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Poison Study

Als Buch hier erhältlich:

Entscheide dich zwischen einem schnellen Tod oder langsamem Gift ...
Yelena Zaltana wird des Mordes für schuldig befunden und muss mit der ultimativen Strafe rechnen: der Hinrichtung. Tief im Verlies des Schlosses wartet sie auf ihr Schicksal, bis ihr der Sicherheitschef und Mörder Valek eine Begnadigung anbietet. Gegen einen hohen Preis.

Als neue Vorkosterin des Kommandanten muss sie täglich den Tod durch die grausamsten Gifte riskieren. Da sie keine andere Wahl hat, wäre sie eine Närrin, würde sie ablehnen. Und trotz der ständigen Gefahr kommen sich Yelena und Valek immer näher, je mehr Zeit sie miteinander verbringen.

Doch die neu entdeckte Anziehungskraft zwischen den beiden wird gefährlich, denn Yelena verbirgt ein tödliches Geheimnis. Sie hat magische Kräfte entwickelt, die sie nicht kontrollieren kann. Und die Strafe für Magie ist der Tod ...


  • Erscheinungstag: 20.02.2024
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745704419

Leseprobe

Triggerwarnung

Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr am Romanende eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler enthalten kann.

Wir wünschen euch das bestmögliche Erlebnis beim Lesen der Geschichte.

Euer Team von reverie

1.
Kapitel

Es war schwarz wie in einem Grab. In dieser Dunkelheit, die mich umfangen hielt, gab es nichts, was mich von meinen quälenden Erinnerungen hätte ablenken können. Sobald ich meinen Gedanken freien Lauf ließ, überfielen mich die grässlichen Bilder wie wilde Tiere.

Aus der Finsternis tauchten gleißende Flammen auf und loderten vor meinem Gesicht. Im letzten Moment konnte ich ihnen ausweichen, obwohl ich mit den Händen an einen Pfosten gefesselt war, der sich mir schmerzhaft in den Rücken bohrte. Die Hitze ließ nach, ehe sie meine Haut verbrannte. Dennoch war das Feuer nahe genug gekommen, um meine Augenbrauen und Wimpern zu versengen.

»Lösch die Flammen«, hatte ein Mann mit barscher Stimme befohlen. Ich spitzte die aufgesprungenen Lippen und blies auf das Feuer. Hitze und Angst hatten meinen Mund ausgetrocknet, und meine Zähne fühlten sich so heiß an, als hätten sie in einem Backofen gelegen.

»Närrin«, fluchte er. »Nicht mit dem Mund. Benutze deinen Geist. Lösch die Flammen mithilfe deiner Vorstellungskraft.«

Mit geschlossenen Augen versuchte ich dem Inferno durch pure Willenskraft ein Ende zu setzen. Ich hätte alles Mögliche getan, gleichgültig, wie abwegig es sein mochte, nur damit der Mann endlich von mir abließ.

»Streng dich an.« Wieder wurde es ganz heiß an meinem Gesicht, und das gleißende Rot blendete mich, obwohl ich die Augen fest zukniff.

»Steck ihr das Haar in Brand«, befahl eine andere Stimme. Sie klang jünger und eifriger. »Das sollte sie gefügiger machen. Komm, Vater, lass es mich mal versuchen.«

Als ich die Stimme erkannte, begann ich am ganzen Körper zu zittern. Verzweifelt zerrte ich an meinen Fesseln, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Ein Summen drang plötzlich aus meiner Kehle, wurde immer lauter, bis es den ganzen Raum erfüllte und die Flammen erstickte.

Das metallische Quietschen eines Schlosses riss mich aus meinem Albtraum. Ein Streifen bleichen Lichts durchschnitt die Dunkelheit und tastete sich, breiter werdend, über die Steinwand, als die schwere Kerkertür aufschwang. Die Laterne blendete mich, und schmerzerfüllt kniff ich die Augen zusammen, während ich mich in eine Ecke kauerte.

»Beweg dich, Miststück, oder du wirst die Peitsche spüren.« Zwei Gefängnisaufseher befestigten eine Kette am Metallring, der eng um meinen Hals lag, und zerrten mich hoch. Ich verspürte einen stechenden Schmerz im Nacken, als ich vorwärts stolperte. Zitternd blieb ich stehen, während die Wächter mir mit flinken Bewegungen die Hände auf dem Rücken fesselten und meine Füße aneinanderketteten.

Ich vermied es, in das flackernde Licht der Laterne zu schauen, als sie mich durch den Hauptgang des Kerkers führten. Ein widerlicher Geruch schlug mir entgegen. Barfuß watete ich durch Pfützen von undefinierbarem Unrat.

Die Wächter achteten penibel darauf, wohin sie traten, und kümmerten sich nicht um die Schreie und das Stöhnen der anderen Gefangenen. Ihre Worte trafen mich wie Peitschenhiebe.

»Ho, ho, ho … Jemand wird bald hängen!«

»Knick. Knack. Und dann läuft dir deine letzte Mahlzeit an den Beinen herunter.«

»Eine Ratte weniger durchzufüttern.«

»Nimm mich! Nimm mich! Ich will auch sterben!«

Wir blieben stehen. Blinzelnd nahm ich eine Treppe wahr. Als ich die erste Stufe betreten wollte, stolperte ich über meine Ketten und stürzte. Sofort rissen die beiden mich hoch. Die scharfen Kanten der Stufen schnitten mir ins Fleisch, und an den rauen Steinwänden schürfte ich mir Arme und Beine auf. Die Männer schubsten mich durch zwei schwere eiserne Türen und stießen mich zu Boden. Sonnenlicht stach mir in die Augen. Ich kniff sie fest zusammen, während mir Tränen über die Wangen liefen. Zum ersten Mal seit langer Zeit sah ich wieder Tageslicht.

Jetzt ist es so weit, dachte ich, während Panik in mir hochstieg. Doch die Vorstellung, dass die Hinrichtung meiner elenden Existenz im Kerker ein Ende bereiten würde, tröstete mich ein wenig.

Wieder riss man mich hoch, und blindlings folgte ich den Wächtern. Mein Körper juckte von Insektenstichen und vom schmutzigen Stroh, auf dem ich schlief. Ich stank erbärmlich. Das bisschen Wasser, das man mir zuteilte, verschwendete ich nicht für Körperpflege.

Sobald sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, schaute ich mich um. Nichts als kahle Wände. Nirgendwo waren die berühmten goldenen Leuchter und die fein gewirkten Wandteppiche zu sehen, die, wie man mir erzählt hatte, die Hauptkorridore der Burg schmückten. Der kalte Steinfußboden glänzte zur Mitte hin vor Abnutzung. Offenbar liefen wir durch einen der Nebengänge, die nur von Dienern und Wächtern benutzt wurden. Als wir an zwei geöffneten Fenstern vorbeikamen, schaute ich voller Sehnsucht hinaus.

Das frische Grün des Rasens tat meinen Augen fast weh. Die Bäume waren dicht belaubt. Blumen säumten die Pfade und wucherten üppig in Kübeln. Die frische Brise duftete wie ein teures Parfüm, und ich atmete tief ein. Nach den stechenden Gerüchen von Exkrementen und Körperausdünstungen schmeckte die klare Luft wie köstlicher Wein. Eine warme Brise umschmeichelte meine Haut. Verglichen mit dem ewig feuchten und kühlen Verlies war es ein wohltuend besänftigendes Gefühl.

Es musste der Beginn der heißen Jahreszeit sein, und das bedeutete, dass ich fast ein ganzes Jahr in der Zelle eingeschlossen gewesen war. Eine sehr lange Zeit für jemanden, der auf seine Hinrichtung wartete.

Mit Fußfesseln zu laufen, war nicht leicht, und ich war ganz außer Atem, als man mich in ein geräumiges Zimmer führte. Landkarten von Ixia und den angrenzenden Ländern hingen an den Wänden. Bücherstapel auf dem Fußboden machten es fast unmöglich, den Raum zu durchqueren. Überall standen Kerzen, einige frisch angezündet, andere fast heruntergebrannt. Manche Dokumente waren den Flammen offenbar zu nahe gekommen, denn sie wiesen braune Flecken auf. Ein großer Holztisch, übersät mit Papieren und umrahmt von einem halben Dutzend Stühlen, beherrschte die Mitte des Raums. Am entferntesten Ende des Arbeitszimmers, vor einem weit geöffneten Fenster, saß ein Mann an einem Schreibtisch. Sein schulterlanges Haar wehte im Wind.

Unwillkürlich fuhr mir ein Schauer über den Rücken, und meine Ketten klirrten. Durch die geflüsterten Unterhaltungen von Kerkerzelle zu Kerkerzelle hatte ich mitbekommen, dass verurteilte Gefangene einem Beamten vorgeführt wurden, um sich noch einmal zu ihren Vergehen zu bekennen, ehe sie gehenkt wurden.

Der Mann trug die Uniform eines Beraters des Kommandanten: schwarze Hose und schwarzes Hemd, auf dessen Kragen zwei rote Diamanten gestickt waren. Das bleiche Gesicht des Mannes war ausdruckslos. Doch bei meinem Anblick riss er überrascht die saphirblauen Augen auf.

Jetzt erst wurde ich mir meines Aussehens bewusst. Ich schaute an meiner zerrissenen roten Gefängniskleidung hinunter, durch deren fadenscheinigen Stoff man meine ungewaschene Haut sehen konnte. Mein Blick fiel auf meine schmutzigen, schwieligen Füße. Mein langes schwarzes Haar war verfilzt, und ich schwitzte unter dem Gewicht der Ketten.

»Eine Frau? Der nächste Todeskandidat ist eine Frau?« Seine Stimme klang eisig. Bei dem Wort »Todeskandidat« begann ich zu zittern und verlor die Fassung. Ohne die Wächter an meiner Seite wäre ich schluchzend zu Boden gesunken. Doch sie quälten jeden, der nur das geringste Anzeichen von Schwäche zeigte, also riss ich mich zusammen.

Der Mann zupfte an seinen schwarzen Haarlocken. »Ich hätte mir Zeit nehmen sollen, deine Akte noch einmal zu lesen.« Mit einer Handbewegung bedeutete er den Wächtern, sich zu entfernen. »Ihr könnt gehen.«

Nachdem sie verschwunden waren, deutete er auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Die Ketten klirrten, als ich auf der Kante Platz nahm.

Er öffnete einen Ordner, der auf seinem Tisch lag, und überflog die Seiten. »Yelena, heute könnte dein Glückstag sein«, sagte er.

Ich schluckte eine sarkastische Antwort hinunter. Eine wichtige Lektion hatte ich während meiner Gefangenschaft im Kerker gelernt: Man sollte nie Widerworte geben. Stattdessen senkte ich den Kopf und vermied es, meinem Gegenüber in die Augen zu sehen.

Der Mann schwieg eine Weile. »Gut erzogen und respektvoll. Du siehst mir ganz nach einer geeigneten Kandidatin aus.«

Trotz des Durcheinanders im Raum herrschte Ordnung auf seinem Schreibtisch. Neben meiner Akte und einigen Schreibwerkzeugen standen nur noch zwei kleine schwarze, mit glänzenden Silberstreifen durchzogene Figuren auf der Schreibtischplatte – zwei naturgetreu geschnitzte Panther.

»Man hat dir den Prozess gemacht und dich für schuldig befunden, General Brazells einzigen Sohn Reyad ermordet zu haben.« Er schwieg und rieb sich mit dem Finger über die Schläfe. »Deshalb also hält sich Brazell in dieser Woche hier auf und ist so interessiert an den Hinrichtungen, die in den nächsten Tagen vorgesehen sind.« Der Mann redete mehr zu sich selbst als mit mir.

Beim Klang von Brazells Namen legte sich die Angst wie ein Panzer um meine Brust. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich schon bald unerreichbar für ihn sein würde.

Die Militärregierung hatte erst vor einer Generation die Herrschaft in Ixia übernommen, und die Justiz hatte strenge Regeln erlassen, die im Neuen Gesetzbuch niedergelegt waren. In Friedenszeiten – die, seltsam genug für eine Militärregierung, die meiste Zeit über herrschten – war es nicht erlaubt, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Auf Mord stand Hinrichtung. Selbstverteidigung oder Totschlag wurden als Entschuldigung nicht anerkannt. Wenn jemand als schuldig verurteilt war, wurde der Mörder in die Verliese des Kommandanten gesteckt und musste dort auf seine öffentliche Hinrichtung – Tod durch den Strang – warten.

»Ich nehme an, du wirst das Urteil anfechten und behaupten, das Opfer einer Intrige geworden zu sein oder dass es Selbstverteidigung war.« Gelangweilt lehnte er sich in seinen Stuhl zurück.

»Nein, Sir«, flüsterte ich. Mehr gaben meine ungeübten Stimmbänder nicht her. »Ich habe ihn ermordet.«

Der schwarz gekleidete Mann richtete sich auf und musterte mich mit einem durchdringenden Blick. Dann lachte er laut auf. »Das klappt ja besser, als ich dachte! Yelena, ich lasse dir die Wahl. Du kannst entscheiden, ob du hingerichtet oder die neue Vorkosterin von Kommandant Ambrose werden möchtest. Sein letzter Vorkoster ist kürzlich gestorben, und wir müssen die Position neu besetzen.«

Entgeistert starrte ich ihn an, während mir das Herz bis zum Hals schlug. Das musste ein Witz sein. Bestimmt machte er sich nur lustig über mich. Erst weideten sie sich an der Freude und der Hoffnung im Gesicht eines Gefangenen, und dann machten sie all seine Erwartungen zunichte, indem sie ihn dem Henker übergaben.

Trotzdem ging ich wohl oder übel auf das Spiel ein. »Nur ein Narr würde ein solches Angebot ausschlagen.« Meine Stimme war zwar immer noch heiser, aber wenigstens ein wenig fester geworden.

»Nun, es ist eine Stellung auf Lebenszeit. Schon die Ausbildung kann tödlich sein. Denn woher willst du wissen, ob Gift in den Speisen des Kommandanten ist, wenn du nicht einmal weißt, wie es schmeckt?« Er legte die Dokumente in den Aktenordner zurück. »Du bekommst ein Schlafzimmer innerhalb der Burg, aber die meiste Zeit des Tages verbringst du ohnehin an der Seite des Kommandanten. Freie Tage gibt es nicht. Auch keinen Ehemann und keine Kinder. Einige Gefangene haben sich allerdings für die Hinrichtung entschieden. Auf diese Weise kannten sie wenigstens den genauen Zeitpunkt ihres Todes und mussten nicht befürchten, ihm beim nächsten Bissen zu begegnen.« Er schnalzte mit der Zunge und lächelte boshaft.

Offenbar meinte er es tatsächlich ernst. Ich bebte am ganzen Körper. Das war meine Chance zu überleben. Dem Kommandanten zu dienen, war allemal besser als der Kerker – und tausendmal besser als der Strick. Dutzende von Fragen schossen mir durch den Kopf: Ich bin eine verurteilte Mörderin. Wie können sie mir vertrauen? Was sollte mich davon abhalten, den Kommandanten zu töten oder zu fliehen?

Stattdessen erkundigte ich mich vorsichtig: »Wer ist denn im Moment der Vorkoster?« Ich befürchtete nämlich, dass er seine Meinung ändern und mich zum Galgen schicken würde, hätte ich die Fragen gestellt, die mir wirklich auf dem Herzen lagen.

»Ich. Deshalb bin ich sehr daran interessiert, einen Nachfolger zu finden. Außerdem schreibt das Neue Gesetzbuch vor, dass jemandem, der sein Leben verwirkt hat, die Position angeboten werden muss.«

Ich konnte nicht länger ruhig auf meinem Stuhl sitzen. Meine Ketten klirrten, als ich aufsprang und begann, im Raum hin und her zu gehen. Auf den Karten an den Wänden waren strategisch wichtige Militärstützpunkte verzeichnet. Die Bücher handelten von Sicherheits- und Spionagetechniken. Die vielen Kerzen, von denen manche schon heruntergebrannt waren, deuteten darauf hin, dass hier bis spät in die Nacht gearbeitet wurde.

Ich betrachtete den Mann genauer, und mir wurde klar, er musste Valek sein, der persönliche Sicherheitsberater des Kommandanten und Chef des weitverzweigten Geheimdienstnetzes von Ixia.

»Was also soll ich dem Henker nun sagen?«, wollte Valek wissen.

»Dass ich keine Närrin bin.«

2.
Kapitel

Valek schloss den Aktenordner. Elegant und geschmeidig wie ein Schneeleopard auf dünnem Eis schritt er zur Tür. Die Wächter, die im Korridor warteten, nahmen bei seinem Anblick Haltung an. Valek sagte etwas zu ihnen, und sie nickten. Einer der Wächter trat auf mich zu. Entsetzt sah ich ihn an. In den Kerker zurückzukehren, war nicht Teil von Valeks Angebot gewesen. Blieb mir eine Fluchtmöglichkeit? Gehetzt schaute ich mich im Zimmer um. Der Wächter drehte mich um und befreite mich von den Fesseln und Ketten, die ich seit meiner Festnahme trug.

An meinen blutunterlaufenen Handgelenken war das rohe Fleisch zu sehen. Ich berührte meinen Nacken und spürte Haut, wo zuvor Eisen gewesen war. An meinen Fingern klebte Blut. Ich griff taumelnd nach dem Stuhl. Befreit von den Ketten, verspürte ich auf einmal ein ganz merkwürdiges Gefühl – so, als würde ich jeden Moment davonschweben oder in Ohnmacht fallen. Ich atmete tief ein, bis der Schwächeanfall nachließ.

Nachdem ich meine Fassung wiedergefunden hatte, sah ich Valek neben seinem Schreibtisch stehen und zwei Becher füllen. Die geöffneten Türen eines Holzschranks gaben den Blick auf merkwürdig geformte Flaschen und Becher in allen möglichen Farben frei. Valek stellte die Flasche zurück und verschloss den Schrank.

»Ich glaube, du kannst jetzt etwas zu trinken gebrauchen, während wir auf Margg warten.« Er reichte mir einen hohen Zinnkrug mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit darin. »Auf Yelena, unsere neue Vorkosterin! Mögest du länger leben als dein Vorgänger.«

Den Becher nahe an meinen Lippen, erstarrte ich.

»Sei unbesorgt«, beruhigte er mich. »Das ist bloß der übliche Trinkspruch.«

Ich nahm einen tiefen Schluck. Die süße Flüssigkeit brannte ein wenig in meiner Kehle. Einen Moment lang glaubte ich, dass mein Magen rebellieren würde. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass ich etwas anderes als Wasser trank. Doch dann beruhigten sich meine aufgewühlten Nerven.

Ehe ich ihn fragen konnte, was mit dem ehemaligen Vorkoster geschehen war, verlangte Valek von mir, den Geschmack des Getränks zu beschreiben. Nachdem ich noch einen kleinen Schluck genommen hatte, sagte ich: »Pfirsich, gesüßt mit Honig.«

»Gut. Jetzt nimm noch einen Schluck. Lass das Getränk über deine Zunge rollen, ehe du es hinunterschluckst.«

Ich befolgte seinen Rat und war überrascht, einen Hauch von Zitrusfrüchten zu schmecken. »Orange?«

»Richtig. Und jetzt gurgle damit.«

»Gurgeln?«, fragte ich ungläubig. Er nickte. Ich kam mir ziemlich töricht vor, als ich mit dem Rest des Getränks gurgelte. Fast hätte ich es ausgespien. »Verfaulte Orangen.«

Kleine Fältchen bildeten sich um Valeks Augen, als er lachte. Er hatte ein ausgeprägt eckiges Gesicht, wie aus einem Stück Eisen gestanzt, aber es wurde sanft, wenn er lächelte. Er reichte mir sein Getränk und bat mich, die Prozedur zu wiederholen.

Ein wenig beklommen nahm ich einen Schluck. Erneut schmeckte ich das schwache Aroma von Orangen. Ich wappnete mich für den ekelhaften Geschmack, als ich mit Valeks Getränk gurgelte, und war erleichtert, dass das Gurgeln nur die Orangenessenz verstärkte.

»Besser?«, fragte Valek und nahm mir den leeren Becher ab.

»Ja.«

Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und öffnete noch einmal meinen Aktenordner. Während er den Federkiel zur Hand nahm, redete er mit mir. »Das war gerade deine erste Lektion im Vorkosten. Dein Getränk war – im Gegensatz zu meinem – mit einem Gift versetzt, das Schmetterlingsstaub heißt. Die einzige Möglichkeit, es zu entdecken, besteht darin, damit zu gurgeln. Die verfaulten Orangen, die du herausgeschmeckt hast, waren das Gift.«

Mir schwirrte der Kopf, als ich aufstand. »Ist es tödlich?«

»Eine entsprechend große Dosis wird dich innerhalb von zwei Tagen umbringen. Die Symptome zeigen sich erst am zweiten Tag, aber dann ist es bereits zu spät.«

Mir stockte der Atem. »Hatte ich denn tatsächlich eine tödliche Dosis?«

»Selbstverständlich. Wäre sie geringer gewesen, hättest du das Gift nicht herausgeschmeckt.«

Mein Magen rebellierte, und ich musste würgen. Doch ich schluckte die Galle, die mir in die Kehle gestiegen war, hinunter, denn ich wollte mir nicht die Blöße geben, mich auf Valeks Schreibtisch zu übergeben.

Valek schaute von seinen Papieren auf und betrachtete mich aufmerksam. »Ich habe dich gewarnt. Die Lektionen sind gefährlich. Aber ich hätte dir niemals ein Gift gegeben, mit dem dein Körper wegen deiner Unterernährung nicht fertiggeworden wäre. Es gibt ein Gegenmittel für Schmetterlingsstaub.« Er zeigte mir ein kleines Fläschchen mit einer weißen Flüssigkeit.

Mit einem Seufzer sank ich auf meinen Stuhl zurück. Valeks Gesichtsausdruck war wieder undurchdringlich geworden. Jetzt erst wurde mir bewusst, dass er mir das Gegenmittel nicht angeboten hatte.

»Um deine Frage zu beantworten, die du nicht gestellt hast, aber hättest stellen sollen …« Valek hob das Fläschchen hoch und schüttelte es. »Auf diese Weise verhindern wir, dass die Vorkoster des Kommandanten fliehen.«

Ich starrte ihn an und versuchte den Sinn seiner Worte zu begreifen.

»Yelena, du hast einen Mord gestanden. Wir müssten verrückt sein, wenn wir dich ohne gewisse Sicherheiten in die Dienste des Kommandanten nähmen. Er wird rund um die Uhr bewacht, sodass es ziemlich unwahrscheinlich ist, dass du eine Waffe gegen ihn richten könntest. Und um anderen Arten der Vergeltung vorzubeugen, benutzen wir Schmetterlingsstaub.«

Valek nahm das Fläschchen mit dem Gegengift und hielt es gegen das Sonnenlicht. »Davon brauchst du täglich eine Dosis, um zu überleben. Das Gegenmittel verhindert, dass das Gift dich tötet. So lange du jeden Morgen in mein Arbeitszimmer kommst, werde ich dir das Gegengift geben. Verpasst du einen Tag, wirst du am übernächsten tot sein. Wenn du ein Verbrechen oder einen Verrat begehst, wirst du in den Kerker zurückgeschickt, und das Gift wird dich umbringen. An deiner Stelle würde ich versuchen, einem solchen Schicksal zu entgehen. Das Gift verursacht heftige Magenschmerzen und unkontrolliertes Erbrechen.«

Noch ehe ich mir der Bedeutung seiner Worte vollkommen bewusst wurde, wanderte sein Blick über meine Schultern. Als ich mich umdrehte, bemerkte ich eine kräftige Frau in der Kleidung einer Haushälterin, die soeben zur Tür hereintrat. Valek stellte sie als Margg vor – die Frau, die sich um meine täglichen Bedürfnisse kümmern würde. Offenbar erwartete sie von mir, dass ich ihr folgte, denn sie verschwand, ohne ein Wort zu sagen.

Ich betrachtete das Fläschchen auf Valeks Schreibtisch.

»Komm morgen in mein Büro. Margg wird dir den Weg zeigen.«

Damit war ich entlassen. An der Tür blieb ich noch einmal stehen. Tausend Fragen lagen mir auf der Zunge. Doch ich schluckte sie hinunter, und sie lagen mir wie Steine im Magen. Ich schloss die Tür und eilte hinter Margg her, die nicht auf mich gewartet hatte.

Sie legte ein rasches Tempo vor, und keuchend versuchte ich mit ihr Schritt zu halten. Eigentlich wollte ich mir den Weg und die Windungen durch die verschiedenen Korridore einprägen, doch Marggs imposante Rückenansicht und ihr zügiges Tempo forderten meine ganze Konzentration. Ihr langer schwarzer Rock schien über dem Boden zu schweben. Die Uniform der Haushälterin bestand aus einer schwarzen Bluse und einer weißen Schürze, die vom Hals bis zu den Knöcheln reichte und fest um die Taille geschnürt war. Auf die Schürze waren zwei senkrechte Reihen von kleinen roten Edelsteinen gestickt, die am unteren Rand zusammenliefen. Als Margg schließlich bei den Baderäumen stehen blieb, musste ich mich auf den Boden setzen, um das Schwindelgefühl in meinem Kopf zu bekämpfen.

»Du stinkst«, stellte sie mit einem Ausdruck des Ekels fest. Mit einer herrischen Geste, die darauf schließen ließ, dass sie keinen Widerspruch duldete, deutete sie zum anderen Ende des Raumes. »Wasch dich zweimal und leg dich dann in die Wanne. Ich hole deine Uniform.« Damit verließ sie das Zimmer.

Mit einem Mal überwältigte mich das Verlangen nach einem heißen Bad. Mit neuer Energie entledigte ich mich der Gefängniskleidung und betrat den Waschbereich. Ich drehte den Hahn auf und genoss den heißen Strahl, der wie ein Wasserfall auf mich herabstürzte. Die Burg des Kommandanten verfügte über Heißwassertanks, die direkt oberhalb des Badebereichs eingebaut waren. Nicht einmal Brazells verschwenderisch eingerichtetes Haus bot diesen Luxus.

Lange blieb ich so stehen und hoffte, das Wasser, das über mein Gesicht strömte, möge jeden Gedanken an das Gift wegspülen. Gehorsam wusch ich zwei Mal mein Haar und meinen Körper. Die Seife brannte an meinem Hals, den Handgelenken und Fußknöcheln, aber ich achtete nicht darauf. Immer wieder rieb ich über die hartnäckigen Schmutzstellen auf meiner Haut. Erst als ich feststellte, dass es Prellungen oder Blutergüsse waren, hörte ich damit auf.

Ich hatte das Gefühl, dass der Körper unter der Kaskade nicht zu mir gehörte. Er hatte den Schmerz und die Demütigung der Kerkerhaft erfahren. Die Seele allerdings war ihm bereits zuvor schon in den zwei langen Jahren, die ich auf Brazells Anwesen verbracht hatte, ausgetrieben worden.

Unvermittelt tauchte das Bild von Brazells Sohn vor meinem inneren Auge auf. Reyads attraktives Gesicht war wutverzerrt. Ich trat einen Schritt zurück, und unwillkürlich hob ich die Hände, um ihn abzuwehren. Als die Vision verblasste, zitterte ich am ganzen Körper.

Es kostete mich viel Kraft, mich abzutrocknen und mir ein Handtuch umzubinden. Während ich einen Kamm suchte, bemühte ich mich, die hässlichen Erinnerungen zu verdrängen, die Reyads Gesicht in mir geweckt hatte.

Selbst nach der Wäsche widersetzten sich meine Haare dem Kamm. Auf der Suche nach einer Schere entdeckte ich aus den Augenwinkeln eine andere Person im Baderaum. Ich betrachtete den Körper. Jemand erwiderte meinen starren Blick. Die grünen Augen waren das einzige Zeichen von Leben in dem hageren ovalen Gesicht.

Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitz und erfüllte mich mit eisiger Angst. Das war mein Körper. Ich wandte den Blick vom Spiegel ab, denn ich wollte diese elende Gestalt nicht länger betrachten. Feigling, dachte ich, und schaute bewusst wieder hin. War meine Seele durch Reyads Tod von dem Ort, an den sie geflohen war, zurückgekehrt? In meiner Vorstellung versuchte ich meinen Geist und meinen Körper zu vereinen. Warum glaubte ich, dass meine Seele zurückkehren würde, wenn mein Körper immer noch nicht mir gehörte? Er gehörte Kommandant Ambrose, und er benutzte ihn als Werkzeug, um Gifte aufzuspüren. Schaudernd wandte ich mich ab.

Ich kämmte die verfilzten Knoten aus meinem Haar und flocht den Rest zu einem langen Zopf, der mir über den Rücken hing.

Vor Kurzem war meine ganze Hoffnung ein sauberes Gefängniskleid vor der Hinrichtung gewesen, und jetzt tauchte ich in die berühmten heißen Bäder des Kommandanten ein.

»Das reicht!«, bellte Margg und riss mich aus einem leichten Schlummer. »Hier ist deine Uniform. Zieh dich an.« Ihr hartes Gesicht drückte Missbilligung aus, und ich konnte ihre Abneigung gegen mich förmlich spüren.

Zur Uniform des Vorkosters gehörte Unterwäsche, eine schwarze Hose, ein breiter roter Satingürtel und eine rote Satinbluse mit einer Reihe von kleinen schwarzen, diamantähnlichen Steinen, die an die Ärmel gestickt waren. Die Kleidung war offensichtlich für einen Mann gemacht. Unterernährt und nur knapp einen Meter sechzig groß, sah ich aus wie ein Kind, das in die Sachen seines Vaters geschlüpft war. Dreimal schlang ich den Gürtel um meine Taille und rollte Ärmel und Hosenbeine hoch.

Margg schnaubte verächtlich. »Valek hat mir zwar nur befohlen, dir etwas zu essen zu geben und dein Zimmer zu zeigen. Aber es ist wohl besser, wenn wir auch bei der Näherin vorbeischauen.« An der offenen Tür hielt Margg inne, kräuselte die Lippen und setzte hinzu: »Stiefel brauchst du auch.«

Gehorsam wie ein heimatloses Hündchen folgte ich ihr.

Dilana, die Näherin, brach in fröhliches Gelächter aus, als sie meinen Aufzug sah. Blonde Locken umrahmten ihr herzförmiges Gesicht, dessen Schönheit durch die honigfarbenen Augen und langen Wimpern noch unterstrichen wurde.

»Die Stalljungen tragen die gleichen Hosen und die Küchenmädchen die gleichen roten Blusen«, erklärte Dilana, nachdem ihr Lachanfall verebbt war. Sie rügte Margg, weil sie sich nicht die Zeit genommen hatte, besser sitzende Kleidungsstücke für mich zu finden. Margg presste die Lippen noch fester zusammen.

Dilanas Aufmerksamkeit wärmte mein Herz und machte sie mir sehr sympathisch. Ich konnte mir diese Frau, die sich mehr wie eine Großmutter als wie ein junges Mädchen mit mir beschäftigte, sehr gut als Freundin vorstellen. Vermutlich hatte sie viele Bekannte und Verehrer, die sich zu ihr hingezogen fühlten wie Höhlenbewohner zu einer wärmenden Feuerstelle. Wie gerne hätte ich Dilana berührt.

Nachdem sie meine Maße aufgeschrieben hatte, wühlte sie in Stapeln von roten, schwarzen und weißen Kleidungsstücken, die im ganzen Raum verstreut lagen.

Jeder, der in Ixia arbeitete, hatte eine Uniform. Die Diener in der Burg und die Wächter trugen eine Kombination aus schwarzen, weißen und roten Kleidungsstücken mit diamantförmigen Applikationen entweder an den Hemdsärmeln oder an den Seiten der Hosenbeine. Berater und hochrangige Beamte waren in der Regel schwarz gekleidet. Kleine rote Diamanten an den Kragen wiesen auf ihre Stellung hin. Der Kommandant hatte die Uniformen eingeführt, nachdem er an die Macht gekommen war, damit jeder auf den ersten Blick sah, mit wem er es zu tun hatte.

Schwarz und Rot waren die Farben von Kommandant Ambrose. Das Territorium von Ixia war in acht militärische Distrikte aufgeteilt, denen jeweils ein General vorstand. Die Uniformen der acht Bezirke entsprachen – abgesehen von der Farbe – jener des Kommandanten. Eine schwarz gekleidete Haushälterin mit kleinen roten Diamantapplikationen auf der Schürze arbeitete folglich im Militärdistrikt 3 oder MD-3.

»Ich glaube, die hier passen besser.« Dilana reichte mir einige Kleidungsstücke und deutete auf den Wandschirm am anderen Ende des Raumes.

Während ich mich umzog, hörte ich sie sagen: »Sie braucht auch Stiefel.« In der neuen Uniform kam ich mir sogleich weniger lächerlich vor. Ich sammelte die alten Kleidungsstücke auf und gab sie ihr zurück.

»Die müssen Oscove gehört haben, dem ehemaligen Vorkoster«, sagte Dilana. Einen Moment lang wurde ihre Miene traurig. Dann schüttelte sie den Kopf, als wollte sie einen unwillkommenen Gedanken vertreiben.

Alle Fantasien über eine mögliche Freundschaft verschwanden im Handumdrehen, als mir klar wurde, dass die Position der Vorkosterin mit einem großen emotionalen Risiko verbunden war. Mein Magen krampfte sich zusammen, und die Wärme von Dilanas Herzlichkeit wurde verdrängt von einem Gefühl kalter Verbitterung.

Unvermittelt musste ich an May und Carra denken, die immer noch in Brazells Haus lebten, und endlose Einsamkeit überkam mich. Unwillkürlich zuckten meine Finger, als wollten sie wie damals Carras wirre Zöpfe richten und Mays Rock glatt streichen.

Doch statt Carras seidenweiches blondes Haar hielt ich ein Bündel Kleider in der Hand. Dilana führte mich zu einem Stuhl, kniete sich auf den Boden und zog mir Socken und weiche schwarze Lederstiefel an, deren umgestülpter Schaft bis zur Mitte meiner Waden reichte. Dann stopfte sie die Hosenbeine in die Stiefel und half mir beim Aufstehen.

Da ich schon seit Monaten keine Schuhe mehr getragen hatte, befürchtete ich, dass sie meine Haut aufscheuern würden. Aber die Stiefel fühlten sich an meinen Füßen wie Kissen an und passten wie angegossen. Ich warf Dilana ein Lächeln zu und vergaß May und Carra fürs Erste. Es waren wirklich die wunderbarsten Stiefel, die ich jemals getragen hatte.

Sie erwiderte mein Lächeln und sagte: »Auch ohne nachzumessen, finde ich immer die richtige Größe.«

Margg räusperte sich vernehmlich. »Bei den Stiefeln vom armen Rand hast du dich aber vertan. Doch weil er sich in dich vergafft hat, humpelt er lieber in der Küche herum, als etwas zu sagen.«

»Achte nicht auf sie«, sagte Dilana zu mir. »Margg, hast du nichts zu tun? Verschwinde, oder ich schleiche mich in dein Zimmer und kürze dir alle deine Röcke.« Ausgelassen scheuchte Dilana uns aus dem Raum.

Margg führte mich zum Speisesaal der Diener und tischte mir eine kleine Portion Suppe und Brot auf. Die Suppe schmeckte vorzüglich. Nachdem ich das Essen hinuntergeschlungen hatte, bat ich um mehr.

»Nein. Wenn du zu viel isst, wird dir schlecht«, sagte sie nur. Zögernd ließ ich meine Schüssel auf dem Tisch zurück und folgte Margg, die mich in eine kleine Kammer führte.

»Sei bei Sonnenaufgang bereit zur Arbeit.«

Damit drehte sie mir den Rücken zu und verschwand.

Im Raum stand ein schmales Bett mit einer fleckenübersäten Matratze auf einem schlichten Metallrahmen, ein einfacher hölzerner Schreibtisch mit einem Stuhl, ein Nachttopf, ein Schrank, ein Leuchter, ein winziger Ofen und ein Fenster, dessen Läden fest geschlossen waren. Die grauen Wände waren schmucklos. Die Matratze gab kaum nach, als ich sie ausprobierte. Im Vergleich zu meinem Verlies war es zwar eine beträchtliche Verbesserung; dennoch stimmte mich meine neue Umgebung nicht sonderlich zufrieden.

Nichts in diesem Zimmer strahlte Behaglichkeit aus. Valeks unbewegliche Miene und Marggs missbilligender Gesichtsausdruck kamen mir in den Sinn, und ich sehnte mich nach einem Kissen oder einer Decke. Ich fühlte mich wie ein verlassenes Kind, das sich an etwas klammern wollte, etwas Weiches, was mich nicht verletzen würde.

Nachdem ich meine Uniform in den Schrank gehängt hatte, trat ich ans Fenster. Das Fensterbrett war breit genug, um darauf sitzen zu können. Die Läden waren geschlossen, aber die Riegel saßen auf der Innenseite. Mit zitternden Händen löste ich sie, stieß das Fenster weit auf und blinzelte in die plötzliche Helligkeit. Ich legte die Hand an die Stirn, kniff die Augen zusammen und betrachtete ungläubig das Bild vor meinem Fenster. Ich befand mich im Erdgeschoss des Schlosses, nur einen Meter fünfzig über dem Erdboden.

Zwischen meinem Zimmer und den Ställen befanden sich die Hundezwinger und der Trainingsparcours für die Pferde. Den Stalljungen und Hundetrainern wäre es egal, wenn ich fliehen würde. Ich hätte problemlos hinunterspringen und weglaufen können. Ein verlockender Gedanke – abgesehen von der Tatsache, dass ich dank des Gifts von Valek in zwei Tagen tot wäre. Vielleicht ein anderes Mal, wenn zwei Tage in Freiheit den Preis wert wären.

Darauf konnte ich nur hoffen.

3.
Kapitel

Reyads Peitsche schnitt mir in die Haut und hinterließ einen brennenden Schmerz in meinem Fleisch. »Beweg dich«, befahl er. Ich versuchte den Schlägen auszuweichen, aber das Seil um meine Handgelenke, mit dem ich an einen Pfosten in der Mitte des Raumes gefesselt war, hinderte mich daran.

»Beweg dich. Mach schneller!«, schrie Reyad.

Wieder und wieder traf mich die Peitsche. Mein dünnes Hemd bot keinen Schutz vor dem harten Leder. Plötzlich meldete sich in meinem Kopf eine leise, tröstliche Stimme. »Geh fort«, flüsterte sie. »Lass deinen Geist zu einem fernen Ort reisen, wo es nichts Böses gibt. Trenne deine Seele von deinem Körper.«

Die angenehme Stimme gehörte weder Reyad noch Brazell. Vielleicht einem Erlöser? Es war ein einfacher Weg, den Qualen zu entkommen, und ausgesprochen verlockend – aber ich wartete lieber auf eine andere, eine bessere Gelegenheit. Deshalb ignorierte ich die Aufforderung und konzentrierte mich darauf, der Peitsche auszuweichen. Als die Erschöpfung übermächtig wurde, begann mein Körper wie Espenlaub zu zittern. Wie ein Kolibri, der die Orientierung verloren hatte, irrte ich durch den Raum, um den Peitschenhieben zu entkommen.

Schweißgebadet fuhr ich in der Dunkelheit auf. Die verknautschte Unterwäsche klebte an meinem Körper. Aus dem Peitschenknallen in meinem Traum war lautes Klopfen geworden. Ehe ich zu Bett gegangen war, hatte ich einen Stuhl unter die Türklinke geklemmt, damit niemand hereinkommen konnte. Jetzt erbebte der Stuhl bei jedem Schlag.

»Ich komme!«, rief ich. Sofort hörte das Hämmern auf. Vor der Tür stand Margg mit einer Laterne in der Hand und musterte mich griesgrämig. Schnell schlüpfte ich in meine Uniform und folgte ihr auf den Korridor. »Hast du nicht Sonnenaufgang gesagt?«

Ihr missbilligender Blick ließ mich verstummen. »Es ist Sonnenaufgang.«

Im Morgengrauen folgte ich Margg durch das Labyrinth der verborgenen Gänge. Mein Zimmer ging nach Westen, sodass ich die aufgehende Sonne nicht mitbekam. Margg löschte die Laterne aus, als mir der Duft von frischem Kuchen in die Nase stieg.

Ich atmete tief ein und fragte: »Frühstück?« Verärgert stellte ich fest, dass meine Stimme hoffnungsvoll, fast flehentlich klang.

»Nein. Dein Essen bekommst du von Valek.«

Die Vorstellung eines vergifteten Frühstücks ließ mich meinen Hunger auf der Stelle vergessen. Unwillkürlich krampfte sich mein Magen zusammen, als ich mich an Valeks Schmetterlingsstaub erinnerte. Noch ehe wir sein Arbeitszimmer erreichten, hatte ich das Gefühl, dass mich das Gift jeden Moment dahinraffen würde, falls ich nicht umgehend das Gegenmittel bekäme.

Valek stellte gerade dampfende Schüsseln und Teller auf seinen Schreibtisch. Dafür hatte er eigens einen Teil der Tischplatte freigeräumt und die Papiere achtlos zusammengelegt. Er deutete auf einen Stuhl. Während ich mich hinsetzte, suchte ich auf dem Schreibtisch vergeblich das Fläschchen mit dem Gegengift.

»Hoffentlich hast du …« Valek musterte mich eindringlich. Ich bemühte mich, seinem Blick standzuhalten.

»Erstaunlich, was ein Bad und eine Uniform bewirken können«, sagte er. Geistesabwesend kaute er ein Stück Frühstücksspeck. »Das sollte ich mir für die Zukunft merken. Wer weiß, wofür es gut ist.« Er stellte zwei Teller mit Eiern und Schinken vor mich hin und sagte: »Fangen wir an.«

Mir war schwindlig und heiß. »Ich möchte lieber zuerst das Gegenmittel«, brach es aus mir hervor. Als Valek lange schwieg, begann ich nervös auf meinem Stuhl hin und her zu rutschen.

»Eigentlich kannst du noch gar keine Symptome spüren. Die treten erst später am Nachmittag auf.« Achselzuckend ging er zu seinem Schrank. Mit einer Pipette nahm er etwas von der weißen Flüssigkeit aus einer großen Flasche und verschloss den Schrank sofort wieder. Mein Interesse am Schlüssel musste offensichtlich gewesen sein, denn Valek ließ ihn mit einer geschickten Handbewegung verschwinden. Er gab mir die Pipette und setzte sich auf die andere Seite des Tisches.

»Trink aus, damit wir mit der heutigen Lektion beginnen können«, befahl er.

Begierig sog ich den Inhalt ein, der so bitter schmeckte, dass ich den Mund verzog. Valek nahm mir die Pipette ab und drückte mir stattdessen ein blaues Gefäß in die Hand. »Riech daran.«

Das Gefäß enthielt ein weißes Pulver, das wie Zucker aussah, aber wie Rosenholz duftete. Valek deutete auf die beiden dampfenden Teller vor mir auf dem Tisch und forderte mich auf herauszufinden, auf welchem das vergiftete Essen lag. Ich schnüffelte an den Speisen wie ein Spürhund auf der Suche nach Beute. Der linke Teller verströmte ein schwaches Aroma von Rosenholz.

»Gut. Solltest du diesen Geruch bei einem Gericht entdecken, das für den Kommandanten bestimmt ist, lass es zurückgehen. Das Gift heißt Tigtus, und ein einziges Körnchen tötet innerhalb weniger Stunden.« Valek stellte die vergiftete Speise zur Seite und deutete auf den anderen Teller. »Jetzt iss dein Frühstück. Du musst zu Kräften kommen.«

Den Rest des Tages verbrachte ich damit, Gifte zu erschnuppern, bis mir schwindlig wurde und mein Kopf schmerzte. Die Vielzahl der Namen und Gerüche verwirrte mich. Deshalb bat ich Valek um Papier, Federhalter und Tinte. Er sah mich verblüfft an.

»Wie schaffst du es bloß, mich immer wieder zu überraschen? Ich müsste doch wissen, dass General Brazell seinen Zöglingen die bestmögliche Erziehung zukommen lässt.« Valek gab mir ein Heft, einen Federhalter und Tinte. »Nimm das mit auf dein Zimmer. Für heute haben wir genug getan.«

Insgeheim verfluchte ich mich dafür, Valek daran erinnert zu haben, warum ich die Nächste auf der Hinrichtungsliste war, während ich das Heft und die Schreibutensilien ergriff. Seine schroffe, unnahbare Miene verriet all seine Gedanken. Brazell hatte mich von der Straße geholt, mir zu essen gegeben und mich auf eine Schule geschickt, und ich hatte es ihm gedankt, indem ich sein einziges Kind getötet hatte. Ich wusste, dass Valek mir niemals glauben würde, wenn ich ihm die Wahrheit über Brazell und Reyad erzählte.

Mit seinem Waisenhaus war General Brazell zum Gespött der anderen Generäle geworden. Sie glaubten, er sei nach der Übernahme von Ixia vor fünfzehn Jahren ein wenig wunderlich geworden. Ein Ruf, der Brazell durchaus gefiel. Als vermeintlicher Wohltäter konnte er nämlich in seinem Militärdistrikt 5 schalten und walten, wie er wollte, ohne dass ihm jemand dreinredete.

Ehe ich Valeks Arbeitszimmer verließ, zögerte ich. Zum ersten Mal bemerkte ich die drei schweren Schlösser der massiven Holztür. Gedankenverloren betastete ich sie eine Weile, bis Valek mich ungeduldig fragte: »Was gibt’s denn noch?«

»Ich weiß nicht, wo mein Zimmer ist.«

»Frag eine der Haushälterinnen oder die Küchenmädchen auf den Korridoren. Um diese Tageszeit sind sie überall unterwegs.« Valek sprach mit mir wie mit einem geistig zurückgebliebenen Kind. »Sag ihnen, dass du im Westflügel der Bediensteten wohnst, im Erdgeschoss. Sie werden dir den Weg zeigen.«

Die erste Küchenmagd, die mir über den Weg lief, war gesprächiger als Margg, und ich machte mir ihre Gutmütigkeit zunutze. Sie führte mich zur Wäschekammer, wo ich einige Leinenlaken für mein Bett erhielt. Dann bat ich sie, mir den Weg zu den Baderäumen und zum Zimmer der Näherin zu zeigen. Vielleicht konnten mir Dilanas Uniformen eines Tages nützlich sein.

In meinem Zimmer öffnete ich die Fensterläden, um die letzten Strahlen der untergehenden Sonne hereinzulassen. Dann setzte ich mich an meinen Schreibtisch und notierte ausführlich, was ich an diesem Tag gelernt hatte. Dazu skizzierte ich einen ungefähren Lageplan der Korridore für die Dienstboten. Ich hätte die Burg gerne intensiver ausgekundschaftet, aber Valek hatte recht: Ich musste erst einmal zu Kräften kommen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, später Zeit für Erkundungsgänge zu haben.

Der Unterricht in den folgenden beiden Wochen unterschied sich durch nichts von der ersten Lektion, sodass sich schon bald ermüdende Routine einstellte. Jeden Morgen erschien ich in Valeks Arbeitszimmer, um zu lernen. Nachdem ich vierzehn Tage lang Gifte erschnüffelt hatte, stellte ich fest, dass mein Geruchssinn viel schärfer geworden war. Eines Tages verkündete Valek, dass ich nun stark genug sei, um Gifte zu probieren.

»Ich beginne mit dem tödlichsten«, sagte er. »Wenn dich das nicht umbringt, werden dir auch die anderen Gifte nichts anhaben können. Ich möchte schließlich nicht meine Zeit mit Lehrstunden verschwenden, nur um zu sehen, dass du am Ende doch stirbst.« Er stellte eine schmale rote Flasche auf seinen Schreibtisch. »Dieses hier ist ziemlich unangenehm. Es wirkt sofort auf den Körper.« Valeks Augen leuchteten, als er die Flasche betrachtete. »Es heißt ›Drink, my Love‹ oder einfach nur ›My Love‹, denn das Gift wurde oft von verzweifelten Frauen benutzt.« Er gab zwei Tropfen des Gifts in einen dampfenden Becher. »Eine höhere Dosis würde dich sofort töten. Ist sie geringer, besteht die Chance, dass du überlebst, aber du bekommst Wahnvorstellungen, wirst paranoid und einige Tage lang nicht wissen, wer und wo du bist.«

»Valek, warum muss ich ›My Love‹ Gift probieren, wenn es sofort wirkt? Sollte ich mein Leben nicht lieber für den Ernstfall aufbewahren? Dafür sind Vorkoster doch da, oder? Ich teste die Speisen des Kommandanten. Ich falle tot um. Ende der Geschichte.« Aufgebracht lief ich durchs Zimmer, stolperte aber ständig über Stapel von Büchern. Schließlich trat ich wütend gegen einen Bücherturm, dessen Bestandteile sich auf dem Boden verteilten und das Chaos noch vergrößerten. Valek sah mich durchdringend an, und sofort verschwand das befreiende Gefühl, das mir der Tritt gegen die Bücher verschafft hatte.

»Die Aufgabe eines Vorkosters ist viel komplizierter«, erklärte Valek. Er strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Das Mittel, mit dem die Speisen des Kommandanten vergiftet wurden, führt mich mitunter zum Täter. Deshalb muss ich in der Lage sein, das Gift zu identifizieren.« Er reichte mir den Becher. »Selbst wenn dir nur der Bruchteil einer Sekunde bleibt, um ›Drink, my Love‹ zu sagen, verkleinert es die Liste der Verdächtigen. Es gibt eine Reihe von Mördern, die eine Vorliebe für dieses Gift haben. Die Pflanze wächst in Sitia, im Süden des Landes. Vor der Machtübernahme konnte man es sich leicht beschaffen. Nachdem die Grenze zum Süden geschlossen wurde, gibt es nur noch wenige Leute, die reich genug sind, um es illegal zu erwerben.«

Valek begann die auf dem Boden verstreuten Bücher aufzustapeln. Seine Bewegungen waren so graziös, dass ich mich fragte, ob er Tänzer gewesen war. Wenn man ihn allerdings reden hörte, wurde einem schnell klar, dass ihn eher die Geschmeidigkeit eines ausgebildeten Mörders auszeichnete.

»Yelena, deine Arbeit ist sehr wichtig. Deshalb verbringe ich so viel Zeit mit deinem Unterricht. Ein geschickter Attentäter beobachtet einen Vorkoster unter Umständen mehrere Tage lang, um herauszufinden, wie er arbeitet.« Auf dem Boden hockend, fuhr Valek mit seinen Lektionen fort. »So kann der Vorkoster beispielsweise stets ein Stück Fleisch von der linken Seite abschneiden, oder er rührt sein Getränk nicht um. Manche Gifte sinken auf den Boden des Glases. Wenn der Vorkoster nur an der Oberfläche des Getränks nippt, weiß der Mörder genau, wo er das Gift platzieren muss, um sein Opfer töten zu können.« Er legte das letzte Buch auf den Stapel. Der war ordentlicher als die anderen Bücherhaufen. Valek schien es als Aufforderung zu nehmen, auch die anderen Büchertürme säuberlich auszurichten. Auf diese Weise schlug er eine breitere Schneise durch sein Arbeitszimmer.

»Wenn du das Gift genommen hast, wird Margg dich in dein Zimmer bringen und sich um dich kümmern. Ich gebe ihr die tägliche Dosis Gegengift für den Schmetterlingsstaub mit.«

Ich schaute auf die dampfende Teetasse und nahm sie in die Hand. Das heiße Gefäß wärmte meine eiskalten Finger. Als Margg ins Zimmer kam, hatte ich das Gefühl, ein Henker würde das Podest betreten und nach dem Hebel greifen. Sollte ich mich hinsetzen oder hinlegen? Ich schaute mich im Zimmer um, ohne etwas wahrzunehmen. In meinen Armen kribbelte es, und ich merkte, dass ich den Atem anhielt.

Ich hob den Becher, als ob ich einen Toast aussprechen wollte, und leerte den Inhalt. »Saure Äpfel«, sagte ich.

Valek nickte. Mir blieb gerade noch genügend Zeit, um den Becher auf den Tisch zu stellen, ehe die Welt vor meinen Augen zu zerfließen begann. Marggs Körper schwankte auf mich zu. Aus den Augen in ihrem großen Kopf sprossen Blumen. Eine Sekunde später füllte ihre wuchtige Gestalt den ganzen Raum aus, und ihr Kopf begann zu schrumpfen.

Etwas berührte mich. Aus den grauen Wänden schossen Arme und Beine, die mich umschlangen und zu Boden ziehen wollten. Graue Gespenster wuchsen unter meinen Füßen und ließen mich das Gleichgewicht verlieren. Sie tauchten unter mir hindurch, versetzten mir Stöße und lachten mich gackernd aus. Sie bedeuteten Freiheit. Ich versuchte das, was von Margg übrig geblieben war, von mir zu stoßen, aber sie hielt mich fest und schlang sich um mich, drang in meine Ohren ein und hämmerte unter meiner Schädeldecke.

»Mörderin«, flüsterte es um mich herum. »Hinterlistiges Biest. Bestimmt hast du seine Kehle aufgeschlitzt, als er schlief. So lässt es sich leicht töten. Hat es dir Spaß gemacht zuzusehen, wie sein Blut die Laken rot färbte? Du bist nur eine kleine miese Ratte.«

Ich versuchte die Stimme zu fassen und sie zum Verstummen zu bringen, aber sie verwandelte sich in zwei grün-schwarze Spielzeugsoldaten, die mich festhielten.

»Sie wird an dem Gift sterben. Wenn nicht, könnt ihr sie haben«, sagte das Margg-Monster zu den beiden Soldaten.

Sie stießen mich in eine tiefe Grube, und ich stürzte in bodenlose Dunkelheit.

Der Gestank von Erbrochenem und Exkrementen stieg mir in die Nase, als ich wieder zu Bewusstsein kam. Es waren die unverkennbaren Gerüche des Verlieses. Ich richtete mich auf und überlegte, warum ich wieder in meiner ehemaligen Zelle war. Eine Welle von Übelkeit überkam mich. Ich tastete nach dem Nachttopf, bekam jedoch den Metallpfosten eines Bettes zu fassen. Mein Körper wurde von trockenen Würgeattacken geschüttelt. Als sie verebbten, lehnte ich mich erschöpft an die Wand. Ich war erleichtert, dass ich in meinem Zimmer und nicht in der Zelle war. Betten waren ein Luxus, den man in den unterirdischen Bereichen vergebens suchte.

Mit einiger Mühe rappelte ich mich auf. Als ich zitternd auf den Füßen stand, zündete ich meine Laterne an. Mein Gesicht war verschmiert von eingetrocknetem Erbrochenen. Meine Bluse und meine Hose waren nass und stanken. Meine Körperflüssigkeiten bildeten eine übel riechende Lache auf dem Boden.

Margg passt wirklich gut auf mich auf, dachte ich sarkastisch. Wenigstens handelte sie praktisch. Hätte sie mich aufs Bett gelegt, hätte ich die Matratze ruiniert.

Ich dankte meinem Schicksal, dass ich das Gift überlebt hatte und mitten in der Nacht aufgewacht war. Das Gefühl von feuchten Kleidungsstücken auf der Haut war so unangenehm, dass ich unverzüglich in die Baderäume eilte.

Als ich von dort zurückkam, hörte ich Stimmen im Korridor, der zu meinem Zimmer führte. Sofort blieb ich stehen, löschte meine Laterne und schaute vorsichtig um die Ecke. Vor meiner Tür standen zwei Soldaten. Im schwachen Licht ihrer Lampen erkannte ich die schwarz-grüne Uniform. Es waren Brazells Farben.

4.
Kapitel

»Sollen wir mal nachsehen, ob sie tot ist?«, fragte einer von Brazells Soldaten gerade. Er hob den Arm, um mit seiner Laterne den oberen Türrahmen auszuleuchten. Dabei klirrten die zahlreichen Waffen an seinem Gürtel.

»Nein. Diese Haushälterin sieht jeden Morgen nach ihr und gibt ihr etwas zu trinken. Wir werden es schon rechtzeitig erfahren. Außerdem stinkt es da drinnen.« Der zweite Soldat wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht.

»Stimmt. Wenn einem bei diesem Geruch nicht schon alles vergeht, hätte man spätestens dann die Nase voll, wenn man ihr die vollgekotzte Uniform auszieht. Andererseits …« Der Soldat mit der Laterne berührte kurz die Handschellen, die an seinem Gürtel hingen. »Wir könnten sie zu den Baderäumen schleifen, sie sauber machen und ein bisschen Spaß mit ihr haben, ehe sie abkratzt.«

»Da würde uns bestimmt jemand sehen. Nein, nein, wenn sie überlebt, haben wir alle Zeit der Welt, ihr die Uniform auszuziehen. Das ist dann so, wie wenn man ein Geschenk auspackt, und es macht gewiss mehr Spaß, wenn sie dabei wach ist.« Er grinste, und sie brachen in schallendes Gelächter aus.

Sie entfernten sich über den Gang und waren kurz darauf verschwunden. Ich stützte mich an der Wand ab und fragte mich, ob das, was ich gerade erlebt hatte, tatsächlich passiert war. Oder hatte ich immer noch Halluzinationen? Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er zu lange unter Wasser getaucht worden. Mir war schwindlig und übel.

Erst lange nachdem die Soldaten außer Sicht waren, fasste ich mir ein Herz und ging in mein Zimmer zurück. Ich stieß die Tür weit auf und leuchtete in jede Ecke und unters Bett. Doch das Einzige, was mir entgegenschlug, war ein aufdringlicher säuerlicher Gestank. Würgend öffnete ich die Fensterläden und sog begierig die kühle frische Luft ein.

Angewidert betrachtete ich die Lache auf dem Boden. Sie wegzuwischen, war das Letzte, wozu ich jetzt Lust verspürte, aber mir war klar, dass ich mit diesem widerwärtigen Geruch unter der Nase keinen Schlaf finden würde. Ich besorgte mir die notwendigen Putzmittel. Nur hin und wieder musste ich innehalten, um den Brechreiz zu unterdrücken, aber es gelang mir, den Boden zu säubern, ohne in Ohnmacht zu fallen.

Erschöpft streckte ich mich auf dem Bett aus. Es fühlte sich ungemütlich an. Unruhig wälzte ich mich umher auf der Suche nach einer bequemen Position. Wenn Brazells Soldaten nun zurückkämen? Schlafend wäre ich eine leichte Beute. Da ich mich gewaschen hatte, mussten sie mich nicht zu den Baderäumen schleppen. Das Zimmer roch nach Reinigungsmitteln. Außerdem hatte ich vergessen, den Stuhl unter den Türknauf zu klemmen.

Meine Fantasie ging mit mir durch. Ich sah mich wehrlos ans Bett gefesselt, während die Soldaten mich langsam auszogen, um ihre Vorfreude zu steigern und sich an meiner Angst zu ergötzen.

Die Wände meines Zimmers schienen sich aufzublähen und rhythmisch zu pulsieren. Ich stürzte in den Korridor und erwartete, Brazells Soldaten vor meiner Tür herumlungern zu sehen. Aber der Gang lag leer und verlassen vor mir.

Als ich ins Zimmer zurückgehen wollte, hatte ich das Gefühl, als ob mir jemand ein Kissen vors Gesicht presste. Ich konnte mich nicht überwinden, über die Schwelle zu treten. Mein Zimmer war eine Falle. Waren es die Nebenwirkungen des Gifts, oder warnte mich mein Instinkt? Unentschlossen blieb ich auf dem Korridor stehen, bis mein Magen knurrte. Getrieben von Hunger, begab ich mich auf die Suche nach etwas Essbarem.

Meine Hoffnung, die Küche leer vorzufinden, wurde enttäuscht. Ein hochgewachsener Mann in einer weißen Uniform mit zwei schwarzen Diamanten auf der Hemdbrust wieselte um die Backöfen herum und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Sein linkes Bein war steif. Gerade als ich mich wieder davonschleichen wollte, entdeckte er mich.

»Suchst du mich?«, fragte er.

»Nein«, erwiderte ich schüchtern. »Ich suche etwas zu essen.« Ich musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht sehen zu können.

Stirnrunzelnd verlagerte er sein Gewicht auf das gesunde Bein, während er meine Uniform in Augenschein nahm. Für einen Koch zu dünn, dachte ich, aber er trug die entsprechende Kleidung. Außerdem würde nur ein Koch um diese frühe Uhrzeit auf den Beinen sein. Mit seinen hellbraunen Augen und dem kurz geschnittenen braunen Haar sah er auf unaufdringliche Weise recht gut aus. Ich fragte mich, ob er Dilanas Rand war, den Margg erwähnt hatte.

»Bedien dich.« Er deutete auf zwei dampfende Brotlaibe. »Ich verdanke dir einen Wochenlohn.«

»Wie bitte?«, fragte ich, während ich mir eine dicke Scheibe Brot abschnitt. »Wieso verdankst du mir einen Wochenlohn?«

»Du bist die neue Vorkosterin, stimmt’s?«

Ich nickte.

»Alle wissen, dass Valek dir eine Dosis ›My Love‹ verabreicht hat. Ich habe gewettet, dass du überleben würdest, und einen Wochenlohn darauf gesetzt.« Er nahm drei weitere Laibe aus dem Ofen. »War ein ziemliches Risiko, denn du bist der kleinste und magerste Vorkoster, den wir je hatten. Die meisten, auch Margg, haben nämlich darauf getippt, dass du die Dosis nicht überstehen würdest.«

Der Koch wühlte in einem der Schränke herum. »Hier.« Er gab mir die Butter. »Ich backe dir einen Pfannkuchen.« Er nahm verschiedene Zutaten aus dem Regal und rührte einen Eierkuchenteig an.

»Wie viele Vorkoster hat es hier denn schon gegeben?«, erkundigte ich mich zwischen zwei Bissen. Rand schien nicht gerne allein zu arbeiten. Offenbar gefiel ihm meine Gesellschaft.

Ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen, antwortete er: »Fünf, seitdem Kommandant Ambrose an der Macht ist. Valek ist ganz vernarrt in seine Gifte. Er hat viele Feinde des Kommandanten getötet, und er möchte nicht aus der Übung kommen. Du weißt schon – hin und wieder stellt er die Vorkoster auf die Probe, um sicherzugehen, dass sie nicht nachlässig werden.«

Die Worte des Kochs verursachten mir eine Gänsehaut. Mir kam es vor, als hätte sich mein Körper verflüssigt und wäre in eine gigantische Rührschüssel geflossen. Ich war nur eine Mischung aus Zutaten, die gerührt und geschlagen und benutzt wurden. Als der Koch den Teig in die glühende Pfanne goss, schien mein Blut ebenso heiß zu werden wie die süßen Pfannkuchen.

»Der arme Oscove. Valek hat ihn nie leiden können. Hat ihm dauernd Fallen gestellt, bis er den Druck nicht mehr aushalten konnte. Offiziell heißt es, er habe Selbstmord begangen, aber ich glaube, Valek hat ihn umgebracht.«

Bestürzt sah ich zu, wie er mit geschickten Bewegungen die Pfannkuchen wendete.

Da machte ich mir Sorgen über Brazell, wo doch ein Fehltritt bei Valek mein Ende sein konnte. Vermutlich hatte er ein paar Giftsorten in der Hinterhand für den Fall, dass er sich entschied, den Vorkoster zu ersetzen. Unwillkürlich warf ich einen Blick über meine Schulter, um mich zu vergewissern, dass er nicht heimlich in die Küche gekommen war, um mein Frühstück zu vergiften. Nicht einmal mit dem schwatzhaften Koch konnte ich mich unbeschwert unterhalten, ohne ständig daran erinnert zu werden, dass vergiftetes Essen vermutlich nicht die einzige Gefahr darstellte, der ich bei meiner neuen Arbeit ausgesetzt war.

Der Koch reichte mir einen Teller, beladen mit süßen Pfannkuchen, nahm drei weitere Brotlaibe aus dem Ofen und füllte die Brotformen mit neuem Teig. Die warmen süßen Pfannkuchen schmeckten so ausgezeichnet, dass ich sie gierig hinunterschlang, ohne auf meinen strapazierten Magen Rücksicht zu nehmen.

»Oscove war mein Freund. Der beste Vorkoster, den der Kommandant jemals hatte. Jeden Morgen nach dem Frühstück kam er in meine Küche und half mir beim Erfinden neuer Rezepte. Ich muss dem Herrn andauernd etwas Neues bieten; sonst sucht er sich einen anderen Koch. Du verstehst, was ich meine?«

Ich nickte und wischte Butter von meinem Kinn.

Er reichte mir seine Hand. »Ich heiße übrigens Rand.«

Ich schüttelte sie. »Yelena.«

Auf dem Weg zu Valeks Arbeitszimmer blieb ich an einem offenen Fenster stehen. Gerade ging die Sonne über den Seelenbergen auf der Ostseite der Burg auf. Die Farben am Himmel erinnerten mich an ein verwischtes Gemälde – als hätte ein kleines Kind Wasser über die Leinwand gegossen. Begierig nahm ich dieses Bild blühenden Lebens in mich auf und atmete tief ein. Ringsumher war alles in voller Blüte, und bald würde sich die kühle Morgenluft angenehm erwärmen. Die heiße Jahreszeit stand kurz bevor. Nicht mehr lange, und die Tage der drückenden Hitze und die Nächte von ermüdender feuchter Schwüle würden beginnen. Seit vierzehn Tagen unterrichtete mich Valek bereits, und ich fragte mich, wie lange »My Love« mich wohl in Tiefschlaf versetzt hatte.

Ich riss mich von dem Anblick los und ging weiter zu Valeks Arbeitszimmer. Ich traf ihn an der Tür. Er wollte gerade hinausgehen. »Yelena! Du hast es tatsächlich geschafft!« Er lächelte. »Drei Tage warst du bewusstlos. Ich habe mir schon Sorgen gemacht.«

Ein Blick in sein Gesicht sagte mir, dass er sich tatsächlich darüber freute, mich zu sehen.

»Wo ist Margg?«, fragte er.

»Ich habe sie nicht gesehen«, antwortete ich, wofür ich meinem Schicksal im Stillen dankte.

»Dann brauchst du dein Gegenmittel«, sagte Valek und eilte zu seinem Schrank.

Nachdem ich die Flüssigkeit geschluckt hatte, machte er erneut Anstalten, das Zimmer zu verlassen. Mit einer Handbewegung bedeutete er mir, ihm zu folgen.

»Ich muss das Frühstück des Kommandanten testen«, erklärte er, während er vorauseilte.

Atemlos lief ich hinter ihm her.

»Es wird Zeit, dass du ihn kennenlernst und siehst, wie das Vorkosten vonstattengehen soll.«

Wir betraten die Haupthalle der Burg, ohne dass Valek auch nur einmal innehielt, während ich, immer noch ein wenig geschwächt, mehrmals stolperte und einmal fast gestürzt wäre. Die berühmten Wandteppiche, die noch aus der Regierungszeit des Königs stammten, waren zerrissen und mit schwarzer Farbe beschmiert. In Brazells Waisenhaus hatten wir gelernt, dass jeder Teppich eine Provinz des ehemaligen Königreichs repräsentierte. Die mit Goldfäden durchwirkten, farbenfrohen Seidenstickereien, die in langjähriger Handarbeit entstanden waren, erzählten die Geschichte einer jeden Provinz. Jetzt, da die Teppiche in Fetzen von den Wänden hingen, kündeten sie von etwas anderem – der bedingungslosen und einflussreichen Machtübernahme des Kommandanten.

Dessen Verachtung für den Überfluss, die Exzesse und Ungerechtigkeiten des einstigen Regenten und dessen Familie war in ganz Ixia bekannt. Der Wechsel von der Monarchie zur Militärherrschaft hatte zu gravierenden Veränderungen im Land geführt. Einige Bürger hießen die leicht verständlichen, aber strikten Regeln des Neues Gesetzbuches willkommen; andere jedoch rebellierten dagegen, indem sie sich weigerten, ihre Uniformen zu tragen, nicht um Erlaubnis für ihre Reisen baten oder in den Süden flohen.

Die Vergehen der Aufsässigen wurden genau mit den Strafen belegt, die das Neue Gesetzbuch für die jeweilige Übertretung vorsah. Wer die Uniform nicht trug, wurde zwei Tage lang nackt auf dem Marktplatz angekettet. Dabei spielte es keine Rolle, ob der Gesetzesbrecher ein berechtigtes Motiv hatte; die Strafe war stets die gleiche. Die Bürger von Ixia hatten schnell gemerkt, dass es keinen Verhandlungsspielraum gab, was ihre Sühne anbetraf. Weder Bestechung noch gute Verbindungen halfen ihnen weiter. In dieser Beziehung verstand der Kommandant keinen Spaß. Wer sich nicht an die Gesetze hielt, bekam die Konsequenzen zu spüren.

Ich löste den Blick von den Wandteppichen und sah gerade noch, wie Valek durch einen kunstvoll verzierten steinernen Torbogen verschwand. Zersplitterte Holztüren hingen schief in den Angeln, aber die verschlungenen Schnitzereien von Bäumen und exotischen Vögeln waren noch zu erkennen. Die Türen waren ein weiteres Opfer der Machtübernahme und ein unmissverständlicher Hinweis auf die Einfachheit, die der Kommandant zum Lebensstil erhoben hatte.

Verblüfft blieb ich stehen, nachdem ich durch die zerstörte Tür gegangen war. Ich stand im Thronsaal der Burg. Im Raum waren viele Schreibtische verteilt, an denen zahlreiche Berater und Vertreter aus jedem Militärdistrikt des Landes saßen. Die Luft im Saal vibrierte vor Aktivität.

Es war schwer, die Personen im allgemeinen Durcheinander zu unterscheiden, aber schließlich entdeckte ich Valek im Gewimmel. Er verschwand gerade durch eine Tür am anderen Ende des Raums. Es dauerte eine Weile, bis ich mir einen Weg durch das Labyrinth der Schreibtische gebahnt hatte. Als ich die Tür endlich erreicht hatte, vernahm ich die Stimme eines Mannes, der sich über die kalten süßen Kuchen beklagte.

Kommandant Ambrose saß hinter einem schlichten hölzernen Schreibtisch. Im Vergleich zu Valeks Arbeitszimmer wirkte seines sehr nüchtern; kein einziger dekorativer Gegenstand zeugte von einer persönlichen Note. Das einzige Objekt im Raum ohne spezielle Funktion war eine handgroße Statue einer schwarzen Schneekatze. Ihre Augen glänzten silbern, und silbern glitzerten auch die Punkte auf dem kräftigen Rücken des Tieres.

Die schwarze Uniform des Kommandanten war maßgeschneidert und von makelloser Sauberkeit. Von Valeks Uniform unterschied sie sich dadurch, dass die Diamanten auf dem Kragen echt waren. Sie blitzten im Licht der Morgensonne. Das schwarze Haar des Kommandanten war grau meliert und so kurz geschnitten, dass es wie eine Bürste abstand.

In Brazells Unterricht hatten wir gelernt, dass der Kommandant öffentliche Auftritte vermied und keine Porträts von sich duldete. Je weniger Leute wussten, wie er aussah, umso geringer war die Gefahr eines Attentats. Einige hielten ihn für paranoid, aber ich glaubte, da er selbst mithilfe von Attentaten und geheimen Machenschaften an die Herrschaft gelangt war, verhielt er sich einfach pragmatisch.

Das war nicht der Kommandant, wie ich ihn mir vorgestellt hatte: stämmig, bärtig, mit Orden behängt und bis an die Zähne bewaffnet. Er war schlank, glatt rasiert ...

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