junge Frau angestrengt schluckte.

Sie nahm die Kärtchen an sich, stand von ihrem Hocker auf und verschwand durch die Tür neben dem Ladentisch.

Jimmy Radburn verdiente es, den Rest seines Lebens als Leibeigener eines Gangsterbosses in Leavenworth oder einem anderen Zuchthaus zu verbringen.

Aber Jane brauchte ihn, auch wenn es ihr zuwider war, sich an ihn wenden zu müssen. Heutzutage war ihr vieles zuwider, aber trotzdem vergeudete sie keine Zeit damit, sich zu übergeben.

Kansas hörte auf, die Trostlosigkeit des menschlichen Daseins zu beklagen, und machte mit dem nächsten Track weiter.

DREIZEHN

Einige Minuten später kam die Verkäuferin mit einem Kerl Mitte zwanzig zurück. Groß, breitschultrig. Dreitagebart. Braunes Haar – seitlich kurz, oben länger. Auf seinem grauen T-Shirt stand in schwarzen Lettern ein einziges Wort: MALWARE. Er trug eine Jogginghose mit Kordelzug, die zu kurz war, und Nikes ohne Socken.

Als er durch die Schwingtür am Ende des Ladentischs kam, begutachtete er Jane von oben bis unten, ohne jedoch etwas zu sagen. Er ging zur Ladentür und sperrte ab.

Die Schwarzgelockte nahm wieder auf ihrem Hocker Platz und legte eine andere Platte auf.

Der Kerl kam zu Jane zurück und starrte sie an, als erwarte er, dass sie irgendetwas bewies.

Sie fragte leise: »Jimmy Radburn?«

Weil sie behauptet hatte, hier werde jedes Wort aufgenommen, tippte er mit einem Zeigefinger auf seine Brust.

In Wirklichkeit war er natürlich nicht Jimmy Radburn, sah dem Mann nicht einmal ähnlich. Wenn er dumm genug war, anzunehmen, sie müsse sich allein auf einen Namen verlassen, tendierte er vermutlich zu weiteren Dummheiten.

Er machte ihr ein Zeichen, ihm zu folgen, und öffnete die Tür am Ende des Ladentischs.

Die junge Verkäuferin, die wieder exquisite Langeweile zur Schau trug, setzte den Tonabnehmer nicht am Plattenrand, sondern weiter innen auf. Prompt erklang Elton Johns Funeral for a Friend, aber ob sie diesen Song in boshafter Absicht gewählt hatte oder nicht, ließ sich unmöglich feststellen.

Jane folgte Malware ins Hinterzimmer des Ladens. Unbeschriftete Kartons und rechteckige Kunststoffboxen voller Schallplatten standen scheinbar ungeordnet in tiefen Wandregalen, auf Tischen und darunter. In einer Ecke war eine Reinigungsstation eingerichtet, an der sammelwürdige Platten mit chemischen Mitteln gesäubert werden konnten. Aber dort arbeitete niemand.

Gähnend, als sei der Weltschmerz der jungen Frau ansteckend, schloss Malware die Tür zum Laden … und fuhr dann plötzlich herum, packte Jane im Schritt und an der Kehle und knallte sie mit dem Rücken an die Wand neben der Tür.

Er hätte ihr unter die offene Bikerjacke greifen sollen, um festzustellen, ob sie bewaffnet war, aber dazu nahm er sie noch nicht ernst genug. Und er hatte sie unbedingt in den Schritt fassen wollen, das merkte sie, als seine Finger den Jeansstoff kneteten, während er sein Gesicht in irgendeiner dämlichen Absicht dem ihren annäherte.

Als sie das rechte Bein hob, glaubte er, sie wolle ihm das Knie zwischen die Beine rammen, aber das hätte er zu leicht blockieren können, deshalb hatte sie etwas anderes vor. Die harte Kante der Plateausohle ihres Ferragamos ratschte über sein linkes Schienbein, zerfetzte die Haut, grub sich ins Fleisch und verletzte den Knochengrat zwischen dem Saum seiner zu kurzen Jogginghose und der Zunge seiner Nikes, sodass er’s sich in Zukunft vielleicht überlegen würde, ob er wirklich keine Socken tragen wollte.

Sein Schienbein, ein nervenreicher Teil des Unterschenkels, war mit Kapillaren durchsetzt, die sauerstoffarmes Blut zu der kleinen Rosenvene zurückführten. Der sofort eintretende Schmerz war intensiv, und er spürte bestimmt, wie ihm warmes Blut übers Bein lief – ein beängstigendes Gefühl, wenn man nicht geschult war, es zu ignorieren. Für einen Mann stieß Malware einen erstaunlich hohen gellenden Schrei aus. Er ließ Jane los. Als er einen Schritt rückwärtsstolperte, um sich zu bücken und sein Schienbein zu umklammern, rammte sie ihm ein Knie mit voller Kraft unters Kinn, hörte seine Zähne klappern und trat zur Seite, als er zusammenbrach.

Die Tür flog auf, und Miss Schweigsam erschien erstmals lebhaft an der Welt interessiert. Sie erstarrte jedoch auf der Schwelle, denn Jane hatte bereits ihre Heckler & Koch gezogen und ließ die großen dunklen Augen der jungen Frau aus nächster Nähe in die Mündung sehen.

»Geh auf deinen Platz zurück«, wies Jane sie an. »Leg was Fröhliches auf. Davon hat Elton viel aufgenommen.«

VIERZEHN

Hinter einer weiteren Tür führte eine Treppe in den ersten Stock hinauf, wo die wirklichen Geschäfte von Vinyl abgewickelt wurden, und Jane wollte, dass Malware vorausging. Diese Leute waren nicht so gefährlich wie echte Gangster und bestimmt nicht so pervers und blutdurstig wie all die mörderischen Soziopathen, mit denen sie in ihren sechs Jahren beim FBI zu tun gehabt hatte. Aber wenn alle so unvernünftig waren wie dieser Kerl, konnte es zu unnötigem Blutvergießen kommen. Sie musste ihren gedemütigten Angreifer als lebenden Schutzschild benutzen und mit der Pistole in der Hand bereit sein, eine finale Lumbalpunktion vorzunehmen, um den Leuten im ersten Stock Zeit zu geben, ihren Schock zu überwinden.

Malware hatte Schmerzen, wenn er aufrecht stand, aber er nutzte ihr nichts, wenn er wie ein Troll gebückt die Treppe hinaufschlich. Der Gedanke an die Pistole hinter ihm ließ ihn etwas Haltung annehmen. Er brauchte das Geländer und humpelte mühsam, aber er ging jetzt aufrecht. Anfangs beschimpfte er Jane und spuckte dabei Blut, weil er sich auf die Zunge gebissen hatte. Dann wurde ihm klar, wozu sie einen lebenden Schild wollte, und er rief: »Ich gehe vorn, Jimmy, ich bin vor ihr, ich komme als Erster, Jimmy!«

Die Treppe war lang und steil. Als die letzten Stufen kamen, drückte sie ihm die Pistolenmündung ins Kreuz, um zu verhindern, dass er auf dumme Gedanken kam, wenn er seine Freunde sah.

An Malware vorbeiblickend sah Jane einen riesigen Raum, der den ganzen ersten Stock einnahm. Die Fenster mit Brettern verschalt, dezente indirekte Beleuchtung, fleckiger Betonboden. Ungefähr zehn Arbeitsstationen, jeder PC mit eigenem Drucker, mehrere Blackboxes, weitere Peripheriegeräte. Auf einem Podium stand ein runder Schreibtisch, von dem aus sich der gesamte Raum überwachen ließ.

Sieben Kerle – alle zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig – sahen zur Treppe hinüber. Manche waren dünn wie Bohnenstangen, andere dick; einige waren bärtig, die anderen nicht. Alle waren blass, aber nicht vor Angst, sondern aus mangelndem Interesse an Aktivitäten bei Sonnenschein. Auf jeden der sieben passte das Etikett Computerfreak.

Nur einer von ihnen, Jimmy Radburn, hatte eine Schusswaffe, mit der er jedoch nicht sehr gefährlich wirkte. Seine Haltung mit nach hinten gestelltem linken Fuß war falsch, weil sein Gewicht ungleichmäßig verteilt war. Beim Kauf seines Revolvers musste es ihm vor allem um die abschreckende optische Wirkung gegangen sein. Anscheinend ein Colt Anaconda .44 Magnum, mit einem lächerlichen zwanzig Zentimeter langen Lauf. Vermutlich eineinhalb Kilo schwer, schwerer als ein großer Ziegelstein. Er hielt ihn in einer ausgestreckten Hand, vermutlich weil Clint Eastwood das in seinen Dirty-Harry-Filmen getan hatte. Hätte er abgedrückt, hätte der Rückstoß ihn zurücktaumeln lassen, sodass er eher eine der teuren Deckenleuchten getroffen hätte, und er wäre vermutlich so erschrocken, dass ihm der Revolver aus der Hand gefallen wäre.

Waren Schusswaffen im Spiel, stand Jane lieber erfahrenen Schützen gegenüber, denn wenn man schon draufging, dann zumindest ohne Slapstickeinlage.

In seiner freien Hand hielt Jimmy die beiden Kärtchen mit ihren Botschaften.

Jane stieß Malware von sich weg, aber nicht auf Jimmy Radburn zu. »Hinsetzen!«

Malware verfluchte sie erneut, als er zu einem Bürosessel humpelte.

Jimmy mochte überängstlich sein, aber er war nicht dumm. Er hatte die Kärtchen gelesen. Sie hatte ihm Informationen geliefert, die ihm eine Haftstrafe ersparen würden, wenn er prompt dementsprechend handelte. Selbst wenn sie Unsinn erzählt hatte – was nicht der Fall war –, ließ sich das nicht als feindseliger Akt deuten.

Weil sie darauf vertraute, dass er vernünftiger war als der Kerl, dessen Schienbein sie aufgeritzt hatte, steckte sie ihre Pistole weg. Während er weiter mit seiner Kanone auf ihr Gesicht zielte, angelte sie ein drittes Kärtchen aus der Jackentasche und hielt es ihm hin.

Im ersten Augenblick konnte er sich nicht entscheiden, was er damit anfangen sollte, und seine Leute sahen nervös und gespannt zu, als sei dies der Showdown in einem Spaghetti-Western. Dann ließ Jimmy den Revolver sinken.

Er winkte Jane mit der linken Hand heran und nahm die Karte entgegen.

Jane hatte geschrieben: EINIGE IHRER TELEFONLEITUNGEN SIND MIT INFINITY-TRANSMITTERN VERWANZT.

Ein Infinity-Transmitter war nicht gerade ein Hightechgerät. Er war älter als Jimmy, vielleicht sogar älter als seine Mutter, aber er funktionierte tadellos. Vermutlich war er nicht die erste Gefahr, an die Mrs. Radburns kleiner Junge dachte, wenn er sich ein Leben hinter Gittern vorstellte, aber Jane verließ sich darauf, dass er davon gehört haben würde.

Er legte den Colt und die Kärtchen auf den runden Schreibtisch und sagte zu seiner Crew: »Okay, das war’s für heute. Speichert eure Arbeit und loggt euch aus.« Sie gingen sofort zu ihren Arbeitsstationen zurück, um das zu tun.

Sobald ein Infinity-Transmitter an ein Telefon angeschlossen war, überwinterte er, bis er durch einen externen Anruf aktiviert wurde. Mit der letzten Ziffer der Anrufernummer wurde sein Mikrofon eingeschaltet. Die Leute in dem betreffenden Raum, in diesem Raum, ahnten nicht, dass jedes Wort, das sie sprachen, an eine Strafverfolgungsbehörde weitergeleitet wurde, die alles aufnahm. Mit einem aus Gründen der nationalen Sicherheit ausgestellten, unbegrenzt gültigen Gerichtsbeschluss hörte das FBI Radburns Telefone bestimmt nur gelegentlich ab, konnte aber auch auf ständige Überwachung umstellen.

Sowie alle Computer heruntergefahren waren, trat Radburn an einen hohen Stahlschrank in der Nordostecke des langen Raums. Er enthielt die Vermittlungsstelle für eine Firma mit einigen Dutzend Telefonanschlüssen. Nachdem er eine Minute lang darin herumgefummelt hatte, schloss er die Tür, und Jane vermutete, er habe den Hauptanschluss stillgelegt.

Als er zurückkam, fragte er: »Was soll die Perücke?«

Sie zeigte auf die mit Brettern verschalten Fenster am Südende des Raums. »Heutzutage gibt es so viele Überwachungskameras, dass die Leute sie nicht mehr sehen. Da ist eine vor Ihrem Laden, aber sie dient nicht zur Verkehrsüberwachung.«

»Scheiße!«

»Sie nimmt scheinbar von West nach Ost auf, aber in Wirklichkeit überwacht sie Ihren Ladeneingang.«

»Orwellsche Dreckskerle!«

Von denen du einer bist, ohne es zu ahnen, dachte Jane.

Sie sagte: »Sie macht alle zwei Sekunden eine Aufnahme und sendet Bilder mit hoher Auflösung von jedem, der das Vinyl betritt oder verlässt. Deshalb die Perücke. Und der schwere Lidschatten. Zum Glück arbeitet die Kamera meines Wissens nicht mit Gesichtserkennungssoftware.«

»Wie heißen Sie?«

Nur so aus Spaß lieh sie sich den Namen des Ausfahrers in San Diego aus und sagte: »Ethan Hunt.«

»Komischer Name für ’ne Tussi.«

»Ich bin keine gewöhnliche Tussi.«

FÜNFZEHN

Jimmy Radburn schickte Malware – der in Wirklichkeit Felix hieß – nach unten, damit er sich von Miss Schweigsam, auch als Britta bekannt, verarzten ließ. Auch die anderen sechs Kerle seiner Crew sollten unten im Laden auf weitere Anweisungen warten. Als sie die Treppe hinunterpolterten, rief er ihnen nach: »Hey, macht die Tür zu!«

Er führte Jane zu einem Tisch, auf dem sich Keksschachteln, Schokoriegel, Beutel mit Kartoffelchips, Salzstangen, Flips und Nüsse in Dosen und Gläsern türmten – genügend Knabbersachen, um eine ganze Legion Kiffer zu versorgen. Wegen der Komplexität ihrer heiklen Tätigkeit durften Vinyls destruktive Hacker vor und während der Arbeit natürlich nicht kiffen, aber ein Kohlenhydrat- oder Zucker-High galt offenbar als Mittel zur Steigerung der Produktivität.

Sie zogen zwei Stühle heraus und setzten sich einander gegenüber.

Jimmy Radburn sah wie eine erwachsene Kewpie Doll aus – angenehm rundlich, aber nicht dick, mit glattem, faltenlosem Gesicht. Er war gut rasiert, roch nach englischer Seife und hatte die am besten manikürten Hände, die Jane jemals bei einem Mann gesehen hatte.

Er fragte: »Woher haben Sie Ihre Informationen, das Zeug auf den Kärtchen? Die vermutlich lauter Unsinn sind.«

»Woher ich sie habe, spielt keine Rolle. Und sie sind kein Unsinn.«

Sie hatte nicht die Absicht, ihm zu erzählen, dass sie eine beurlaubte FBI-Agentin war. Was er nicht wusste, konnte er vor Gericht nicht aussagen.

Sie sagte: »Die andere Seite hat Technik von vorgestern eingesetzt, die Ihnen bei Ihren Überprüfungen völlig entgangen ist, weil Sie immer geradlinig analysieren und Sicherheitslücken dort suchen, wo Sie sie erwarten. Wenn Sie Produkte entwickeln – Apps, was auch immer – oder in ein Netzwerk einzudringen versuchen, ist der geradlinige Prozess angebracht, aber Sie wissen, dass Sie auch wie ein Betrunkener gehen müssen.«

»Zufälligkeiten miteinbeziehen«, bestätigte er. »Mäandern. Brownsche Bewegungen. Zufälliger und ungesteuerter Fortschritt.«

»Diese Prinzipien sollten auch für Sicherheitsüberprüfungen gelten.«

»Ich bin ein Genie und ein Idiot.« Sein Lächeln sollte Selbstironie projizieren, erinnerte aber an eine Klapperschlange. »Wie tief sitze ich also in der Scheiße? Sollte ich hier noch heute dichtmachen?«

»Vorerst lässt man Sie an der langen Leine, sammelt belastendes Material über die anderen Fische, mit denen Sie schwimmen. Also bleibt Ihnen noch Zeit. Vielleicht ein paar Monate, vielleicht ein Jahr. Aber an Ihrer Stelle würde ich mich in den nächsten Nächten allmählich verdünnisieren, immer den Hinterausgang benutzen und diesen Raum bis nächste Woche leer zurücklassen.«

»Das ist eine suboptimale Situation.«

»Das Gegenteil von optimal«, bestätigte Jane. »Ich werde Ihnen nicht verraten, woher ich das alles weiß, aber wenn Sie wollen, kann ich Ihnen sagen, wie sie auf Ihre Fährte gestoßen sind.«

Während sie sprach, nahm Radburn einen Oreo-Keks aus einer Packung. Er schob ihn wie einen Kräcker ganz in den Mund und kaute schmatzend. Nachdem er ihn hinuntergeschluckt hatte, sagte er: »Das sollte ich vermutlich wissen. Schießen Sie los.«

»Erinnern Sie sich an einen Kunden namens Carl Bessemer?«

»Ich lege Wert darauf, mich nicht an Kunden zu erinnern.«

»Mit einer Ihrer Apps können sogar technische Idioten mit ihrem Smartphone Verschleierung betreiben. Der Anruf oder die Textnachricht läuft über eine kanadische Vermittlung, kommt von dort in die Staaten zurück und wird noch mehrmals umgeleitet, bevor er den Empfänger mit einer gefälschten IP-Adresse erreicht.«

»Auf die bin ich echt stolz! Mit der haben wir satte Gewinne eingefahren.«

Seine selbstzufriedene Miene ging Jane auf die Nerven. Sie sagte: »Außerdem wird der Anruf nicht vom Rechnungssystem der Telefongesellschaft erfasst, sodass es später keinerlei Beweis für ihn gibt.«

»Ja, ich bin ein böser Junge.« Er nahm sich einen weiteren Oreo-Keks. »Zu meiner Entschuldigung muss ich sagen, dass wir versuchen, potenzielle Terroristen zu identifizieren und ihnen nichts zu verkaufen.«

»Wie funktioniert das?«

Geräuschvoll kauend antwortete er: »Nicht so gut, wie ich mir wünschen würde.«

»Sie haben Bessemer auch einen cleveren Sprach-Synthesizer mit einem Interface zur Benutzung mit seinem Smartphone verkauft. Der Synthesizer braucht nur eine einminütige Stimmaufzeichnung, die man sich durch einen Anruf verschaffen kann, um diese Stimme perfekt zu imitieren. So gut, dass eine Ehefrau glauben würde, mit ihrem Mann zu sprechen, oder ein Kind mit seiner Mutter, während der Anrufer in Wirklichkeit Bessemer ist.«

»Noch ein Top-Produkt von Radburn!« Dabei feierte er sich selbst, indem er die Fäuste aneinanderschlug.

Seine hellrosa Babyhände mit dicken Fingern waren ebenso unbehaart wie die Handgelenke bis zu den Manschetten, glatt wie Gummi, scheinbar knochenlos, abstoßend. Wie die Hände irgendeines Androiden aus der Retorte.

»Schlecht für Sie ist nur, dass Carl Bessemer kein gewöhnlicher Telefonbetrüger war, der die AT&T abzocken wollte. Er war nicht mal ein gewöhnlicher Verbrecher.«

»Meiner Erfahrung nach«, sagte Jimmy, »gibt es keine gewöhnlichen Verbrecher. Man hat es mit einer Gemeinschaft aus gänzlich einzigartigen Individuen zu tun.«

»Indem Bessemer in verschiedene Rollen geschlüpft ist, hat er junge Frauen an einsame Orte gelockt und sie dort vergewaltigt und ermordet.«

»Sie können General Motors keinen Vorwurf daraus machen, dass sie Autos an Kerle verkaufen, die sich betrunken ans Steuer setzen.«

Jane verabscheute Radburn, aber sie brauchte ihn. »Hey, ich werfe Ihnen nichts vor, ich erzähle Ihnen nur, wie Sie ins Visier der Feds geraten sind.«

»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Schätzchen. Ich habe eine Nase für Charaktere. Ich wittere sie. Ihr Charakter ist meinem ganz ähnlich. Sie sind kein Typ, der andere Menschen verurteilt.«

»Bessemer war nicht sein richtiger Name.«

»Viele unserer Kunden treten unter anderen Namen auf, Ethan Hunt. Anonymität wahrt die Privatsphäre, deren Schutz ein hohes Gut ist.«

»Tatsächlich hat er Floyd Sutter geheißen.«

»Ah«, sagte Radburn, der jetzt begriff, »Sutter the Cutter. Star der Boulevardpresse und der Fernsehnachrichten. Wie viele waren’s … fünfzehn, sechzehn Morde?«

»Neunzehn.« Sie war die Agentin gewesen, die Sutter mit einem Schuss ins Bein außer Gefecht gesetzt und mit Kabelbindern gefesselt hatte, wie er es mit seinen schon betäubten Opfern gemacht hatte. »Pech für Sie, dass er bei seiner Verhaftung nicht erschossen wurde. Floyd ist eine Plaudertasche. Ihre Adresse wusste er nicht, aber …«

»Die weiß keiner unserer Kunden. Wir sind ausschließlich im Darknet unterwegs.«

»Aber was er wusste, hat dem FBI mit Ihrer App und dem Synthesizer gereicht, um Sie aufzuspüren.«

»Sie haben Jimmy Radburn gefunden, nicht mich.« Er genehmigte sich einen weiteren Oreo, mit dem er jedoch nur spielte, statt ihn zu essen. »Jimmy ist kein Stück realer, als Carl Bessemer real war. Wenn ich diesen Laden aufgebe, ist’s mit Jimmy vorbei.« Er begutachtete sie eine halbe Minute lang, und Jane ließ es sich gefallen. »Sie machen sich anscheinend keine Sorgen, dass ich auch Sie beseitigen könnte.«

»Ich habe gesehen, wie Sie Ihre Kanone gehandhabt haben. Sie sind kein Killertyp. Ihnen ist’s egal, ob jemand bei einem Deal als Kollateralschaden auf der Strecke bleibt. Aber Sie haben selbst keinen Spaß daran.«

Jimmy nickte lächelnd. »Ich bin ein Lover, kein Killer.« Er beugte sich auf seinem Stuhl nach vorn. »Törnen meine Siegermentalität und meine Intelligenz Sie an?«

»Nein.«

»Manche Mädels fliegen darauf.«

»Ich bin nur hier, weil ich etwas brauche. Ich habe Ihnen die Chance gegeben, ohne Verhaftung, Prozess und Gefängnis davonzukommen. Sie sind mir was schuldig.«

»Ich begleiche meine Schulden immer. Das ist gute Geschäftspraxis.« Er hörte auf, mit dem Keks zu spielen, stopfte ihn sich in den Mund, kaute ihn schmatzend, leckte sich die Lippen und sagte: »Ich könnte Sie vernaschen wie eine Tüte Oreos. Mein Angebot bleibt auf dem Tisch. Also, was wollen Sie?«

SECHZEHN

Der gegenwärtig als Jimmy Radburn bekannte Mann hatte keinen Mangel an Selbstachtung und ein Übermaß an Selbstvertrauen. Er wusste immer, was er wollte und wie er’s bekommen konnte, und es gab kein Problem, für das er keine Lösung finden konnte. Sollte er jemals Bedenken wegen der von ihm gewählten Karriere gehabt haben, hatten sie sich offenbar längst verflüchtigt. Falls ihn jemals etwas verwirrt hatte, musste er die Erinnerung daran aus seinem Gedächtnis getilgt haben, denn sein großes Staunen über Janes Forderungen glich dem eines frühreifen Kindes, dem erstmals etwas wahrhaft Verwirrendes begegnet.

Er blätterte in der Liste, die sie ihm gegeben hatte, und fragte: »Zweiunddreißig Leichenbeschauer?«

»Richtig.«

»Aus Großstadt, County und Kleinstadt?«

»Ja.«

»Warum so viele?«

»Das brauchen Sie nicht zu wissen. Ich hätte zehnmal mehr verlangen können. Die Zahl spielt keine Rolle.«

»Aber das ist gruselig. Echt unheimlich. Sie müssen zugeben, dass es sonderbar ist. Und bizarr.«

»Ich habe Ihnen ihre Namen und Websites aufgeschrieben. Arbeiten Sie die Liste einfach ab.«

»Nur Selbstmorde. Wieso nur Selbstmorde?«

Sie bedachte ihn mit einem Blick.

»Alles klar, okay. Geht mich nichts an, interessiert mich nicht.«

»Gut.«

Er legte die Liste auf den Tisch mit den Snacks und machte sich mit einem Stift Notizen. »Alle Selbstmorde dieses Jahres in ihren jeweiligen Bezirken. Jeweils der vollständige Bericht. Vor allem Details über Gehirnuntersuchungen, falls welche vorgenommen wurden. Das sind alles Akten, die jeder einsehen kann, nicht wahr?«

»Yeah, aber aus Datenschutzgründen ist vieles nicht öffentlich. Und das Gesetz zur Informationsfreiheit greift erst nach Monaten – manchmal erst nach Jahren. Außerdem gibt es gewisse Leute, denen diese Nachforschungen nicht gefallen werden. Ich will sie nicht auf mich aufmerksam machen.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Gewisse bedeutet wohl gefährlich?«

»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen.«

»Wenn Sie besorgt sind, sollte ich’s vielleicht auch sein.«

»Ich bin kein Hacker, der sind Sie.«

»Knacker wäre zutreffender. Von Safeknacker abgeleitet. Der Ausdruck hat sich nur nie durchgesetzt.«

»Knacker, Hacker, was auch immer. Wenn ich zu recherchieren anfange, erfahren sie’s sofort. Aber Sie können sich dort reinschleichen, alles zusammensuchen, was ich brauche, und unbemerkt verschwinden.«

»Das ist ’ne Menge Arbeit.«

»Setzen Sie Ihre gesamte Crew darauf an. Ich will alles bis morgen Mittag.«

»Sie sind verdammt anspruchsvoll. Irgendwie gefällt mir das.«

Seine grauen Augen waren klar und direkt wie die eines unschuldigen Kleinkindes. Hätte er sich darauf verlegt, älteren Frauen ihre Ersparnisse abzuschwatzen, hätten seine Opfer sich von seinem Blick verzaubern lassen, auch wenn Jane dahinter das Raubtier lauern sah.

Sie sagte: »Flirten Sie nicht. Darin sind Sie nicht gut. Ich meine wirklich Punkt zwölf Uhr.«

»Schon gut. Okay, Sie haben jetzt das Sagen. Wir hängen uns rein, bis alles geschafft ist. Was ist mit dem Namen auf der letzten Seite?«

»David James Michael. Er sitzt im Verwaltungsrat dieser beiden Non-Profit-Organisationen. Ich will alles über ihn wissen – bis hinunter zu seinen Kontonummern, seiner Schuhgröße und ob er an Verstopfung leidet.«

»Wenn Sie eine Stuhlprobe wollen, müssen Sie sie sich selbst besorgen. Alles andere habe ich bis morgen, aber dazu werden wir eine Nachtschicht einlegen müssen.«

Jane stand von ihrem Stuhl auf. Jimmy blieb sitzen.

Sie sagte: »Geben Sie mir die Informationen nicht auf einem USB-Stick. Ich benutze keinen Laptop mehr. Ich brauche Ausdrucke.«

Er grunzte. »Wieder ein ganzer Wald futsch. Außerdem machen wir keine Massenausdrucke, weil wir keine Mumble-Linie, keinen Foo-Switch haben.«

»Halten Sie mich für blöd?«

»Einen Versuch war’s wert. Also gut, kein USB-Stick. Kommen Sie morgen Mittag vorbei, dann können Sie Ihr Zeug mitnehmen.«

»Sie bringen es mir nach Santa Monica. Persönlich. Und allein.«

»Sie sind eine Frau, die viel persönlichen Service gewöhnt ist. Ich bin Spezialist für persönlichen Service.«

»Aber Frivolitäten sind nicht Ihre Sache. Santa Monica. Palisades Park. Irgendwo zwischen Broadway und California Avenue. Kaufen Sie sich einen dieser Heliumballons. Am ehesten bekommen Sie den in einem Blumengeschäft. Binden Sie ihn an Ihr Handgelenk, damit ich Sie schon von Weitem kommen sehe. Sie brauchen mich nicht zu finden. Ich finde Sie.«

Jane trat an den runden Tisch auf dem Podium. Sie nahm den dort liegenden Colt Anaconda .44 Magnum an sich.

»Hey, was machen Sie da?« Jimmy stand auf.

»Keine Sorge. Ich lege ihn beim Hinausgehen an der Ladentür ab. Ich will nur nicht, dass er Sie in Versuchung führt, wenn ich Ihnen den Rücken zukehre.«

»Sie haben selbst gesagt, ich sei kein Killertyp«, erinnerte Jimmy sie.

»Manchmal irre sogar ich mich.«

Sie ging bis zur Treppe, dann sah sie sich nach ihm um. Er stand weiter neben seinem Stuhl, aber Jane konnte sehen, wie sehr es ihm widerstrebte, sie gehen lassen zu müssen. Obwohl er scheinbar nicht auf ihre kleinen Spitzen reagiert hatte, war Jimmy kein Mann, der Spott oder Anweisungen von einer Frau vertrug, ohne sich wenigstens in seiner Fantasie an ihr zu rächen.

»Übrigens lasse ich Ihren Laden überwachen«, log sie. »Sollten Sie versuchen, heute Nacht heimlich zu verschwinden, tue ich meine Bürgerpflicht und rufe das FBI. Die schicken ein schnelles Eingreifteam, bevor Sie zehn Prozent Ihrer Sachen verladen haben.«

»Sie bekommen, was Sie verlangen«, versicherte er ihr.

»Gut. Und denken Sie an den Luftballon.«

Die .44 Magnum mit beiden Händen umschlossen, schob Jane sich seitlich die Treppe ohne Geländer hinunter. Sie achtete vor allem auf die untere Tür, aber für den Fall, dass der Colt nicht die einzige Waffe war, die Jimmy dort oben hatte, sah sie auch mehrmals in den ersten Stock hinauf.

Im Erdgeschoss öffnete sie die Tür am Fuß der Treppe und stellte fest, dass das Hinterzimmer bis auf die Kartons voller alter Schallplatten leer war.

Die Tür zum Laden stand offen. Keine Musik. Sie konnte hören, wie die Leute von Jimmys Crew sich angeregt unterhielten, was sie nicht getan hätten, wenn sie ihr aufgelauert hätten.

Jane machte kein großes Theater daraus, den Durchgang zu kontrollieren, aber sie schlenderte auch nicht sorglos in den Laden hinaus.

Alle waren am anderen Ende des Ladentischs versammelt. Auf einer Seite saß Felix auf Brittas Hocker. Die junge Frau kniete vor ihm und verband sein Schienbein mit einer Mullbinde. Ein weiteres Mitglied der Crew stand neben den beiden. Die restlichen fünf Kerle hielten sich auf der Kundenseite des Ladentischs auf.

Als Jane die Schwingtür passierte, beobachteten alle sie schweigend wie eine Horde undisziplinierter, aufsässiger Kinder, die von einem Erwachsenen streng zur Ordnung gerufen worden waren und sich jetzt zu allen möglichen Streichen gegen ihn verschworen.

Sie sperrte die Ladentür auf, legte Jimmys Revolver auf den Fußboden, trat ins Freie und war nach ihrem Aufenthalt in Räumen mit verbarrikadierten Fenstern überrascht, dass es draußen noch Tag war.

SIEBZEHN

Jane saß wieder in ihrem Wagen und hielt einige Blocks vom Vinyl entfernt an einer roten Ampel. Eine junge Frau, die einen kleinen Jungen an der Hand hielt, überquerte von links kommend die Straße. Der Junge mochte fünf oder sechs Jahre alt sein. Obwohl er keinerlei Ähnlichkeit mit Travis hatte, konnte Jane den Blick nicht von ihm wenden.

Als die beiden vorbeigingen, hob der Junge eine Hand vor den Mund und schien heftig zu husten. Auf der anderen Straßenseite angekommen, keuchte er regelrecht. Seine besorgte Mutter führte ihn zur Bank einer Bushaltestelle und wühlte in ihrer Umhängetasche. Sie holte ein Asthmaspray heraus, und der Junge griff begierig danach.

Die Ampel war unbemerkt auf Grün umgesprungen. Der Fahrer des Pick-ups hinter Jane, ein Chevrolet mit vier Sitzen, hupte kurz, um sie darauf aufmerksam zu machen.

Während Jane ihr Fenster herunterfuhr und ihn vorbeiwinkte, beobachtete sie weiter den nach Luft ringenden Jungen, dem es hoffentlich bald wieder besser gehen würde. Aber der Kerl in dem Truck hatte es offenbar verdammt eilig und hupte ausgiebig.

Die Mutter hatte dem Jungen einen Arm um die Schultern gelegt, und als er jetzt den Inhalator absetzte, war sein Gesichtsausdruck weniger verkrampft.

Im nächsten Augenblick wäre Jane weitergefahren, aber der Kerl in dem Pick-up, der noch immer hupte, fuhr langsam an und berührte den Ford Escape leicht. Kaum spürbar, bestimmt nicht fest genug, um einen Schaden zu verursachen. Aber sein Pick-up rollte auf übergroßen Reifen, sodass das Chevy-Emblem im unteren Drittel ihres Heckfensters stand, und der Kerl hatte keinen verdammten Grund, sie mit seinem Monstertruck zu bedrängen. Jane schaltete in den Parkmodus, zog die Handbremse an, öffnete ihre Tür und stieg auf die Fahrbahn aus.

Auf den Vordersitzen des Pick-ups saßen zwei Männer. Der Fahrer hörte zu hupen auf, als sie ausstieg, machte dann aber weiter. Während Jane ihn anstarrte, empfand sie weniger persönlichen Zorn als gerechte Empörung.

Sie fragte sich, wie es sein konnte, dass dieser Idiot weniger als einen Tag nach dem Terroranschlag auf den Expressway in Philadelphia, bei dem Hunderte von amerikanischen Mitbürgern in ihren Autos verbrannt waren, so rücksichtslos ungeduldig sein konnte. Jane ging auf den Chevy zu.

Der Fahrer ließ den Wagen etwas zurückrollen, fuhr wieder an, wechselte die Spur und beschleunigte an Jane vorbei, während der Beifahrer das F-Wort rief und ihr den Mittelfinger zeigte, als wünsche er ihr die Pest an den Hals.

Jane ging um ihren Ford herum zu der Mutter und dem kleinen Jungen an der Bushaltestelle. Sie fragte: »Geht’s ihm wieder besser?«

Die Frau starrte sie sichtlich erschrocken mit großen Augen an. »Was? Benny, meinen Sie? Ja, Benny geht’s wieder gut. Ihm fehlt nichts.«

Jane merkte, dass die Besorgnis der Mutter weniger mit dem Asthmaanfall ihres Sohns als mit der Auseinandersetzung zu tun hatte, dessen Zeugen sie geworden waren. Heutzutage konnte niemand sicher sein, dass ein unbedeutender Vorfall dieser Art nicht in Gewalt ausartete, bei der es Kollateralschäden geben konnte. Vermutlich war Jane ebenso schuld daran, dass diese Frau verängstigt war, wie der Fahrer des Pick-ups.

Sie sagte: »Sorry, das hätte nicht passieren dürfen. Tut mir leid. Ich wollte nur …« Aber sie wusste nicht, wie sie ihren Schmerz über Travis’ Verwundbarkeit und ihre Trennung von ihm ausdrücken sollte. »Tut mir leid«, wiederholte sie und ging zu ihrem Wagen zurück.

Zwei Blocks weiter bog sie von der Straße ab und parkte vor einer Ladenzeile mit einem Dutzend Geschäften.

Dass sie vorhin für einen Augenblick die Beherrschung verloren hatte, beunruhigte sie. Wer längere Zeit unter Stress stand und sich in ständiger Lebensgefahr befand, musste mit gelegentlichen Aussetzern rechnen, aber sie erwartete mehr von sich selbst.

Ein Teil des Problems war ihr Schlafmangel. Letzte Woche hatte sie pro Nacht nie länger als sechs Stunden, manchmal auch nur vier Stunden geschlafen.

Die meisten Kunden in dieser Ladenzeile lockte ein Geschäft für Spirituosen an. Jane trank nicht viel. Ab und zu etwas Rotwein. Sie war erst auf Wodka umgestiegen, seit sie auf der Flucht war – und nur, wenn zu viele schlimme Nächte aufeinanderfolgten und sie dringend Schlaf brauchte, auch wenn er auf Kosten von Nüchternheit ging.

Sie betrat das Geschäft und kaufte eine Flasche Belvedere für später, wenn sich spätabends auch bei geschlossenen Lidern keine Dunkelheit einstellen wollte, wenn ihre Erinnerungen an Nick so farbig und lebendig vor ihr standen wie gegenwärtige Ereignisse, wenn auch Travis wie lebendig vor ihr stand: an einem sonnendurchglühten Ort, an dem es noch Sklaverei gab und Kinder verkauft wurden, um unvorstellbare Dinge zu tun.

ACHTZEHN

Jane fuhr nach Westen, durch einen Vorort nach dem anderen, bis sie weit von dem Städtchen entfernt war, in dem sie sich zuvor ein Motelzimmer genommen hatte. An sich war es unwahrscheinlich, dass die Leute, die nach ihr fahndeten, sie würden orten können, während sie weiter recherchierte. Aber falls sie das schafften und ihr Suchteam losschickten, würde sie längst ausgeflogen sein, und das Team würde nicht mal in die Nähe des Motels kommen, in dem sie sich verkrochen hatte.

Nicht weit vom Canoga-Park-Seniorenheim entfernt parkte sie unter einem Baum und stellte den Motor ab.

In weniger als zwei Stunden würde es dunkel sein. Die Luft war trocken und schien im Licht der schon tief stehenden Sonne rötlich silbern zu glitzern.

Außer den beiden Wegwerfhandys in ihrem Gepäck im Motel hatte Jane zwei weitere im Ablagefach des Fords. Diese hatte sie an verschiedenen Tagen in verschiedenen Läden gekauft. Alle waren bereits aktiviert, aber bisher unbenutzt.

Sie holte ein Telefon aus dem Ablagefach und rief Sidney Root in Chicago auf seinem Handy an. Er meldete sich beim dritten Klingeln.

Sie hatte ihn gebeten, den Terminkalender seiner Frau darauf zu kontrollieren, ob Eileen kurz vor der Tagung in Harvard, bei der sie ihre Migräne bekommen hatte, an irgendeiner anderen Konferenz oder Tagung teilgenommen hatte.

»Ich sehe da keinen Zusammenhang«, sagte er, »aber eine Woche vor der Harvard-Konferenz war sie zwei Tage und zwei Nächte in Menlo Park, um Shenneck für den Newsletter ihrer Non-Profit-Organisation zu interviewen.«

»Menlo Park in Kalifornien?«

»Ja, dort hat Shenneck sein Labor. Sie haben wohl schon von ihm gehört?«

»Nein.«

»Bertold Shenneck. Als Wissenschaftler hat er ziemlich alle wichtigen Preise außer dem Nobelpreis eingeheimst.«

»Wie schreibt er sich?«

Sidney buchstabierte den Namen. »Er marschiert an der Spitze des Fortschritts – er verkörpert ihn geradezu –, wenn es darum geht, Gehirnimplantate zu entwickeln, die eines Tages Leuten mit Motoneuron-Krankheiten wie ALS im fortgeschrittenen Stadium helfen können sollen.«

»Das Lou-Gehrig-Syndrom«, sagte sie.

»Ganz recht. Eileen war sehr beeindruckt von ihm.«

Die mit kleinen Blättern besetzten hängenden Äste des Baums, unter dem sie parkte, bewegten sich in der Abendbrise, sodass abwechselnd Lichtreflexe und Schatten über die Frontscheibe huschten.

»Also zwei Nächte … und wo hat Eileen übernachtet?«

»Dachte mir schon, dass Sie das fragen würden. Ich habe mich an Ihre FBI-Denkweise gewöhnt, auch wenn sie mir übertrieben misstrauisch erscheint. Übernachtet hat sie im Stanford Park Hotel, ungefähr eine halbe Meile von der Stanford University entfernt. Ich war selbst schon mal dort. Sehr hübsches Hotel.«

»Sie haben Dr. Shennecks Labor besichtigt?«

»Nein, das ist schon ein paar Jahre her. Ich war in Menlo Park, um einen Entwurf bei einem Architektenwettbewerb zu präsentieren.«

»Wissen Sie, wo Ihre Frau zu Abend gegessen hat?«

»Am ersten Abend im Hotelrestaurant Melo Grill. Ich kannte es und hab’s ihr empfohlen.«

»Und am zweiten Abend?«

»Da war sie mit einigen anderen Leuten bei Dr. Shenneck zum Dinner eingeladen. Sie hat das Ehepaar Shenneck sehr charmant gefunden.«

»Das war eine Woche, bevor sie den Migräneanfall bei der Harvard-Konferenz hatte?«

»Acht oder neun Tage vor der ersten Migräne.«

»Ihrer ersten und einzigen Migräne«, stellte Jane fest.

»Ich verstehe, dass Sie als Kriminalbeamtin alles infrage stellen müssen, aber ich kann Ihnen versichern, dass Sie mit Dr. Shenneck nicht weiterkommen werden.«

»Warum denken Sie das, Sidney?«

»Aufgrund seiner wissenschaftlichen Leistungen. Er ist ein großer Humanist. Er hat nichts Ruchloses an sich. Schon der Gedanke daran ist lächerlich.«

»Wahrscheinlich haben Sie recht. Danke für Ihre Zeit, Sidney. Ich glaube nicht, dass ich Sie noch mal belästigen werde.«

»Oh, ich habe mich nie belästigt gefühlt. Ich verstehe Ihre Obsession, Ihre Trauer, die Sie antreibt. Ich wünsche Ihnen, dass Sie aufhören können, mit dem Schicksal zu hadern, und Frieden finden.«

»Sie waren immer sehr freundlich«, sagte Jane. »Und ich würde mich freuen, wieder mit Ihnen reden zu können. Aber auch wenn ich vielleicht nur von Berufs wegen misstrauisch bin, würde ich jede Wette eingehen, dass unser Gespräch mitgehört wird. Nur noch eine Frage: Haben Sie Ihre Frau letztes Jahr mal zu einer Tagung begleitet und mit ihr im Hotel übernachtet?«

»Nein. Privat hatten Eileen und ich ein sehr enges Verhältnis, aber unser Berufsleben hätte kaum unterschiedlicher sein können.«

»Das erleichtert mich. Um ihretwillen. Leben Sie wohl, Sidney.«

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, fuhr Jane durch das Wohnviertel weiter, bis sie eine Baustelle fand, auf der ein Bauschuttcontainer auf dem Gehsteig stand. Obwohl sie nur einen Bruchteil der bezahlten Minuten verbraucht hatte, wollte sie dieses Mobiltelefon lieber nicht weiter benutzen. Sie warf es durchs offene Fenster in den Container und fuhr davon.

Sie wollte zum Pierce College, das nur wenige Meilen entfernt war und bestimmt eine gute Bibliothek mit Internetzugang hatte.

NEUNZEHN

Auf dem Parkplatz des Pierce College löste sie einen Parkschein am Automaten. Zahlreiche Bäume – Eichen, Pinien, Feigen – schmückten den malerischen Campus.

Zum Glück fand hier nicht gerade eine Demonstration zur Unterstützung irgendeiner utopischen Vision statt. Gute College- und Universitätsbüchereien waren problematisch, weil man von wütenden Demonstranten mit Protestschildern aufgehalten werden konnte und Gefahr lief, von einer der Fernsehkameras eingefangen zu werden, die über solche Ereignisse zuverlässig berichteten.

Mit ihrem massiven Uhrenturm und dem freitragenden Dach über dem Eingang war die Bibliothek ein kühnes und ansprechendes Gebäude. Der Computerraum lag in der Nordwestecke des Erdgeschosses und war im Augenblick verlassen.

Jane setzte sich in die letzte Reihe der Arbeitsstationen, damit ihr niemand über die Schulter schauen konnte.

Dr. Bertold Shenneck erwies sich als große Nummer. Sein Name war so häufig verlinkt, dass sie Wochen gebraucht hätte, um alles zu lesen, was über ihn geschrieben worden war.

Sie rief die Website von Shenneck Technology auf, eine Schatzkammer voller Informationen. Es gab zahlreiche Videos von Shenneck, die Aspekte seiner Arbeit erklären und von Washington und der Industrie Millionen an Fördermitteln einwerben sollten.

Im neuesten Werbefilm war Shenneck ein jugendlicher Fünfziger mit vollem dunklen Haar, dem Gesicht eines freundlichen Onkels und dem reizenden Lächeln eines der liebenswürdigeren Muppets. Er war offenbar nicht nur eine Geistesgröße, sondern auch ein begnadeter Verkäufer, dessen Enthusiasmus für das Potenzial der Biotechnologie ansteckend sein musste, wenn er Konzernlenkern und vor allem Politikern, die das meiste Geld zu verteilen hatten, seine Pläne erläuterte.

Die Tür des Computerraums wurde geöffnet. Ein Mann kam herein. Anfang dreißig. Leicht zerzaustes Lockenhaar, sorgfältig arrangiert. Groß. Gleichmäßige Bräune aus dem Sonnenstudio. Ein Lächeln mit frisch gebleichten Zähnen.

Er trug ein teures Sportsakko, das locker genug saß, um eine Waffe zu verbergen, falls er eine tragen durfte. Gestreiftes Baumwollhemd mit offenem Kragen. Blassgraue Chinos. Keine Schuhe mit Ledersohlen, sondern Rockports mit Gummisohlen. Rockports garantierten ausgezeichnete Bodenhaftung, wenn man’s eilig hatte oder jemanden verfolgen musste. Jane trug im Allgemeinen welche. Dieser Kerl hatte alles, was man für bestimmte verdeckte Einsätze brauchte.

Jane erwiderte sein Lächeln nicht. Sie konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm, behielt den Mann aber am Rand ihres Gesichtsfelds im Auge.

Er ging zu der Arbeitsstation am anderen Ende der letzten Reihe.

Sie überflog die Zusammenfassungen weiterer Videos und entschied sich für eines über lichtempfindliche Proteine, Gehirnimplantate und Software, die Gedanken übersetzen konnte. Es behandelte dasselbe Thema wie der Fernsehfilm, den sie sich sechs Tage vor Nicks Tod angesehen hatte, während sie im Bett auf ihn wartete. Tatsächlich musste Bertold Shenneck einer der Forscher gewesen sein, die darin vorgestellt wurden, denn sein Gesicht war ihr vage bekannt vorgekommen, als sie es vorhin gesehen hatte.

Die hoffnungsvolle Story über Gehirnimplantate, die es stummen Patienten eines Tages ermöglichen würden, zu denken, was sie sagen wollten, worauf ein Computer ihre Gedanken in Sprache übersetzte, beschäftigte sie seit nunmehr vier Monaten. Jane glaubte, sie sei ihr im Gedächtnis geblieben, weil Nick unmittelbar nach dieser Sendung ins Bett gekommen war, ihre Hand geküsst und gesagt hatte: »Du rockst mich.«

Der Neuankömmling hatte seinen Computer bisher nicht eingeschaltet.

Er telefonierte mit seinem Smartphone. Dabei sprach er so leise, dass Jane kein Wort verstand. Das Gespräch dauerte höchstens eine Minute.

Sie war sich bewusst, dass die Zeit verging, aber sie hielt es für unwahrscheinlich, dass sie bereits in Gefahr war. Die Verschwörer, die ihre Internetrecherchen anscheinend nachvollziehen konnten, weil sie in der Lage waren, die von ihr benutzten Computer zu identifizieren, hatten es vielleicht auf sie abgesehen, wenn Shenneck wirklich etwas mit den Selbstmorden zu tun hatte. Aber sie konnten unmöglich nur wenige Minuten, nachdem sie die Website von Shenneck Technology aufgerufen hatte, hier aufkreuzen und sie liquidieren.

Gestern hatte sie Gwyn Lambert gesagt, sie wolle zu jemandem im Großraum San Diego, sodass die Jäger einige Stunden Zeit gehabt hatten, ihre Leute an strategischen Punkten des Großstadtlabyrinths zu platzieren. Aber heute war sie nicht entfernt so verwundbar.

Sie überflog weiter die Titel der vielen Videos von Bertold Shenneck. Als sie NANO-MASCHINEN ALS GEHIRNIMPLANTATE UND DAS POTENZIAL FÜR EFFIZIENTERE TIERHALTUNG DURCH KONTROLLE ÜBER VIEHBESTÄNDE las, war ihr Interesse geweckt. Sie klickte den Beitrag an.

Mit gewohnt onkelhaftem Charme, fesselnder Präsentation und überzeugendem Tonfall plädierte Bertold Shenneck in dem Clip für ein futuristisches – aber bald zu verwirklichendes – System der Steuerung und Überwachung von Nutztieren. Nano-Maschinen ließen sich aus wenigen Molekülen konstruieren, waren fürs menschliche Auge unsichtbar. Nachdem sie wie Computer programmiert waren, konnten sie in kleinen Einheiten injiziert werden, die im Körper des Tieres ein Netzwerk bildeten. Weil sie sich nicht vermehrten, sondern nur vereinigten, konnten sie dem Tierkörper nicht schaden, indem sie Kohlenhydrate abzweigten, um sich zu vermehren. Allerdings würden sie permanent mit Energie versorgt, indem sie die körpereigene elektrische Aktivität des Wirts anzapften. Die Nano-Maschinen konnten Gesundheitsparameter der Tiere überwachen und melden; sie konnten sogar übertragbare Krankheiten schon dann identifizieren, wenn erst wenige Tiere eines Bestands davon befallen waren. Mit dieser Technologie ließen sich Geflügelschwärme, Viehherden und andere Tiere kontrollieren, um Kämpfe und Massenpaniken zu verhindern, die häufig zu Schocktoden oder Verletzungen führten.

»Entschuldigung«, sagte der Mann an dem anderen Computer.

Jane drehte den Kopf zur Seite, erwiderte seinen Blick.

»Studieren Sie hier?«

»Ja«, log sie.

»Was ist Ihr Hauptfach?«

»Frühpädagogik. Sorry, aber ich möchte nichts von diesem Video verpassen.« Sie sah wieder auf den Bildschirm.

Geh davon aus, dass jemand dein Telefongespräch mit Sidney Root mitgehört hat.

Geh davon aus, dass sie dich weiterhin irgendwo in Südkalifornien vermuten.

Geh davon aus, dass Bertold Shenneck bis über beide Ohren in dieser Sache drinsteckt.

Geh davon aus, dass die Sicherheitssoftware deiner Feinde in der Lage war, nur eine Viertelstunde nach deinem Anruf bei Sidney den Zugriff auf die Website von Shenneck Technology vom Pierce College aus zu entdecken.

Waren diese Annahmen zutreffend, konnten ihre Feinde – je nachdem, über welche Ressourcen sie verfügten, vor allem wenn sie zur Verstärkung auf das Personal staatlicher Sicherheitsdienste zurückgreifen konnten – sie unter Umständen früher erreichen, als sie sich bisher als Worst-Case-Szenario vorgestellt hatte.

Sie sah weiter auf ihren Bildschirm, hielt den Kopf aber leicht nach rechts gedreht, um beobachten zu können, ob der Rockport-Typ etwa plötzlich aufstand.

Er saß weiter ihr zugekehrt da, hatte seinen Computer noch immer nicht eingeschaltet.

Bertold Shenneck, der dazu eine Gruppe von vierzig weißen Mäusen mit eingepflanzten Nano-Maschinen benutzte, führte anschaulich vor, wie es zukünftig möglich sein würde, eine Herde größerer Tiere effizient zu kontrollieren. Wurden die Mäuse in einem Laborraum freigelassen, liefen sie wild durcheinander. Sendete ein Techniker einen Computerbefehl an die Implantate, erstarrten die Tiere augenblicklich zur Bewegungslosigkeit. Auf andere Befehle hin liefen sie im Gleichtakt durch den Raum bis zur gegenüberliegenden Wand und wieder zurück, bildeten eine lange Reihe, die an den Wänden entlangmarschierte und formierten sich zuletzt zu vier Gruppen zu zehn Tieren, die in den Ecken des Raums auf weitere Anweisungen warteten.

Das Video endete eine Minute nach dieser Vorstellung. Jane war froh darüber. Sie hatte genug gesehen, um Eiseskälte bis ins Mark hinein zu spüren – eine Kälte, die sich nicht durch Wärme oder heißen Kaffee vertreiben ließ, sondern erst im Lauf der Zeit abklingen würde.

Als Jane den Browser schloss, sagte der Mann: »Meine Freunde nennen mich Sonny. Wie heißen Sie?«

»Melanie«, log sie.

»Ich finde Ihren Look klasse, Melanie. Ausgefallen, aber stylish.«

Sie hatte ihre purpurrote Perücke, den Lidschatten und die Klamotten aus West Hollywood fast vergessen.

»Ihr Look gefällt mir. Sind Sie im ersten oder zweiten Jahr hier?«, fragte er.

»Im ersten«, sagte sie knapp und stand von ihrem Computer auf.

Er stand ebenfalls auf.

Als der Kerl die rechte Hand in sein Sakko steckte, griff Jane nach der Heckler & Koch unter ihrer Bikerjacke.

Aber er zog keine Waffe, sondern ein längliches Lederetui, das eine FBI-Plakette hätte enthalten können, und entnahm ihm eine Geschäftskarte. »Meine Leute und ich wollen uns hier mit der Bibliotheksleiterin treffen, um über die Benutzung der Bücherei als Location zu sprechen. Als Drehort für einen Film.« Er hielt ihr die Karte hin.

Ihre verkrampften Magennerven lockerten sich. Sie schluckte trocken, aber ein bitterer Nachgeschmack blieb. Sie zog die Hand unter der Lederjacke hervor und griff nach ihrer Umhängetasche.

Als sie kein Interesse an seiner Karte zeigte, trat er auf sie zu und hielt sie ihr hin.

»Ich mache mir nichts aus Filmen«, wehrte sie ab.

»Wenn sich eine Chance bietet«, sagte er, »sollte man sie ergreifen.« Er hatte ein unwiderstehliches Lächeln – wenigstens glaubte er das. »Außerdem muss sie nicht geschäftlich sein.«

»Ich bin verheiratet.«

Als sie sich abwandte, sagte er: »Ich auch. In zweiter Ehe. Das Leben ist kompliziert, nicht wahr?«

Sie wandte sich ihm noch mal zu. Seine gebleichten Zähne sahen radioaktiv aus. »Yeah«, sagte sie. »Kompliziert. Verdammt kompliziert.«

»Nehmen Sie die Karte. Lesen Sie den Namen. Sie werden ihn kennen. Was haben Sie zu verlieren? Gewinnen Sie einen neuen Freund. Nicht mehr. Ein nettes Dinner zu zweit.«

Dieser verdammte bittere Nachgeschmack.

Mit ihrer Tasche über der linken Schulter griff sie mit der Rechten unter die Jacke, zog ihre Pistole und zielte mit ausgestrecktem Arm still wie eine Statue aus nächster Nähe auf sein Gesicht.

Sein Baumwollhemd war grau-grün kariert, und diese beiden Farben schienen sich jetzt unter seiner Sonnenbankbräune abzuwechseln. Ihm fehlten die Worte, oder er brachte keines heraus.

Sie konnte kaum glauben, was sie tat. Aber sie war machtlos dagegen.

»Fürs Dinner schlage ich vor«, sagte sie, »dass wir Ihnen einen Apfel in den Mund stecken, auf glühende Holzkohlen legen und dann zu einem hawaiianischen Lū’au einladen.«

Er rang nach Worten. »Ich … ich habe zwei Kinder.«

»Schön für Sie, bedauerlich für die Kinder. Los, wieder hinsetzen!«

Er ging rückwärts und setzte sich an den Computer, den er nicht benutzt hatte.

»Sie bleiben jetzt fünf Minuten sitzen, Sonny. Fünf volle Minuten. Sehe ich Sie noch mal, erspare ich diesen beiden Kids weiteres Elend mit ihrem Scheißvater. Verstanden?«

»Ja.«

Jane steckte ihre Pistole weg. Dann kehrte sie ihm den Rücken zu. Das war ein Test, den er bestand, indem er sitzen blieb.

Beim Hinausgehen machte sie das Licht aus. Dunkelheit förderte Kontemplation.

ZWANZIG

Mit der orangenroten Sonne im Rücken fuhr sie von einem Vorort zum anderen, während in der mit Schatten angefüllten Welt alle Silhouetten nach Osten kippten.

Wenn sie an roten Ampeln stand, drehte sie mehr als einmal den Innenspiegel zu sich her, um ihre Augen zu betrachten. Auch wenn sie noch keine Verrücktheit in ihrem Blick sah, fragte sie sich, ob sie bevorstand.

Sie hatte sich lange für einen Fels gehalten. Aber auch Felsen konnten bröckeln. War der Druck hoch genug, splitterte und zerfiel sogar Granit.

Dieses Arschloch mit der Pistole zu bedrohen war dumm gewesen. Er hätte unüberlegt oder panisch reagieren können. Jemand hätte hereinkommen können, als sie schussbereit vor ihm stand.

An solchen Problemen war ihr Schlafmangel schuld, sagte sie sich. Sie musste mal wieder richtig ausschlafen. Wachte sie von Albträumen auf … nun, dann würde sie sich umdrehen und sich ihnen überlassen müssen, um wenigstens das bisschen Erholung zu finden, das sogar Albträume zuließ.

Sie konnte die Vorstellung nicht ertragen, in einem Restaurant zu essen, bei einem Ober zu bestellen, dem jungen Mann, der das Geschirr abräumte, zuzulächeln und sich die Tischgespräche anderer Gäste anzuhören.

An manchen Tagen hatte sie die Leute satt, vielleicht weil sie mit zu vielen von der falschen Sorte umgehen musste. Sie erinnerte sich an die Mutter mit dem asthmatischen Jungen an der Bushaltestelle und die freundliche Verkäuferin in West Hollywood, aber diese drei genügten nicht, um den Tag ins Gleichgewicht zu bringen.

Sie hielt Ausschau nach einem Schnellimbiss, der Gerichte zum Mitnehmen anbot, und entdeckte ein Deli, das keine fade Franchise-Kost anbot. Ein Reuben-Sandwich, das beinahe ein Pfund wog. Eine Dillgurke, riesig und wohlriechend. Ein großes Stück Käse aus der Champagne als Nachtisch und zwei Flaschen Cola light füllten die Tragetasche aus Papier.

Nachdem sie im Motel ihren Eiskübel am Automaten auf dem Korridor gefüllt hatte, schloss sie ihre Tür ab und zog die Vorhänge zu.

Sie ließ die Lederjacke zu Boden gleiten. Nahm die Perücke ab und bürstete ihr Haar aus. Entfernte Lidschatten und Lippenstift mit Reinigungsmilch.

Sie sah nicht müde aus. Sie sah besiegt aus.

Auf dem Nachttisch stand ein Radiowecker. Als Jane keinen Klassik-Sender finden konnte, gab sie sich mit einem zufrieden, der Oldies spielte. Taylor Daynes Love Will Lead You Back.

An dem kleinen runden Tisch hätten zwei Personen essen können. Sie setzte sich dem leeren Stuhl gegenüber, legte ihre Pistole auf den Tisch, packte die Tragetasche aus.

In einem Zahnputzglas mischte sie Coca-Cola mit Wodka auf Eis. Das Sandwich war köstlich.

Der DJ kündigte drei Hits der Eagles ohne Werbeunterbrechung an. Der erste war Peaceful Easy Feeling.

Jane wurde von einer Sehnsucht überwältigt, die scharf wie eine Rasierklinge war. Anfangs glaubte sie, sie sehne sich nach Nick. Aber auch wenn sie jeden Tag an ihn dachte, war sie zu praktisch veranlagt, um nach etwas zu schmachten, was nicht sein konnte. Und obwohl Travis ihr sehr fehlte, bezog diese Sehnsucht sich auch nicht auf ihren Jungen. Sie sehnte sich nach einer Heimat, einen Ort für ihr Herz, an den sie gehörte, was fast so zwecklos war, wie sich zu wünschen, Nicks Tod könnte rückgängig gemacht werden, denn sie hatte keine Heimat mehr und keine Aussicht auf eine neue.

EINUNDZWANZIG

Jane bat die Rezeption, sie um 06:30 Uhr zu wecken, und saß dann in einem Sessel im Dunkel, das nur durch einen schmalen Streifen Licht zerschnitten wurde, der unter der Tür zum Bad hervorkam. Sie trank Wodka-Cola, hörte Radio und dachte an Bertold Shenneck oben in Menlo Park, südlich von San Francisco. Am Rand des Silicon Valley, vielleicht sogar drin. Das Königreich der Hightech-Wunder. Sie rechnete damit, dass sie von ferngesteuerten Mäusen, vermutlich von Schlimmerem träumen würde.

Vor ihr lag ein stressiger Tag. Als Erstes musste sie sich mit Jimmy Radburn im Palisades Park treffen und mit den Informationen, die er für sie beschafft hatte, dort lebend rauskommen.

Obwohl sie noch nicht viel getrunken hatte, wagte sie nicht, mehr zu trinken. Sie zog sich aus, nahm eine Hälfte des breiten französischen Betts in Beschlag und legte ihre Pistole unter das andere Kopfkissen, das Nicks Kissen gewesen wäre.

Im Bett hörte sie weiter Radio, das jetzt drei Songs von Bob Seger brachte. Still the Same war in Ordnung, aber als dann Tryin’ to Live My Life Without You kam, musste sie das Radio ausschalten. Bestimmte Songs, bestimmte Bücher, bestimmte Wörter hatten für sie eine ganz neue Bedeutung angenommen.

Obwohl ihr seltsame Träume zusetzten, wachte sie in dieser Nacht nur einmal auf. Dass sie für kurze Zeit aufschrak, kam von an- und abschwellendem klagenden Sirenengeheul – mehr Sirenen, als noch vor einem oder zwei Jahrzehnten den Vorortfrieden gestört hätten, als verbringe irgendein schurkischer Meister einer der Quantenmechanik ähnlichen Origamiform die Nacht damit, die Übel der Welt in Orte zu falten, die früher weniger davon befallen gewesen waren.

ZWEIUNDZWANZIG

Jimmy Radburn in der Hölle, die die Realität ist.

Ein für März warmer Tag, an dem ihm Schweißperlen auf der Stirn stehen und sein feuchter Kragen juckt. Der Himmel wolkenlos blau, der Pazifik sein Spiegelbild, dazu Sonnenreflexe vom Wasser, die unter die Bäume reichen und ihm in den Augen schmerzen. Eine sanfte Brandung, die den Geruch von Seetang an Land trägt. Nichts davon ist so lebensecht, reizvoll und verlockend wie irgendein Virtual-Reality-Konstrukt.

Unter den Bäumen ist der Palisades Park grün und von allen möglichen Leuten bevölkert: von Idioten auf Rollerskates und schwachsinnigen Joggern und Mädchen in Yogaklamotten von Lululemon, die auf dem Rasen improvisierte Pilates-Übungen machen.

Die verdammten Seemöwen kreischen. Krähen hocken auf den Lehnen von Parkbänken, auf Abfallbehältern und Zaunpfählen, kacken alles voll, wo sie sitzen. Er hasst Vögel. Irgendwann wird er sich an einem Ort zur Ruhe setzen, an dem es keine Vögel gibt.

Als Jimmy Radburn neun Jahre alt war, hat ihm einmal ein Vogel im Vorbeifliegen auf den Kopf gekackt. Die Umstehenden lachten, und er fühlte sich gedemütigt, was er nie vergessen konnte. Jimmy vergisst keine Kränkung, niemals, unabhängig davon, wie lange sie schon zurückliegt oder wie belanglos sie war.

Jimmy Radburn benutzt diesen Namen erst seit fünf Jahren. Er identifiziert sich so sehr mit dieser Person, dass er stundenlang aus Jimmys Kindheit erzählen kann, wobei er alles erfindet, während er redet, und sobald er ein neues Detail aus Jimmys bewegter Vergangenheit erfunden hat – zum Beispiel die Sache mit dem respektlosen Vogel –, dauert es nur wenige Tage, bis er der Überzeugung ist, das sei wirklich und wahrhaftig passiert.

Diese Fähigkeit, die eigenen Lügen zu glauben, ist in seiner freiwillig gewählten Tätigkeit als Cracker und Cyberspace-Pirat sehr wertvoll. In dieser schönen neuen Welt ist die Realität elastisch, sodass man jede beliebige Identität annehmen kann. Man gestaltet seine Zukunft selbst: Wünsch sie dir, baue sie, lebe sie.

Er trägt in jeder Hand einen vollen Aktenkoffer und hat ans linke Handgelenk einen Heliumballon geknotet, der eineinhalb Meter über seinem Kopf schwebt. Weil der Ballon für keinen bestimmten Anlass wie einen Geburtstag bestimmt ist, hat die Scheißfloristin ihm einen gegeben, auf dem in großen roten Lettern HAPPY, HAPPY steht. Schwachsinn. Der Ballon ist ihm peinlich.

Die Bitch mit den purpurroten Haaren, Ethan Hunt oder wie sie in Wirklichkeit heißt, fällt in sein Leben ein wie eine Sturmbö, sprengt es auseinander. In einem Punkt hat sie recht: Seine Telefone waren tatsächlich abgehört. Gelingt es ihm also, sein Unternehmen zu schließen und zu verlegen, bevor das FBI merkt, dass er sich heimlich absetzt, hat sie ihn vor dem Gefängnis bewahrt. Aber er hasst sie trotzdem, weil sie ihn vor seiner Crew bloßgestellt hat. Seit dieser Vogel damals vor einundzwanzig Jahren Jimmy Radburns Kopf mit einer Scheißebombe getroffen hat, ist jeder, der ihn in Verlegenheit bringt, lebenslänglich sein Feind – auch wenn Vogel und Bombe nur in seiner Einbildung existieren.

Außerdem ist ihre Aversion gegen Laptops und USB-Sticks daran schuld, dass die schweren Aktentaschen mit den Ausdrucken ihm fast das Kreuz brechen, als er auf diesem vom Broadway abzweigenden Weg nach Norden unterwegs ist.

Einige der Girls, die in Shorts und Bikinioberteilen vorbeiskaten oder – laufen, erwecken Jimmys romantisches Interesse, aber keines würdigt ihn eines zweiten Blicks, weil sein Gesicht von Schweiß glänzt und sein Hemd große Schweißflecken aufweist. Fakt ist einfach, dass Jimmy keinen durchtrainierten Körper besitzt, an dem Schweiß sexy wirken könnte.

Er stapft mit einem Lächeln weiter, weil er in Person von Kipp Garner, seinem Partner und Finanzier bei Vinyl, eine Überraschung für die Schlampe vorbereitet hat.

Sie hatte recht, als sie gesagt hat, Jimmy sei kein Killertyp. Er hat eine lange Liste von Scheißkerlen, die er liebend gern liquidieren würde, aber ihm macht es einfach keinen Spaß, Blut zu vergießen.

Kipp Garner, ein mit Muskeln bepackter Riese, liebt dagegen Gewalt. Vielleicht ist er schon verdorben auf die Welt gekommen. Oder vielleicht spritzt er sich als Bodybuilder Steroide und Testosteron in so hohen Dosen, dass er die Bestie in sich nicht mehr zähmen kann und sich ab und zu dadurch Erleichterung verschaffen muss, dass er jemanden auslöscht.

Sogar in dem Knopf in Jimmys rechtem Ohr rumpelt Kipps Stimme wie ferner Donner: »Du bist schon fast in Santa Monica. Siehst du sie noch nicht?«

Das winzige Mikrofon, das ein Kragenknopf zu sein scheint, ist unter Jimmys Hemd mit einem batteriebetriebenen Sender von der Größe einer Kaugummipackung in seiner rechten Hosentasche verbunden. »Irgendwo zwischen Broadway und California Avenue, hat sie gesagt. Ich wette, dass die Bitch mich diesen Scheiß bis zur California schleppen lässt. Und dass sie heute kein purpurrotes Haar hat.«

Kipp sagt: »Logisch hat sie kein purpurrotes Haar.«

»Ich meine nur, dass ich sie vielleicht nicht erkennen werde.«

»Du warst heiß auf sie, richtig?«

»Yeah.«

»Dann erkennst du sie auch.«

Ein alter Obdachloser wie ein geschrumpfter, nicht hierherpassender Yeti, der seine Habseligkeiten in einem Müllsack transportiert, kreuzt schlurfend Jimmys Weg. »Haben Sie ’nen Dollar für ’nen Vietnamveteranen?«

»Du warst nie in Vietnam«, sagt Jimmy. »Geh mir aus dem Weg, sonst schneide ich dir die Zunge raus und verfüttere sie an die Scheißmöwen.«

DREIUNDZWANZIG

Ab 11:55 Uhr schlendert Kipp Garner von der California Avenue aus langsam den Zaun entlang, der Parkbesucher davor schützt, auf den Pacific Coast Highway zu fallen. Rechts von ihm glänzt das Meer wie eine gehämmerte Stahlplatte, und links, jenseits des schmalen Parks, braust der Verkehr auf der Ocean Avenue.

Er trägt schwarz-weiße Sneakers von Louis Leeman, Jeans im Used-Look und ein T-Shirt mit Handflächendruck von NFS, das seine Schultern, seine Bizepse und seine Brustmuskeln fast sprengen. An seinem linken Handgelenk, das so dick wie die Unterarme mancher Männer ist, verkündet eine Hublot Big Bang Tourbillon aus blauem Texalium, limitierte Auflage nur fünfhundert Exemplare, jedem, der sie sieht, unüberhörbar laut Macht und Geld.

Kipp Garner trägt nur selten eine Schusswaffe, und er ist auch heute unbewaffnet. Seine beiden besten Waffen sind sein Körper und sein Verstand, obwohl er heute in einer Tasche einen Ziplock-Beutel mit einem mit Chloroform getränkten Lappen hat, der sicherstellen soll, dass die Frau sich nicht wehrt.

In dem drei Straßenblocks langen Abschnitt zwischen California Avenue und Santa Monica Boulevard halten sechs seiner Leute seit eineinhalb Stunden ihre zugewiesenen Positionen besetzt und warten auf Jimmys Treffen mit der Frau. Zwei von ihnen scheinen Studenten mit Skripten zu sein, die beim Lernen etwas Sonne tanken. Einer sitzt auf einer Schilfmatte im Gras und macht Yogaübungen. Ein weiterer versucht, Adventistentraktate an die Passanten zu verteilen. Zwei in Arbeitskleidung mit dem Logo der Parkverwaltung schneiden Büsche zurecht, so gut sie können. Vier von ihnen sind Männer, zwei Frauen, alle haben mit Chloroform getränkte Lappen in der Tasche, drei sind mit Pistolen bewaffnet.

Auf der Westseite der Ocean Avenue sind in regelmäßigen Abständen sechs SUVs geparkt. Unabhängig davon, wo der Überfall stattfindet, ist so immer ein Fahrzeug in der Nähe, das die Frau ohne großes Aufsehen abtransportieren kann.

An diesem ersten warmen Märztag gehören die meisten Leute, die hier unterwegs sind, nicht zu Kipps Crew. Engagierte Läufer sind vom Santa Monica Pier bis zum oberen Ende des Will Rogers State Beach und zurück unterwegs – eine Strecke von immerhin sechs Meilen. Leute führen ihre Hunde aus. Liebespaare gehen Hand in Hand spazieren.

Dazu kommt das übliche menschliche Treibgut: zwei zerlumpte Trinker, die ihren gesamten Besitz an sich tragen und in der kommenden Nacht betrunken in irgendeinem Parkgebüsch schnarchen werden; ein langhaariger Kiffer mit bloßem Oberkörper, der so blass und ausgemergelt ist, dass er sein Hemd nicht mal unter der Dusche ausziehen sollte. Er hockt auf einer Parkbank und klimpert so gleichgültig auf seiner Gitarre, dass Kipp ihm das Instrument wegnehmen und auf seinem Kopf zertrümmern möchte.

Jimmy, der sich von Natur aus Sorgen macht und ständig jammert, klagt darüber, dass viele Leute viele Zeugen bedeuten. Aber trotz seiner erstaunlichen Computerkenntnisse hat er so gut wie keine Ahnung von den Feinheiten eines Überfalls mit anschließender Entführung. Je mehr Leute im Park sind, desto mehr sind sie durch andere abgelenkt, sodass niemand darauf achten wird, was Kipp und seine Crew mit der Frau anstellen. Und wenn die Action erst einmal beginnt, erzeugen mehr Leute mehr Verwirrung, sodass es letztlich weniger zuverlässige Zeugen gibt.

Kipp hat ein starkes kleines Fernglas mitgebracht. Er benutzt es alle paar Minuten, um den Park methodisch von links nach rechts abzusuchen, soweit das wegen der Bäume möglich ist. Er checkt die Leute ab und wartet auf Jimmy Radburn, der bald in Sicht kommen müsste.

In Kipps Ohrhörer spricht Zahid, einer der beiden Kerle, die als angebliche Studenten in ihre Skripts vertieft sind. »Jimmy kommt auf mich zu, ist im ersten Drittel des Blocks nördlich des Santa Monica Boulevards. Er sieht ziemlich erledigt aus.«

»Ihr habt gut lachen«, beschwert Jimmy sich. »Hätte diese Scheißtaschen mit Styropor vollpacken sollen.«

Kipp sagt: »Du würdest nicht schwitzen, und das fehlende Gewicht wäre offensichtlich. Und was wäre, wenn irgendwas schiefgeht und sie die Taschen bekommt, in denen dann nichts ist? Sie würde uns mit einem einzigen Anruf ans Messer liefern. Halt die Klappe und schwitz weiter.«

Er hat nicht unbedingt vor, diese Frau, die sich Ethan Hunt nennt, zu beseitigen. Er will sie ausquetschen, rauskriegen, woher das Weibsstück die Informationen hat, mit denen sie sie erpressen konnte, und erfahren, wieso sie sich für all diese Autopsien und einen gewissen David James Michael interessiert. Danach wird er sie beseitigen oder nicht. In letzterem Fall bleibt sie isoliert, während sie das Unternehmen über dem Vinyl-Laden vom FBI unbemerkt auflösen, und wird dann freigelassen. Ist sie so heiß, wie Jimmy sagt, wird er dafür sorgen, dass sie sich an Kipp Garner erinnern wird, bevor er sie laufen lässt.

Ungefähr auf halbem Weg zwischen Wilshire Boulevard und Arizona Avenue, die beide auf die Ocean Avenue münden, verlässt Kipp seinen Platz am Zaun und bewegt sich etwas weiter in den Park hinein, um an einigen Baumgruppen vorbeiblicken zu können. Er macht halt und hebt wieder sein Fernglas an die Augen.

Da kommt Jimmy, der die vollen Aktenkoffer schleppt, während der Ballon, der die Morgensonne reflektiert, über seinem Kopf auf und ab tanzt. Er nähert sich Alika, die ihre religiösen Schriften anbietet, ohne allzu viele Abnehmer zu finden.

Kipp sieht keine Bitch mit oder ohne purpurrote Haare, die so heiß ist, dass Jimmys Beschreibung auf sie passen könnte. Aber das bedeutet nicht, dass sie nicht hier ist, denn Jimmy ist ein geiler Kerl, der eine Ziege nehmen würde, wenn sie das einzig verfügbare weibliche Wesen wäre, um sie anschließend zur Zweitschönsten bei der Wahl zur Miss Universum hochzustilisieren.

VIERUNDZWANZIG

Das ziemlich schlichte sechsstöckige Hotel mit einigen Art-déco-Elementen stand gegenüber dem Palisades Park. Sein Eingang verlieh ihm einen Hauch von Luxus: Geländer aus Edelstahl, die spiralförmige Pfosten bildeten, flankierten sechs breite Stufen, die zu einem Portikus hinaufführten, dessen Marmorsäulen einen Architrav trugen, unter dem sich zwei Glastüren mit polierten Stahlrahmen zwischen künstlerisch geätzten Glaswänden öffneten, auf denen reiherartige Vögel in einer Andeutung von Wasser standen.

Im Augenblick waren die Türen geschlossen, und Jane hatte hinter einer davon Posten bezogen, um den Park jenseits der Ocean Avenue zu beobachten.

Draußen unter dem Säulenvordach stand der mit Ausnahme seines weißen Hemds ganz in Schwarz gekleidete Portier und wartete auf den nächsten eintreffenden Gast. Zugleich half er Jane, indem er den Südteil des Parks, den sie nicht einsehen konnte, im Auge behielt.

Sie hätte, als sie sich hatte beurlauben lassen, auch ihren FBI-Dienstausweis abgeben müssen. Den hatte sie absichtlich behalten. Nathan Silverman, ihr Sektionschef, hatte ihn nicht sofort zurückverlangt, weil sie eine seiner besten Ermittlerinnen war und er ihr zutraute, ihren Schmerz rasch zu überwinden und binnen Wochen – nicht erst nach Monaten – zurückzukehren. Oder vielleicht hatte er darauf verzichtet, weil sie großen Respekt voreinander hatten und Freunde waren, soweit Dienstgrad, Alter und Geschlecht das zuließen. Bis er auf die Idee kommen konnte, ihren Dienstausweis zu verlangen, war sie seit zwei Monaten beurlaubt, hatte ihr Haus verkauft, den Urlaub verlängert und war untergetaucht.

Ihr jetziger Status im Bureau war vermutlich problematisch oder nichtexistent.

Weil ihr keine andere Wahl blieb, hatte sie ihren Ausweis trotzdem der Hotelmanagerin, einer eleganten Frau namens Paloma Wyndham, vorgelegt und sie um Mitwirkung bei einer kleinen Überwachungsoperation gebeten. Paloma hatte ihr gestattet, den Park von der Hotellobby aus zu beobachten, in der nicht viel Betrieb herrschte, weil das Hotel nur sechzig Luxussuiten, keine Einzel- oder Doppelzimmer hatte.

Jane hatte angeboten, ihren Sektionschef in Washington die Managerin anrufen zu lassen, wodurch ihr Schwindel aufgeflogen wäre. Aber sie wusste, dass das FBI in der gegenwärtig politisch aufgeladenen Atmosphäre, in der die Menschen aufgefordert wurden, keiner Polizei mehr zu trauen, eine der wenigen Bundesbehörden war, vor der die meisten Amerikaner noch Respekt hatten. Weil Jane ihr Haus nur etwa eine Stunde lang als Beobachtungsposten benutzen würde, fotokopierte die Managerin lediglich ihren Dienstausweis und bat sie, sich zu melden, wenn die Überwachung beendet sei.

Hielt Jimmy Radburn sich jedoch nicht an die vereinbarten Regeln, könnte es im Hotel weit mehr Action geben, als Paloma suggeriert worden war. Jane hatte das Haus am frühen Morgen erkundet und wusste genau, wie es sich am besten nutzen ließ.

Auf seinem Posten unter dem Säulenvordach sah der Portier sich nach Jane um und reckte einen Daumen hoch, um zu signalisieren, dass der Mann mit dem Ballon sich aus dem für sie nicht einsehbaren Südteil des Parks näherte.

FÜNFUNDZWANZIG

Schwitzend, durstig, sich wünschend, er hätte daran gedacht, sich das Gesicht einzucremen, weil er leicht einen Sonnenbrand bekommt, und wegen des Gewichts der Aktenkoffer leise vor sich hin fluchend erreicht Jimmy eine kleine Gruppe riesiger Bäume, die den Weg überwölben. Er sieht noch immer niemanden, der die Bitch sein könnte, die sein Leben auf den Kopf gestellt hat, und hat noch zwei lange Blocks vor sich, bis er die California Avenue erreicht – bis dahin vermutlich halb verdurstet und dem Tod nahe.

Wie ein heraufbeschworener Dämon taucht scheinbar aus dem Nichts die zerlumpte, knochige Gestalt auf, die sich als Vietnamveteran bezeichnet hat. Der Kerl hat seinen Müllsack fallen lassen und stürzt sich vor Wut kreischend mit krallenförmig geballten Fäusten auf Jimmy. »Du willst dem alten Barney die Zunge rausschneiden, sie an die Möwen verfüttern, was? Ich drück dir die Augen raus und ess sie selbst!« Er besteht ganz aus schmutzigen Klamotten, ungepflegtem Bart- und Haupthaar, wildem Blick und gelben Zähnen und versprüht bei jeder Drohung Speicheltröpfchen, die todsicher unzählige Krankheitskeime enthalten.

Jimmy lässt die Aktenkoffer fallen, um sich zu verteidigen, schlägt mit wenig Wirkung nach dem Alten und beweist wieder einmal, dass er absolut kein Kämpfertyp ist. Die wandelnde Vogelscheuche hat zu wenig Substanz, um einen Erwachsenen gefährden zu können, aber sie lässt Jimmy wanken, bevor er rückwärtsstolpert: spuckend und fluchend und wie Rumpelstilzchen in dem Märchen aufstampfend, von dem Jimmy als kleiner Junge unweigerlich ins Bett machte, wenn seine Mutter es ihm vorlas.

Damit scheint Schluss mit dem Wahnsinn zu sein, aber das ist ein Irrtum. Eine behelmte Amazone um die fünfzig auf Rollerskates kommt angeflitzt, die schwarze Elasthanshorts und einen gelben Sport-BH trägt. Sie bremst, macht abrupt halt und schnappt sich die beiden Aktenkoffer.

Sie ist sonnengebräunt, muskulös, durchtrainiert und grinst verächtlich. Er nennt sie, wofür er sie hält – »Hey, gib sie her, Scheißlesbe!« –, und will nach einem der Aktenkoffer greifen. Sie führt einen Roller-Derby-Trick vor, balanciert wie eine Ballerina auf dem linken Schuh und tritt ihm mit dem anderen Skate zwischen die Beine.

Jimmy knickt in den Hüften, in den Knien ein, klappt zusammen und lässt ein dünnes Pfeifen hören, als entweiche Luft unter hohem Druck durch eine kleine Öffnung. Auch wenn Tränen ihn nur verschwommen sehen lassen, beobachtet er, wie Alika ihre religiösen Schriften fallen lässt und in die Sporttasche vor ihren Füßen greift, in der sie ihre Pistole hat. Schüsse werden die Cops auf den Plan rufen, aber er will trotzdem, dass Alika die Lesbe erschießt.

Stattdessen passiert Folgendes: Die Roller-Derby-Queen wirbelt einmal, vielleicht zweimal um die eigene Achse, schwingt einen der Aktenkoffer wie eine Hammerwerferin und trifft Alikas Kopf, sodass sie bewusstlos zusammenbricht.

Und dann rast das verrückte Weib davon: vom Weg im Park über den Rasen zum Gehsteig an der Ocean Avenue, dort bis zur Ecke und an der Fußgängerampel über die Straße. Ein aus der Seitenstraße abbiegender Honda hupt sie an, aber sie hat jetzt Grün, als sie mit den beiden Aktenkoffern davonskatet.

SECHSUNDZWANZIG

Jane hatte gehofft, dass Jimmy auf Tricks verzichten, dass er Nona einfach die Aktenkoffer überlassen würde. Aber sie hatte ihre Vorbereitungen für den Fall getroffen, dass er sich dafür, dass sie ihn vor dem Gefängnis bewahrt hatte, lieber mit einem Tritt gegen den Kopf revanchieren würde. Diese Cyberspace-Cowboys hielten sich für die Herren des Universums und konnten es nicht ertragen, einmal nicht Sieger zu sein.

Sie war von acht bis zehn drüben im Park gewesen und hatte das Stammpublikum von den zerlumpten Bettlern bis hin zu den Fitnessfreaks studiert. Dank ihrer jahrelangen FBI-Erfahrung besaß sie die Menschenkenntnis, die sie brauchte, um ihrerseits eine improvisierte Crew zusammenzustellen. Und weil sie gutes Geld bot, war es nicht weiter schwierig, sie zum Mitmachen zu überreden.

Sie mochte es nicht, Menschen auf diese Weise zu benutzen. Den Leuten machte es nichts aus, benutzt zu werden, aber ihre Bereitwilligkeit war keine Entschuldigung für Jane. Irgendetwas konnte schiefgehen. Jemand konnte verletzt, verkrüppelt, getötet werden. Aber wie jeder Mensch hatte sie ihre Prioritäten. Ihre oberste Priorität war ihr Sohn. Sie würde jeden benutzen, um seine Sicherheit zu garantieren und für ihn am Leben zu bleiben.

Um 10:15 Uhr, eindreiviertel Stunden vor ihrer Verabredung mit Jimmy, hatte sie in ihrem auf der anderen Seite der Ocean Avenue geparkten Ford gesessen und mit einem Fernglas bewaffnet auf ungewöhnliche Ereignisse geachtet, als aus Süden eine Kolonne aus sechs SUVs heranrollte, die in regelmäßigen Abständen zwischen Santa Monica Boulevard und California Avenue parkten. Aus den Wagen stiegen Leute, die sich zu einer kurzen Besprechung um einen Muskelmann versammelten, der wie einem Marvel-Film entstiegen aussah, bevor sie auseinandergingen.

Vielleicht waren das nicht Jimmy Radburns Leute, aber sie entsprachen dem Typ. Falls sie zu Jimmy gehörten, überraschte es Jane nicht, dass sie glaubten, früher als sie an Ort und Stelle zu sein, wenn sie fast zwei Stunden zu früh aufkreuzten. Das Böse war träge und fantasielos.

Nach der Auseinandersetzung mit Jimmy und der jungen Frau, die religiöse Schriften verteilt hatte, skatete Nona mit den beiden Aktenkoffern in ihrem Besitz über die Fahrbahn, und Jane zuckte unwillkürlich zusammen, als der Honda sie beinahe streifte. Sie glitt über die Ocean Avenue, hüpfte über die abgesenkte Bordsteinkante und überwand trippelnd die sechs Stufen – alles so schnell, dass Jane kaum rechtzeitig die Tür öffnen und sie in die Hotellobby einlassen konnte.

Der Portier unter dem Säulenvordach war sichtlich verblüfft, und seine Verblüffung steigerte sich noch, als Jane zwei kurze Ketten und zwei Vorhängeschlösser aus ihrer Jacke zog. Als sie die Ketten um die senkrechten Türgriffe schlang und mit den Vorhängeschlössern sicherte, konnte niemand mehr das Hotel betreten.

In Nonas Kielwasser war die Verkehrsampel umgesprungen, und die drei Gestalten – einer davon der Muskelmann –, die jetzt versuchten, die Ocean Avenue zu überqueren, mussten wütend hupenden Autofahrern ausweichen.

Reifen quietschten, und eine der drei Gestalten wurde umgefahren.

Nona war an Jane vorbei über den Terrazzoboden und am Eingang der eleganten Art-déco-Bar vorbei zu den Aufzügen geskatet. Als Jane dort ankam, glitt eben eine Kabinentür zur Seite.

Die beiden betraten den Aufzug und drückten den Knopf, neben dem TIEFGARAGE stand.

»Das hat gerockt«, stellte Nona fest.

»Tut mir leid, dass es brenzlig geworden ist.«

»Mehr Risiko, mehr Spaß.«

»Ist Barney verletzt?«

»Nö. Der alte Kerl ist zäher, als er aussieht.«

Als die Tür sich schloss und die Kabine nach unten zu sinken begann, drückte Jane die Stopptaste, sodass der Aufzug zwischen den Stockwerken hielt.

Aus der Innentasche ihrer Jacke zog sie einen reißfesten grünen Müllsack, den sie Nona gab.

Während die Skaterin den Müllsack entfaltete, kontrollierte Jane den Inhalt der Aktenkoffer. Die Ausdrucke steckten in durchsichtigen Kunststoffhüllen.

»Ich dachte, da wär Geld drin«, sagte Nona, die auf dem Boden sitzend ihre Skates auszog.

Im Futter der Aktenkoffer steckten bestimmt leistungsfähige Minisender, die ständig ihren Standort meldeten. »Sorry, dass ich dich enttäuschen muss«, sagte Jane, während sie den Tascheninhalt in den Müllsack kippte. »Aber von Geld war nie die Rede.«

»Entschuldige dich nicht dauernd. Bis heute war meine Woche echt langweilig.«

Jane drückte nochmals die Stopptaste. Als der Lift in Richtung Tiefgarage weiterfuhr, verknotete sie den Müllsack.

Nona trat als Erste in die Tiefgarage hinaus. Sie trug ihre Skates in der Hand, und die Kugellager der sich drehenden Räder klickten leise.

Jane drückte den Knopf für den sechsten Stock, bevor sie eilig mit dem schweren Müllsack ausstieg.

Auf dem Parkdeck roch es nach Schmieröl, feuchtem Beton und den Auspuffgasen des letzten Wagens, den ein Hotelangestellter für den Besitzer geholt oder hier abgestellt hatte. Niedrige Decken. Ungenügende Beleuchtung, die dunkle Ecken entstehen ließ. Wände mit Wasserflecken, die wie riesige entstellte Gesichter oder verzerrte gespenstische Wesen aussahen. Jane dachte: Grab, Katakomben.

Sie waren schnell gewesen. Aber vielleicht nicht schnell genug.

SIEBENUNDZWANZIG

Beim Versuch, die Ocean Avenue in dichtem Verkehr zu überqueren, wird Zahid von einem blauen Lexus zu Fall gebracht, aber nicht überfahren. Auf dem Asphalt liegend bedeutet er Kipp und Angelina, dass sie zum Hotel weiterlaufen sollen, und ruft: »Nur weiter, mir fehlt nichts!«

Kipp braucht diese Aufforderung nicht, ihm ist’s egal, ob Zahid etwas fehlt oder nicht, er hat nicht die Absicht, stehen zu bleiben und Erste Hilfe zu leisten. Sie hatten eine Falle stellen wollen und sind selbst in eine getappt; diese Situation muss korrigiert werden. In ihrer knallharten Branche ist das Geschäftliche immer wichtiger als das Persönliche – ohne den romantischen Quatsch aus Krimis und Mafiafilmen, ohne den sentimentalen Scheiß über Familien- und Ganovenehre. In diesem digitalen Zeitalter stellen Menschen einen Datenschatz dar, dessen Wert sich danach bemisst, welche nützlichen Informationen sie besitzen. Zahid besitzt im Augenblick keine Daten, die sie brauchen; er ist abgestürzt.

Als Kipp das Hotel erreicht, steht der Portier vor dem Eingang und späht durch die Scheibe in die Hotellobby. Kipp stößt ihn beiseite, packt den Türgriff und stellt fest, dass die Tür sich nicht öffnen lässt.

Im Allgemeinen ist Kipp Garner ein praktisch veranlagter Unternehmer, der die Probleme des Lebens systematisch angeht. Er schreit nicht herum, bekommt auch keine Wutanfälle, wenn mal etwas schiefgeht. Ihm macht es Spaß, sich ab und zu jemanden durch Gewalt zu unterwerfen und ihm einen bleibenden Schaden zuzufügen, damit der Kerl ihn lebenslänglich fürchtet, aber seine Zielpersonen sind Unbekannte aus Bars oder Zufallsbekanntschaften. Erfordert es einer seiner Geschäftszweige, dass er jemanden liquidiert, den er kennt, erledigt er das effizient, ohne große Gefühlsregung.

In seinen sechsunddreißig Lebensjahren hat Kipp viel Selbsterforschung betrieben und weiß, dass seine einzige persönliche Schwäche, sein einziger wirklicher Fehler die Tatsache ist, dass er die Beherrschung verliert, wenn eine Frau ihn beleidigt oder sich irgendwie als überlegen erweist. Zum Glück spüren die meisten Frauen das schon bei der ersten Begegnung und verhalten sich in seiner Gegenwart entsprechend vorsichtig.

Aber diese Ethan Hunt – er hat sie flüchtig aus der Ferne gesehen, als sie ihrer Komplizin auf Rollerskates die Hoteltür geöffnet hat – hat ihn zum Narren gehalten. Sein Gesicht brennt vor Scham. Eine Frau hat ihn vor seinen Leuten blamiert. Er hat das Gefühl, dass seine ganze Crew ihn heimlich auslacht. Nicht nur seine Crew. Alle Parkbesucher, die Autofahrer auf der Ocean Avenue, der hagere Portier, den er eben weggestoßen hat – sie alle lachen jetzt über ihn.

Wenn dieser eine Fehler, diese persönliche Schwäche sich in Kipp Garner zeigt, flippt er manchmal aus und handelt irrational, aber niemals sehr lange, eine Minute, fünf Minuten lang. Diesmal ist’s ungefähr eine Minute, in der er die Türgriffe aus Edelstahl packt und mit ungeheurer Kraft an der Hoteltür rüttelt, als müsse ihr Glas zerspringen, sodass die Kette ans Glas scheppert und das Vorhängeschloss gegen einen der Innengriffe schlägt.

Zuletzt dringt Angelinas Stimme durch den roten Nebel, der ihn nicht klar denken lässt. »Big Guy! Hey, Mr. Big, das hier musst du sehen!« Sie ist die angebliche Studentin aus dem Park, die Art Mädchen, das immer weiß, dass es sich unterzuordnen hat. Sie ist mit Zahid und ihm über die Ocean Avenue gekommen. Jetzt hält sie ihm ihr Smartphone hin, weil sie mithilfe einer App, einer von Jimmys besten, den Weg der beiden Aktenkoffer verfolgt. »Sie ist senkrecht unterwegs, Big Guy.«

Diese App ortet den Transponder nicht nur horizontal in allen Richtungen. Sie besitzt auch eine ganz neuartige Fähigkeit, die Jimmy als dreidimensionale Signalverarbeitung bezeichnet.

Kipp tritt von der Tür zurück und blickt die Hotelfassade hinauf. »Sie fährt nach oben, meinst du?«

»Senkrecht, yeah«, bestätigt Angelina.

»Wohin nach oben?«

»Vielleicht haben sie ein Zimmer. Sonst vielleicht aufs Dach.«

»Vom Dach aus kämen sie nicht weiter. Sie haben ein Zimmer.«

ACHTUNDZWANZIG

Die Tiefgarage hatte zwei Rampen, je eine für ein- und ausfahrende Autos. Jane trug den reißfesten Müllsack mit dem bestellten Material, und Nona, die auf Strümpfen rannte, ihre Rollerskates, als sie die Ausfahrtrampe hinaufspurteten und die schmale Straße hinter dem Hotel erreichten. Jane wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie dort mit einem von Jimmy Radburns besten Kumpeln zusammengeprallt wären, aber im Augenblick war die Seitenstraße menschenleer.

Das Hotel stand am Nordende des Straßenblocks, und ungefähr in seiner Mitte lag der große Parkplatz eines Bürogebäudes in der 2nd Street. Die Zufahrt erfolgte über die zum Hotel weiterführende Straße; vor eineinhalb Stunden hatte Jane ihren Ford Escape von einer Parkuhr an der Arizona Avenue geholt und hier auf einem Besucherparkplatz abgestellt. Dies war der dem Hotel nächste Parkplatz, den sie hatte finden können.

Als sie mit Nona die Straße entlangtrabte, erwartete sie, jeden Augenblick Schreie hinter ihnen zu hören, aber die blieben aus. Auf dem Parkplatz warf sie den Müllsack auf den Rücksitz ihres Wagens, und Nona stieg mit ihren Skates vorn rechts ein, und Jane setzte sich ans Steuer, und keine halbe Minute später waren sie auf der Zufahrtsstraße unterwegs, ohne dass im Rückspiegel Verfolger zu sehen waren.

NEUNUNDZWANZIG

Kipp entschuldigt sich bei dem Portier dafür, dass er ihn weggestoßen hat, und drückt dem Mann dabei einen zusammengefalteten Hunderter in die Hand.

Angelina und er ziehen sich auf den Gehsteig zurück, als Zahid eintrifft: nach seinem Zusammenstoß mit dem Lexus hinkend, aber nicht ernstlich verletzt, wie er glaubhaft versichert.

»Ich wette, dass sie ein Zimmer hier im Hotel haben«, sagt Kipp. »Sie können nicht ewig da drinbleiben. Wir müssen den Vorder- und den Hinterausgang bewachen. Du holst ein Auto, damit wir …«

»Big Guy«, unterbricht ihn Angelina und hält ihr Smartphone hoch, »sie kommen wieder runter.«

»Was?«

»Sie waren ziemlich weit oben, vielleicht im fünften oder sechsten Stock. In der Senkrechten ist diese App nicht ganz perfekt. Jetzt kommen sie wieder runter.«

DREISSIG

Am Ende der schmalen Zufahrtsstraße bog Jane links auf den Santa Monica Boulevard und gleich wieder rechts auf die 4th Street ab.

Nona Vincent, ehemaliger Sergeant der U. S. Army, die aus South Carolina kommend allein eine Woche Urlaub in Kalifornien machte, sagte: »So viel Spaß hab ich schon lange nicht mehr gehabt. Aber als ich dem Dicken die Cojones bis zum Adamsapfel getreten habe, hab ich gehofft, dass es einen bösen Kerl treffen würde, keinen halbwegs guten.«

»Hundertpro böse«, versicherte Jane ihr.

»Ich hab ihm gesagt, dass ich mich nennen kann, wie’s mir passt, aber er darf mich nicht Lesbe nennen. Ich weiß nur nicht, ob er mich gehört hat, denn das hab ich nach dem Tritt gesagt.«

»Oh, das hat er bestimmt mitgekriegt.«

Als Jane an der Ecke 4th Street und Pico an einer Ampel hielt, fragte Nona: »Das FBI hat dich also suspendiert?«

»Yeah«, log Jane. »Wie ich schon gesagt habe.« Weil sie keine Lust hatte, die ganze Geschichte von Nicks Selbstmord erzählen zu müssen, hatte sie lieber nicht gesagt, sie sei beurlaubt.

»Warum wurdest du noch mal suspendiert?«

»Das hab ich nicht gesagt.«

»Du kommst mir nicht wie jemand vor, der auf eigene Rechnung arbeitet.«

»Das tue ich nicht.«

»Sonst wäre ich jetzt nicht hier.«

»Ja, ich weiß. Ich bin dir für deine Hilfe dankbar.«

Die Ampel sprang um, und Jane fuhr weiter – vom Pico zum Ocean Boulevard.

»Ich rechne mir Folgendes aus«, sagte Nona. »Du hast wegen Korruption gegen einen Politiker ermittelt, und deine Vorgesetzten haben dich angewiesen, die Ermittlungen einzustellen, aber das hast du nicht getan, also haben sie dich suspendiert, bis du wieder zur Vernunft kommst.«

»Du kannst Gedanken lesen.«

»Und du lügst wie gedruckt.«

Jane lachte. »Total.«

»Aber ich halte dich trotzdem für eine gute Frau.«

Nona wohnte im Le Merigot, einem Marriott-Hotel mit Meerblick südlich der Santa Monica Pier und ungefähr ein halbes Dutzend Blocks von der Stelle entfernt, wo Jimmy Radburn Bekanntschaft mit ihrem Skate gemacht hatte. Jane bog nicht in die Hoteleinfahrt ab, sondern hielt am Randstein im spärlichen Mittagsschatten von Palmen.

Zuvor hatte sie Nona Vincent fünfhundert Dollar gegeben und ihr weitere fünfhundert als Erfolgsprämie versprochen. Jetzt bot sie ihr die zweite Rate an.

»Ich sollte das Geld nicht nehmen. Du brauchst es vermutlich dringender als ich.«

»Versprochen ist versprochen.«

»Ich sollte’s nicht nehmen, aber ich tu’s.« Nona steckte die fünf Hunderter in ihren gelben Sport-BH. »Wenn ich wieder zu Hause bin und Freunden diese Story erzähle, kann ich immer noch behaupten, ich hätte das Geld abgelehnt.«

»Aber du wirst die Wahrheit erzählen.«

Nona betrachtete sie ungewohnt ernst. »Hast du ’nen Abschluss in Psychologie oder was?«

»So ähnlich. Hör zu, diese Kerle verpissen sich vermutlich, aber du solltest heute nicht mehr auf Skates unterwegs sein, weil sie bestimmt echt sauer sind.«

»Heute ist sowieso mein letzter Tag. Das Hotel hat ein Spa. Ich bleibe im Haus und lasse mich verwöhnen.«

Jane streckte ihr die Hand hin. »Hat mich gefreut, dich kennenzulernen.«

Als sie sich die Hände schüttelten, sagte Nona: »Hast du eines Tages diesen ganzen Scheiß vom Hals, rufst du die Nummer an, die ich dir gegeben hab. Ich will die ganze verdammte Story hören.«

»Tatsächlich werfe ich die Nummer lieber weg. Würden die falschen Leute sie bei mir finden, wäre das vielleicht nicht gut für dich.«

Nona zog einen Hunderter von dem Fünferpack und ließ ihn in Janes Schoß fallen.

Jane griff danach und fragte: »Wofür ist der?«

»Ich zahle dafür, dass du die Nummer auswendig lernst. Erfahre ich nie, worum es bei dieser Sache geht, sterbe ich vor Neugier.«

Jane steckte den Hunderter ein.

»Ich bin fast doppelt so alt wie du«, sagte Nona. »Als ich in der Steinzeit aufgewachsen bin, hab ich mir nie vorgestellt, dass die Welt mal so hässlich werden würde.«

Jane sagte: »Das hab ich mir vor zehn Jahren auch nicht vorgestellt. Oder vor einem.«

»Pass gut auf dich auf.«

»So gut ich kann.«

Nona stieg aus dem Wagen. Mit ihren Skates in der Hand ging sie auf Strümpfen die Hoteleinfahrt entlang.

EINUNDDREISSIG

Kipp und Angelina stehen in der Tiefgarage des Hotels. Vor dem Aufzug. Sie warten fast eine Viertelstunde lang. Keiner der beiden spricht, während sie warten. Kipp ist nicht nach Reden zumute. Angelina versteht seinen Gemütszustand. Wie immer.

Sie verstehen einander. Er vertraut ihr. Sie will ihm nie Anlass geben, ihr nicht zu vertrauen. Er kann jegliche Art von Sex mit ihr haben. Oder mit anderen Frauen. Sie ist nicht eifersüchtig. Sie will nur die sein, der er am meisten vertraut. Nicht sein einziges Mädchen. Sein bestes Mädchen. Seine beste Freundin. Wenn er ihr manchmal wehtun muss, kann er auch das tun. Eines Tages wird sie rauskriegen, wo er das Geld versteckt hat, und so sehr seine Vertraute sein, dass, wenn sie ihn in den Hinterkopf schießt, er mit dem Gedanken zur Hölle fahren wird, irgendein Auftragsmörder habe sie beide umgelegt.

Der Portier schickt ihnen einen Pagen. Den einzigen, den das Hotel hat. Der Aufzug klingelt. Der Page tritt aus der Kabine. Er sieht nicht wie ein Page aus. Er könnte ein Arzt sein. Distinguiert, sehr ernsthaft. Weißes Haar. Gold geränderte Brille. Er sagt: »Im Aufzug haben zwei leere Aktenkoffer gestanden.«

»Wo sind sie jetzt?«, fragt Kipp.

»Miss Wyndham, unsere Managerin, hat sie in ihrem Büro. Sie sagt, dass das FBI sie vermutlich haben wollen wird.«

Angelina spürt Kipps plötzliche Besorgnis. Die Luft um ihn herum scheint elektrisch geladen zu sein.

Er sagt: »Was hat das FBI mit irgendwas zu tun?«

»Die Lady in Begleitung der Skaterin hat Miss Wyndham kurz einen FBI-Ausweis oder dergleichen gezeigt. Miss Wyndham glaubt jetzt, dass er gefälscht war – und das muss sie dem FBI melden.«

Angelina ist die Situation augenblicklich klar. Die Ethan-Hunt-Schlampe ist fort. Ihre lesbische Freundin ist weg. Zeit, sie zu vergessen. Lasst sie laufen. Verschwindet von hier.

Zu Kipp sagt sie nur: »Ich würde Vinyl schneller als schnell auflösen.«

Kipp starrt sie blinzelnd an. Sie ist ihm wie immer zwei Sekunden voraus.

Er drückt dem Pagen zwei Hunderter in die Hand.

In der Tiefgarage ist es still. Totenstill.

»Jetzt noch etwas Muskeln«, empfiehlt Angelina.

»Yeah«, sagt Kipp und packt den Pagen am Hals. Rammt ihn gegen die nächste Wand. Baut sich drohend vor ihm auf. »Du hast keinen von uns gesehen. Du hast nie mit uns gesprochen. Verstanden?«

Der Page, dem die Luft abgeschnürt wird, kann nur stumm nicken.

»Sagst du auch nur ein Wort über uns, komme ich eines Nachts und schneide dir die Nase ab und lasse sie dich essen. Das gilt auch für den Portier. Bestell ihm das.«

Der Page, dessen Gesicht knallrot angelaufen ist, nickt erneut. Seine Augen quellen hervor. Sein aufgerissener Mund bildet ein O, während er nach Atem ringt. Er sieht jetzt nicht mehr wie ein Arzt aus. Er sieht wie ein rotgesichtiger Fisch aus. Er ist ein Nichts in einer Fantasieuniform. Er ist eine große Null. Ein Schwachkopf.

Kipp lässt seinen Hals los. Verpasst ihm einen gewaltigen Magenhaken. Der Schwachkopf sinkt auf die Knie.

Kipp lässt der großen Null die zwei Hunderter. Das ist seine Art, den Kerl zu demütigen. Als hätte er zweihundert Dollar dafür genommen, dass Kipp ihn verprügeln darf.

Kipp und Angelina gehen davon.

Hinter ihnen übergibt der Schwachkopf sich auf den Betonboden.

Das wird Angelina fehlen, wenn sie Kipp umlegt. Ihr wird es fehlen, ihn dabei zu beobachten, wenn er Leuten zeigt, wie klein, wie unbedeutend sie sind. Und zu beobachten, wie er sie misshandelt.

ZWEIUNDDREISSIG

Um 14 Uhr wartete Barney wie vereinbart auf dem Oceanfront Walk auf Jane. Er saß auf den Stufen, die zu dem Vergnügungspark hinaufführten, der zur Santa Monica Pier gehörte. Dort hatte sie ihn am Morgen erstmals gesehen. Er hockte unter dem Gewicht seines Rucksacks gebeugt da, hatte den Müllsack mit seiner gesamten Habe neben sich stehen und starrte den Boden zwischen seinen Füßen an, als stehe der Sinn des Lebens auf dem Beton geschrieben, der im Schatten seines Oberkörpers lag.

Am Morgen hatte sie sich dadurch eingeführt, dass sie ihm ein Frühstück aus dem nächsten Café gebracht hatte, in dem er verständlicherweise nicht bedient worden wäre, wenn er in all seiner zerlumpten Pracht aufgekreuzt wäre, weil die meisten anderen Gäste bei seiner Ankunft geflüchtet wären.

Barney hatte sich nach ihrem Motiv gefragt, aber er hatte das Frühstück dankbar gegessen. Nach einem viertelstündigen Gespräch hatte sie ihr Motiv erläutert, indem sie ihm fünf Zwanziger in die Hand drückte und ihm von einem Mann erzählte, der mittags mit zwei Aktenkoffern und einem ans Handgelenk gebundenen Ballon durch den Palisades Park gehen würde.

Barney war nicht so schmutzig, wie er aussah. Seine Hände waren abgearbeitet, aber einigermaßen sauber, und er hatte sie in Janes Gegenwart sogar mehrmals mit einer antibakteriellen Creme eingerieben. Haar und Bart standen wie elektrisch geladen zu Berge, waren aber nicht schmutzig oder verfilzt. Sie vermutete, dass er in irgendeinem Obdachlosenheim duschte oder nachts im Meer badete.

Allerdings waren seine Klamotten wirklich so schmutzig, wie sie aussahen, und man musste aus einem Meter Abstand mit ihm reden, um von seinem schrecklichen Mundgeruch nicht zu verwelken und vorzeitig zu altern.

Jetzt setzte sie sich auf seine Stufe – mit reichlich Abstand. »Das im Park hast du klasse gemacht.«

Barney hob den zottigen Kopf, starrte sie unter buschigen Augenbrauen hervor an und schien nicht gleich zu wissen, wer sie war. Seine wässrigen Augen waren blassblau wie ausgebleichte Jeans – ein Farbton, den sie noch nie gesehen hatte, und Jane fragte sich, ob zu viel Alkohol und Schicksalsschläge seine dunkelblauen Augen ausgebleicht hatten.

Obwohl sein Blick nicht klar wurde, erkannte er sie offenbar wieder. »Die meisten wären nicht gekommen, obwohl sie’s versprochen hatten, aber ich hab gewusst, dass du zurückkommen würdest.«

»Nun, ich schulde dir hundert Dollar.«

»Du schuldest mir nur, was du mir schulden willst.«

»Nona hat gesagt, dass Jimmy echt in Panik war.«

»Das Babygesicht mit dem Ballon? Der Kerl war ein Arschloch. Entschuldige den Ausdruck. Er hatte nicht mal ’n Dollar für ’nen Vietnamveteranen.«

»Warst du in Vietnam, Barney?«

»Für wie alt hältst du mich?«

Sie erwiderte: »Wie alt siehst du deiner Meinung nach aus?«

»Du bist ’ne echte gottverdammte Diplomatin. Ich schätze, ich sehe wie fünfundsiebzig aus.«

»Da würde ich dir nicht widersprechen.«

»Tatsächlich bin ich fünfzig. Oder vielleicht neunundvierzig. Nicht älter als einundfünfzig. Als Vietnam heiß war, war ich noch ein kleiner Rotzlöffel.«

Aus einer Jackentasche angelte er ein Fläschchen und machte sich daran, seine Hände zu desinfizieren.

»Du benutzt dieses Zeug oft«, sagte Jane.

»Ich würde das Zeug literweise trinken, wenn’s mir innerlich so gut helfen würde wie meinen Händen.«

»Hast du schon zu Mittag gegessen?«

»Ich esse keine drei Mahlzeiten pro Tag. Die brauche ich nicht.«

»Hör zu, ich kann dir etwas zum Lunch aus dem Café holen. Das Frühstück hat dir geschmeckt.«

Als er sie mit zusammengekniffenen Augen anstarrte, schien er sie aus einem Gebüsch heraus zu betrachten.

»Das geht nicht von deinem Hunderter weg«, sagte sie und gab ihm noch mal fünf Zwanziger.

Als Barney das Geld wegsteckte, sah er sich misstrauisch um, als lauerten auf den Stufen hinter ihm unzählige Diebe auf eine Chance, ihn auf den Kopf zu stellen und seine Taschen auszuleeren.

»Andererseits«, sagte er, »kann ich ’ner Lady schlecht was abschlagen.«

»Was möchtest du denn?«

»Gibt’s dort drinnen einen netten Cheeseburger?«

»Ich denke schon. Mit Pommes oder sonst was?«

»Bloß einen netten Cheeseburger und ein 7 Up.«

Sie brachte den Cheeseburger in einer Tüte und das mittelgroße 7 Up in einem Pappbecher. »Nur wenig Eis, hab ich gesagt.«

Er versetzte die Limonade heimlich mit einem großen Schuss Whiskey. »Du bist ’ne unheimliche Frau, du weißt, wie Männer ticken.«

Barney sprach nicht, während er aß. Sie fand es besser, ihm dabei nicht zuzusehen.

Hoch über ihnen führten Seemöwen ein Ballett auf. Sie schrien den Tag nieder, und obwohl ihre Stimmen aus nächster Nähe misstönend gewesen wären, klangen sie aus großer Höhe gespenstisch fremdartig.

Als Barney aufgegessen hatte, sagte er: »Dir kann’s scheißegal sein, was ich denke, aber weißt du, was mir an dir am besten gefällt?«

»Was denn?«

»Du gibst mir Geld, ohne zu nörgeln, dass ich’s nicht für Whiskey ausgeben soll.«

»Das ist jetzt dein Geld, nicht meines.«

»Gibt nicht mehr viele, die einem nicht wegen jedem Dreck Vorträge halten.«

Nachdem er die Tüte und den Pappbecher in einen Abfallbehälter geworfen hatte, griff er nach dem Müllsack mit seinen Habseligkeiten. »Begleitest du mich noch ein Stück weit bis zum Ende des Piers? Bis ich sicher bin, dass mich keine räuberischen Piraten verfolgen?«

»Klar.«

Sie waren erst ein kleines Stück gegangen, als Barney sagte: »Ich hab in meinem Leben einen Haufen falscher Entscheidungen getroffen, aber weißt du was?«

»Was?«

Er lachte in sich hinein. »Gibt mir ’ne Chance, dann treffe ich sie wieder.«

Er schwieg für einige Schritte. Dann: »Wir leben in einer schönen, schrecklichen Welt, nicht wahr?«

Jane nickte lächelnd.

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