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Die Männer der McKettricks (3-teilige Serie)

SO FREI WIE DER HIMMEL

Jesse McKettricks Herz schlägt für das weite Land, das seine Vorfahren einst urbar gemacht haben, für die Ranch, auf der er lebt und arbeitet. Nichts kann ihn von hier vertreiben. Doch dann kommt die schöne Cheyenne Bridges nach Indian Rock und mit ihr die größte Herausforderung seines Lebens. Denn Cheyenne soll ihn im Auftrag ihres Bosses mit Charme und notfalls auch List dazu bringen, einen Teil seines Lands abzugeben. Jesse brennt vor Leidenschaft. Aber das Erbe seiner Vorfahren an eine Immobiliengesellschaft verkaufen? Niemals. Stattdessen schmiedet er einen Gegenplan, der seine Widersacherin von dem wilden Zauber der Natur und der unbegrenzten Freiheit überzeugen soll - und von seiner Liebe.

ECHO DER LIEBE

Rance McKettrick ist reich, mächtig - und hat seit dem Tod seiner Frau viel zu selten gelacht. Da begegnet ihm das Schicksal in der hübschen Gestalt von Echo Wells. Die neue Buchhändlerin von Indian Rock ist lebenslustig, optimistisch, hinreißend provokant und in jeder Hinsicht genau das Gegenteil des spröden Ranchers: Er glaubt an nüchterne Fakten, sie an romantische Magie. Er kümmert sich um internationale Geschäftsbeziehungen, sie verkauft heimlich unterm Ladentisch Liebestränke, die bei den Einwohnern reißenden Absatz finden. Und trotzdem kann sich Rance keine verführerische Frau als Echo vorstellen. Was, wenn sie die einzige Frau auf der Welt ist, die seine verletzte Seele heilen kann?

STURM ÜBER DER WÜSTE

Keegan McKettrick hat es bei seiner Scheidung auf die harte Tour lernen müssen: Frauen kann man nicht trauen. Und Liebe? Nichts als eine Illusion. Bis die Literaturagentin Molly Shields nach Indian Rock kommt. Ohne Zweifel ist sie die schönste Frau, die er jemals gesehen hat, aber zugleich auch die geheimnisvollste. Was will die City-Lady inmitten der unendlichen Weite Arizonas? Keegan beschließt, Molly nicht aus den Augen zu lassen. Ein riskanter Vorsatz! Denn in einer einzigen Nacht, so stürmisch wie ein Gewitter in der Wüste, vergisst Keegan alles, was er über Frauen und Liebe zu wissen glaubte: In Mollys zärtlicher Umarmung gerät sein stolzes Herz in Gefahr.


  • Erscheinungstag: 09.01.2020
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 576
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745751857
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Linda Lael Miller

Die Männer der McKettricks (3-teilige Serie)

Linda Lael Miller

Die McKettricks 1:
So frei wie der Himmel

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Katja Henkel

Image

1. KAPITEL

Das Land der McKettricks, dachte Cheyenne Bridges.

Sie stand neben ihrem Mietwagen auf dem Seitenstreifen und schirmte ihre Augen mit einer Hand gegen die Sonne ab. Aus weiter Ferne schienen leise Trommelschläge an ihr Ohr zu klingen. Cheyenne dachte an eine Zeit, die sie gar nicht kannte.

Eine Zeit, als nur der Große Geist Anspruch auf diese Täler und Berge erhoben hatte. Ihm allein gehörten damals der gewölbte blaue Himmel, die rote Erde, die weit verstreut stehenden Weißeichen, Joshuabäume und Gelbkiefern.

Erst Angus McKettrick und andere ebenso unerschrockene wie arrogante Pioniere zäunten diese Tausende von Quadratkilometern im neunzehnten Jahrhundert ein. Sie setzten ihre Namen unter Dokumente und trieben Viehherden auf das Land. Sie gruben Brunnen und rangen dem steinigen, mit Disteln überzogenen Boden Leben ab. Der alte Angus hatte seinen Kindern und Kindeskindern diesen kühnen Besitzanspruch weitervererbt, über Generationen hinweg.

Die McKettricks für immer und ewig, amen.

Cheyenne biss sich auf die Unterlippe. Ihr Handy, das im Wagen auf dem Beifahrersitz lag, klingelte – wieder Nigel. Sie ignorierte das beharrliche Klingeln, bis es verstummte, obwohl sie wusste, dass die Ruhepause nicht lange anhalten würde. Die Landschaft, die sie so gut kannte, berührte ihr Herz. Tief in ihr wuchs eine längst verschollen geglaubte Ahnung.

Ein bittersüßes Gefühl stieg in ihr auf, eine Mischung aus Einsamkeit und Heimweh und noch mehr, was sie nicht benennen konnte. Vor Jahren hatte sie sich geschworen, nie mehr zurückzukehren.

Jesse McKettrick nie mehr wiederzusehen.

Und jetzt zwang das Schicksal sie auf unnachahmliche Weise, beides zu tun. Sie seufzte. Ein alter Pick-up fuhr laut hupend an ihr vorbei, sentimentale Countrymusik drang durch die offenen Fenster. Auf dem Aufkleber, der an der Stoßstange flatterte, stand „Rettet die Cowboys”.

Cheyenne winkte, wobei sie sich in ihrem eleganten schwarzen Designerkostüm und den hohen Schuhen ein wenig unbehaglich fühlte. Hier trug man Stiefel und Jeans. Sie würde auffallen wie ein bunter Hund.

Willkommen zu Hause, dachte sie verdrossen.

Das Handy klingelte erneut. Sie griff durch das offene Fenster und drückte es ans Ohr.

„Wird auch Zeit, dass du rangehst”, zischte Nigel Meerland, bevor sie sich überhaupt melden konnte. „Ich dachte schon, du wärst in irgendein Schlammloch gestürzt.”

„In Indian Rock gibt es nicht viele Schlammlöcher”, entgegnete Cheyenne, ging um den Wagen und öffnete die Fahrertür.

„Hast du ihn schon gesprochen?” Nigel hielt sich nie lange mit Höflichkeiten wie „Hallo, wie geht es dir?” auf, weder von Angesicht zu Angesicht noch am Telefon. Er sagte einfach, was er wollte – und meistens bekam er es auch.

„Nigel.” Cheyenne versuchte, ruhig zu bleiben. „Ich bin eben erst angekommen. Also, nein, ich habe noch nicht mit ihm gesprochen.” Er hieß Jesse McKettrick und war der letzte Mensch auf dieser Welt, den sie sehen wollte. Davon abgesehen würde er sie in der Masse der ihn anhimmelnden Frauen ohnehin nicht wiedererkennen.

„Nun, dann mal ran an den Speck”, rief Nigel. Ihr Chef war Ende dreißig und Engländer. Und er liebte Redewendungen. „Leg los. Ich muss dir ja wohl nicht sagen, wie erpicht unsere Investoren darauf sind, dieses Apartmenthaus endlich auf den Weg zu bringen.”

Nein, dachte Cheyenne. Wegen des engen Rocks musste sie sich seitlich in den Wagen setzen und dann die Beine nachziehen. Das brauchst du mir nicht zu sagen. Ich habe in den letzten sechs Monaten nichts anderes von dir gehört.

„Jesse wird nicht verkaufen”, sagte sie.

„Er muss verkaufen”, versetzte Nigel. „Du darfst auf keinen Fall versagen. Alles, und ich meine wirklich alles, hängt von diesem Geschäft ab. Wenn die Investoren sich zurückziehen, geht die ganze Firma den Bach runter. Du verlierst deinen Job, und ich muss auf den Knien zu meiner Familie kriechen und um mein karges Erbe als zweitgeborener Sohn betteln.”

Cheyenne schloss die Augen. Auch für sie stand eine Menge auf dem Spiel. Nicht nur ihr Job. Sie musste auch an ihren jüngeren Bruder Mitch denken. Und an ihre Mutter. Der Erfolgsbonus, den Nigel ihr schriftlich zugesichert hatte, würde ihnen eine Sicherheit bieten, von der sie bisher nur geträumt hatten.

Ihr Magen verkrampfte sich.

„Ich weiß”, sagte sie düster. „Ich weiß.”

„Dann leg dich ins Zeug, Pocahontas”, befahl Nigel und legte auf.

Cheyenne öffnete die Augen, holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Dann schleuderte sie das Telefon auf den Beifahrersitz, startete den Wagen und fuhr Richtung Indian Rock.

Die Stadt hatte sich nicht sehr verändert, seit sie mit siebzehn weggezogen war, um in Tuscon aufs College zu gehen. Die Reinigung, die Bücherei, die Grundschule – alles stand noch an seinem alten Platz. Auch die kleine weiße Kirche, wo sie sich abgemüht hatte, Geschichten über die Arche Noah und brennende Büsche zu begreifen, und 25-Cent-Stücke aus einem billigen Stofftaschentuch gewickelt und in den Klingelbeutel geworfen hatte.

Als Cheyenne die Hauptstraße entlangfuhr, richtete sie sich ein wenig auf. Am alten Bahnhof, der schon vor langer Zeit in ein kleines Einkaufszentrum umgebaut worden war, bog sie links ab. Der Mietwagen rumpelte über Zuggleise und an heruntergekommenen Wohnwagensiedlungen vorbei durch einen kleinen Pappelwald. Ein uralter Gitterrost ratterte unter den Rädern.

Cheyenne seufzte dankbar, weil er nicht unter ihr weggebrochen war. Kurz darauf bremste sie ab, um auf die schmale unbefestigte Straße einzubiegen, die zum Haus führte. Es war in den letzten Jahren ziemlich heruntergekommen. Überall wucherte Unkraut, rostige Stacheldrahtspulen lagen verstreut auf dem Boden. Die Veranda war ein paar Zentimeter abgesackt, die Seitenwände hielten nur noch dank farblich nicht passender Bretter.

Gram war so stolz auf ihr Haus und den Garten gewesen. Es würde ihr das Herz brechen, es jetzt so zu sehen. Der alte Lieferwagen ihrer Mutter, genauso ein Flickwerk wie das Haus, stand mit offener Tür in der Auffahrt.

Cheyenne hatte eigentlich gehofft, ein paar Tage vor ihrer Mutter und ihrem Bruder in Indian Rock anzukommen, damit sie zumindest eine Rampe für Mitchs Rollstuhl bauen konnte. Sie stellte den Motor ab und musterte das einzige Heim, das sie je gekannt hatte.

„Ich könnte dir mein Erbteil zeigen, Nigel”, murmelte sie. „Du müsstest nur in deinen Bentley hüpfen und nach Indian Rock in Arizona fahren.”

Auf einmal schwang die Eingangstür auf, und Ayanna Bridges trat in einem ausgeblichenen Baumwollkleid, Turnschuhen und zaghaft lächelnd auf die Veranda. Ihr glattes schwarzes Haar reichte ihr bis zu den Hüften, locker zusammengehalten von einer silbernen Spange, die sie vermutlich schon seit den Sechzigerjahren besaß. Als ihre Mutter die wackelige Treppe hinunterlief, sprang Cheyenne aus dem Auto.

„Sieh nur”, rief Ayanna. „Ich habe ein paar alte Bretter hinter dem Schuppen gefunden und eine Rampe gebaut. Mitch saust rauf und runter wie nichts!”

Das Leben hatte Ayanna immer gezwungen, erfinderisch zu sein. Behelfsmäßige Rampen für ihren Sohn zu bauen, gehörte zu ihren leichtesten Übungen. Sie hatte als Bedienung gearbeitet, mit verschiedenen Sozialämtern gerungen, um die medizinische Versorgung von Mitch zu sichern, und Kosmetik und Wundervitamine verkauft. Dabei zeigte sie niemals auch nur einen Anflug von Selbstmitleid. Zumindest nicht ihren Kindern gegenüber.

Cheyenne zwang sich zu einem Lächeln und tat, als bewunderte sie die verwitterten Bretter. Zweifellos benutzte Mitch sie auch, um aus dem Lieferwagen herauszukommen. Wenn – falls – sie den Bonus bekam, wollte Cheyenne einen neuen Lieferwagen kaufen, mit einem speziellen hydraulischen Lift und vielleicht sogar mit einer Handschaltung. Bis dahin mussten sie irgendwie zurechtkommen, wie sie eben immer schon irgendwie zurechtgekommen waren.

„Gute Arbeit”, bemerkte Cheyenne.

Ayanna hatte inzwischen die Mitte des Gartens erreicht und schloss Cheyenne derart liebevoll in die Arme, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie musste ein paarmal blinzeln, bevor sie den zärtlichen Blick ihrer Mutter erwidern konnte.

„Wo ist Mitch?”, fragte Cheyenne.

„Drinnen”, antworte Ayanna leise. „Mal wieder am Grübeln. Er vermisst seine Freunde in Phoenix. Aber er wird schon wieder, wenn er erst mal eine Weile hier ist und sich eingewöhnt hat.”

Cheyenne verstand ihren Bruder. Auch sie selbst dachte sehnsüchtig an ihre Einzimmerwohnung im sonnigen San Diego, eine halbe Meile vom Strand entfernt, die sie nun untervermietet hatte. Und auch das bereitete ihr Sorgen. Wenn sie Jesse McKettrick nicht davon überzeugen konnte, fünfhundert Morgen erstklassiges Land zu verkaufen, würde sie weitaus mehr als nur ihren Job verlieren. Dann müsste sie länger in Indian Rock bleiben, sich irgendeine Arbeit suchen und jeden einzelnen Penny sparen, bis sie es sich leisten konnte, woanders wieder ganz von vorn anzufangen.

Wie ein Pfeil bohrte sich Nigels Kommentar von vorhin am Telefon in ihre Gedanken. Alles, und ich meine wirklich alles, hängt von diesem Geschäft ab.

„Komm hinein, Liebling”, sagte Ayanna und nahm Cheyenne am Arm, die am liebsten umgedreht und mit dem Mietwagen davongebraust wäre. „Deine Sachen können wir später holen.”

Cheyenne nickte, beschämt, weil sie nach all den Vorbereitungen und Mühen am liebsten die Flucht ergriffen hätte.

Ayanna stieß ihre Tochter, die etwas größer war als sie, leicht mit einer Schulter an. „Wir alle sind nach Hause gekommen”, sagte sie sanft. „Du, Mitch und ich. Und das ist ein wunderbarer Ort, um noch einmal von vorn anzufangen.”

Vielleicht ist das so, wenn man McKettrick heißt, dachte Cheyenne grimmig. Wenn man einen Schlüssel besitzt, der in das Schloss eines der vielen eleganten Häuser auf der legendären Triple M Ranch passt.

Wenn man jedoch Bridges hieß und einen charmanten, aber spielsüchtigen Vater gehabt hatte, der zudem noch im Gefängnis gestorben war, konnte man nicht einfach von vorn anfangen.

Gewöhnliche Menschen hatten schon genug damit zu tun, zu überleben.

Nurleen Gentry mischte und teilte aus – zwei Siebener und eine Königin. Sie legte die Karten verdeckt auf den mit grünem Filz bezogenen Tisch, faltete die Hände und wartete. An ihren Fingern blitzten unechte Ringe aus einem Teleshop.

Jesse lehnte sich in seinem angestammten Stuhl im Hinterzimmer von Lucky’s Main Street Bar and Grill zurück und tat, als überlegte er. Durch den blauen Zigarettenqualm spürte er die Blicke der anderen Pokerspieler auf sich ruhen, ließ sich aber nichts anmerken. Er war ein Meister im Verbergen der sogenannten Tells, womit im Poker alles bezeichnet wird, was die Stärke des Blatts eines Gegenspielers verrät.

„Setzen oder passen, McKettrick”, grummelte Wade Parker.

Daraufhin hob Jesse einen Mundwinkel und schenkte ihm sein berühmtes Fahr-zur-Hölle-Grinsen, das er seit seinem elften Lebensjahr perfektioniert hatte. Wade trug eine Windjacke mit dem Logo der Brauerei, für die er arbeitete. Seine dicken Lippen zuckten ungeduldig.

Neben Wade saß Don Rogers, dem der Waschsalon gehörte. Don wand sich auf dem geflickten Kunststoffstuhl. Jesse wusste, dass ihn nicht das Warten nervös machte. Don war ein prima Kerl, aber er wollte so unbedingt den gesamten Pot gewinnen, dass unter seinem rechten Auge ein Muskel zuckte. Kann sein, dass Don Damen hat, dachte Jesse, aber das ist unwahrscheinl ich. Dons Tells waren leichter zu lesen als die fast vier Meter großen, in Stein gehauenen Buchstaben INDIAN ROCK im Osten der Stadt.

Alles an Don schrie Risiko.

Jesse tat so, als würde er unzählige Möglichkeiten überdenken, dann legte er vier Fünfzig-Dollar-Chips in den Pot.

„Scheiße”, murmelte Don und legte die Karten auf den Tisch, eine genau auf der anderen, ohne sie zu zeigen.

Wade hob die buschigen Augenbrauen und lehnte sich vor. Nurleen, eine alte Füchsin, was das Pokerspiel betraf, sah schweigend und mit angestrengtem Desinteresse vor sich hin.

„Ich glaube, du bluffst, McKettrick”, sagte Wade. Er durchwühlte den Berg Chips vor sich, der in der letzten halben Stunde stetig gewachsen war.

„Glaub, was du willst”, entgegnete Jesse tonlos. Er hatte bereits einige hervorragende Karten nicht ausgespielt, nur um Wades Wahnvorstellung, dass die Pokergötter ihm wohlgesinnt waren, zu bekräftigen. Jesse hatte Zeit, und er hatte Geld – eine tödliche Kombination, im Pokerspiel wie in allen andern Bereichen des Lebens.

Wade zog eine Sonnenbrille aus der Tasche seiner Windjacke und setzte sie auf. Ein bisschen spät, dachte Jesse, doch diesmal feixte er nur innerlich. Nurleen gab die vierte Karte aus, die im Hold’em-Jargon Turn heißt.

Jesse überlegte. Selbst wenn Wade zwei Asse zusätzlich zu dem einen Ass auf dem Tisch hatte, reichte das noch nicht für den Pot. Das bedeutete, dass der Biervertreter Pech hatte. Es sei denn, die fünfte Karte – der River – entpuppte sich ebenfalls als Ass.

So etwas konnte passieren – im Hinterzimmer einer Kleinstadtkneipe genauso wie bei Weltmeisterschaften in Las Vegas. Jesses Bauch sagte, riskier’s. Andererseits sagte der nur selten etwas anderes. Aus den Augenwinkeln sah Jesse jemanden durch die Tür kommen und zur Jukebox gehen.

Wade erhöhte um dreihundert.

Jesse ebenfalls.

Nurleen drehte die River-Karte um.

Zwei Herzen.

Wieder grinste Jesse.

„Zeigen”, sagte Wade. Er schob seinen Wetteinsatz in die Mitte des Tisches und zeigte seine Karten. Herzkönig, Pikdame. Er hatte auf die Dame in seiner Hand und die auf dem Tisch gebaut.

Nurleen seufzte beinahe unmerklich und schüttelte den Kopf. Jesse hatte fast ein schlechtes Gewissen, als er zwei Siebener auf den Tisch warf. Vier Karten mit dem gleichen Wert.

„Du und dein verdammtes Scheißglück”, fluchte Wade.

Stumm sammelte Nurleen die Karten ein und mischte für ein weiteres Spiel. „Bist du noch dabei, Wade? Don?”, fragte sie dann.

Jesse warf einen Seitenblick auf seinen Cousin Keegan, der mit verschränkten Armen an der Jukebox lehnte. In seiner maßgeschneiderten Hose, der Weste und dem perfekt gebügelten Hemd sah er wie ein Anwalt aus, vielleicht sogar wie ein Banker.

Weil er wusste, dass das, was er jetzt sagte, Keegan total nerven würde, antwortete er betont langsam. „Ich bin dabei.”

„Ich muss mit dir sprechen”, sagte Keegan, der zugleich distanziert und unerbittlich wirkte. „Vielleicht könntest du eine Runde aussetzen.”

Nach diesem Vorschlag sahen Wade und Don so erwartungsvoll aus, dass Jesse mit Nurleen einen Blick wechselte und dann seinen Stuhl nach hinten schob. Er durchquerte den Raum, dessen Boden Erdnussschalen und Sägespäne bedeckten.

„Was ist so wichtig, dass es nicht warten kann?”, fragte er. Seine tiefe Stimme mischte sich unter Kenny Rogers’ berühmtes Vibrato aus der Jukebox.

Keegan war genauso groß wie Jesse. Aber damit hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Im Gegensatz zu Jesses dunkelblondem Strubbelkopf hatte Keegan ordentlich geschnittenes rotbraunes Haar. Außerdem besaß er die marineblauen Augen der McKettricks, während Jesses himmelblau wie die von Jebs Ahnen waren.

„Wir hatten eine Konferenz, schon vergessen?”, zischte Keegan.

Kenny Rogers beendete sein Lied. Die Jukebox surrte, und Patsy Cline begann mit „Crazy”.

„Ich dachte nicht, dass es dir wichtig ist, Keeg”, erwiderte Jesse schleppend.

Keegans Kiefer verspannte sich, als er die Backenzähne aufeinanderpresste. Jesse vermutete, dass sie inzwischen nur noch Stummel waren. Doch diese Ansicht behielt er lieber für sich.

„Verdammt noch mal”, brummte Keegan. „Du hast denselben Anteil an der Firma wie ich. Wie wäre es, wenn du mal etwas Pflichtgefühl an den Tag legen würdest?” Keegan arbeitete zwölf Stunden pro Tag für McKettrickCo, studierte Tabellen und strich ein siebenstelliges Gehalt ein.

Jesse hingegen ritt Rodeos, jagte Frauen hinterher, spielte Poker und löste seine Dividendenschecks ein. Er betrachtete sich als Glückspilz, und gelegentlich tat Keegan ihm leid. Jetzt rückte er die geschmackvolle Nadelstreifenkrawatte seines Cousins gerade, die vermutlich mehr als die neue Waschmaschine in Dons Waschsalon gekostet hatte.

„Du findest, Pokern ist keine Arbeit?”, fragte er und wartete insgeheim darauf, dass Dampf aus Keegans Ohren quoll. Beide waren zusammen auf Triple M aufgewachsen, hatten im Sommer gezeltet und Fische gefangen und waren im Winter Ski gefahren. Zusammen mit Rance, einem dritten Cousin, der das unheilige Trio vervollständigte. Sie besuchten alle die Northern Arizona University in Flagstaff, wo Keegan Betriebswirtschaft und Rance Hochfinanz studierte, während Jesse nur gelegentlich zwischen Rodeowettbewerben und Kartenspielen zu Vorlesungen erschien. Trotz ihrer Gegensätzlichkeit hatten sie sich gut verstanden – bis Rance und Keegan heirateten. Danach hatte sich alles verändert.

Beide waren seriös geworden. Momentan reiste Rance durch die Welt, um für McKettrickCo kleinere Firmen aufzukaufen.

„Klugscheißer”, sagte Keegan und versuchte, nicht zu grinsen.

„Kann ich dich zu einem Bier einladen?”, fragte Jesse, der einen Moment hoffte, dass Keegan vielleicht doch noch der Alte wäre.

Sein Cousin sah auf seine Rolex. „An diesem Wochenende ist Devon bei mir”, sagte er. „Ich muss sie um halb sieben abholen.”

Devon war Keegans neunjährige Tochter. Seit er und Shelley sich vor einem Jahr hatten scheiden lassen, pendelte das Kind zwischen der schicken Eigentumswohnung von Shelleys Freund und dem Farmhaus auf Triple M hin und her.

Jesse zögerte, dann legte er eine Hand auf Keegans Schulter. „Ist schon gut”, sagte er sanft. „Ein anderes Mal.”

Keegan seufzte. „Ein anderes Mal”, stimmte er resigniert zu. Er ging zur Tür, drehte sich aber noch einmal um. „Und Jesse?”

„Was ist?”

Das altbekannte Grinsen breitete sich auf Keegans Gesicht aus. „Werd endlich erwachsen, ja?”

„Das schreibe ich mir in meinen Kalender”, versprach Jesse und erwiderte das Grinsen. Er liebte Devon, die er eher als seine Nichte betrachtete als als seine Großcousine, und gönnte ihr die Zeit mit ihrem Vater. Doch zugleich verspürte er auch eine gewisse Traurigkeit.

Alles und jeder auf der Welt veränderte sich – nur er nicht.

Das war die Realität. Und die sollte er besser akzeptieren.

„Kann das nicht bis morgen warten?”, fragte Ayanna nach dem Kaffee, als Cheyenne verkündete, sich auf die Suche nach Jesse McKettrick zu machen. Mitch saß mit düsterem Gesicht in seinem Stuhl.

Cheyenne verneinte mit einem Kopfschütteln, strich Rock und Blazer glatt und ging nach draußen zum Wagen. Logischerweise wollte sie bei McKettrickCo beginnen. Von früher wusste sie noch, dass das Hauptbüro der Firma in San Antonio lag. Ihren Nachforschungen zufolge war McKettrickCo ein riesiges Unternehmen, das weltweit operierte, mit Schwerpunkt auf innovativen Technologien.

Jesses Name stand nicht auf der Tafel in der modernen Empfangshalle. Das überraschte Cheyenne nicht. Als Jugendlicher war er das klassische schwarze Schaf einer reichen Familie, wild und unbelehrbar und nur an seinem Vergnügen interessiert.

Sie ging zur Rezeption, erleichtert, dass sie die Frau nicht kannte, die gerade etwas in einen Supercomputer mit drei großen Flachbildschirmen tippte.

„Kann ich Ihnen helfen?”, fragte die Frau freundlich. Sie war in mittlerem Alter, hatte ein warmes Lächeln, eine mit Haarlack fixierte blonde Frisur und eine elegante Haltung.

Cheyenne hoffte, dass ihr Nachname keine Erinnerungen wachrief, und fragte nach Jesse McKettrick. Mit etwas Glück – und das hatte sie sich langsam mal verdient – musste sie nicht extra den weiten Weg zu seinem Haus auf sich nehmen. Die Rezeptionistin musterte Cheyenne mit mildem Interesse. „Jesse könnte überall sein”, sagte sie nach einer Weile, „aber wenn ich raten sollte, würde ich darauf tippen, dass er im Hinterzimmer vom Lucky’s sitzt und Poker spielt.”

Unwillkürlich versteifte Cheyenne sich. Natürlich war er bei Lucky’s. Wie oft war sie als Kind von der kleinen Gasse aus durch die Hintertür der Kneipe geschlüpft, um ihren Vater vom Pokern abzuhalten?

Sie holte eine Visitenkarte aus der Tasche. „Vielen Dank für den Tipp”, sagte sie. „Nur für den Fall, dass Sie Mr. McKettrick vor mir sehen, könnten Sie ihm dann diese Karte geben und ihn bitten, mich so schnell wie möglich anzurufen?”

Einen Moment studierte die Frau die Visitenkarte, runzelte die Stirn, dann nickte sie höflich. „Er kommt allerdings nicht allzu oft her”, sagte sie.

Natürlich nicht.

Nach all den Jahren war er immer noch derselbe.

Cheyenne stieg wieder in ihren Wagen und fuhr zu Lucky’s Main Street Bar and Grill. Da der Schotterparkplatz vor dem alten Backsteingebäude voll war, parkte sie auf der Straße neben einem lehmbespritzten schwarzen Truck mit heruntergekurbelten Fensterscheiben.

Für ein paar Sekunden war sie wieder das Kind, das von seiner Mutter losgeschickt worden war, um seinen Daddy aus der Kneipe nach Hause zu holen. Sie erinnerte sich daran, wie sie ihr Fahrrad neben der Mülltonne gegen die Wand gelehnt hatte. Anschließend hatte sie noch einmal wiederholt, was sie sagen wollte. Dann stieg sie die zwei Stufen hoch und trat durch die knarzende Fliegengittertür.

Als eben diese Tür plötzlich aufsprang, zuckte Cheyenne erschrocken zusammen und überlegte tatsächlich, sich hinter der Mülltonne zu verstecken, bis wer auch immer verschwunden war.

Jesse trat auf die Straße, reckte sich wie ein träger Kater, der zur Jagd aufbrach, und schob seinen Cowboyhut zurecht. Er trug alte Jeans, ein bis zum Schlüsselbein aufgeknöpftes Westernhemd und Stiefel. Doch selbst Schmutz und Stallmist konnten nicht verbergen, dass es sich um teure, vermutlich maßgefertigte Stiefel handelte.

Als Cheyennes Blick wieder zurück zu seinem Gesicht wanderte, bemerkte sie, dass Jesse sie ansah. Und ihr sein Killerlächeln schenkte.

Sie errötete.

Drinnen schaltete jemand das Verandalicht ein. Sofort flatterten aus dem Nichts Schwärme von Motten. Sie trat einen halben Schritt zurück. Er registrierte mit einem gelangweilten Blick ihr Kostüm und ihre hohen Absätze. Ganz offensichtlich erkannte er sie nicht, was sie zugleich ärgerte und erleichterte.

Lässig tippte er an die Krempe seines ramponierten Huts. „Haben Sie sich verlaufen?”, fragte er.

Bevor sie antwortete, musste Cheyenne erst einmal Atem holen. „Nein”, entgegnete sie dann und fischte in ihrer Tasche nach einer weiteren Visitenkarte. „Mein Name ist Cheyenne Bridges, und ich würde Ihnen gern ein geschäftliches Angebot machen.”

Das Wort Angebot bereute sie sofort, als Jeff amüsiert den Mund verzog. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Er kam die Stufen hinunter und streckte seine Hand aus. „Jesse McKettrick”, sagte er.

Darauf gab es nichts anderes zu entgegnen als „Ich weiß”. Womit sie sich natürlich verriet.

„Bridges”, sagte er nachdenklich, betrachtete die Karte und steckte sie dann in seine Hemdtasche.

Cheyenne versuchte, sich innerlich zu wappnen. Sie sah zu der Fliegengittertür, durch die Jesse wenige Sekunden zuvor gekommen war.

„Irgendwie verwandt mit …?” Er brach ab und legte den Kopf schief, um in ihr Gesicht zu schauen. „Moment Mal. Cheyenne Bridges. Ich erinnere mich an dich – Cashs Tochter. Wir sind ein paarmal zusammen ins Kino gegangen.”

Sie schluckte, nickte und hob das Kinn. „Das ist richtig”, sagte sie vorsichtig. Cashs Tochter, das also war sie für ihn. Ein scheuer Teenager, mit dem er zweimal ausgegangen war, an dem er dann aber das Interesse verloren hatte.

Zum Glück wusste er nicht, dass sie jedes Bild von ihm, das sie ergattern konnte, an die Wand ihres Schlafzimmers gehängt hatte. So, wie es die meisten Mädchen mit Fotos von Rockstars und Schauspielern taten. Er wusste nicht, dass sie ihn mit dieser verzweifelten, hoffnungslosen Bewunderung geliebt hatte, die nur Sechzehnjährige aufbrachten.

Und er wusste auch nicht, dass sie Gott angefleht hatte, Jesse möge sich unsterblich in sie verlieben. Dass sie sich ihre Hochzeit, die Flitterwochen und die Geburt ihrer vier Kinder vorgestellt hatte, und zwar so oft, dass es sich eher wie eine Erinnerung anfühlte und nicht wie reines Wunschdenken.

Gott sei Dank hatte Jesse von alldem keine Ahnung. Sonst könnte sie ihm niemals gegenübertreten. Ganz egal, ob Mitch, ihre Mom und Nigel darauf angewiesen waren, dass sie ihm die fünfhundert Morgen unberührtes Land abschwatzte.

„Ich habe vom Unfall deines Bruders gehört”, sagte er. „Tut mir leid.”

Aus ihren Träumereien gerissen, nickte Cheyenne erneut. „Danke.”

„Das mit deinem Dad auch.”

Ihre Augen brannten. Sie versuchte etwas zu sagen, konnte aber nur schlucken.

Jesse lächelte sanft und fasste sie am Ellbogen. „Machst du immer auf der Straße Geschäfte?”, zog er sie auf.

Einen Moment kränkte sie das, bis ihr aufging, dass es sich um eine vollkommen angemessene Frage handelte. „Nein”, sagte sie.

„Ich wollte gerade ins Roadhouse, um eine Kleinigkeit zu essen. Möchtest du nicht mitkommen?” Er deutete auf den schmutzigen Truck.

Das Roadhouse war eine Institution in Indian Rock, ein Zufluchtsort für Lastwagenfahrer, Motorradfahrer, Cowboys und Streifenpolizisten.

„Wir treffen uns dort”, sagte Cheyenne. Auf keinen Fall konnte sie mit diesem engen Rock in seinen Lastwagen klettern. Ein Rest Stolz war ihr noch geblieben, auch wenn sie sich wieder wie das dürre zehnjährige Mädchen vorkam, das ihr Fahrrad in der Gasse abgestellt hatte, um ihren Vater zu bitten, zum Abendessen nach Hause zu kommen. Oder zur Schulaufführung. Oder um Gram ins Krankenhaus zu bringen, weil sie keine Luft mehr bekam …

„Okay”, sagte Jesse ungezwungen. Er brachte sie zu ihrem Mietwagen, der neben seinem Truck ziemlich langweilig wirkte. Wie seine Stiefel schien auch sein Fahrzeug bereits eine Menge erlebt zu haben. Und wie bei seinen Stiefeln handelte es sich um eine Luxusausführung. Doppelräder und ein geräumiges Fahrerhaus, Ledersitze, teurer CD-Player und Navigationssystem.

Als sie hinter dem Steuer saß und das Fenster herunterkurbelte, lehnte sich Jesse lässig an die Tür ihres Wagens und sah sie an.

„Es ist schön, dich wiederzusehen, Cheyenne”, sagte er.

„Ebenso”, entgegnete sie. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Fang gar nicht erst an, ermahnte sie sich streng. Hier geht es ums Geschäft. Du willst Land kaufen. Du wirst Nigel helfen, sein Projekt auf die Beine zu stellen. Dann streichst du deinen Bonus ein und kümmerst dich um Mitch und deine Mutter. Danach gehst du zurück nach San Diego und vergisst, dass Jesse McKettrick jemals existierte.

„Wer’s glaubt”, murmelte sie.

Jesse, der gerade zu seinem Truck gehen wollte, drehte sich noch einmal um. „Hast du was gesagt?”

Sie schenkte ihm ihr schönstes Lächeln. „Bis gleich”, sagte sie.

Wenn sie so klug wäre, wie andere Leute von ihr dachten, würde sie einfach weiterfahren. Raus aus Indian Rock, vorbei am Roadhouse, weit weg von Jesse und all den Erinnerungen und unmöglichen Träumen.

2. KAPITEL

Jesse erreichte das Roadhouse als Erster und blieb in seinem Truck sitzen, bis Cheyenne auftauchte. In letzter Zeit langweilte er sich in Indian Rock ein wenig, außer Pokerspielen und Pferdefüttern hatte er nicht viel zu tun. Doch jetzt verriet ihm sein Gefühl, dass sein Leben langsam wieder interessanter werden könnte.

Leise lächelnd zog er Cheyennes Visitenkarte aus der Tasche und las sie noch einmal. Meerland Real Estate Ventures, Ltd.

Diesmal machte es klick.

Sein Lächeln erstarb.

Sie wollte Land.

„Verdammt”, murrte er und beobachtete durch den Seitenspiegel, wie Cheyenne auf den Parkplatz fuhr. Er seufzte. Sie war ein hübsches Mädchen. Merkwürdig ängstlich allerdings – wie ein Reh, das an der Wasserstelle beim Knacken eines Zweigs sofort den Kopf hebt und Gefahr wittert. Jetzt, als Frau, sah Cheyenne Bridges wunderschön aus. Nicht mehr so dürr wie früher, sondern mit perfekten Rundungen. Wenn sie ihr kräftiges schwarzes Haar offen tragen würde, wäre sie ein echter Hingucker.

Jesse stieg aus dem Truck und wartete, bis Cheyenne auf ihren lächerlich hohen Absätzen auf ihn zugestakst kam. Sie lächelte schwach und berührte ihr Haar.

Beim Poker verriet so eine Bewegung eine Menge, und nicht nur da. Cheyenne war nervös.

Sollte sein Verdacht stimmen, hatte sie auch allen Grund dazu. Stumm zählte er die Fakten zusammen. Sie arbeitete für eine Immobilienfirma und hatte gesagt, dass sie ihm ein Geschäft vorschlagen wollte. Während sie sich einen Moment lang schweigend gegenüberstanden, dachte er kurz, dass er am besten all ihre Hoffnungen sofort begrub. Er würde das Land östlich der Grundstücksgrenze von Triple M nicht verkaufen, falls sie darauf spekulierte. Dieses Land war der einzige Flecken Erde, den er jemals selbst gekauft und nicht geerbt hatte.

Andererseits konnte er sie zumindest anhören. Vielleicht täuschte er sich ja und sie wollte nur mal für ein paar Investoren vorfühlen. Als guter Pokerspieler käme er bestimmt schnell dahinter: Außerdem hatte er so die Möglichkeit, etwas Zeit mit Cheyenne zu verbringen.

Eines stand fest. Cheyenne hatte es ganz schön weit gebracht. Das Auto war zwar nichts Besonderes – vermutlich ein Mietwagen –, aber ihre Kleidung wirkte teuer und elegant. Und auch wenn sie noch ihren Mädchennamen trug, bedeutete das nicht, dass sie nicht verheiratet war. Seine älteren Schwestern Sarah und Victoria hießen auch nach ihrer Heirat weiterhin McKettrick.

Auf der Suche nach einem Ring musterte er Cheyennes Hand, doch ein breiter Riemen ihrer Handtasche verdeckte den Ringfinger.

„Sollen wir?”, fragte er und deutete auf den Eingang.

Sie wirkte erleichtert. „Klar”, sagte sie.

Jesse hielt ihr die Tür auf.

Sein ganzes Leben hatte er schon im Roadhouse zu Abend gegessen, doch als er jetzt Cheyenne folgte, kam ihm der Raum fremd vor. Die Geräusche, Gerüche und Farben machten ihn ein wenig schwindlig. Er brauchte eine Sekunde, um sich wieder zu fassen.

Mit der Bedienung war er in den Kindergarten und in die Schule gegangen. Doch als er und Cheyenne ihr nun folgten, hätte er beim besten Willen nicht sagen können, wie sie hieß.

Was zum Teufel war los mit ihm?

Cheyenne rutschte auf den roten Plastikstuhl, während Jesse sich ihr gegenübersetzte und seinen Hut auf das breite Fensterbrett hinter der Miniatur-Jukebox legte. Er bestellte Kaffee, sie Mineralwasser mit einem Stück Zitrone. Dann studierten sie die eingeschweißte Speisekarte. Als eine andere Bedienung an ihren Tisch kam – mit der Jesse ebenfalls zur Schule gegangen war und deren Namen ihm ein Blick auf ihr Namensschild verriet – bestellte Cheyenne eine französische Zwiebelsuppe, und er nahm einen doppelten Cheeseburger mit Pommes frites.

„Danke, Roselle”, sagte er, um sich wieder in die Wirklichkeit zu befördern.

Roselle berührte seine Schulter, lächelte ihm verführerisch zu und tänzelte davon.

Cheyenne hob eine Augenbraue, sagte aber nichts.

Warum lange um den heißen Brei herumreden, überlegte Jesse. „Also, Cheyenne, was bringt dich nach all den Jahren zurück nach Indian Rock?”, fragte er leichthin.

Sie nippte an ihrem Wasser. „Geschäfte”, antwortete sie.

Jesse dachte an sein Land. An die Bäume und Weiden, an den Bach, der in der Sonne so hell glitzerte, dass man blinzeln musste.

Er probierte seinen Kaffee und wartete.

Cheyenne seufzte. Sie wirkte wie jemand, der sich bereit machte, in einen eiskalten See zu springen. „Meine Firma möchte dir einen sehr großzügigen Preis für …”

„Nein”, unter brach Jesse sie.

„Nein?”

„Nein”, wiederholte er.

„Du hast mich nicht ausreden lassen”, entgegnete sie. „Wir sprechen über mehrere Millionen Dollar. Ohne Hypotheken. Keine Ballonzahlungen. Cash. Wir können das Geschäft innerhalb von zwei Wochen nach Vertragsunterzeichnung abwickeln.”

Ganz instinktiv griff Jesse nach seinem Hut, seufzte, dann zog er die Hand wieder zurück. Er hatte es kommen sehen. Warum fühlte er sich jetzt wie ein Kind, das sich zu Weihnachten eine Spielzeugpistole gewünscht und Unterwäsche bekommen hatte?

„Es wird keinen Vertrag geben”, sagte er.

Sie wurde blass und lehnte sich zurück. Ihre Hände zitterten, als sie ihr Wasserglas abstellte.

„Über den Preis können wir reden”, sagte sie nach einer Weile.

Er wusste, was sie dachte. Es stand deutlich in ihrem Gesicht. Mit Geld bekommt man alles. Sie dachte, er wollte den Preis in die Höhe treiben.

„Du solltest niemals Poker spielen”, sagte er.

Das Essen kam.

Roselfe zwinkerte ihm zu, als sie den Cheeseburger vor ihn stellte.

„Ich kann solche Frauen nicht leiden”, sagte Cheyenne, nachdem Roselle mit wackelnden Hüften wieder Richtung Küche verschwunden war.

Jesse, der gerade seine Pommes in Angriff nehmen wollte, hielt bei dieser überraschenden Wendung des Gesprächs mitten in der Bewegung inne. „Was war das?”

„Solche Frauen”, erklärte Cheyenne, beugte sich etwas vor und senkte die Stimme. „Für die sind andere Frauen unsichtbar. Wenn es nach ihnen ginge, wäre die ganze Welt sozusagen ein umgekehrter Harem.”

Jesse lachte. „Nun, das ist mal ein interessanter Aspekt”, räumte er ein. „Die Suppen hier sind trotzdem ziemlich gut.”

Sie nahm ihren Löffel, legte ihn aber wieder hin. „Es ist ja nicht so, als ob ich dich bitten würde, einen Teil von Triple M zu verkaufen”, sagte sie. Wieder eine Kehrtwende, doch diesmalwar Jesse da rauf vorbereitet. „Das Land liegt einfach brach. Ungenutzt.”

„Unberührt”, korrigierte Jesse sie. „Ich schätze, ihr wollt daraus ein Industriegebiet machen. Oder eine Fabrik bauen – die Welt braucht nämlich noch viel mehr Wegwerfplastik.”

„Eigentumswohnungen”, sagte Cheyenne und reckte die Schultern.

Er zuckte zusammen. „Noch schlimmer”, entgegnete er.

„Menschen müssen irgendwo leben.”

„Tiere auch.” Als er vorschlug, im Roadhouse essen zu gehen, war er wirklich hungrig. Doch jetzt glaubte er, keinen Bissen herunterzubekommen. „Wir haben inzwischen so viele Kojoten und Rotluchse in unseren Straßen, dass die Stadtverwaltung schon überlegt, Preisgelder auf sie auszusetzen. Und wissen Sie, wieso, Ms. Bridges?”, fragte er kühl.

„Warum die Kojoten und Rotluchse in die Stadt kommen?”, fragte sie. „Oder warum die Stadtverwaltung Preisgelder auf sie aussetzen will?”

Jesse biss die Zähne zusammen, dann dachte er an seinen Cousin Keegan und entspannte den Kiefer wieder. „Die wilden Tiere werden immer weiter aus ihrer natürlichen Umgebung vertrieben”, erklärte er. „Von Leuten wie dir. Sie müssen schließlich irgendwo leben, verdammt noch mal.”

„Wer ist Ihnen wichtiger, Mr. McKettrick? Menschen oder Tiere?”

„Kommt darauf an”, sagte Jesse. „Ich kenne Leute, die noch von einem tollwütigen Dachs etwas lernen könnten. Außerdem ist es ja nicht so, dass eine neue Apartmentanlage ein Akt der Menschlichkeit wäre. Meistens wird dabei einfach nur die Landschaft verschandelt – und alle sehen gleich aus. Wie aufeinandergestapelte Schachteln.”

Cheyenne richtete sich auf. „Ich würde dir gern die Entwürfe zeigen”, sagte sie. „Unser Projekt soll sich anmutig in die Landschaft einfügen und die Umgebung so wenig wie möglich verändern.”

Mit Bedauern betrachtete Jesse seinen Cheeseburger. All die Konservierungsstoffe und Geschmacksverstärker vergeudet, ganz zu schweigen von einer Menge Fett. „Daraus wird nichts”, sagte er. Bei jedem anderen hätte er geblufft und vorgegeben, an einem Verkauf interessiert zu sein, nur um zu sehen, wie weit er gehen konnte. Dass er es nicht tat, verwirrte ihn an meisten.

„Sieh dir einfach mal die Pläne an”, bat sie.

„Sieh dir einfach mal das Land an”, erwiderte er scharf.

Sie lächelte. „Das mache ich, wenn du dir die Pläne anschaust.”

Er lachte. „Du bist hartnäckig.”

„Und du bist dickköpfig.”

Jesse nahm seinen Cheeseburger in die Hand. Inzwischen hatte er festgestellt, dass sie keinen Ehering trug.

„Warst du je verheiratet?”, fragte er.

Sie schien froh über den Themenwechsel, obwohl noch immer ruhige Wachsamkeit in ihren Augen und der Art, wie gerade sie ihre Schultern hielt, lag. „Nein”, sagte sie. „Du?”

„Nein.” Vor Jahren hatten er und Brandi, ein Rodeo- Groupie, sich von einem Elvis in Las Vegas trauen lassen. Sie waren aber zur Vernunft gekommen, bevor irgendjemand davon erfuhr, und hatten sich darauf geeinigt, sich sofort wieder scheiden zu lassen. Später trennten sie sich in aller Freundschaft. Ab und zu haute sie ihn um ein paar Hundert Dollar an, die er immer schickte. Doch seit ein paar Jahren hatte Jesse nichts mehr von ihr gehört.

Seiner Ansicht nach beantwortete er die Frage also aufrichtig. Brandi war aus seinem Leben so schnell wieder verschwunden, wie sie darin aufgetaucht war. Nach ein paar Bissen von seinem Cheeseburger stieg seine Laune. Proteine richteten ihn immer auf, vor allem nach einem ganzen Tag Poker. Ganz bestimmt hing das nur mit dem Cheeseburger zusammen.

Ganz bestimmt, meldete sich eine Stimme in seinem Kopf, ist das vollkommener Blödsinn. Es liegt an dieser Frau.

„Wie ist die Suppe?”, fragte er.

„Kalt”, entgegnete sie. „Und der Burger?”

„Der verstopft meine Arterien sogar während wir uns unterhalten.”

Cheyenne hob eine Augenbraue, lächelte aber. „Und das ist gut?”

„Vermutlich nicht. Aber es schmeckt gut.”

Danach verlief das Gespräch ganz ungezwungen. Sie aßen zu Ende, und Jesse bezahlte. Er brachte Cheyenne zu ihrem Wagen. In Indian Rock gab es zwar praktisch keine Verbrechen, doch diese Art von Höflichkeit war ihm von Kindesbeinen an anerzogen worden.

„Wirst du dir die Pläne wirklich ansehen?”, fragte sie leise mit glänzenden Augen, als sie hinter dem Steuer saß.

„Wenn du dir das Land ansiehst”, sagte Jesse. „Komm morgen hinauf zur Ranch, so gegen neun. Bis dahin bin ich mit dem Füttern der Pferde fertig.”

Sie nickte. Er sah ihren Puls am Hals klopfen. „Ich bringe die Entwürfe mit.”

„Ja”, rief er spöttisch. „Unbedingt.”

Lachend schloss sie die Autotür. „Danke für das Essen”, sagte sie durchs offene Fenster.

Zum Abschied wollte er an seinen Hut tippen, als ihm auffiel, dass er ihn im Roadhouse vergessen hatte. „War mir ein Vergnügen.” Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich irgendwie unbehaglich.

Lange sah Jesse Cheyenne hinterher. Normalerweise wäre er jetzt zurück ins Lucky’s gegangen, um noch ein paar Runden Poker zu spielen, aber heute wollte er lieber nach Hause.

Als er seinen Hut holte, lud Roselle ihn zu einer Party in ihre Wohnung ein. Wenn es nach ihren Augen ginge, stünde er dort ziemlich schnell nackt vor ihr. Ganz offensichtlich war er der einzige Gast auf der „Party”.

So freundlich es ging, sagte er „Ein anderes Mal gern”, und fügte dann noch „Vielleicht” hinzu.

In seinem Truck sah er sich im Rückspiegel an. Wer bist du, fragte er stumm. Und was hast du mit Jesse McKettrick angestellt?

„Ich hab’s total vermasselt”, verkündete Cheyenne ihrer Mutter, als sie das Haus betrat.

Ayanna saß auf dem alten Sofa und häkelte etwas aus vielen Fäden bunten Garns. „Inwiefern?”, fragte sie ruhig.

Aus dem Nebenzimmer drang Kampflärm. Mitch spielte ein Videospiel auf seinem Laptop. Mitch spielte ständig Videospiele auf seinem Laptop. Als ob er seine eigenen Dämonen in Schach halten könnte, indem er Zeichentrickfiguren erschoss.

„Jesse hat rundweg abgelehnt, das Land zu verkaufen”, sagte Cheyenne.

Ayanna lächelte. „Damit hast du doch gerechnet.”

Mit einem Seufzer warf Cheyenne die schwere Handtasche auf einen Stuhl und schleuderte die Schuhe von den Füßen. „Stimmt.”

„Möchtest du etwas essen?”, fragte Ayanna. „Mitch und ich hatten Käsemakkaroni.”

„Ich hatte Suppe”, entgegnete Cheyenne.

Ihr Handy klingelte.

„Geh nicht ran”, riet ihr Ayanna.

„Das geht nicht.” Cheyenne holte das Telefon aus der Tasche. „Hallo Nigel.”

„Hast du schon was erreicht?”, fragte Nigel.

Cheyenne sah auf ihre Uhr. „Himmel, Nigel. Du hast dich ja erstaunlich zusammengerissen. Es ist mindestens eineinhalb Stunden her, seit du das letzte Mal angerufen hast.”

„Und da hast du gesagt, dass du mit McKettrick zum Essen verabredet bist. Wie ist es gelaufen?”

„Er hat abgelehnt”, berichtete Cheyenne.

„Einfach so?”

„Einfach so.”

„Wir sind erledigt.”

„Zumindest ist er bereit, sich die Baupläne anzusehen. Unter einer Bedingung.”

„Und die wäre?”

„Dass ich einen Blick auf das Land werfe. Morgen früh. Ich treffe ihn um neun auf seiner Ranch.”

„Also sind wir noch im Rennen?”

„Keine Ahnung”, sagte Cheyenne müde und sank auf einen Stuhl. „Jesse ist zumindest sehr direkt. Sobald er wusste, was ich wollte, war nichts mehr zu machen.”

„Vielleicht hättest du ihn nicht so einfach überfallen dürfen”, überlegte Nigel. Cheyenne konnte geradezu sehen, wie sich die buschigen Augenbrauen ihres Chefs grüblerisch zusammenzogen.

„Du hast mir keine Wahl gelassen, schon vergessen?”

„Ach, jetzt ist es also mein Fehler.”

„Du sitzt mir im Nacken, seit ich gestern Nachmittag in Phoenix aus dem Flugzeug gestiegen bin. Wenn ich das Unmögliche erreichen soll, musst du mir etwas Zeit lassen.”

„Aber du bekommst das doch hin, oder, Cheyenne?”

„Ich bin auf das Erreichen von Unmöglichem spezialisiert.”

„Du musst das für mich hinkriegen, Babe”, flehte er.

„Nenn mich nicht Babe.” Aus den Augenwinkeln sah sie ihre Mutter lächeln. „Und dräng mich nicht. Wenn ich Neuigkeiten habe, melde ich mich.”

„Aber …”

„Gute Nacht, Nigel.” Cheyenne drückte auf die Taste.

Mit einem weiteren Seufzer warf Cheyenne das Handy auf den Tisch und stand auf. Ihr Gesicht hellte sich auf. „Weißt du was, Mom? Du bist unglaublich. Du bist erst seit ein paar Stunden in diesem Haus, und es fühlt sich schon wie ein Zuhause an.”

Die Augen ihrer Mutter schimmerten verdächtig. „Ich möchte nur meinen Teil beitragen, Cheyenne. Ich weiß, du denkst, dass du ganz allein bist, aber das stimmt nicht. Du hast mich, und du hast Mitch.”

Cheyennes Hals wurde eng, ihre Stimme klang gepresst. „Wo wir gerade von Mitch sprechen …”

Ayanna legte das Häkelzeug weg, stand auf und ging Richtung Küche. „Ich koche dir einen Kräutertee”, sagte sie. „Das hilft dir bestimmt, besser zu schlafen.”

„Danke.” Cheyenne schob die halb geschlossene Zimmertür ihres Bruders auf.

Mitch hockte über seinen Computer gebeugt, ein einfaches Modell, das Ayanna vermutlich von dem Geld gekauft hatte, das Cheyenne ihr jeden Monat schickte. Er wirkte so schmal und zerbrechlich in seinem Rollstuhl. Früher war er sportlich – und einer der beliebtesten Jungs an seiner Schule.

„Hey”, sagte Cheyenne.

„Hey”, entgegnete Mitch, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen.

Sie wollte ihm durchs Haar fahren, so wie sie es früher immer getan hatte – vor dem Unfall –, entschied sich aber dagegen. Mitch war neunzehn, und außer seinem Stolz besaß er nicht mehr viel.

Wenn das Geschäft zustande kommt, dachte sie, kaufe ich ihm einen richtigen Computer, so einen wie ich bei McKettrickCo gesehen habe. Vielleicht schöpft er dann wieder etwas Hoffnung.

„Ich wünschte, wir könnten zurück nach Phoenix”, sagte Mitch.

Bevor sie antwortete, setzte Cheyenne sich auf sein Bett. Ayanna hatte eine Tagesdecke mitgebracht und über das Rollbett gebreitet, das schon alt gewesen war, als Cheyenne aufs College ging. Sicher, ihre Mutter tat ihr Bestes, doch der Raum wirkte trotzdem deprimierend. Die Tapete löste sich von der Wand, und die Vorhänge sahen aus, als hätten sie mindestens eine Überschwemmung erlebt. Der Linoleumboden war abgenutzt, das Muster an vielen Stellen ausgeblichen.

„Was gibt es denn?”, fragte sie leichthin, obwohl sie die Antwort bereits kannte. In Phoenix hatte er Freunde. Und Kabelfernsehen. Gegenüber der Wohnung hatte eine große Bücherei mit neuen Computern gelegen. Und hier musste er sich mit einem alten Laptop und einem Rollbett zufriedengeben.

Mitch zuckte nur die Schultern, beendete aber das Spiel und schwenkte seinen Stuhl herum, um sie ansehen zu können.

„Es wird wieder besser werden”, sagte sie.

„Das behauptet Mom auch.” Mitch klang nicht, als ob er auch nur ein Wort glaubte.

Besorgt betrachtete Cheyenne ihren Bruder. Sie und Mitch hatten unterschiedliche Väter. Ihrer war tot, wo seiner steckte, wusste der Herrgott. Vor zehn Jahren, als sie Indian Rock verlassen hatte, war Mitch neun und sie siebzehn. Als Ayanna ihrem zweiten Ehemann Pete nach Phoenix folgte und Mitch mitnahm, studierte Cheyenne gerade im zweiten Jahr an der University of Arizona. Dort versuchte sie, gute Klausuren zu schreiben und gleichzeitig Geld zu verdienen. Mitch hatte ihr damals einen flehenden Brief geschrieben, in dem er sie bat, zurückzukommen und mit ihm zusammen wieder in das heruntergekommene Haus in Indian Rock zu ziehen. Zu der Zeit liebte er Indian Rock noch und die Freiheit, in einer kleinen Stadt aufzuwachsen.

Sie antwortete mit einer Postkarte, die sie hastig in einer Pause bei Hooters schrieb. Sei vernünftig. Sie wollte nicht zurück, und selbst wenn, Ayanna hätte niemals erlaubt, dass ihre Kinder allein in dem alten Haus lebten. Dir wird Phoenix gefallen, hatte sie geschrieben.

„Es tut mir leid, Mitch”, sagte sie jetzt. Natürlich hätte Ayanna die beiden Geschwister nie und nimmer hier wohnen lassen. Zumal sie das bisschen Geld für die Miete bitter nötig hatte. Aber sie hätte freundlicher auf seinen verzweifelten Brief antworten können.

„Was?”, fragte er.

„Alles.”

„War nicht dein Fehler”, sagte Mitch. „Der Unfall, meine ich.”

Ich hätte zurückkommen und als Bedienung im Roadhouse oder Lucky’s arbeiten können. Ich hätte Ayanna Miete zahlen können und wahrscheinlich sogar etwas finanzielle Unterstützung vom Staat bekommen, um meinen kleinen Bruder großzuziehen. Wenn ich es nur versucht hätte …

„Hier wäre der Unfall nicht passiert.”

„Wer weiß”, murmelte er. „Vielleicht war es Schicksal – vielleicht wäre ich so oder so im Rollstuhl gelandet.”

Wegen all der Bilder, die immer irgendwo in ihrem Unterbewusstsein lauerten, schloss Cheyenne die Augen: Mitch, sechzehn und übermütig, wie er in der Wüste mit seinen Freunden auf einem Four-Wheeler ein Rennen fuhr. Der Unfall und die schlimme Verletzung des Rückgrats. Wie sie nach dem panischen Anruf ihrer Mutter ins Krankenhaus gerast war, das lange Warten in der Notaufnahme, als niemand ihnen sagen konnte, ob er überleben würde.

Die Operationen.

Die langsame, qualvolle Genesung.

In der Zeit hatte Cheyenne gerade angefangen, sich bei Meerland einen Namen zu machen. Ständig war sie zwischen San Diego und Phoenix hin und her gefahren, bewaffnet mit Laptop und Handy. Sie arbeitete hart, um Nigel zu beweisen, dass sie es schaffen konnte.

Und sie schaffte es. Regelmäßig löste sie ihre erschöpfte Mutter am Krankenbett ab. Pete, Ehemann Nummer zwei und Mitchs Vater, machte sich aus dem Staub, als er kapierte, dass er sich ein einziges Mal wie ein verantwortungsvoller Erwachsener benehmen sollte. Im Krankenhaus freundete sie sich mit einem von Mitchs Chirurgen an und überredete ihn, bei Meerland zu investieren. Und als er kurz darauf erhebliche Gewinne einstrich, brachte er eine Menge Kollegen mit an Bord. Mitchs Zustand besserte sich allmählich. Nachdem er das Krankenhaus verlassen hatte, ging Cheyenne zurück nach San Diego und stürzte sich dort mit all ihrer Energie in die Arbeit.

„Meinst du, wir könnten uns einen Hund anschaffen?”

Cheyenne blinzelte. „Einen Hund?”

Mitch lächelte, und das kam so selten vor, dass ihr Herz höher schlug. „In unserer Wohnung ging das nicht”, erklärte er.

„Aber ihr werdet zurückgehen …”

„Ich gehe nie mehr zurück”, verkündete er voller Überzeugung.

„Warum sagst du so was?”

„Hier müssen wir keine Miete zahlen. Außerdem redet Mom davon, wieder mit dem Malen anzufangen, sich eine Arbeit als Bedienung zu suchen oder Souvenirs zu verkaufen. Wahrscheinlich lernt sie bald irgendeinen Versager kennen und wird dann alles tun, um ihn vor sich selbst zu retten.”

Obwohl Ayanna eine kluge Frau war, stolperte sie in ihrem Liebesleben von einer Katastrophe in die nächste. Aber zumindest hatte sie nach Pete nicht noch einmal geheiratet.

In Cheyennes Augen brannten Tränen. Sie war froh, dass der Computer den Raum nur unzureichend erhellte.

„Ich wünschte”, begann Mitch, als Cheyenne nichts sagte, nichts sagen konnte, doch dann brach er ab.

„Was, Mitch?”, fragte sie nach einer Weile. „Was wünscht du dir?”

„Ich wünschte, ich könnte mir einen Job suchen, eine Freundin haben … ich wünschte, ich könnte ein Pferd reiten.”

Cheyenne wusste nicht, was sie antworten sollte. Es gab nicht viele Jobs in Indian Rock, schon gar nicht für einen Behinderten. Und Mädchen ins Mitchs Alter gingen entweder zur Arbeit oder aufs College und verabredeten sich mit Jungs, mit denen sie etwas unternehmen konnten. Und reiten? Das war nur etwas für Menschen mit zwei gesunden Beinen und mehr Mut als Verstand.

„Könntest du dir nicht etwas anderes wünschen?”, fragte sie leise.

Da lächelte Mitch traurig, wandte sich wieder ab und spielte weiter am Computer. Ein paar Minuten blieb Cheyenne noch hilflos auf dem Bett sitzen. Dann stand sie auf, legte kurz die Hand auf seine Schulter und verließ das Zimmer.

Die Schweinwerfer von Jesses Truck glitten über das alte hölzerne Schulgebäude, das Jeb McKettrick für seine Braut Chloe, eine Lehrerin, gebaut hatte. Jesses Schwestern hatten das Häuschen als privaten Spielplatz genutzt, und Jesse, zehn Jahre jünger als sie, verwandelte es zu seiner Zeit in ein Fort. Inzwischen diente es seinen Eltern als Büro, wenn sie die Ranch besuchten, was allerdings selten vorkam.

Er parkte neben dem Stall, ging hinein und schaute nach den Pferden. Sie waren morgens gefüttert und bewegt worden, doch er füllte trotzdem noch etwas getrocknetes Bermudagras in ihre Tröge, als Wiedergutmachung, weil er so lange weg gewesen war.

Für jedes einzelne Tier nahm er sich Zeit und striegelte es. Danach blieb ihm nichts mehr zu tun, als in das leere Haus zu gehen.

Ein großes Haus. Generationen von McKettricks hatten hier und dort angebaut, mal ein Zimmer, mal ein ganzes Stockwerk. Seit seine Eltern die meiste Zeit in Palm Beach lebten, wo sie Golf spielten und Feste feierten, und seine Schwestern Victoria und Sarah mit ihren reichen Männern um die Welt reisten, war Jesse der inoffizielle Eigentümer des Hauses.

Er trat durch die Küchentür ein und knipste das Licht an.

In dem Haus, das seinen Cousinen Meg und Sierra gehörte, spukte es angeblich. Jesse wünschte oft, es wäre hier ebenso, dann würde er sich zumindest nicht so einsam fühlen. Er ging zu dem begehbaren Kühlschrank, nahm eine Flasche Bier heraus und ließ den Verschluss aufschnappen. Eigentlich sollte er sich einen Hund anschaffen, doch dafür war er zu selten zu Hause. Es wäre unfair, einer armen unschuldigen Kreatur ein einsames Leben aufzuzwingen, nur damit ihn jemand freudig begrüßte, wenn er nach Hause kam.

„Du drehst langsam durch, McKettrick”, sagte er laut.

Er dachte an Cheyenne – er dachte die ganze Zeit an sie, seit sie sich auf dem Parkplatz verabschiedet hatten. An ihre langen Beine, die ausdrucksvollen Augen und die vollen Lippen. Sie war wirklich hübsch. Und intelligent.

Das Telefon klingelte. Verärgert stellte er sein Bier ab und griff nach dem Hörer. „Yo”, sagte er. „Hier spricht Jesse.”

„Selber yo”, entgegnete Sierra. Sie wollte in knapp einem Monat Travis Reid, einen seiner besten Freunde, heiraten. Die beiden wünschten sich Jesse als Trauzeugen. Früher hatte er sich öfter gewünscht, nicht mit ihr verwandt zu sein, um sie – zumindest in seiner Fantasie – Travis auszuspannen.

„Was gibt’s?”, fragte er.

„Wir feiern eine Vorhochzeits-Party”, sagte Sierra. „Samstagabend. Livemusik. Barbecue. Fahrt auf dem Heuwagen. Das volle Programm. Du bist eingeladen. Bring jemanden mit.”

„Samstag habe ich ein wichtiges Turnier. Im Cliffcastle-Kasino. Kein Limit und jede Menge Touristen, die glauben, das Spiel zu beherrschen, nur weil sie die World Poker Tour im Fernsehen verfolgen.”

„Komm schon, Jesse. Du verbringst sowieso zu viel Zeit am Spieltisch. Und zwing mich nicht, dir ein schlechtes Gewissen zu machen. Nach dem Motto: Du bist der Trauzeuge und somit verpflichtet, am Samstag zu kommen.”

„Dazu würde ich dich niemals zwingen”, entgegnete Jesse trocken und trank einen großen Schluck Bier. „Leider hast du es schon getan.”

Sie lachte. „Könnte schlimmer sein. Liam rechnet fest damit, dich zu sehen. Meg fliegt extra aus San Antonio hierher, und Rance und Keegan haben ihre Termine so gelegt, dass sie auch kommen können. Es wäre natürlich reichlich plump von mir zu betonen, dass ihre Termine sicher wichtiger sind als ein Pokerturnier. Deshalb tue ich es nicht.”

Jesse seufzte. „Okay”, sagte er. „Aber dafür schuldest du mir etwas.”

„Was denn?”

„Schick mir eins eurer Gespenster rüber, okay? Es ist viel zu still hier.”

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen erschien Cheyenne um punkt neun Uhr auf der Ranch. Jesse hatte alle Pferde bis auf zwei zum Grasen auf die Koppel gebracht und danach seinen schwarz-weißen Wallach Minotaur gesattelt. Jetzt kümmerte er sich gerade um Pardner.

Er zog den Gurt fester um den Bauch des Pferdes und schüttelte den Kopf, als Cheyenne aus dem Auto stieg. Sie trug einen taillierten beigefarbenen Hosenanzug und hohe Schuhe mit geschmackvollen Messingschnallen. Ihr Haar hatte sie wie am Tag zuvor geschäftsmäßig hochgesteckt – schlief sie etwa mit dieser Frisur? Kurz überlegte er, wie sich ihre Haarsträhnen wohl zwischen seinen Fingern anfühlen würden.

Tapfer lächelnd stöckelte sie über den zerfurchten Boden auf ihn zu, beäugte misstrauisch die Pferde und schaute hastig wieder weg. „Was für ein schöner Morgen”, sagte sie.

Statt zu antworten, nickte Jesse halb, tippte gegen seinen Hut und ärgerte sich sofort darüber. So viel zum Thema Tells. Da hätte er auch gleich ein Plakat aufhängen können mit den Worten: Cheyenne Bridges fasziniert mich. Mit freundlichen Grüßen, Jesse McKettrick. „Is’ hier immer so. Das ganze Jahr.”

Sie sog hörbar den Atem ein, ihr tapferes Lächeln zitterte ein wenig auf den vollen Lippen. Dann atmete sie aus und richtete den Träger ihrer albernen Handtasche. „Lass uns einen Blick auf das Land werfen”, sagte sie, während der Autoschlüssel in ihrer rechten Hand klimperte.

Ausführlich musterte Jesse ihre Kluft und sah dann zu Pardner und Minotaur, die fertig gesattelt und aufgezäumt geduldig warteten. „Dein kleines Auto da”, sagte er, „wird es niemals bis auf den Bergrücken schaffen. Da oben gibt es nichts als Trampelpfade.”

„Du willst doch nicht etwa vorschlagen, dass wir … reifen?” An dieser Stelle machte Cheyenne eine kurze Pause – so kurz, dass man sie hätte überhören können. Doch Jesse war zu geübt darin, auf alles zu achten, was andere Menschen verriet. „Auf Pferden?”

„Das ist üblicherweise der Grund, warum man Pferde sattelt”, sagte er. „Zwei Menschen. Zwei Pferde. Man muss kein Genie sein, um diese Aufgabe zu lösen.”

Daraufhin trat Cheyenne unbehaglich von einem Bein aufs andere. Ihre Schuhe passten vielleicht in einen Konferenzraum, aber nicht nach Triple M. Hier wirkten sie geradezu lächerlich. „Ich habe nicht mit einem Ausritt gerechnet.”

„Das sehe ich”, bemerkte Jesse trocken. „Aber dir ist schon klar, dass diese fünfhundert Morgen Land, die du unbedingt mit einem Bulldozer plattmachen willst, um hübsche Apartments darauf zu errichten, ziemlich weit vom Schuss weg liegen?”

„Selbstverständlich”, erwiderte sie ein wenig stockend. „Ich habe wochenlang recherchiert. Ich kenne mich in meiner Branche aus, Mr. McKettrick.”

„Jesse”, korrigierte er sie. „Und von was für einer Art ,Recherche’ sprichst du konkret? Hast du vielleicht einen Parzellierungsplan im Internet gefunden? Und den Zugang zu Strom und Wasser überprüft?” Er wartete einen Moment, um seine Worte wirken zu lassen. Dabei betrachtete er noch einmal ihren Hosenanzug. „Zumindest bist du vernünftig genug, um Hosen zu tragen”, fügte er wohlwollend hinzu.

„Wie bitte?”

„Besitzt du überhaupt eine Jeans?”

„Ich trage während der Arbeit keine Jeans”, erwiderte sie scharf.

„Ich schätze, das gilt dann auch für Stiefel.”

„Das schätze ich auch”, sagte sie leise und ließ die Schultern sinken. Der Riemen ihrer Handtasche rutschte herunter.

„Komm rein.” Er deutete auf sein Haus. „Mom hat ungefähr deine Größe. Du kannst dir was von ihr leihen.”

Doch Cheyenne stand so reglos da, als ob sie Wurzeln schlagen wollte. „Ich weiß nicht …”

Vielleicht sollte ich den Einsatz um ein oder zwei Chips erhöhen, dachte Jesse. „Haben Sie Angst, Ms. Bridges?”

Ihr Mundwinkel zuckte, und er überlegte, ob sie sich ärgerte oder ein Lächeln unterdrückte.

„Ja”, gestand sie dann mit einer Aufrichtigkeit, dass Jesse wünschte, er hätte sie vorher nicht so aufgezogen.

„Pardner ist völlig harmlos”, sagte er. „Man könnte sich unter seinen Bauch setzen, in eine Trillerpfeife blasen, seinen Schwanz mit beiden Händen packen, und er würde noch immer keinen Mucks von sich geben.”

Stumm biss sie sich auf die Lippe. Jesse sah, wie ihre Augen sich weiteten, als sie Minotaur taxierte und dann hoffnungsvoll zu Pardner sah.

„Du bestehst darauf, oder?”, fragte sie und warf ihm einen Blick zu, der ihm direkt in die Magengrube fuhr. Als ob sich eine Falltür über einer bodenlosen Schlucht öffnete. Das ging so schnell, dass er nach einem Haltegriff suchte, ihn aber nicht zu fassen bekam.

„Nein”, sagte er. Denn wenn sie jetzt ginge, würde sie ihre Selbstachtun...

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