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Let's Be Free

Als Buch hier erhältlich:

Zusammen verbrachten Shae, Ariana, Evie und Tyler einen ruhigen und perfekten Sommer in New York. Doch nun scheint der Trubel in die Stadt zurückzukehren und bringt das Leben der Freunde gehörig durcheinander. Ariana, die in ihrer Beziehung mehr als glücklich ist, sieht sich mit Hindernissen konfrontiert, die ihren Alltag auf den Kopf stellen. Tyler ist endlich bereit, sich den Schatten seiner Vergangenheit zu stellen, während Evie auf dem Weg zur Liebe viel über sich selbst lernt, was nicht immer leicht zu akzeptieren ist. Und Shae begeht in ihrem Eifer zu helfen einen Fehler, der sie das Wichtigste in ihrem Leben kosten könnte.
Können sich die vier wenigstens auf ihre Freundschaft verlassen?


  • Erscheinungstag: 21.05.2024
  • Aus der Serie: Be Wild Serie
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745704303

Leseprobe

Für alle, die sich in Evie, Ari, Tyler

und Shae wiederfinden

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr am Romanende eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler enthalten kann.

Wir wünschen euch das bestmögliche Erlebnis beim Lesen der Geschichte.

Euer Team von reverie

WAS BISHER GESCHAH

Shae und Tyler sind von Phoenix nach New York gezogen und haben dort nicht nur aufregende neue Jobs bei der angesagten Influencer-Agentur Greenwood & Steele ergattert, sondern auch ihre neuen besten Freundinnen kennengelernt: Evie und Ariana.

Evie ist Fotografin aus Deutschland und versucht sich im Big Apple einen Namen zu machen. Ariana ist Kampagnen- und Projektmanagerin bei Greenwood & Steele. Neben etlichen Partys, ernsten wie weniger ernsten Gesprächen und so manch einer Eskapade haben die vier nicht nur ihre tiefe Freundschaft, sondern auch die Liebe gefunden.

Doch natürlich ist nicht immer alles rosarot. Ariana hat durch den Tod ihres Bruders einen schweren Verlust erlitten, der drohte, ihre gesamte Familie auseinanderzureißen. Außerdem ist die Trennung von ihrem toxischen Ex-Freund Jared noch frisch.

Evie hat endlich ihre Schulden bei der Agentur abbezahlt, doch ihr schwieriges Verhältnis zu ihrem Körper lässt sich nicht so einfach abschütteln wie eine rote Zahl auf dem Konto. Sie ist Jungfrau, und auch wenn sich das eigentlich richtig anfühlt, sind da immer Stimmen in ihrem Kopf, die ihr vorhalten, falsch zu sein.

Tyler hat seinen Freundinnen endlich gestanden, was der wahre Grund für seinen Umzug ist: Seine ehemalige Chefin hat ihn sexuell belästigt. Er ist in Therapie, doch das Vorgefallene ist eine stetig neu aufreißende Wunde.

Shae versuchte, in dieser schweren Zeit nicht nur für ihren besten Freund da zu sein, sondern auch für ihre kleine Schwester Emely, die mit einer Essstörung zu kämpfen hatte – und sehr zu Shaes Entsetzen in einer gewalttätigen Beziehung steckte. Um auf Missstände wie diese aufmerksam zu machen, hat sie das Agenturmagazin Concrete Jungle ins Leben gerufen.

Die vier blicken auf turbulente Zeiten zurück, die sie gemeinsam doch immer meistern konnten.

1

TYLER

Samstag, 28. September

»… there’s not a star in heaven …«, trällerte ich voller Inbrunst und funkelte dabei Lily an, die mit einem Mikro bewaffnet neben mir auf der Bühne stand und ihren Teil des Songs ergänzte. Wir wippten im Takt der Musik, ich channelte meinen inneren Zac Efron und legte alles in die Performance. Heute war mein dreißigster Geburtstag, und ich durfte ihn in einer der geilsten Städte mit den geilsten Leuten dieser Welt feiern.

Evie, Shae und Ariana saßen schon lang nicht mehr auf ihren Plätzen, sondern sangen lauthals mit. Casey unterstützte uns mit Maracas, die er irgendwoher gezaubert hatte. Cam hatte einen Arm locker um Shaes Hüfte geschlungen, Layla groovte ausgelassen neben Ariana, während Paul auf ihrer anderen Seite tanzte und dabei Hannah, Alice und Sophie anfeuerte. Wir hatten den gesamten Karaokeraum für uns gemietet und würden noch die nächsten Stunden hier abhängen.

Ich war heiser, weil ich seit Stunden auf dieser Bühne stand und ein Lied nach dem anderen schmetterte. Doch ich konnte und wollte nicht aufhören. Meine Seele war erfüllt von Glück und Dankbarkeit für dieses Leben, das Shae und ich im Big Apple gefunden hatten.

Als wir vor knapp einem halben Jahr aus Phoenix hergezogen waren, hatte keiner von uns geahnt, wie sehr diese Stadt uns verändern würde. Nicht nur, dass ich einen großartigen Job als Assistent des Geschäftsführers in der angesagtesten Influencer-Agentur Greenwood & Steele ergattert hatte. Ich hatte auch diese tolle Frau kennengelernt, die neben mir sang, meine enge Freundesclique um Ariana und Evie erweitert und es geschafft, mich den Dämonen meiner Vergangenheit zu stellen. Letzteres benötigte zwar definitiv noch Zeit, bis ich es einigermaßen in den Griff bekäme, doch ein Anfang war gemacht, und das war alles, was ich derzeit brauchte.

Wir kamen zum Refrain. Ich nahm Lilys Hand und schmachtete sie an wie einst Troy seine Gabriella.

»Yeah, Ty!«, rief Shae.

Lily lachte, gab mir einen Klaps auf die Brust, ging aber voll mit. Sie warf sich die langen dunkelblonden Haare über die Schulter und zwinkerte mir zu. »We’re breakin’ free«, sang sie.

»We’re soarin’«, antwortete ich und arbeitete mich Note um Note mit ihr durch das Lied.

Mein Grinsen wurde noch breiter, als wir zu den letzten Klängen des Songs kamen. Ich wandte mich Lily zu, streichelte über ihre Hand und ließ die Töne mit ihr ausklingen. Kaum waren wir fertig, schlang sie die Arme um meinen Nacken und zog mich für einen Kuss zu sich.

Die anderen klatschten, ich packte ihren Hintern, drückte ihn fester und teilte ihre Lippen mit meinen.

Sie lachte in meinen Mund und löste sich schließlich schwer atmend von mir. »So wäre Troy bei Gabriella aber nie rangegangen.«

»Dann ist gut, dass wir hier nicht die Disney-Version spielen.« Denn ich hatte vor, nachher noch viel mehr von ihr zu küssen und Dinge mit ihr zu tun, die definitiv nichts im keuschen High School Musical verloren hatten.

Wir traten von der Bühne, Shae hielt mir meinen Gin Tonic hin, und ich nahm einen großen Schluck, während Lily nach ihrem Wasser griff. Sie sah auf ihre Uhr und drückte leise vor sich hin murmelnd darauf herum.

Ich küsste sie in den Nacken und schlang einen Arm um ihren Bauch. »Alles klar?«

»Ja, ich muss noch einen Liter trinken, dann ist Schluss. Endlich.«

»Soll ich dir mehr Wasser besorgen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich würde das gern zu Hause in Ruhe machen. Ich muss morgen zudem früh raus, weil ich mich mit Todd fürs Training treffe. Dann geht es auch schon bald in die heiße Phase.«

Lily hatte mich bereits vorgewarnt, dass sie heute nicht lange bleiben könnte. In vier Tagen stand sie für ihren ersten Wettbewerb auf der Bühne und war entsprechend mit ihrem Training beschäftigt. Alles wurde aufs Gramm genau abgewogen, sie hatte einen festen Trink-, Essens- und Sportplan. Auf ihrer Küchenzeile stapelten sich die Dosen mit den Supplements. Ich hatte keine Ahnung, wie sie das ganze Zeug runterbekam. Mir reichten schon die Proteinshakes oder die BCAAs für den Muskelaufbau, die ich ab und an nahm.

»Sehen wir uns dann morgen?« Ich zog sie an meine Brust.

»Ich weiß noch nicht. Lass uns telefonieren, ja?«

Ich küsste ihren Hals und beobachtete mit einiger Genugtuung, wie sie Gänsehaut bekam. Die letzten Wochen mit ihr waren wundervoll gewesen. Wir trainierten gemeinsam, hatten sagenhaften Sex, entspannten auf der Couch oder trafen uns mit Freunden. Mit meinen hauptsächlich. Ich kannte nur wenige aus ihrem Umfeld, die meist keine Zeit hatten, weil sie Profisportler mit genauso strengen Trainings- und Ernährungsplänen waren. Sie behaupteten zwar immer, dass sie auch Spaß neben all der Arbeit hatten, aber es war kaum möglich, sich abends zum Essen oder für einen Clubbesuch zu treffen. Alles wurde dem Körper untergeordnet. Ich fand es faszinierend und befremdlich zugleich.

»Soll ich dir ein Taxi rufen?«, fragte ich.

»Ich nehm die Subway, danke.«

Ich brummte und ließ sie los.

Lily lächelte mich an und küsste mich auf die Nase. »Danke für den schönen Abend. Tut mir wirklich leid, dass ich gehen muss. Ich hätte gern noch bis morgen früh mit dir High School Musical gerockt.«

»Wenn dein Wettbewerb durch ist, machen wir einen High School Musical-Marathon bei dir. Jedes Mal, wenn Troy Gabi anhimmelt, zeig ich dir, wie es in der Nicht-Disney-Version zugehen würde.«

»Da hast du aber viel zu tun. Die schmachten ja quasi nur.«

»Ich weiß.« Ich wackelte mit den Augenbrauen und freute mich schon darauf, mehr Zeit mit ihr zu verbringen.

»Zum Glück gehst du gerade so viel joggen«, sagte sie mit einem süffisanten Grinsen. »Das steigert die Ausdauer.«

Daran war Ariana schuld. Sie trainierte für den New-York-Marathon, der in ein paar Wochen anstand. Jedes Jahr war Greenwood & Steele mit am Start. Owen hatte mich auch gefragt, ob ich teilnehmen wollte, aber ich hatte dankend abgelehnt.

Lily wandte sich von mir ab und holte ihre Tasche vom Sofa.

»Gehst du schon?«, fragte Shae, als sie merkte, dass Lily aufbrechen wollte.

»Ich muss leider. Hab morgen einen harten Tag vor mir.«

»Schade.«

»Ihr könnt ja ein paar Videos drehen, wie Tyler weiter auf der Bühne abrockt.«

»Werde ich auf alle Fälle tun. Warte mal ab, wenn er mit Whitney Houston anfängt.«

»Dafür bin ich noch lang nicht besoffen genug.« Ich blickte zu Ariana, die in ein Gespräch mit Paul vertieft war. Er quetschte sie schon den ganzen Abend lang über Musicals aus, weil er vor Kurzem seine Leidenschaft dafür entdeckt hatte.

Lily fand ihre Handtasche und schob den Riemen über ihre Schulter. Obwohl sie im Vorfeld angekündigt hatte, dass sie nicht lange bleiben würde, spürte ich den Stich im Herzen. Es wäre schön gewesen, weiter mit ihr zu feiern und den Abend später im Bett ausklingen zu lassen.

»Oh, warte, Lily!« Shae griff ebenfalls nach ihrer Tasche. »Hier ist ein erster Entwurf, wie deine Kolumne in Concrete Jungle aussehen könnte. Ich finde, auf Papier wirkt es immer schöner als auf dem Bildschirm, daher hab ich es ausdrucken lassen.«

Für die kommende Ausgabe von Concrete Jungle hatte Shae Lily überzeugen können, eine Kolumne zu schreiben. Vor ein paar Jahren noch hatte sie ziemlich mit ihrem Gewicht und ihrem Körper gekämpft. Nach zig Diäten und einer falschen Lebensweise hatte sie lange gebraucht, um den für sie passenden Weg zu finden. Auf ihrem Instagramkanal ließ sie ihre Followerschaft schon an vielem teilhaben. Mit einer Kolumne im Magazin würde sie nun noch mehr Menschen erreichen.

Ich betrachtete die Musterseite und pfiff anerkennend durch die Zähne. Evie hatte das Foto geschossen. Es zeigte Lily im Sportoutfit vor der Hantelstange im Gym. Das zweite daneben war ein Bild, wie sie vor drei Jahren ausgesehen hatte. Dass sie damals mehr gewogen hatte, fand ich überhaupt nicht schlimm. Sie sah mit jedem Gewicht toll aus. Heftiger war der Ausdruck in ihren Augen. Da waren so viel Schmerz und Kummer in ihrem Blick. Lily hatte sich selbst verloren und all das innere Leid an ihrem Körper ausgelassen. Sie hatte mir bisher nur wenig darüber erzählt. Von ihren Essstörungen, dem Selbsthass, dem Mobbing durch ihre Kollegen, den durchgeheulten Nächten und ihren finsteren Gedanken.

Ich beugte mich zu ihr und hauchte ihr einen Kuss auf die Haare. »Ich bin so stolz auf dich.«

Sie atmete tief ein und aus, faltete den Artikel und verstaute ihn in der Tasche. »Danke, Leute. Das ist wirklich eine großartige Sache. Ich freu mich, Teil davon zu sein.«

»Immer«, sagte Shae.

»Ich muss jetzt aber echt los.«

»Klar. Wir sehen uns. Meld dich, wenn du Änderungswünsche wegen des Artikels hast.«

»Mach ich.« Sie wandte sich mir zu, schlang die Arme um meinen Nacken und schenkte mir einen weiteren Kuss. Ich teilte ihre Lippen, fand ihre Zunge und keuchte leise, als sie mir entgegenkam. Mich schauderte bis in die Zehenspitzen. Obwohl wir uns schon hundertmal geküsst hatten, war es jedes Mal prickelnd, heiß und betörend. Und ich wollte noch viel mehr davon.

»Wenn wir gehen sollen und ihr die Couch für euch braucht, sagt Bescheid«, rief Shae.

Lily löste sich von mir und winkte ab. Ich drehte mich zu meiner besten Freundin. »Das ist eine hervorragende Idee! Ihr könntet kurz draußen warten, während wir …«

»Ich verschwinde jetzt«, sagte Lily. »Für alles andere nehmen wir uns mehr Zeit, Tyler.«

Ich brummte und schnappte mir meinen Drink.

»Wir telefonieren.« Sie lächelte mich ein letztes Mal an und verschwand durch die Tür.

Ich kippte den Rest des Gin Tonics runter und versuchte, damit die Enge in meiner Kehle wegzuspülen.

Klappte kein bisschen.

Shae trat neben mich und legte ihren Kopf auf meine Schulter. »Hab dich lieb, Ty.«

»Ich dich auch.« Ich küsste meine beste und längste Freundin auf die Haare und genoss ihre Nähe, die mir so vertraut war wie mein eigener Herzschlag. Shae war mit das Beste, was mir je in meinem Leben passiert war. Wir hatten uns als Kinder im Sandkasten gefunden und waren seither durch dick und dünn gegangen. Ich wusste, was sie dachte, ohne dass sie es in Worte fassen musste. Sie konnte aus jedem meiner Blicke herauslesen, was in mir vorging. Ich war dankbar für sie, genau wie für meine anderen Freunde, die heute bei mir waren.

Eigentlich sollte es nicht so wehtun, dass Lily gegangen war. Tat es aber doch.

»Kann ich was für dich tun?«, fragte sie.

Ich wollte gerade verneinen, als das Mikro hinter mir krachte. Die Lichter wechselten, und auf einmal fing ein neues Lied an.

»I got chills, they’re multiplying …«, hörte ich Evie leicht schräg singen.

Ich drehte mich um. Sie und Ariana standen auf der Bühne und stimmten die ersten Zeilen von You’re the one that I want an. Evie fühlte sich sichtlich unwohl, versuchte es aber mit einem schiefen Grinsen zu überspielen.

»Ihr seid bekloppt«, rief ich, freute mich aber gleichzeitig, dass sie diesen Klassiker rausgeholt hatten.

»It’s electrifying!«, rief Ariana ins Mikro, warf die Haare nach hinten und funkelte mich herausfordernd an.

Shae lachte, griff meine Hand und zog mich zu den Mädels auf die Bühne. Evie und Ariana eilten mir entgegen, packten mich an den Händen und sangen mir gleichzeitig das Ooh, ooh, ooh, Honey ins Ohr.

Ich teilte mir das Mikrofon mit Shae und stimmte in den Gesang mit ein. Mit jedem Ooh, ooh, ooh ließ meine Trauer über Lilys frühen Weggang ein wenig nach. Diese Leute waren einfach das beste Geschenk, das ich mir je hätte wünschen können. Ich liebte die bunte Truppe, ich liebte es, dass sie bei mir waren und diesen wichtigen Tag feierten.

Mein Blick wanderte ein letztes Mal zur Tür, durch die Lily verschwunden war.

You’re the one that I want.

2

SHAE

Samstag, 28. September

»Bop-bop-bop, straight to the …«

»Hör auf!« Ariana legte die Hände auf meine Schultern und schüttelte mich. »Ich bin den Ohrwurm grad erst losgeworden!«

»Spielverderberin!« Ty stupste Ari auf die Nase und hakte sich dann bei uns beiden unter, wobei wir nach links wankten. Gerade gehen konnte mein bester Freund schon seit zwei Stunden nicht mehr. »Hach, das war ’n schöner Abend.« Ihn das sagen zu hören, erleichterte mich genauso sehr, wie es mich skeptisch machte, denn nach Lilys frühem Aufbruch hatte er ein, zwei Drinks mehr getrunken, als nötig gewesen wäre. Er würde es niemals zugeben, da er Lilys Karriere zu einhundert Prozent unterstützte, aber manchmal hatte ich das Gefühl, dass es ihn belastete, konstant den zweiten Platz zu belegen.

Ich drehte den Kopf, um ihn im Profil betrachten zu können. Ty hatte seinen Kopf in den Nacken gelegt und schaute nach oben, ein Lächeln auf dem Gesicht. Ich folgte seinem Blick Richtung Himmel, der dank der üppigen Beleuchtung der Stadt niemals ganz dunkel wurde. Dennoch hatten sich einige besonders starke Sterne ihren Weg durch die Lichtverschmutzung gekämpft und funkelten zu uns herunter.

Ich schaute erst wieder geradeaus, als Ty den Arm von meiner Schulter löste und ihn von sich streckte. »High five, Mann!«, rief er dem Jogger zu, der auf uns zulief und tatsächlich lachend einschlug. »Ich liebe diese Stadt«, verkündeten wir im selben Moment, woraufhin Ariana leise zu lachen begann.

Evie war bereits einige Meter vorausgeprescht, da sie im Gegensatz zu Ariana und mir flache Schuhe trug und uns vorführen wollte, was ein deutscher Hopserlauf war. Allem Anschein nach eine slalomförmige Mischung aus Laufen und Springen, mit der sie gerade den ganzen Bordstein für sich beanspruchte. Ich wünschte, ich hätte ihre Energie, doch zum einen drehte sich alles, zum anderen schmerzten meine Zehen in den neuen Pumps, die ich extra für Tylers Geburtstag gekauft hatte. Dank seinem Schuhtick wusste er das immerhin zu schätzen.

»Ich kann nicht mehr«, seufzte ich, als wir endlich zu Evie aufgeschlossen hatten, die viel zu lässig und vergnügt an einer Straßenlaterne lehnte.

»Kein Wunder, dass du nicht beim Marathon mitmachst«, neckte Ariana mich. Im Gegensatz zu mir schienen ihr die Heels rein gar nichts auszumachen. Ich hegte insgeheim den Verdacht, dass sie bereits in hohen Schuhen auf die Welt gekommen war.

»Zieh doch die Pumps aus«, schlug Evie vor, woraufhin ich heftig den Kopf schüttelte und Tyler Würgegeräusche von sich gab. Zumindest hoffte ich, dass es daran lag. Er hatte noch mehr gebechert als wir.

»Stellt euch nicht so an«, fuhr Evie fort. »Nach ’nem Kölner Karneval sehen die Straßen schlimmer aus.«

»Eveline Voss!« Ty löste sich von uns, um auf Evie zuzugehen, torkelte jedoch so sehr, dass er sich an der Laterne abstützen musste. Ariana unterdrückte ein Prusten. »Weder meine noch Shaes noch irgendjemandes Füße werden diese Straßen und dann meine Wohnung betreten.«

»Unsere Wohnung«, warf ich ein.

»Unsere Wohnung!«, bestätigte Ty.

»An der wir übrigens endlich angekommen sind.« Ariana streckte auffordernd die Hand in Richtung Tyler aus, der sie nahm und einen Kuss daraufdrückte.

»Mylady.«

»Du hast einen Schaden«, prustete Ariana und schüttelte seine Hand ab, bevor sie ihm ihre wieder hinhielt. »Schlüssel her.«

»Das kann ich selbst!« Tyler kramte in seiner rechten Hosentasche, dann in seiner linken und fand unsere Haustürschlüssel schließlich in seiner Jacke. Er lief Captain-Jack-Sparrow-ähnlich auf die Tür zu und schaffte es nach sagenhaften fünf Anläufen, den Schlüssel so fest gegen das Schloss zu rammen, dass er zu Boden fiel.

»Hoppla«, machte er und bückte sich, um ihn aufzuheben. »Das ist keine Analogie für mein Liebesleben, damit ihr’s wisst!« Er probierte es ein weiteres Mal und entriegelte endlich die Tür. »Das schon viel eher.« Zufrieden trat er hinein und öffnete uns mit einladender Geste die Haustür. »Herzlich willkommen im Casa Tyler.«

»Ich brauch so dringend ’ne eigene Wohnung«, murmelte Evie im Vorbeigehen, doch ihre Mundwinkel zuckten verräterisch. Sie suchte bereits seit einigen Wochen nach einer neuen Bleibe, der Wohnungsmarkt in New York war allerdings … nun ja, der Wohnungsmarkt in New York eben. Daher schlief sie weiterhin auf unserer Couch, und wenn ich ehrlich war, war ich nicht wirklich traurig darüber, dass sie nichts fand. Ich würde unser chaotisches WG-Leben vermissen.

»Oh Gott, bitte sagt mir, dass sich bei euch auch alles dreht«, stöhnte Ty, als wir es endlich nach oben in unser Reich geschafft hatten. Zwar waren Aufzüge die meiste Zeit kein Problem mehr für meine Angststörung, wenn ich getrunken hatte, sah das Ganze jedoch komplett anders aus. Und da meine Freunde nun einmal die besten waren, hatten sie mich nicht allein laufen lassen.

»Der Schmerz hält das Drehen in Schach«, gab ich zurück und pfefferte meine Schuhe in die Ecke. Seufzend ging ich ein paar Schritte im Wohnzimmer hin und her, um meine Füße an die neu gewonnene Freiheit zu gewöhnen. Ariana legte Mantel und Schuhe ab und sah überhaupt nicht nach fünf Uhr morgens und durchgemachter Nacht aus in ihrem knielangen dunkelroten Kleid und mit den sanften Wellen in ihrem blonden Haar. Ich hingegen benötigte keinen Blick in den Spiegel, um zu wissen, dass ich mir den Eyeliner beim Tanzen vom Gesicht geschwitzt hatte und mir meine dunklen Haare mit Sicherheit zu Berge standen.

»Der letzte Gin Tonic war schlecht«, nuschelte Tyler und wollte noch etwas sagen, was jedoch in einem lauten Hicksen unterging.

»Sollen wir dich ins Bett bringen?« Ich knuffte ihn in die Seite, und er nickte mit zufriedenem Lächeln.

»Bett!«

»Ich hol dir ein Wasser«, meinte Ariana und verschwand in Richtung Küche, während Evie und ich uns bei Tyler einhakten und ihn in sein Zimmer bugsierten. Wir verfrachteten ihn auf sein Bett, ich zog die Vorhänge vor seinem Fenster zu, und Evie machte sich mit leisem Lachen an Tylers Schuhen zu schaffen, die er nach wie vor trug.

»Ich hab ein Déjà-vu an eine gewisse Hausparty vor einigen Monaten.«

»Diesmal schaff ich’s allein aus der Hose«, nuschelte Tyler. Dass er die Augen geschlossen hatte und wohlig seufzte, strafte seine Worte Lügen. »Brauchst du wieder ’n Pep-Talk?«

»Nein, alles bestens«, erwiderte Evie schmunzelnd.

»Dacht ich mir. Casey ist super. Cam auch!«, fügte er hinzu und deutete mit ausgestrecktem Finger auf mich.

»Ich weiß. Brauchst du denn einen Pep-Talk?« Ich schaltete die kleine Lampe auf Tylers Nachttisch an und ließ mich neben ihm auf der Matratze nieder. Ari trat zu uns ins Zimmer und reichte Tyler sein Wasser, das er tatsächlich mit gierigen Schlucken trank.

»Prophylaktische Aspirin?« Fragend hielt sie ihm die Verpackung entgegen.

»Nein zur Aspirin und nein zum Pep-Talk. Ich krieg nie einen Kater und nie schlechte Laune!« Ein Seufzen drang gleichzeitig aus Aris, Evies und meinem Mund, und für einen Moment wirkte Tyler wieder vollkommen wach. »Was? Mir geht’s gut!«

»Okay, aber es wäre auch in Ordnung, wenn du traurig bist, dass Lily früher wegmusste, ja?«

»Sie hat einen Wettbewerb, ich versteh das.«

»Wissen wir«, sagte Ari sanft. »Aber du kannst es verstehen und trotzdem traurig sein.«

»Genau.« Evie ließ sich ebenfalls auf die Matratze sinken und schob die Decke über Tys Beine. »Insbesondere an deinem Geburtstag.«

Tyler schloss die Augen und schwieg eine Weile. Ich wollte ihn zu nichts drängen, doch er war der wichtigste Mensch in meinem Leben, und nichts war schlimmer, als ihn leiden zu sehen. Er hatte nur das Beste verdient, und zu wissen, dass ihm dennoch so viel Schlimmes widerfahren war, brachte regelmäßig mein Blut zum Kochen. Er musste sich mit Rhianna rumschlagen, musste damit leben, was sie ihm angetan hatte. Ihn damit kämpfen zu sehen, riss mein Innerstes auf und stülpte es nach außen. Unter keinen Umständen wollte ich zusehen, wie er abseits dieser Sache auf weitere Hindernisse traf. Er war mein Seelenverwandter. Mein Mensch. Unsere Leben waren fest miteinander verwoben, sein Leid war meines.

»Vielleicht bin ich ein bisschen traurig«, murmelte er leise und öffnete die Augen. Sein Dunkelgrün traf auf mein Braun, und er zwinkerte mir zu. »Aber Lily macht mich glücklich, was ist da ein einzelner Abend? Sie unterstützt mich in allem, was ich tue, ohne sie hätte ich beispielsweise keinen Therapieplatz. Da ist es das Mindeste, dass ich sie im Umkehrschluss genauso unterstütze.« Er drückte kurz meine Hand und zog sich dann die Decke bis zur Nase. »Weckt ihr mich um zwölf? Da startet der Stream ihres Wettbewerbs.«

»Wieso bist du nicht dabei?«, hakte ich nach.

»Weil Lily meinte, dass sie das ablenkt. Sie muss sich auf den Wettkampf konzentrieren.«

»Hm«, machte ich und schaffte es nicht, das Urteil aus diesem Laut herauszuhalten, was mir einen warnenden Blick von Ariana einbrachte.

»Und jetzt raus hier. Mir geht’s gut, versprochen. Zumindest, wenn dieses Gedrehe aufhört und ich endlich geschlafen hab.« Er blinzelte uns unter müden Lidern hervor an. »Wie könnte es mir auch schlecht gehen? Ich hab die besten Freundinnen der Welt.«

Die Uhr zeigte halb sechs am Morgen an, als wir die Tür zu Tylers Zimmer hinter uns schlossen.

»Ich bin so fertig«, meinte ich seufzend und gähnte herzhaft.

»Kann ich mir eine Wasserflasche von euch klauen? Ich würd gern heimjoggen.«

Evies Kopf schnellte zu Ariana herum, und ich riss die Augen auf.

»Jesus Christus, was war in meinem letzten Drink?«, fragte Evie ungläubig. »Hat sie gerade gesagt, dass sie joggen gehen will?«

»Ich hab es auch gehört«, stimmte ich zu.

»Der Marathon rückt näher, ich hab einen strikten Plan!« Ariana zog ein Paar Sportschuhe aus ihrer übergroßen Handtasche. »Zehn Kilometer muss ich heute schaffen, und wenn ich von hier aus losjogge, hab ich einen Teil schon und muss weniger Runden im Central Park drehen.«

»Weißt du, wenn du mir eröffnen würdest, dass du für die Präsidentschaft kandidierst, ich würd es dir glauben«, erwiderte ich perplex.

»Und ich würd dich wählen. Wenn ich dürfte«, fügte Evie hinzu. »Ich wünschte, ich hätte deine Disziplin und Struktur.«

»Ihr könnt gern mitkommen und trainieren«, bot Ariana an. Mittlerweile hatte sie auch Sportkleidung aus der Handtasche gezogen.

»Wie bedauerlich, dass ich erst im April dazukam und zu spät für die Anmeldung war«, sagte ich seufzend.

»Wir kriegen euch sicher auch nachträglich auf die Teilnehmerliste gequetscht. Oder ihr übt schon mal für nächstes Jahr.«

»Wie bedauerlich, dass ich keine Lust habe«, meinte Evie mit einem Grinsen, als ihr Handy plötzlich klingelte. »Und keine Zeit, das ist Casey. Ich hab ihm gesagt, er soll mich anklingeln, wenn er da ist, damit er Tyler nicht weckt. Ich lass ihn kurz rein, ja? Ich würd gern noch mal ins Bad. Wir wollten frühstücken gehen.«

Sie huschte davon, und ich blickte Ariana perplex an und stupste sie an.

»Was?«, fragte diese und zog pikiert den Arm weg.

»Manchmal frage ich mich nur, ob du echt bist. Oder doch ein Cyborg.«

»Oh, haha«, machte Ariana und strich sich die rotblonden Haare aus dem Gesicht. »Der Marathon ist mir einfach wichtig. Ich hab mich letztes Jahr schon angemeldet und dann last minute abgesagt, weil meine Eltern … Das mit Quinns Tod war noch zu frisch, ihnen ging es nicht gut. Aber das Laufen hat mir geholfen, den Kopf freizukriegen.« Sie hob die Schultern. »Dieses Jahr will ich es schaffen. Mom und Dad kommen sogar zum Anfeuern. Es ist das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit, dass sie für mich mitfiebern und sich erinnern, dass sie ein zweites Kind haben.«

Noch bevor Ari weitersprechen konnte, zog ich sie in eine Umarmung und drückte sie so fest an mich, dass selbst mir die Luft wegblieb. »Das war mir nicht klar«, nuschelte ich an ihrer Schulter. »Ich zieh dich nur auf, du weißt, dass ich dich bewundere und dich natürlich anfeuern komme.«

»Weiß ich.« Sie erwiderte die Umarmung, dann machte sie sich los und begann sich umzuziehen. Es klingelte, und ich riss die Wohnungstür mit etwas zu viel Schwung auf.

»Hi, Casey!« Er sah so müde aus, wie ich mich fühlte, trug im Gegensatz zu mir aber frische Kleidung. Das dunkelgrüne Shirt betonte seine ebenfalls grünen Augen, und seine Haare wirkten leicht feucht – vermutlich hatte er getan, was ich dringend tun sollte, und geduscht.

»Hey, wie geht’s euch, habt ihr …« Sein Blick glitt an mir hinab und dann zu Ariana. »Habt ihr gar nicht geschlafen?«

»Ne, wir kamen gerade erst heim.«

Casey schaute auf seine Armbanduhr, dann wieder zu mir. »Oh Gott, werde ich alt? Ich fühle mich wie überfahren, und ich habe geschlafen.«

»Tja, dann wirst du nicht alt, dann bist du es wohl«, meinte ich grinsend. »Warte ab, bis du hörst, was Ariana jetzt geplant hat.«

Diese trat mit einem Seufzen zu uns, mittlerweile in Sportkleidung, und begann, sich die Schuhe zu binden. Ich machte Platz für Casey, der kopfschüttelnd in den kleinen Flur trat.

»Immer wenn ich denke, ihr könnt mich nicht mehr überraschen. Na ja, hier. Das hab ich euch mitgebracht, dachte, ihr könnt etwas Stärkung gebrauchen.« Mit einem Lächeln streckte Casey mir eine braune Papiertüte entgegen, aus der der himmlische Duft nach frisch Gebackenem drang.

»Oh mein Gott.« Ich riss ihm die Tüte aus der Hand und blickte neugierig ins Innere. Brötchen, Croissants und Blaubeermuffins. »Evie!«, schrie ich, für einen Moment vergessend, dass Tyler wenige Meter weiter seinen Rausch ausschlief.

»Ja?«, erklang es aus dem Bad.

»Bitte heirate diesen Mann! Sichere dir die Greencard und mir lebenslange Muffins!«

Casey stieß eine Mischung aus Husten und Lachen aus. Ariana schnürte ihren zweiten Turnschuh, stand auf und tätschelte ihm die Schulter. »Glaub mir, wir werden niemals aufhören, dich zu überraschen.«

3

ARIANA

Samstag, 28. September

Ich liebte es, mich stark zu fühlen.

Ich liebte das Ziehen in meinen Waden, das Pulsieren meines Bluts, das ich selbst in meinen Wangen spüren konnte, das heftige Schlagen meines Herzens. Ich hatte nicht mit dem Joggen begonnen, weil ich laufen, sondern weil ich weglaufen wollte. Meine Runden im Central Park zu ziehen, Musik auf den Ohren, meine Umgebung ausblendend – das alles hatte mir geholfen, meine Gefühle und Gedanken für einen Moment auszuschalten. Es hatte mich nach Quinns Tod gerettet, dafür gesorgt, dass ich mich wieder lebendig fühlte. Mittlerweile ließ ich die Gedanken und Gefühle rund um den Verlust meines Bruders zwar zu, aber es hatte nach wie vor etwas Erdendes, hier meine Runden zu drehen.

Selbst zu dieser frühen Stunde war der Central Park nicht leer. Ich überholte zwei andere Läufer, lächelte den jungen Eltern zu, die mit ihrem Neugeborenen auf einer Bank saßen, dessen Schreie es selbst durch meine Kopfhörer schafften. Die Lichter der Stadt funkelten durch die Bäume hindurch, und die Luft war klar und fühlte sich sauber an – auch wenn das wohl eine Illusion war.

Meine Füße trafen im Takt der lauten Rockmusik auf den Boden, und meine Sportuhr vibrierte kurz, um zu signalisieren, dass ich bereits fünf Kilometer geschafft hatte. Halbzeit meines heutigen Ziels. Ich hatte extra nur zwei Drinks gehabt, um heute trainieren zu können. Ich wollte den Marathon schaffen. Mir war völlig egal, in welcher Zeit, aber ich wollte die Ziellinie überqueren. Ich hatte Shae erzählt, dass ich letztes Jahr wegen Quinn nicht teilnehmen konnte. Das stimmte zwar, aber eigentlich hatte ich bereits vor zwei Jahren, kurz nach meinem Einstieg bei Greenwood & Steele, mitmachen wollen. Jared jedoch hatte mir das Ganze ausgeredet. So viel zu laufen wäre nicht gesund. Ich wäre ohnehin schon so schlank, meine Waden würden von all dem Joggen und Krav Maga viel zu männlich aussehen. Echte Männer wollten Kurven und Rundungen, keine Muskeln.

Mein Mund öffnete sich zu einem leisen Lachen, das es nicht durch die Musik schaffte. Unfassbar, dass ich mir seine Sprüche so lange angehört hatte, dass ich zugelassen hatte, dass er mich kleinhielt. Schlimmer noch: Ich hatte mich selbst winzig gemacht, damit er sich groß fühlen konnte. Mich schwächer werden lassen, damit er sich stark fühlte.

Ironischerweise war es genau das, was Layla so an mir schätzte: meine Stärke. Und indem sie das tat, erlaubte sie mir, ihr meine Schwächen zu zeigen. Weil man sich für die Liebe nicht ändern musste. Weil die Menschen, die es wert waren, Teil meines Lebens zu sein, mich nahmen, wie ich war.

Ich drehte eine Runde um den Bethesda Fountain und lief wieder auf den Rand des Parks zu. Rechts von mir lag der See, links Wiesen und Bäume, und in ganz weiter Ferne waren die Spitzen der Wolkenkratzer zu erkennen. Die Sonne ging langsam auf, und erste Strahlen tauchten den Weg vor mir in orangerotes Licht. Für einen Moment schloss ich die Augen, atmete tief ein und wieder aus und genoss die Stille. Inmitten des Parks waren selbst die zahlreichen Autos nur als sanftes Hintergrundrauschen wahrzunehmen. Der Trubel der Stadt rückte in weite Ferne und machte tiefer Entspannung Platz. Das liebte ich an New York: Es war immer etwas los, aber die Stadt bot auch zahlreiche Möglichkeiten, sich dem Ganzen zu entziehen.

Ich hatte die Augen gerade wieder aufgeschlagen, als ich eine Bewegung einige Meter vor mir wahrnahm. Ein Schatten im Gebüsch, zu groß für einen Hund oder ein anderes Tier. Wie von selbst verlangsamte ich meine Schritte und ließ den Blick von links nach rechts streifen. Natürlich musste es ausgerechnet jetzt menschenleer sein, ich entdeckte weit und breit keine anderen Joggenden. Mein Blick huschte zu den Sträuchern und Bäumen vor mir. Dort stand eine Person, oder etwa nicht?

Mein Herz, das von dem Lauf ohnehin schnell schlug, pochte nun noch heftiger. Doch, da! Eindeutig eine Bewegung. Vermutlich war es nur ein Betrunkener, der sich auf dem Heimweg erleichterte, doch was, wenn nicht? Mein Atem ging plötzlich zitternd, als sich der Schatten wieder bewegte. Ich beherrschte Krav Maga, genau wegen solcher Vorkommnisse hatte ich es gelernt, doch nervös machte mich das Ganze dennoch – denn Krav Maga zu können war die eine Sache, es anwenden zu müssen die andere. So häufig ich alle möglichen Gefahrensituationen auch durchgespielt hatte, ich war dankbar, dass ich sie noch nie im echten Leben in die Tat hatte umsetzen müssen. Als mich nur noch knapp fünfzig Meter von den Sträuchern trennten, siegte meine Vernunft, ich machte auf dem Absatz kehrt und lief in Richtung des Brunnens.

Noch schneller als zuvor transportierten meine Beine mich den Weg zurück, den ich gerade erst gekommen war. Dennoch hielt ich den Atem an, um zu hören, ob sich hinter mir etwas regte. Es war genauso leise wie zuvor. Auch ein Blick über die Schulter zeigte nichts als gähnende Leere, Bäume und die Gebäude in der Ferne, die die Sonne reflektierten. Ich schluckte und presste mir eine Hand auf die Brust, unter der mein Herz heftig trommelte.

Ich blieb stehen und scannte die Umgebung. Der Schatten im Gebüsch war weg, doch es war niemand zu sehen, der aus dem Dickicht hervorgetreten sein könnte. Hatte ich mir das Ganze bloß eingebildet? Vielleicht hätte ich doch erst schlafen gehen sollen, wenn ich nun schon begann, Gespenster zu sehen.

Mein Handy vibrierte in dem Gürtel, den ich mir zum Joggen stets um die Hüfte schnallte. Ein Blick aufs Display offenbarte, dass meine Mom anrief. Normalerweise nahm ich beim Training keine Anrufe entgegen, doch gerade war ich beinahe dankbar für die Störung. Denn obwohl hinter mir nach wie vor nichts zu sehen war und ich fast die Bank mit der jungen Familie erreicht hatte – ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass ich beobachtet wurde. Mein Nacken prickelte, und die feinen Härchen auf meinen Armen hatten sich aufgestellt und wollten sich einfach nicht mehr beruhigen.

»Hi, Mom.« Ich wechselte vom Lauf in einen schnellen Schritt und hielt mir die Seite, in der es plötzlich stach. Kein Wunder, so unruhig, wie ich gerade geatmet hatte.

»Hey, Süße! Wie geht’s? Du klingst außer Puste.«

»Ich bin joggen.«

»So früh? Ich hab in der App gesehen, dass du eben online warst, und mich schon gewundert. Sonst hätte ich gar nicht angerufen.«

»Ja, wir haben Tylers Geburtstag gefeiert, und ich dachte, ich nutze aus, dass ich noch wach bin. Wieso bist du um die Uhrzeit schon auf?«

»Ich hab nicht so gut geschlafen. Ich …« Meine Mom druckste unverständlich herum, und ich steuerte auf eine freie Bank zu, auf der ich mich niederließ. Etwas weiter rechts saß ein älterer Herr mit seinem Golden Retriever und lächelte mir zu. Ich erwiderte sein Lächeln, dankbar, nicht allein sein zu müssen, auch wenn die Sonne den Park immer mehr erhellte. Ein weiteres Mal scannte ich die Gegend, bemerkte jedoch nichts Eigenartiges. Ich gehörte wirklich dringend ins Bett. Seufzend ließ ich mich gegen die Rückenlehne sinken.

Meine Mom schien mein Seufzen völlig falsch zu deuten. »Ich weiß, was du denkst, und ich habe auch nicht geantwortet.«

»Geantwortet?«, fragte ich nach, denn offensichtlich hatte ich einen wichtigen Teil des Gesprächs verpasst.

»Dem Detective. Mr. George Barrow – erinnerst du dich noch an ihn?«

»Wir hatten in der Therapie doch besprochen, dass ihr ihm erklärt, dass seine Dienste nicht länger benötigt werden.« Ich versuchte, ruhig zu klingen, doch es wollte mir nicht gelingen. Meine Eltern hatten nach dem Tod meines Bruders einen Privatdetektiv angeheuert, da sie nicht glauben wollten, dass Quinn sich selbst das Leben genommen hatte. Innerhalb des letzten Jahres wurde ihre Suche nach Hinweisen obsessiv und hatte nicht nur ihre Finanzen aufgebraucht, sondern auch unser Verhältnis gestört. Dieses wurde endlich besser, nicht zuletzt dank der Familientherapie, die wir nun machten. »Mom, du hast versprochen, dass du aufhörst, irgendwelchen Hinweisen nachzujagen.«

»Ja, das habe ich auch! Nur deshalb erzähle ich dir das Ganze doch. Wir haben George geschrieben. Allerdings hat er geantwortet, dass er eine wirklich heiße Spur hat.«

Innerlich stöhnte ich auf, da diese Masche so offensichtlich war und ich nicht glauben konnte, dass jemand so Kluges wie meine Mutter darauf reinfiel. »Natürlich hat er eine heiße Spur«, sagte ich betont sachlich. »Er verliert ja auch einiges an Geld, wenn er einfach aufgibt. Mom, er nutzt dich und deine Trauer aus. Er findet irgendwelche Textnachrichten auf Quinns Festplatte, interpretiert Dinge hinein und verkauft sie euch als Erkenntnisse. Das Einzige, womit er recht hat, ist, dass es Quinn nicht gut ging und das deutlich aus seinen Nachrichten herauszulesen ist. Ihr werdet keinen Schuldigen finden, das hat Mrs. Rodriguez doch erklärt.« Mrs. Rodriguez war unsere Therapeutin. Einmal die Woche sah sie meine Eltern, einmal im Monat kam ich zu einer gemeinsamen Sitzung hinzu.

»Ich weiß, ich weiß …« Mit einem Mal klang meine Mom unglaublich schwach und zerbrechlich. Ich hasste es, sie so zu erleben. Andererseits: lieber so als in falscher Euphorie, während sie sinnlosen Hinweisen nachjagte. »Ich hab ihm nicht geantwortet.«

»Das ist gut. Ich bin stolz auf dich, das war bestimmt nicht leicht.«

»War es wirklich nicht.« Meine Mom atmete tief durch und räusperte sich. »Es ist schwer, Ariana. Es fühlt sich an, als würde ich nicht alles für deinen Bruder geben.«

Mein Blick fiel auf das Bettelarmband, das Quinn mir geschenkt hatte und das ich selbst zum Sport nie abnahm. Jedes Jahr hatte er mir einen kleinen silbernen Anhänger dafür geschenkt, und auch wenn dieser Schmuck mittlerweile aus der Mode gekommen war, würde ich es wohl nie übers Herz bringen, ihn abzulegen. Vermutlich hatten wir alle unsere Bewältigungsstrategien. Die meiner Mom war nur kostspieliger, aber wer war ich, sie dafür zu verurteilen?

»Quinn würde nicht wollen, dass Dad und du euch in den Ruin treiben lasst.«

»Ich weiß. Aber … Ich hab ihm wie gesagt nicht geantwortet. Noch nicht. Aber ich würde gern.«

»Mom …«

»Ich weiß, dass du nichts davon hältst. Ich weiß, dass es zu neunundneunzig Prozent nichts bringt. Aber wenn da eine einprozentige Chance ist … Süße, ich muss. Verstehst du das? Ich rufe nur an, weil ich es nicht hinter deinem Rücken machen will. Ich werde auch Mrs. Rodriguez davon erzählen.«

Ich schluckte. Es war ein Fortschritt. Ich konnte wohl kaum erwarten, dass meine Mutter über Nacht alles über Bord warf, was sie sich im letzten Jahr antrainiert hatte. Ich lächelte schief und ließ den Blick über die Skyline schweifen.

»Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast.«

»Schauen wir uns das Ganze gemeinsam an? Wann bist du das nächste Mal hier?«

»In drei Wochen. Kannst du bis dahin warten?«

»Ich kann es versuchen«, grummelte meine Mom, und auf einmal mussten wir beide lachen. Es tat so gut, diesen Klang aus ihrem Mund zu hören, dass Tränen in meine Augen schossen.

»Ich bin wirklich stolz auf dich«, wiederholte ich.

»Und ich auf dich. Du bist so ehrgeizig, das habe ich immer bewundert. Wer geht schon freiwillig um diese Uhrzeit joggen?«

»Mehr Menschen, als du denkst«, erwiderte ich, da genau in diesem Moment ein Läufer an meiner Bank vorbeikam.

»Wie geht es den anderen? Ich kann es kaum erwarten, sie kennenzulernen, du erzählst immer so viel Nettes.«

»Denen geht’s … gut.« Ich dachte an Tylers Blick vorhin in der WG. An die Traurigkeit, die darin gelegen hatte, auch wenn er es niemals zugeben würde. Er war es, der mich und meine Eltern zusammengeführt hatte, der an mich appelliert hatte, sie nicht aufzugeben. Ich wünschte, ich könnte ihm helfen, wie er mir geholfen hatte.

»Das ist schön zu hören. Der Mann von deinem Instagram-Foto, dieser Tyler – läuft da was zwischen euch beiden?«

»Nein, Mom«, erwiderte ich lachend. »Er hat eine Freundin, und auch wenn er keine hätte … ich bin nicht auf der Suche.« Wegen Layla, auch wenn das etwas war, das ich meinen Eltern bislang verschwiegen hatte. Zum einen erinnerten sie mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit an Jared, meinen Ex-Freund, und zum anderen war mir wichtig, dass sie sich auf die Therapie konzentrierten. Wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, dann wollte ich Layla auch noch nicht in das Chaos zerren, das meine Familie war. Dazu war das zwischen uns zu frisch, zu heilsam.

»Na gut, aber du lässt mich wissen, wenn sich da was tut?«

»Jaja«, erwiderte ich und unterdrückte mein Grinsen, als meine Mom am anderen Ende stöhnte. Ich stand auf, lief langsam in Richtung des Orchards, über dem sich meine Wohnung befand, und lauschte meiner Mom, wie sie über erschreckend gewöhnliche Dinge redete. Es war das normalste Gespräch, das wir seit einem Jahr geführt hatten, und es sorgte dafür, dass sich meine Brust hoffnungsvoll zusammenzog.

»Wie geht es der schönsten Frau New Yorks?«, erklang es, kaum dass ich das The Orchard betreten hatte. Die Bar lag in der Nähe des Columbus Circle und somit direkt am Central Park, was perfekt für meine Joggingrunden war. Layla, die eine mit Mehl besprenkelte Schürze trug, kam um die Theke und schlang ihre Arme um meinen Hals. Ihr dunkles Haar kitzelte an meiner Nase, und ich atmete lächelnd ihren Duft nach frischem Gebäck und Jasmin ein.

»Eher der verschwitztesten Frau von New York«, erwiderte ich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Tut mir leid, falls ich dich durchnässe, ich spring sofort unter die Dusche.«

Layla ließ von mir ab und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mir würde das Wasser in Sturzbächen über den Körper laufen, du siehst aus, als wärst du nur ’ne Runde spazieren gewesen.«

»Ich hab auch nicht die gesamte Strecke geschafft. Meine Mom hat angerufen.«

»Oh, alles okay?« Laylas braune Augen verengten sich, als sie mich besorgt musterte.

»Erstaunlicherweise ja.« Ich gab ihr eine Zusammenfassung der Unterhaltung und hob, als ich fertig war, die Schultern. »Ich glaube, es könnte wirklich alles wieder gut werden.«

»Das freut mich.« Layla drückte meine Hand. »Ihr habt etwas Frieden mehr als verdient. Und Frühstück, das hast du dir auch verdient. Auf was hast du Lust?«

»Wieso bist du so fit?«

»Im Gegensatz zu dir bin ich zu einer humanen Uhrzeit heimgegangen, erinnerst du dich? Also: Eggs Benedict?« Layla hob die Mundwinkel, und auch meine Lippen umspielte ein Lächeln, da ich mich noch ganz genau daran erinnerte, als Layla mir ihre Eggs Benedict zum ersten Mal zubereitet hatte. Wie viel sich seitdem verändert hatte. Die Ariana von damals war ein anderer Mensch gewesen, gerade erst aus ihrer alten Beziehung ausgebrochen, und hatte noch lernen müssen, die ersten Schritte auf dem Weg zurück zu sich selbst zu wagen.

»Eggs Benedict klingt großartig«, erwiderte ich. »Ich geh schnell duschen, dann helfe ich dir.«

»Alles klar.« Layla stellte sich auf die Zehenspitzen, und einen Wimpernschlag später berührten sich unsere Lippen. Ihre Finger streiften meine Taille, bevor sie einen Schritt zurücktrat und mir zuzwinkerte. »Bis gleich.«

Immer noch lächelnd sah ich ihr nach, wie sie in der Küche ihrer Kneipe verschwand, dann erst wandte ich mich ab und lief die wenigen Stufen im hinteren Bereich des Pubs hinauf, die zu meiner Wohnungstür führten. Zwar gab es auch einen Eingang über den Hinterhof, doch meist benutzte ich diesen. Gefühlt war der Pub mittlerweile mein erweitertes Wohnzimmer.

Kaum dass ich die Tür entriegelt hatte, trat ich mir die Laufschuhe von den Füßen und wackelte mit den Zehen, die vom Training prickelten. Ich rieb mir über die Arme. In der Wohnung war es recht frisch, und ich konnte es kaum erwarten, unter die heiße Dusche zu treten. In meinem Schlafzimmer zog ich die Schranktüren auf und entschied mich für eine locker sitzende beige Hose und eine weite weiße Bluse.

Ich hatte die Türen gerade wieder geschlossen und die Schublade mit der Unterwäsche aufgezogen, als mir auffiel, was anders war. Das Fenster war geöffnet. Nicht ganz, aber doch zwei Handbreit, sodass eine kühle Brise in den Raum wehte. Kein Wunder, war es hier kalt.

Seltsam. Ich hätte schwören können, dass ich es geschlossen hatte, bevor ich zu Tylers Party aufgebrochen war. Zwar lag meine Wohnung nicht im Erdgeschoss, aber es war immer noch New York. Ich achtete sorgsam darauf, meine Fenster zu schließen, bevor ich das Haus verließ. Allerdings war ich spät dran gewesen, da ich noch an einem Reporting gesessen hatte, und hatte es eilig gehabt, zur Karaokebar zu kommen. Hatte ich es in meiner Hast vergessen?

Mit mulmigem Gefühl trat ich an das Fenster heran, zog es nach unten und klappte die silbernen Riegel herum. Dann erst sah ich das Bild auf dem Boden. Der Wind musste es von meinem Nachttisch gefegt haben. Ich bückte mich und hob den Bilderrahmen auf, woraufhin ein leises Klirren erklang. Das Glas war zerbrochen und lag nun in mehreren großen Stücken auf dem Holzboden verteilt.

Ich schluckte und betrachtete das Foto von Layla und mir, das uns eng umschlungen auf der Dachterrasse von Caseys Penthouse zeigte, die Skyline im Hintergrund. Es war letzten Monat entstanden, als wir auf Shaes Magazin angestoßen hatten. Ich hatte ein breites Lächeln im Gesicht, und Layla drückte mir einen Kuss auf die Wange. Eine meiner Haarsträhnen hatte sich in ihren langen Wimpern verfangen. Am Rand war Tylers Arm zu sehen. Evie hatte auf den Auslöser gedrückt, genau eine Sekunde bevor er das Bild fotobomben konnte. Ich liebte, wie unperfekt perfekt es war. Wie glücklich ich aussah und dass das Bild für einen der besten Sommer meines Lebens stand.

Vorsichtig stellte ich es zurück auf den Nachttisch und holte den Handfeger für die Scherben.

Es musste der Wind gewesen sein. In der Eile hatte ich das Fenster nicht geschlossen, eine Böe war durchs Schlafzimmer gefahren und hatte das Bild auf den Boden geweht. Es war die einzig logische Erklärung.

Ich kniete auf dem Boden, die Scherben in der Schaufel vor mir, und betrachtete Laylas und mein Foto. Die Gänsehaut auf meinen Armen rührte nicht länger von der Temperatur. Denn logische Erklärung hin oder her – ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte.

4

EVIE

Samstag, 28. September

Evie, 10.10 am:

Ich glaub, ich werd alt.

Christin, 10.12 am:

Wie kommst du darauf?

Evie, 10.13 am:

Wir haben Samstag in Tylers Geburtstag reingefeiert und sind erst um fünf nach Hause gekommen. Obwohl ich am Sonntag so lang gepennt hab, merk ich’s immer noch!

Christin, 10.15 am:

Das ist doch voll normal.

Evie, 10.18 am:

Normal? Hallo? Darf ich dich daran erinnern, wer regelmäßig den Karneval überlebt hat und sogar noch am letzten Tag Energie hatte? Ich hab Feiern quasi perfektioniert!

Christin, 10.20 am:

Die Amis haben dich eben verweichlicht. Liegt bestimmt am Wasser.

Evie, 10.22 am:

Warum soll das am Wasser liegen?

Christin, 10.25 am:

Die pumpen da doch literweise Chlor rein; ’ne Freundin von mir war gerade in Texas, und sie meinte, dass es schmeckt, als würde man aus einem Schwimmbad trinken. Das kann nicht gesund sein.

Evie, 10.28 am:

Okay, der Punkt stimmt. Aber wir kaufen unser Wasser im Supermarkt.

Christin, 10.30 am:

Na, dann ist die Sache wohl leider doch klar.

Evie, 10.32 am:

Ich werd alt.

Christin, 10.32 am:

Du wirst alt.
Tut mir leid.

Evie, 10.34 am:

Christin, 10.35 am:

Ich düs mal los. Muss noch ein Meeting protokollieren. Schreib mir später und berichte mir von deinem Treffen.

Evie, 10.36 am:

Mach ich. Viel Spaß mit dem Protokoll.

Christin, 10.37 am:

Quartalsberichte schreiben ist meine Lieblingsaufgabe. Nicht.

Evie, 10.38 am:

Aber die Arbeit macht dir schon noch Spaß, oder?

Christin, 10.38 am:

Joah, kann mir Schöneres vorstellen, aber es zahlt die Miete. See ya.

Evie, 10.40 am:

Bis dann.

Ich steckte das Handy in die Hosentasche und merkte ein unangenehmes Ziehen bei ihren letzten Worten. Christin hatte den klassischen Nine-to-five-Job in einer Baufirma, wo sie als Assistentin des Vorstands arbeitete – sechs Wochen Urlaub, ein Bombengehalt und Weihnachtsgeld. Eigentlich hatte sie immer den Eindruck erweckt, als wäre sie glücklich, doch vielleicht hatte es sich geändert. Beim nächsten Telefonat musste ich sie darauf ansprechen. Christin und ich konnten durch die Zeitverschiebung bei Weitem nicht mehr so oft quatschen wie früher. Ich wollte auf keinen Fall etwas Entscheidendes in ihrem Leben verpassen.

Aber jetzt musste ich mich erst mal auf das Meeting konzentrieren. Ich folgte dem Flur und betrat die heiligen Hallen von Greenwood & Steele, wo ich zurzeit als Fotografin arbeitete. Ehe ich nach Amerika gekommen war, war das Leben, welches Christin führte, auch für mich vorgesehen gewesen. Ich hätte als brave Bürokraft in der elterlichen Steuerfirma arbeiten sollen. Wenn es nach meiner Mutter ginge, sollte ich lieber heute als morgen meine Sachen packen und zurückkehren, um meinen Fehler – wie sie es nannte – wiedergutzumachen, aber ich hatte nicht vor, New York zu verlassen. Schon gar nicht, da ich gerade Fuß gefasst hatte.

»Hi, Evie«, rief mir Zoey, unsere Rezeptionistin, zu. Ich begrüßte auch Paul, der gerade einem Kollegen half, seinen Rechner einzurichten, und kam an Tylers Tisch vorbei. Als Assistent des Agenturinhabers Owen Greenwood hatte er seinen Arbeitsplatz vor dessen Büro. Tyler war eigentlich ein absoluter IT-Fachmann, aber er liebte seinen Job bei Owen, weshalb er sich nach wie vor nicht in der anderen Abteilung beworben hatte. Dafür hatte er sich nun zwei Bildschirme eingerichtet, seinen Computer mit etlichen Extras ausgestattet und sich Programme geschrieben, die ihm die Arbeit erleichterten.

Ich winkte ihm zu, weil er gerade telefonierte, und steuerte den Konferenzraum an, in dem gleich ein Meeting mit Owen, Shae sowie Lina und Jonas Eriksson stattfand. Die Zwillinge waren unsere neuesten Kunden, und ich freute mich bereits, sie kennenzulernen. Sie waren sechzehn Jahre jung und vor Kurzem mit ihren Eltern von Schweden nach New York gezogen. Hier wollten sie ihre erste eigene Kleiderkollektion vorstellen.

Ich hatte Shaes Briefing gestern Abend gelesen und mit jedem Satz mehr gestaunt. Mit dreizehn hatten sie für ihre Schule ein Konzept erarbeitet, wie man nachhaltig und langfristig auf Plastik in den Räumlichkeiten verzichten konnte. Das hatte derart große Kreise gezogen, dass sich sogar andere Schulen angeschlossen hatten. Mit vierzehn hatten sie eine Kleiderparty veranstaltet, bei der alle Schülerinnen und Schüler Klamotten, die sie nicht mehr anzogen, die aber noch gut erhalten waren, zum Tauschen mitbringen konnten. Mit fünfzehn hatten sie Bäume auf dem Schulgelände gepflanzt und nun mit sechzehn ihr eigenes Label gegründet.

Owens mittlerweile neunjährige Tochter Stefanie folgte Jonas und Lina auf YouTube und Twitch, wo sie regelmäßig live gingen und auch in den USA eine große Followerschaft hatten. Was kein Wunder war, ich hatte mir als Vorbereitung einige ihrer Livestreams angeschaut. Die beiden hatten Charisma, lachten viel und überzeugten durch ihre Begeisterung, ihre Jugend und innovativen Ideen. Stefanie hatte Owen wohl ziemlich bekniet, dass er die zwei in die Agentur einlud. Er vermutete, dass sie etwas verknallt in Jonas war, weil sie ständig davon sprach, dass sie ihn dann endlich kennenlernen konnte.

Ich erreichte den Konferenzraum, sammelte mich kurz und trat ein.

»Das stell ich mir total faszinierend vor«, sagte Shae gerade. »Es wird wirklich nie dunkel?«

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