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Das Gewicht eines Pianos

»Eine Liebeserklärung an die Macht der Musik und an die Macht des Schicksals, spannend und vielschichtig erzählt.« BÜCHERmagazin

Die neunjährige Katya wächst im Russland der 1960er-Jahre in bescheidenen Verhältnissen in einer Stadt nahe Moskau auf. Von einer tiefen Unruhe getrieben, lauscht sie jede Nacht den eindringlichen Klaviersonaten des Mansardenbewohners. Er sei ein Ungeheuer, sagt man, ein geflohener SS-Scherge. Als der Mann stirbt, erbt Katya sein Klavier. Ein Blüthner. Es wird ihre erste große Liebe. Clara ist Automechanikerin in der Nähe von L.A. Ihre Eltern sind bei einem Brand ums Leben gekommen, und ihre wichtigste Erinnerung ist das geerbte Blüthner-Piano.
Clara hasst es, denn sie hat keine Verbindung zur Musik. Aber es ist das Einzige, was ihr von ihrem Vater blieb.

Ein halbes Jahrhundert und zwei Welten trennen diese beiden Frauen, die doch auf tragische Weise so viel mehr verbindet.

  • »Chris Cander macht darin deutlich, dass materielle Sicherheit kein Garant für Glück ist, sondern dass dieses aus einem selbst heraus erwachsen muss. […] Die Thematik, die durchaus zum Nachdenken anregt, und das Klavier als stummer Protagonist machen „Das Gewicht eines Pianos“ besonders« belletristik-couchDE
  • »Die schicksalhafte Verbindung zwischen dem Klavier, seinen frühen und seinen späteren Besitzern inszeniert Autorin Cander als herzergreifende Komposition aus Exil-Drama, Liebesgeschichte und schwermütige Hommage an Meister wie Rachmaninow oder Skrjabin.« Mobil
  • »Einfühlsam erzählt Chris Cander von Familie, von Liebe und davon, den eigenen Weg zu finden.« Emotion
  • »Meiserhaft erzählt „Das Gewicht eines Pianos“ von der Macht der Musik und von der Kunst, die Vergangenheit loszulassen.« Leserin

  • Erscheinungstag: 01.02.2019
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678582
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine wunderbare Sasha

KAPITEL 1

In den Bergen Rumäniens, wo die Winter besonders kalt und lang sind, wuchsen, in dichten Wäldern verborgen, Fichten, aus denen Klaviere entstanden – einzigartige Instrumente, die berühmt waren für ihren wunderbar warmen Klang und beliebt bei Komponisten wie Schumann und Liszt. Nur ein Mann besaß die Fähigkeit, sie auszusuchen.

Sobald die Blätter gefallen waren und Schnee den Boden bedeckte, reiste Julius Blüthner mit der Eisenbahn aus Leipzig an und machte sich allein auf den Weg durch den Wald. Aufgrund der Höhe und der grimmigen Kälte wuchsen die Bäume dort sehr langsam. Aufrecht und stark trotzten sie den Elementen, ihre Zellen prall gefüllt mit Harz. Blüthner nickte den jungen Fichten zu, die er passierte, strich der einen oder anderen wie zum Gruß über die Borke. Er hielt Ausschau nach älteren Bäumen, deren Äste er nicht erreichen konnte und deren gewaltiger Durchmesser nicht erkennen ließ, ob womöglich ein Bär dahinter lauerte. Diese klopfte er mit seinem Spazierstock ab und hielt, seiner Intuition folgend, das Ohr an die Stämme, um der Musik in ihrem Inneren zu lauschen. Er verstand sich besser darauf als jeder andere Klavierbauer, besser sogar als Ignaz Bösendorfer, Carl Bechstein oder Henry Steinway. Wenn er hörte, was er hören wollte, markierte er die betreffende Fichte mit einem Strang leuchtend roter Wolle, der sich deutlich vom Schnee abhob.

Dann kamen die Waldarbeiter, die er angeheuert hatte, um die von ihm ausgewählten Exemplare zu fällen. Blüthner sah aufmerksam zu; an der Art, wie die Bäume fielen, konnte er die besten erkennen. Nur jene mit mindestens sieben gleichermaßen breiten Jahresringen pro Zentimeter wurden auf Schlitten aus dem Wald gebracht und nach Deutschland transportiert. Aus den besten davon wiederum wurden die Resonanzböden gefertigt, die gleichsam das Herzstück seiner berühmten Klaviere bildeten.

Zum Schutz vor Rissen wurden die Stämme feucht gehalten, bis sie im Sägewerk angekommen waren. Im Bestreben, ihnen die reinsten Klänge zu entlocken, wurden sie dort zu einheitlichen Brettern mit aufrecht stehenden Jahresringen gesägt, geschnitten und gehobelt. Die Späne wanderten in die Öfen, um das Sägewerk zu beheizen und die Dampfmaschinen anzutreiben. Da beim Sägen häufig Astnarben und andere Makel zutage traten, endeten auch viele der wertvollen Tonholzbretter in den Öfen. Was übrig blieb, war nahezu perfekt: von weißer Farbe, leicht und biegsam, die zarten Linien der parallel verlaufenden, dicht aneinanderliegenden Jahresringe kaum auszumachen. Diese Bretter waren für die Resonanzböden bestimmt und wurden im Laufe der mindestens zwei Jahre dauernden Lagerung immer wieder zu- und abgedeckt, bis der Wassergehalt auf etwa vierzehn Prozent gesunken war.

Erst dann wurden sie auf Pferdekarren verladen und in die riesige Blüthner-Fabrik in der Weststadt Leipzigs gebracht, wo sie über Monate hinweg in Trockenhäusern auf Regalen hoch oben unter der Decke lagen. Doch auch danach waren sie noch nicht bereit für die Verwandlung in ein Instrument. Um sicherzustellen, dass die daraus gefertigten Resonanzböden eines Tages den für Blüthner-Klaviere einzigartigen goldenen Klang erzeugen konnten, wurde das Holz erst noch einige Jahre im Freien getrocknet.

Entsprechend ehrfürchtig wählte im Jahre 1905 ein Klavierbaumeister eine Reihe dieser sorgfältig abgelagerten Bretter aus und leimte sie an den Kanten bündig zu einer großen Fläche zusammen. Diese sägte er sodann in Form und hobelte und schliff sie auf die richtige Dicke – elastisch genug, um vibrieren zu können, und zugleich so stark, dass sie dem Zug von über zweihundert Saiten standhalten konnte. Der fertige Resonanzboden wurde zur erneuten Trocknung in einer der geheizten Hallen gelagert, ehe an der Unterseite im rechten Winkel zum Faserverlauf des Bodens die Rippen angebracht wurden. Durch die Aufnahme von Feuchtigkeit bildete sich nun an der Oberseite, wo der Bass- und der Diskantsteg saßen, eine sanfte Wölbung, sodass sich der Resonanzboden gleich den Dauben eines Fasses gegen den nach unten wirkenden Stegdruck stemmen würde. Der Klavierbaumeister bewunderte das so entstandene Werk: die makellos parallelen Jahreslinien, die präzise Wölbung des Resonanzbodens, der das Herzstück des 66.825. Pianos aus seiner Fabrik bilden würde.

Andere Handwerker fertigten das Gehäuse, dessen Rastenkonstruktion mit den fünf Spreizen stabil genug für das Gewicht des Resonanzbodens und des Gussrahmens sein musste. Der Stimmstock wurde gesägt und eingepasst. Die Agraffen wurden in die Gussplatte eingesetzt, auf einer Höhe, die später die klingende Länge der Saiten bestimmen würde, welche im nächsten Schritt aufgezogen wurden; die Stimmwirbel wurden eingeschlagen, die Mechanik gestellt und gesetzt. Dann wurde dicker, kalt gepresster Filz, der zum Diskantbereich hin entsprechend dünner wurde, auf die hölzernen Hammerköpfe geleimt. Es folgten die Dämpfer sowie die Pedale – Stößer, Pedalstifte und Federn –, und sobald die Klanganlage eingebaut war, wurde das Gehäuse ebonisiert. Die Armmuskeln der Lackierer, die die unzähligen Schichten aufbrachten, spannten sich mit jedem Pinselstrich unter den aufgekrempelten Hemdsärmeln.

Als Nächstes wurde das fast fertige Instrument gestimmt, die Spannung von jeder der zweihundertzwanzig Saiten auf die richtige Tonhöhe eingestellt und die Mechanik reguliert. Spielgewicht und Reaktion wurden so lange geprüft, bis die Bewegungen der Finger über die Tasten korrekt auf die Hammerköpfe übertragen wurden, die auf die Saiten schlugen.

Schließlich gelangte das Klavier nach den jahrelangen Anstrengungen zahlreicher fachkundiger Hände an seine letzte Station. Der Meister, der die Reinstimmung vornahm, hob das Leinentuch an und ließ eine Hand über die glänzende schwarze Oberfläche gleiten. Wodurch würde sich dieses Klavier von den anderen abheben? Jedes von ihnen war etwas Besonderes, verfügte über eine eigene Seele und eine unverwechselbare Persönlichkeit. Dieses hier wirkte solide, unprätentiös, ehrlich und dennoch geheimnisvoll.

Er ließ das Tuch auf den Fabrikfußboden gleiten.

»Was willst du dieser Welt sagen?«, fragte er das Instrument.

Er zog die Hammerköpfe einen nach dem anderen ab, lauschte jeder einzelnen Saite, bearbeitete wieder und wieder sorgfältig den Filz mit der Intoniernadel, gleich einem Diagnostiker, der die Nerven unter der Kniescheibe eines Patienten abklopft, um die Reaktion zu prüfen. Hallo, hallo, antwortete das Klavier jedes Mal artig, seiner Bestimmung folgend. »Fertig«, sagte er nach getaner Arbeit. Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn, schob sich ein paar weiße Haarsträhnen aus dem Gesicht. Dann trat er ein paar Schritte zurück und betrachtete diese perfekte Schöpfung, die in der Lage wäre, wahre Bravourstücke zu vollbringen, wenn sie erst richtig eingespielt war. Noch aber war sie ein perfektes Instrument, das sich ausschließlich durch sein Potenzial auszeichnete.

Der Meister schüttelte seine Schürze aus, ließ sich auf dem Fass nieder, das ihm als behelfsmäßige Sitzgelegenheit diente, und beugte und streckte einige Male die Finger, während er überlegte, welches Stück für die Taufe des Klaviers geeignet wäre. Schubert, sein Lieblingskomponist. Er würde das Rondo der Sonate Nr. 20 in A-Dur – seiner vorletzten – spielen. Die hübsche Eröffnungsmelodie zeichnete sich durch eine hoffnungsvolle Heiterkeit aus, die im Folgenden einer gewissen Nachdenklichkeit und Aufgewühltheit wich. Ja, das war das ideale Stück, um das glänzende schwarze Blüthner Nummer 66.825 einzuweihen.

»Horcht!«, rief er, doch seine Stimme ging im Fabriklärm unter. »Es ist auf der Welt!«

Und er drückte den Finger auf das Cis, die erste Note des Rondos, und lauschte konzentriert. Der Ton erscholl mit derselben Unschuld und Kraft wie der erste Schrei eines Neugeborenen. Hochzufrieden mit der Reinheit des Klangs begann der Meister den Rest der Sonate zu spielen. Er rang um Zuversicht, als er sich von diesem glänzenden neuen Klavier verabschiedete, wohl wissend, dass seine Jungfräulichkeit auf immer verloren war, wenn die allzu menschlichen Hände seiner künftigen Besitzer es erst berührt hätten.

KAPITEL 2

Clara Lundy schob einen Schemel an den Vorderreifen eines alten 1996er Chevrolet Blazer, warf sich den dunkelblonden Pferdeschwanz über die Schulter und beugte sich über den Motor. Sie schraubte die Schutzkappe vom Druckventil und fing das austretende Benzin mit einem Frotteetuch auf. Sobald kein Kraftstoff mehr heraustropfte, stopfte sie sich den Lappen in die hintere Hosentasche, ging zu ihrem Werkzeugkasten und entnahm ihm den 16er- und 19er-Schraubenschlüssel sowie das Leitungstrennwerkzeug. Dann sprang sie behände in die mit gelben Randmarkierungen versehene Wartungsgrube, um den Wagen von unten bearbeiten zu können. Sie entriegelte die Kunststoff-Clips, mit denen die Benzinleitungen gesichert waren, und zog den Schlauch vom Filter – auf der Auslassseite zuerst, damit ihr kein Treibstoff in die Augen tropfte. Diese Lektion hatte sie vor langer Zeit in der Werkstatt ihres Onkels gelernt, und sie würde sie nie vergessen.

»Clara?« Peter Kappas, einer der drei Söhne des Werkstattbesitzers, sah zu ihr hinunter. Seine massige Silhouette war umrahmt vom Lichtschein der Spätnachmittagssonne. »Der Typ, der schon mehrfach wegen seinem Zahnstangengetriebe hier war, ist wieder da. Er sagt, das Ding macht nach wie vor Geräusche.«

»Immer noch die gleichen? Oder neue Geräusche?«

»Ein Knallen. Wahrscheinlich die Schrauben.«

»Kannst du das übernehmen? Ich bin hier noch mit dem Filter beschäftigt.«

»Ich hab versprochen, bis fünf die Corvette fertig zu machen.«

Clara schob den neuen Filter in die Schelle. »Okay, gib mir noch eine Viertelstunde, dann schau ich’s mir an. Aber wenn es die Schrauben sind, müsstest du noch mal die Spur einstellen. Hast du Zeit?«

»Für dich?«

»Hör auf.«

Er hob die Arme. »Kleiner Scherz. Ja, ich mach’s.«

Nachdem sie sämtliche Schrauben angezogen und den Sitz der Anschlüsse überprüft hatte, stieg sie aus der Grube, um den Motor zu starten. Sie stellte den Zündschlüssel auf On, wartete ab, bis sich die Kraftstoffpumpe ein- und wieder ausgeschaltet hatte, dann drehte sie den Schlüssel wieder in die Ausgangsposition. Sie wiederholte den Vorgang etliche Male, und während sie so dort saß, erspähte sie sich selbst im Rückspiegel und erschrak. Sie sah deutlich älter aus als sechsundzwanzig, als wäre sie über Nacht um zehn Jahre gealtert. Ihren leicht angeschwollenen Augenlidern war der Heulkrampf von gestern Abend noch anzusehen, obwohl sie sich dezent geschminkt hatte. Sie hatte die Zähne zusammengebissen und die Lippen so fest zusammengepresst, dass sie von winzigen Falten umrahmt waren. Als sie die Kinnpartie nun entspannte, sackten ihre Mundwinkel ab, und ihre blassen Wangen wirkten schlaff. Offenbar hatte sie sich irgendwann die Haare aus den Augen gestrichen, denn sie hatte einen Ölfleck auf der Stirn, der dem Feuermal ihres verstorbenen Vaters ähnelte. Sie betrachtete sich, erkannte seine hellbraunen Augen, die blassen Wimpern, die hohen Wangenknochen, und ihr war, als hätte man ihr einen Schlag in die Magengrube verpasst, als sie sich so jäh mit der Erinnerung an sein Gesicht konfrontiert sah. Alte Trauer, die sich zur neuen hinzugesellte.

Sie drehte den Zündschlüssel bis zum Anschlag um. Der Motor ließ sich problemlos starten.

»Clara! Telefon!«, rief jemand über den Lärm hinweg, der in der Werkstatt herrschte – vom hydraulischen Drehmomentschlüssel und vom Kompressor, von den auf- und zugleitenden Schubladen der Werkzeugschränke, dazu das nie endende Scheppern und Klappern von Metall, das allgegenwärtige Gedudel der griechischen Popmusik, das aus den Boxen des ölverschmierten Ghettoblasters in der Ecke drang, die Zurufe und Gesprächsfetzen, teils auf Englisch, teils auf Griechisch.

Sie wischte sich mit dem schmutzigen Putzlappen den Fleck von der Stirn und marschierte zum Wandtelefon. Peters Bruder Teddy legte ihr eine Hand auf den Unterarm.

»Es ist Ryan«, sagte er. »Vielleicht gehst du besser im Büro ran.« Sie konnte nur mutmaßen, was die anderen hinter ihrem Rücken über sie und Ryan geredet hatten. Peters Mutter Anna vermochte in Claras Gesicht zu lesen, als wären sie Mutter und Tochter, und sie zögerte nicht, ihre Meinung – Wenn du mich fragst, tut dir dieser Ryan nicht gut – zum allgemeinen Gesprächsthema zu machen. Da es nicht schwer war, Clara alle möglichen Informationen zu entlocken, war der gesamte Kappas-Clan im Nu über ihre persönlichen Angelegenheiten im Bilde gewesen. Nicht dass es sie gestört hätte – dank dieser Menschen hatte sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder das Gefühl, zumindest ansatzweise Teil einer richtigen Familie zu sein.

Clara nickte. Das Büro war kaum mehr als ein Schreibtisch an der Wand des Wartebereichs, zwischen Wasserspender und Kaffeemaschine. Privatsphäre suchte man dort vergeblich, doch im Augenblick war keine Kundschaft da, und Anna, die hinter dem Tresen stand und Ersatzteile bestellte, zwinkerte ihr zu und sagte mit ihrem unüberhörbaren Akzent: »Ich lasse dich dann mal allein.«

Clara setzte sich und versuchte, das Lämpchen zu ignorieren, das einen Anrufer in der Leitung signalisierte. Stattdessen betrachtete sie die gerahmten Fotos an den Wänden – das stattliche, weiß getünchte Ferienhaus der Familie auf einer der Sporadeninseln, den halbmondförmigen felsigen Strand, das unwirklich türkisblaue Wasser.

Als es sich nicht länger hinausschieben ließ, holte sie tief Luft und griff nach dem Hörer. »Hey«, sagte sie.

»Du gehst nicht an dein Handy.«

»Ich bin in der Werkstatt.«

»Wie auch immer … Hör zu, Clara, ich verziehe mich ein paar Tage, damit du ungestört deine Sachen packen kannst. Ich möchte, dass du noch vor dem Wochenende raus bist …«

»Was? Ist das dein Ernst? Ich dachte, wir wollten noch mal über alles reden.«

»Hast du mir gestern Abend nicht zugehört, Clara? Ich bin es leid, auf eine Entscheidung von dir zu warten. Du willst einfach nicht das, was ich will.«

»Das habe ich nie gesagt. Ich habe dich lediglich um etwas Zeit gebeten.« Sie drehte sich zur Wand. »Bitte, Ryan.«

»Ich weiß, dass du noch Zeit brauchst, und ich habe versucht, dich nicht zu drängen, aber ich kann nicht ewig deine Bedürfnisse über meine stellen. Ich bin bereit für den nächsten Schritt. Ich will eine Familie. Am liebsten mit dir, aber wenn das nicht geht, dann … na ja, was habe ich denn für eine Wahl?«

»Hör zu, Ryan, ich liebe dich, und das weißt du auch. Aber Heiraten, das ist ein großer Schritt. Warum können wir nicht einfach so zusammen sein? Warum hast du es so eilig?«

»Warum hast du so große Angst davor, dich dauerhaft zu binden? Ich weiß, dass du mich liebst. Warum kannst du nicht einfach Ja sagen?«

Clara seufzte. Ein einziges Wort würde genügen, um dieser Unterhaltung – ihrem gesamten Leben – eine neue Richtung zu verpassen. Aber sie konnte sich nicht dazu durchringen. »Ich weiß es nicht. Tut mir leid.«

»Gut, dann war’s das. Du musst raus. Ich muss an meine Zukunft denken.«

»Du setzt mich echt vor die Tür? Nach zwei Jahren verlangst du von mir, dass ich ausziehe, und gibst mir vier Tage dafür? Wie soll ich das schaffen? Und woher soll ich das Geld dafür nehmen?«

»Du weißt, ich würde nicht zulassen, dass du auf der Straße stehst. Ich hab dir ein Apartment gesucht, in East Bakersfield. Die Kaution ist bereits bezahlt. Ich hoffe, das macht es etwas einfacher.«

»East Bakersfield? Herrgott noch mal, Ryan, hätten wir nicht erst einmal darüber reden können?«

Er schnaubte. »Dir ist doch total egal, wo du wohnst. Das Einzige, was dich interessiert, ist diese dämliche Werkstatt.«

Clara ballte die Faust um das Spiralkabel und kämpfte erneut gegen die Tränen an. Beweinte sie nun den Verlust ihres Freundes oder den ihres Zuhauses? Oder ihre Unentschlossenheit?

»Mietvertrag und Schlüssel liegen auf dem Küchentisch«, fuhr er fort. »Wirf deinen alten Schlüssel einfach in den Briefschlitz, wenn du raus bist.«

Clara lehnte die Stirn an die Wand und atmete aus. »Das war’s also?«

»Ja, das war’s.«

Er schwieg einen Augenblick – beide schwiegen sie –, und Clara fragte sich, ob er das sagen würde, was er bisher stets am Ende jedes Telefonats gesagt hatte. Du bist mein Mädchen, das weißt du, oder? Sie konnte nicht sprechen. Sie konnte nicht auflegen. Sie beugte sich vornüber, wartete ab, von Sehnsucht erfüllt und doch unfähig einzulenken.

»Viel Glück, Clara. Ich hoffe sehr, du findest noch irgendwann raus, was du willst. Schade, dass ich es nicht war.« Damit legte er auf.

Sie presste den Hörer ans Ohr und lauschte ihrem Herzschlag, bis das Besetzt-Zeichen ertönte. Als sie sich umwandte, stand Peter in der Tür.

»Alles okay?«, fragte er.

Sie antwortete nicht gleich. Vielleicht hatte sie Ryan doch nicht geliebt, jedenfalls nicht so, wie er es sich gewünscht hatte. Aber sie hatte sich an das Zusammensein mit ihm gewöhnt, hatte sich daran gewöhnt, dass sie jemanden hatte, der zu Hause auf sie wartete, und das Leben mit ihm war einfach gewesen. »Hilfst du mir beim Umzug?«, fragte sie Peter.

Er nahm die Baseballmütze mit der Aufschrift Havoline – Protect What Matters ab und fuhr sich mit den Fingern durch das dichte schwarze Haar. »Natürlich«, sagte er und setzte die Mütze wieder auf. »Weißt du doch.«

Clara lehnte sowohl Annas Vorschlag ab, sie solle ruhig schon etwas eher Feierabend machen, als auch Teddys, ihn zum Flohmarkt des Early Ford V-8 Clubs zu begleiten, um nach Bauteilen für einen Seitenventilmotor zu stöbern, die er für ein Restaurierungsprojekt benötigte. Stattdessen wusch sie sich das Gesicht und machte sich wieder an die Arbeit. Sie hatte zu Peter gesagt, sie wolle sich doch selbst um die Zahnstangenlenkung kümmern, und das würde sie auch tun, obwohl sie wusste, dass er es ihr unter den gegebenen Umständen mit Freuden abnehmen würde.

Als alles erledigt war, räumte sie ihr Werkzeug in die Metallschränke an der Wand, unter dem Regal mit den Service-Handbüchern von Chilton, dann sammelte sie die gebrauchten Frotteetücher ein, warf sie in die dafür vorgesehene Tonne und rief von der Schwelle der offenen Werkstatttür aus: »Gute Nacht allerseits!«

Peter übersprang mit einem Satz eine Ecke der Wartungsgrube und kam über den mit Ölflecken übersäten Betonboden auf sie zu. »Wir gehen nachher ein Bier trinken«, sagte er. »Kommst du mit?«

»Nett, dass du fragst, aber ich muss packen.«

»Brauchst du Hilfe?« Sie hätte die Worte mitsprechen können. Mindestens ein- oder zweimal täglich kam er, sobald er seine Arbeit erledigt hatte, zu ihr rüber und erkundigte sich, ob er ihr zur Hand gehen sollte. Wann immer Ryan nicht in der Stadt war, was häufig vorkam, stand früher oder später Peter vor der Tür, mal mit einem Teller, auf dem sich Annas Leckereien unter Klarsichtfolie häuften, mal mit Tickets für ein Spiel oder einer DVD. Beim letzten Waldbrand hatte er sich dem Evakuierungsbefehl zum Trotz ins Auto gesetzt und war zu ihr gefahren, um sie zu einem Ausflug an die Küste zu überreden. Clara hatte sich immer damit gebrüstet, dass sie stets die Fassung wahrte – eine Haltung, die ihre Mutter als stoisch bezeichnet und bewundert hätte. Selbst wenn sie krank war, sich einsam fühlte oder Sorgen hatte, beantwortete sie die Frage nach ihrem Befinden ausnahmslos immer mit »Gut«. Doch Peter spürte, ob es gelogen war oder nicht, und er war für sie da, treu ergeben wie ein Hund, ohne irgendetwas im Gegenzug zu verlangen. Es ging ihr gegen den Strich, dass sie sich so sehr auf ihn verließ. Sie gestattete es sich, bestimmte Leute zu mögen, hütete sich aber wohlweislich davor, sie zu brauchen. Vor allem ihn.

Sie winkte ab. »Nicht nötig, danke. Viel Spaß euch und bis morgen.«

Draußen stand die Sonne schon tief am Himmel, doch es wehte kein Lüftchen, keine Brise, die vom Pazifik landeinwärts die flimmernde Hitze über den vibrierenden Automotoren vertrieb oder die dünnen staubigen Palmen zauste, die den Maschendrahtzaun am Straßenrand säumten. Clara hielt neben einem Stapel alter Reifen inne, der das Schild mit der Aufschrift Kappas Xpress Lube von der Einfahrt des angrenzenden Trailer-Parks trennte, und blickte zwischen den vorbeibrummenden Lastern hindurch zu dem verlassenen verdreckten Grundstück auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das Ruß- und Ozongemisch, das immer über Bakersfield hing, war heute besonders dick und gelb, als hätte sich der Himmel mit einer Krankheit infiziert.

Clara spielte ein kleines Spiel mit sich selbst: Wenn sie sich umdrehte und Peter oder einen seiner Brüder dabei erwischte, wie er ihr nachsah, würde sie wieder reingehen und sagen: »Okay, meinetwegen, gehen wir ein Bier trinken.« Sie würde die unausweichliche Rückkehr in das Mietshaus, das sie mit Ryan bewohnt hatte und in dem sie ein anderer Schlüssel zu einer unbekannten Wohnung erwartete, aufschieben. Sie würde ein oder zwei Bier trinken, vielleicht auch drei, und vergessen, dass sie wieder einmal im Begriff war, neu anzufangen, allein. Sie wandte sich um, just in dem Augenblick, als Teddy von innen das Rolltor vor der letzten noch offenen Bucht herunterließ. Das interpretierte sie als ein Zeichen und joggte, sobald sich eine Lücke im Verkehr auftat, über die Straße zu ihrem Wagen.

Sie hielt an dem kleinen mexikanischen Supermarkt an, in dem sie Ryan beim Einkaufen kennengelernt hatte, und bereute es sogleich. Die Piñatas, die von der Decke hingen, und die beschwingte Banda-Musik, die aus den Lautsprechern schallte, waren viel zu verheißungsvoll für ihre simplen Besorgungen. »Haben Sie ein paar leere Kartons für mich?«, fragte sie einen Angestellten, der die Obst- und Gemüseregale auffüllte, und während er sich auf die Suche machte, ging sie in die Getränkeabteilung, um Bier zu holen. Was Alkohol anging, war Ryan wählerisch gewesen, insbesondere bei Bier hatte er oft mit Kennermiene von Bitterkeit, Geschmacksnote und Abgang gesprochen. Er trank es nie direkt aus der Flasche, weil das auf Kosten von Cremigkeit und Mundgefühl gehe, wie er betonte. Clara marschierte an den Regalen mit Craft- und Importbier vorbei und holte sich einen Sechserpack Pabst, dann ging sie zur Kasse, bezahlte und verließ mit dem Stapel zerlegter Kartons, den der Angestellte dort für sie deponiert hatte, den Laden.

KAPITEL 3

»Komm mit, Katya. Ich will dir etwas zeigen.«

Ekaterina Dmitrievna sah von ihrem Vater hinüber zur Mutter, die gerade einen Teig für das Abendessen knetete. Wieder würde es weder Fleisch noch Butter geben. Ihre Mutter nickte aufmunternd. Katya legte die Puppe beiseite und ergriff die Hand ihres Vaters. Sie gingen den Korridor ihres vierstöckigen Wohnhauses aus der Vorkriegszeit entlang, vorbei an Kohlgeruch, Kleinkindergeschrei und zerfledderten Propagandaplakaten. Den Tapferen erwarten Heldentaten! Brot für das Mutterland! Macht den Sowjets – Chruschtschow!

Katya war müde – sie waren alle müde, aber bei ihr lag es daran, dass sie die ganze Nacht in ihrem Bett wachgelegen und abgewartet hatte, ob die Musik wieder einsetzte, die vor drei Tagen verstummt war.

»Wohin gehen wir, Papa?«

»Sch, sch, sch. Das wirst du schon sehen. Eine Überraschung.«

Doch Katya hatte ein flaues Gefühl im Magen, als sie sich der Wohnung des blinden Deutschen näherten. Er war ein Bekannter ihres Vaters, ein Kunde. Einer, den Katyas Vater häufiger besuchte als die anderen Kunden, denn das Klavier des alten Mannes war andauernd verstimmt. »Er spielt zu ungestüm«, hatte Dmitri seiner Tochter erklärt. »Er packt all seinen Kummer in seine Musik. Tja, schlecht für das Klavier, gut für mich.«

Der Deutsche hieb schon auf die Tasten seines Klaviers ein, seit Katya denken konnte – meist nachts, wenn die Kinder im Haus eigentlich schlafen sollten. Die Mütter ärgerte es, dass sich ihre Kinder dann wegen seiner Musik ruhelos im Bett herumwälzten, doch sie wagten es nicht, sich bei dem alten Mann zu beschweren. Sie konnten sich seine Reaktion lebhaft vorstellen. »Für mich ist immer Nacht!«, würde er mit seiner heiseren Stimme bellen. Er verließ kaum je seine kleine Wohnung, und wenn, dann sah man seine hünenhafte Gestalt laut auf Deutsch vor sich hin schimpfend durch den Korridor schlurfen, mit dem Blindenstock an die Wände klopfend, der umherirrende Blick seiner blauen Augen leer. Es kursierten allerlei Gerüchte über ihn, die stimmen mochten oder auch nicht. Wilm Kretschmann sei nicht sein richtiger Name, erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand. Angeblich hatte er sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet und Hunderte von Juden und Partisanen getötet, obwohl er gar nicht Hitlers arischem Herrenvolk angehörte, sondern zur Hälfte jüdischer Abstammung war. Ehe sein Geheimnis ans Licht kommen konnte, hatte er sich 1941 von seiner SS-Division »Reich« abgesetzt. Hitler hätte ihn exekutieren lassen; Untermenschen wie ihm war die Mitgliedschaft in der Waffen-SS verboten, selbst wenn sie ihresgleichen töteten. Während der Schlacht um Moskau hatte er sich von seiner Einheit in Naro-Fominsk entfernt und sich, da er als vermisst galt, in einer Textilfabrik verstecken können, bis es der sowjetischen Armee gelungen war, die Wehrmacht zurückzudrängen. Er hatte entweder durch einen Granatsplitter oder die Schuld, die er auf sich geladen hatte, sein Augenlicht eingebüßt; wie er nach Zagorsk gelangt war, wusste kein Mensch. Er hatte sich sein Geld als Bauunternehmer oder Dieb verdient und trug noch immer seine Mauser HSc in der Jackentasche. Die Musik zeugte von seinen Qualen. Er war ein Monster, ein Dämon, ein Ungeheuer.

Katya liebte ihn.

Mit sechs Jahren war sie ihrem Vater zum ersten Mal in die Wohnung des Deutschen gefolgt. Sie hatte sich durch die offen stehende Tür hineingeschlichen und mit angezogenen Beinen auf den Boden gekauert, bereit, Reißaus zu nehmen, falls es sein musste. Ihr Vater stand tief über das Klavier gebeugt da und sah sie nicht. Der Deutsche saß aufrecht wie ein Soldat auf einem alten Stuhl und starrte ins Leere, den Kopf zum Instrument geneigt.

Katya fragte sich, ob er ihr Herz schlagen hören konnte, so schnell wie eines seiner Musikstücke. Sie presste den schmalen Rücken an die Wand, von der sich die fleckige Tapete löste, und schlang die Arme um die Knie, um das Geräusch zu dämpfen.

Er bemerkte sie nicht. Nach ein paar Minuten wurde sie übermütig, zeigte ihm die Zunge. Keine Reaktion. Sie streckte erneut die Zunge heraus, schnitt eine Grimasse. Nichts. Erst auf ihr verhaltenes Kichern hin drehte sich der Deutsche zu ihr um. Danach war sie mucksmäuschenstill und wandte ihre Aufmerksamkeit dem glänzenden schwarzen Klavier zu, das den Kopf ihres Vaters verschluckt hatte.

In den darauffolgenden Monaten stahl sie sich wiederholt in die Wohnung des Deutschen und beobachtete, wie er ihrem Vater beim Stimmen des Instruments lauschte. Sie hätte ihm zu gern einmal zugesehen, wenn er eines der Stücke spielte, die sie nachts oft hörte. Im Gegensatz zu den anderen Bewohnern des Hauses fand sie Gefallen an den wunderlichen, schwer verdaulichen Schlafliedern, die aus seiner Wohnung tönten. Sie wollte wissen, wie sie entstanden.

Angetrieben von diesem Wunsch, nahm sie eines Nachmittags all ihren Mut zusammen. »Bitte, spielen Sie etwas!«, lispelte sie – sie hatte erst kürzlich ihren siebten Geburtstag gefeiert, und dort, wo ihr die beiden oberen Schneidezähne ausgefallen waren, klaffte eine Zahnlücke. Ihr Vater fuhr herum. »Katya!«, sagte er scharf. »Was hast du hier zu suchen?« Doch der Deutsche hob beschwichtigend die Hand und bedeutete ihr, näher zu kommen. Sie verließ ihren Posten am Türrahmen und ging zu ihm. »Ich dachte mir schon, dass du deswegen hier bist«, sagte er in einem Tonfall, der nichts Monströses hatte.

Nachdem er ihren Vater bezahlt hatte, bat er ihn, Platz zu nehmen. »Stell dich da hin«, sagte er und führte Katya an die rechte Seite des Klaviers. Seine riesige warme Hand auf ihrer Schulter zitterte leicht. Er tastete nach der Klavierbank und ließ sich schwerfällig darauf nieder, die Hände im Schoß. Katya hielt die Luft an. Dann schwebten seine Hände anmutig nach oben, verharrten einen Augenblick und senkten sich nach einem Moment der Stille behutsam, bedächtig auf die Tasten. Katya musste daran denken, wie ihr ihre Mutter übers Haar strich, wenn sie traurig war oder nicht einschlafen konnte.

Doch was war das für eine Musik? Sie klang anders als die wilden Melodien, die er nachts in sein Klavier hämmerte. Sie war wie ein Nieselregen, wie Wolken, die am Himmel vorüberzogen, wie der Tanz der Schneefeen. Sie entfaltete sich wie eine Geschichte, die Katya noch nie gehört hatte. Verstohlen legte sie die Hand auf das schwarz lackierte Holz. Sie sah zu, wie die Finger des Deutschen über die Tasten tanzten, fast ohne sie zu berühren, und spürte, wie sich die Musik durch die Ohren, die Augen, die Füße, die Hand einen Weg in ihren Körper bahnte. Als der letzte Ton verklang, war die Vorderseite ihres Trägerkleids von Tränen durchnässt. Der Deutsche stand auf. Seine Bewegungen waren nun wieder kantig und ungelenk, und Alter und Blindheit ließen ihn zittern, doch auch ihm liefen Tränen über die Wangen.

»Eine russische Komposition für dich«, sagte er mit seinem unüberhörbaren Akzent. »Die Klaviersonate Nr. 2 in gis-Moll von Skrjabin. Ist dir der Name ein Begriff?«

Sie schüttelte den Kopf, hatte vollkommen vergessen, dass er sie nicht sehen konnte.

Er strich ihr mit dem Daumen über die Wange, merkte, dass sie tränennass war.

»Благодарю«, sagte er. Ich danke dir.

Ihr Vater hatte das als Verabschiedung interpretiert und Katya an der Hand hinausgeführt. »Danke«, hatte sie über die Schulter gesagt. »Danke.«

Sie hoffte vergeblich, der Deutsche würde kommen und sie zu sich einladen, ihr etwas beibringen, und in ihrer Ehrfurcht wagte sie es nicht, sich allein in seine Wohnung zu schleichen. Und jetzt hatte sie ihn schon drei Nächte nicht mehr spielen hören. Als ihr Vater und sie das nächste Mal die Wohnung des Deutschen betraten, in der sich nur noch sein glänzendes Klavier befand, fragte Katya: »Wo ist er, Papa? Wo ist sein Stuhl? Sein Bett?«

»Sch, sch, sch, Katenka. Er ist fort. Aber er hat dir etwas vermacht. Sein Klavier.«

»Wohin ist er gegangen?«

»Fort. Er ist tot. Eines Tages werde ich es dir erklären. Er hat uns einen Brief geschrieben.« Erst jetzt fiel Katya auf, dass ihr Vater einen Umschlag in der Hand hielt.

»Was steht denn drin?«

»Nur, dass du sein Blüthner bekommen sollst. Er schreibt, dass ich für dich darauf aufpassen soll, und dass du Klavierspielen lernen sollst. ›Ihr Herz schlägt für die Musik, das sieht selbst ein Blinder‹, schreibt er.«

Mit der Hilfe von drei Nachbarn bugsierte Katyas Vater das Klavier durch den Korridor und schob es in ihr kleines Wohnzimmer. Die beiden neuen Familien, die in die Wohnung des Deutschen zogen, behaupteten, dort würde es spuken. »Er hat sich mit seiner Mauser HSc das Hirn rausgeblasen«, sagten die Nachbarn. »Er ist zurückgekehrt in das Land der Monster und Dämonen. Wir können froh sein, dass wir ihn los sind!«

Katya dagegen konnte ohne den Deutschen und seine Musik nur noch schlafen, wenn sie sich mit dem Kopf unter das Klavier legte, das dunkle Haar zwischen den Pedalen. Dann träumte sie von tanzenden Schneefeen, von Nieselregen und Wolken, die unbekümmert über ihr dahinzogen. Morgens versuchte sie, die Melodie nachzuspielen, eine Note nach der anderen, prägte sich die Reihenfolge ein. Ihr Vater ermutigte sie, brachte ihr alles bei, was er konnte. Er sagte, das Geschenk des Deutschen sei ein Beweis für die Güte des menschlichen Herzens. Für Katya bedeutete dies, dass dem Instrument ein Zauber innewohnte, den es zu ergründen galt.

Und genau das tat sie.

Es wurde die erste große Liebe ihres Lebens.

KAPITEL 4

Bis kurz vor ihrem zwölften Geburtstag hatten Clara und ihre Eltern in einem Vorort von Santa Monica gelebt, in einem malerisch wirkenden Haus, von dem aus sie sowohl zur Grundschule als auch zum Strand zu Fuß hatte gehen können, und auch zur UCLA, der Universität, an der ihre Eltern Alice und Bruce unterrichteten, waren es nur zehn Kilometer. Es war ein Cottage im Craftsman Style, hellgelb gestrichen, gerade groß genug für sie alle und umgeben vom obligatorischen weißen Gartenzaun. Das Haus war lichtdurchflutet und erfüllt von Büchern, Bildern und einer geschäftigen Stille, die sie überhörten, da die Vintage-Stereoanlage von Marantz im Wohnzimmer fast durchgehend lief. Claras Mutter ließ sich von National Public Radio, ihr Vater von einem Klassiksender beschallen. Beide arbeiteten viel, selbst zu Hause, während Clara las oder fernsah oder sich Gymnastikchoreografien ausdachte.

Die Stereoanlage half auch, die anderen Arten von Schweigen zu übertönen; jene, die vor und nach den Auseinandersetzungen ihrer Eltern aus den jeweiligen Arbeitszimmern, in die sie sich nach dem Abendessen stundenlang zurückzogen, krochen. Die Tür zum Büro ihrer Mutter war für gewöhnlich geschlossen. Durch die Ritzen konnte Clara den Rauch ihrer Virginia-Slims-Zigaretten riechen.

Ihr Vater ließ seine Tür offen, und dann und wann durfte Clara auf dem roten kasachischen Teppich ihre Hausaufgaben machen, während er las, halblaut, in Sprachen, die sie nicht verstand. Am lautesten jedoch war sein Schweigen. Es bedeutete: Pst, ich hab zu tun oder Später vielleicht oder Ich hab’s vergessen.

So war es nicht immer gewesen, da war sich Clara sicher. Bisweilen blitzten Erinnerungsfetzen auf, die davon zeugten, dass es auch glücklichere Zeiten gegeben hatte. Sie sah sich mit ihren Eltern beim Kartenspiel hinten auf der kleinen Terrasse oder mit frittiertem Hühnchen in kleinen Pappeimern auf dem Weg zu einem Strandpicknick bei Sonnenuntergang. Diese Momente hatte Clara nach dem Tod ihrer Eltern am deutlichsten vor Augen: die knarzenden Rattan-Gartenmöbel, das fettige Hähnchenfleisch, die frische salzige Meeresluft, die Wärme, wenn die beiden sie zwischen sich an die Hand nahmen.

Ihre einzigen verbliebenen Verwandten waren Ila, die Schwester ihres Vaters, und Ilas Mann Jack. Clara war ein paar Mal mit ihren Eltern zu den beiden nach Bakersfield gefahren – an Feiertagen und zur Beerdigung ihrer Großeltern –, und es war offensichtlich gewesen, dass es sich um Pflichttermine handelte und nicht um Ausflüge. Wann immer sie durch die Vororte von Bakersfield fuhren, hatte Claras Mutter in Anbetracht der Ödnis, die sie umgab, den Kopf geschüttelt und gemurmelt: »Ich kann noch immer nicht fassen, dass du in diesem Kaff aufgewachsen bist, Bruce.« Dann hatte Claras Vater sie mit einem Seitenblick bedacht und gesagt: »Lass gut sein, Alice.«

Ila war »krankhaft nervös«, wie Claras Vater es nannte, ein Zustand, der sich in Gegenwart der unnahbaren unerschütterlichen Schwägerin oft noch verstärkte. Ila stopfte Löcher in der Unterhaltung mit geistlosem Geplapper und wies in einem fort auf ihre eigenen Unzulänglichkeiten hin, sei es hinsichtlich ihrer Kochkünste, ihrer Haushaltsführung oder ihrer Lesegewohnheiten. Einmal stieß sie bei einer Mahlzeit an ihrem eigenen Esstisch ein Glas Wasser um und entschuldigte sich, den Tränen nahe, immer wieder dafür, dass sie »das Tischtuch ruiniert« habe, selbst nachdem ihr Alice mit ihrer kühlen Art mehrfach versichert hatte: »Ist doch nicht weiter schlimm, es war ja bloß Wasser.« Onkel Jack mit seinen sanften blauen Augen und dem Südstaatenakzent dagegen schien sich nicht daran zu stören, dass er in seinen alten Jeans und den weichen abgetragenen Hemden underdressed wirkte und obendrein deutlich weniger gebildet war. Er hatte sich auf dem Nachbargrundstück eine gut laufende Autoreparatur- und Karosseriewerkstatt aufgebaut. Von Natur aus wissensdurstig, befragte er Claras Mutter gern zu politischen Themen oder ließ sich von Claras Vater Bücher empfehlen, wenngleich er sie dann nicht las. Er erkundigte sich bei Clara stets nach der Schule, und zum Abschied nahm er ihre Hand und sagte: »Es war mir eine große Freude, dich wiederzusehen, junge Dame«, und Clara spürte, dass er es ernst meinte.

Nach dem Gedenkgottesdienst für ihre Eltern – es gab keine sterblichen Überreste, die man hätte bestatten können, das Feuer hatte fast alles vernichtet – fuhr sie mit Ila und Jack von Santa Monica nach Bakersfield. Tante Ila weinte und wiederholte ein ums andere Mal, wie furchtbar das alles sei, was für ein grauenhaftes Schicksal für Clara, alles zu verlieren. Clara sagte nichts. Sie kniete auf der Rückbank und beobachtete, ohne zu blinzeln oder zu weinen, durch das Heckfenster, wie der Himmel dunkler wurde und alles, was sie kannte, in der Ferne verschwand – so lange, bis ihr die Knie schmerzten und ihre Augen ganz trocken waren. Sie rollte sich in ihrem neuen Kleid aus steifem schwarzem Stoff und den engen Lacklederschuhen, die an den Zehen drückten, zusammen und brachte den Rest der schier endlosen Fahrt damit zu, sich nach zu Hause zu sehnen. Doch das Zuhause, das sie gekannt hatte, gab es nicht mehr.

Erst in den Schatten von Onkel Jacks Werkstatt lernte sie, mit dem Verlust zu leben. Ihre Tante versuchte, sie mit gedämpftem Gemurmel, nichtssagenden Phrasen und den ihr bekannten Mitleidsbekundungen zu trösten; Jack dagegen begriff, dass Clara Ruhe brauchte. Er richtete ihr unter einem alten Schreibtisch in der Ecke seiner Werkstatt ein gemütliches Nest ein, in dem sie sich ausruhen oder verstecken konnte. So konnten sie einander im Auge behalten. Als sie nach einer Weile aus ihrer Schockstarre erwachte, zeigte er ihr, wie man den Reifendruck maß, Scheibenwischerflüssigkeit nachfüllte oder Starthilfe gab, wenn die Batterie leer war. Sie ging wieder in die Schule, lernte andere Kinder kennen, freundete sich sogar mit einigen wenigen an, und fühlte sich doch stets von der beruhigenden Sicherheit der Werkstatt angezogen. Nach einer Weile beherrschte sie Reifenmontage, Ölwechsel, Motor-Tuning und Autoinspektionen, später auch Reparaturen an der Elektronik und die Fehlersuche bei mechanischen Problemen. Die gesamte Highschool-Zeit über arbeitete sie bis zu zwanzig Stunden in der Werkstatt, obwohl ihr Onkel sie ermutigte, mehr Zeit mit ihren Freunden zu verbringen und sich Gedanken über das College und die Zukunft zu machen. Er brachte eine Broschüre der California State University Bakersfield nach Hause, doch beim Anblick der endlos langen Liste an Studienfächern geriet sie in Panik.

»Nun hör mir mal gut zu, Clarabell«, sagte er. »Du bist die Tochter, die deine Tante und ich nie hatten, und ich bin froh, dass du bei uns bist, das weißt du. Aber dein Leben sollte sich nicht auf das hier beschränken«, fuhr er mit einer Armbewegung fort, die das Haus, die Werkstatt, die Stadt mit einschloss. »Du musst nicht hierbleiben. Du kannst tun, was immer du willst.« Das Problem war nur: Sie wusste nicht, was sie sonst tun wollte.

Dann, kurz nach ihrem zwanzigsten Geburtstag, lernte sie Bobby kennen, der an der UCLA Philosophie studierte. Er war auf dem Weg zu Freunden in Fresno gewesen, als bei seinem Jetta nach ein paar Fehlzündungen ein Warnlämpchen aufgeleuchtet hatte, also war er von der California State Route 99 abgefahren und hatte die erstbeste Werkstatt angesteuert, und das war die von Onkel Jack gewesen. Clara wechselte die Drosselklappe und lächelte ihn an, als sie ihm hinterher den Autoschlüssel zurückgab. Er erwiderte das Lächeln, und die Verabredung zum Dinner noch am selben Abend markierte den Beginn ihrer einjährigen Beziehung. Bobby war ein paar Jahre älter als sie, wollte nach dem Abschluss eine eigene Firma gründen und erzählte mit großer Ernsthaftigkeit von seinen diversen Start-up-Ideen. Clara gefiel es, dass er im Kino oder beim Spazierengehen ihre Hand nahm, ihr die Tür aufhielt und ihr unverwandt in die Augen sah, wenn sie etwas sagte. Als sich herausstellte, dass er in Santa Monica lebte, unweit des Viertels, in dem sie aufgewachsen war, verbrachten sie auf ihren Wunsch hin einen Samstag an dem Strandabschnitt, den sie einmal als den ihren betrachtet hatte, und danach fuhr er mit ihr die Straße entlang, in der sie und ihre Eltern gewohnt hatten. »Fahr langsam«, sagte sie, und er kam ihrer Bitte nach, schweigend, in dem Versuch, ihr die schmerzhafte Erfahrung etwas zu erleichtern.

Nach ein paar Monaten jedoch begann er, sie zu einem Studium an der UCLA zu drängen. »Du verschwendest dein Potenzial«, sagte er. »Du könntest Maschinenbau studieren. Wir könnten mehr Zeit miteinander verbringen.« Clara zuckte stets nur die Schultern und erwiderte, Automechanikerin zu sein genüge ihr vollauf. Sie hatte Spaß an ihrem Job und verstand sich hervorragend darauf; ihr Onkel hatte bei ihrer Ausbildung ganze Arbeit geleistet. In Anbetracht ihrer mangelnden Begeisterung war Bobby schon bald frustriert und machte verletzende Bemerkungen wie: »Meinst du nicht, deine Eltern hätten gewollt, dass du studierst?« Schließlich sagte er, er wolle keine Freundin, die mit ihrem Leben nichts Wichtigeres anzufangen wisse als Öl zu wechseln, und damit war alles gesagt. Zum zweiten Mal in ihrem Leben wurde ihr das Herz gebrochen.

Ein paar Wochen nach ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag lernte sie in einer Bar Frank kennen. Ihr Onkel hatte erfahren, dass er Kehlkopfkrebs im Spätstadium hatte, und sie hatte vor dem verzweifelten Wehklagen ihrer Tante fliehen müssen, die seit jeher eher geneigt gewesen war, sich an Claras Schulter auszuweinen, als ihr ihrerseits eine Stütze zu sein.

Frank war Barkeeper und Fliegenfischer, mit Tattoos, die an den Handgelenken ihren Anfang nahmen, sich unter den hochgekrempelten Hemdsärmeln fortsetzten und sich oben aus dem Kragen schlängelten. Clara hatte sich an jenem ersten Abend betrunken an ihn gewendet und gefragt, ob er ihr ein Tattoo-Studio empfehlen könne. Sie wollte sich zu Ehren von Onkel Jack ein Herz samt Aufsteckschraubenschlüssel oder so was in der Art stechen lassen. »Das würdest du bereuen«, sagte Frank, tauschte ihren Whiskey gegen eine Tasse Tee und nahm sie vor den spottenden Gästen in Schutz, während sie, den Kopf auf die Unterarme gelegt, am Tresen ihren Rausch ausschlief. Sie erwachte, als die Lichter angingen, und nachdem er in der Bar klar Schiff gemacht hatte, nahm Frank sie mit zu sich nach Hause, wo er ihr auf seiner Couch ein Bett zurechtmachte.

Sie waren noch nicht allzu lange zusammen, als Ila einem Herzinfarkt erlag. Jack wurde in ein Pflegeheim verlegt, und um die Kosten tragen zu können, musste Clara seine Werkstatt verkaufen, und dazu das Haus, in dem sie seit ihrem zwölften Lebensjahr gewohnt hatte. Frank schaffte in seiner Einzimmerwohnung Platz für sie, und da sie Arbeit brauchte, stellte er sie seinem Freund Peter Kappas vor, der ihr einen Job in der Werkstatt seiner Eltern vermittelte. Als ihr Onkel starb, half Frank bei der Organisation der Beerdigung, legte ihr während der Grabrede des Pfarrers den Arm um die Schultern und ließ sie sich in Ruhe im Schlafzimmer ausweinen. Er war ein herzensguter anständiger Bursche, deutlich entspannter als Bobby und deutlich weniger fordernd, und Clara hatte das Gefühl, er könnte zu der Sorte Mann gehören, die ihr nicht das Herz brechen würde – bis er eines Tages mit einem Mädchen namens Willow nach Hause kam und ihr erklärte, es würde ihn total heißmachen, wenn er ihnen beim Rummachen zusehen dürfte.

Clara hatte nicht viele Freunde, also bat sie Peter und seine Brüder, ihr beim Umzug in eine neue Wohnung zu helfen. Hinterher lud Peter sie zum Dinner ein. Sie ließ sich darauf ein, allerdings auf rein freundschaftlicher Basis. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen zu sehen. »Ich mag dich«, sagte sie. »Lass es uns nicht verbocken.«

Nach Frank traf sich Clara mit einer Handvoll weiterer Männer, ließ sich jedoch mit keinem von ihnen auf eine Beziehung ein. Seit Bobby machte sie einen großen Bogen um Kunden, und da sie kaum je Bars oder Cafés frequentierte, lernte sie nur selten neue Leute kennen. Ihre Freizeit verbrachte sie größtenteils allein oder mit Peter.

Dann begegnete ihr Ryan, der mit souveräner Coolness seinen Einkaufswagen durch den Supermarkt schob und dabei sowohl die Angestellten als auch die anderen Kunden anlächelte. Er war nicht sonderlich attraktiv – hohe gewölbte Stirn, Hakennase und ein leichter Bauchansatz –, doch Clara entging nicht, wie sich die Leute umdrehten und ihm nachsahen, wenn er an ihnen vorbeikam. Als er Clara passierte und ihr zunickte, erkannte sie, warum: Es fühlte sich an wie ein Segen, wenn einen dieser verklärte Blick streifte. Er ging weiter, und kaum hatte er ihr den Rücken zugewandt, empfand sie Einsamkeit und Sehnsucht zugleich. Als er an einem Promotion-Stand anhielt und sich eine Kostprobe agua fresca geben ließ, schob sie ihren Wagen neben seinen. Der Angestellte reichte ihr einen kleinen Pappbecher, und Ryan drehte sich zu ihr um und sagte mit einem Akzent, der sich als südafrikanisch entpuppen sollte: »Cheers.«

Sie standen eine ganze Weile an der Saftbar herum, ihre Einkaufswagen Seite an Seite geparkt. Ryan war Pilot und flog freiberuflich Kleinflugzeuge des Modells King Air für einen Ambulanzdienst. Er transportierte Spenderorgane oder Patienten auf dem Weg zur OP. Kindern helfen zu können fände er besonders schön, sagte er. Während er sprach, bemerkte sie seine schiefen Zähne und das samtige Blaubraun seiner Augen und schloss beides auf der Stelle ins Herz. Sie gestand ihm, dass sie Automechanikerin war, der Befürchtung zum Trotz, dies könnte das allem Anschein nach auf Gegenseitigkeit beruhende Interesse bei ihm schwinden lassen. Doch zu ihrer Erleichterung klatschte er sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel und rief: »Das find ich ja cool!« Darauf erkundigte sie sich mit einer Direktheit, die untypisch für sie war, ob er sie einmal auf einem seiner Flüge mitnehmen könnte.

Fünf Monate später zog sie in das Haus mit den zwei Schlafzimmern, in dem er zur Miete wohnte. Und jetzt, fast zwei Jahre später, zog sie wieder aus.

Sie deponierte die zusammengefalteten Kartons aus dem Supermarkt neben der Haustür und sah sich um. Die Deckenbeleuchtung wäre zu hell für die bevorstehende Aufgabe gewesen, zu normal, also machte sie sich ein Bier auf und wartete ab, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel im Raum gewöhnt hatten. Auf dem Tisch lagen wie versprochen ein Mietvertrag und ein glänzender goldener Schlüssel, daneben ein Zettel, auf dem Alles Gute – Ryan. PS: Denk daran, mir deinen Schlüssel hierzulassen stand. Sie knüllte den Zettel zusammen und warf ihn in den Mülleimer.

Viel gab es nicht zu packen, nur ihre Klamotten, Bücher und CDs und ein bisschen Küchenkram. Der Hibachi-Grill, den sie Ryan zum Geburtstag geschenkt hatte, und der kein einziges Mal zum Einsatz gekommen war. Zwei Stehlampen. Die Lieblingswerkzeuge ihres Onkels und das eine Album mit Familienfotos, das ihre Tante zusammengestellt hatte. Clara hatte nie eine große Sammelleidenschaft entwickelt, seit sie vor vierzehn Jahren als Waise zum Neubeginn gezwungen worden war. Der Großteil ihrer Besitztümer passte in ihren Corolla, nur bei den größeren Sachen benötigte sie Hilfe – der Futon, der ihr nun wieder als Bett dienen würde, ein kleiner Tisch samt Stühlen, ihr Rad, das Klavier.

Sie machte sich ein weiteres Bier auf und ging in das zweite Schlafzimmer, in dem seit ihrem Einzug das alte Blüthner an der Wand stand, ungespielt und überwiegend ignoriert. Anfangs hatte sich Ryan nie über den verschwendeten Platz beschwert, hatte sie nicht gedrängt, wieder Unterricht zu nehmen. Er hatte es einfach akzeptiert, wie man das in einer Beziehung mit etwaigen Relikten aus der Vergangenheit des Partners eben tat, nachsichtig zunächst, doch dann, infolge der unvermeidlichen Anhäufung von Misstönen, mit wachsender Gereiztheit, bis das Klavier zu einem Symbol für die unüberwindbaren Niederlagen ihrer Beziehung avancierte.

»Warum verscherbelst du das Ding nicht einfach?«, hatte er sie kürzlich während eines Streits gefragt. Er wurde in ein paar Monaten fünfunddreißig und wollte den Raum zum Kinderzimmer umfunktionieren. »Du kannst es doch gar nicht spielen«, hatte er gefaucht, mit einer Abscheu, die sie unverzeihlich fand.

»Flieg zur Hölle«, hatte sie gesagt. Er war ins gemeinsame Schlafzimmer marschiert und hatte die Tür zugeknallt, so fest, dass sie die Erschütterung in den Zähnen hatte spüren können. Zwei Wochen war das jetzt her.

Clara ließ sich auf der Klavierbank nieder, trank einen Schluck Bier. Sie betätigte mit dem nackten Fuß eines der Pedale und lauschte dem flüchtigen Klang des Nichts, der durch die Anhebung des Dämpfers von den nicht angeschlagenen Saiten entstand. Es fühlte sich an, als würde sie in einem kaputten Auto aufs Gaspedal treten, um loszufahren – nur: wohin?

KAPITEL 5

Der Oberleitungsbus hielt quietschend an, die dreieckigen Haltegriffe schwangen träge über den Köpfen der Passagiere hin und her. »Извините«, entschuldigte sich Katya und drängte sich hastig zur Tür, vorbei an den bestrumpften Knien alter Frauen und den gelangweilten Blicken müder Männer. Sie sollte in einer Viertelstunde am Jugendtheater sein und würde sich mit großer Wahrscheinlichkeit verspäten.

Sie ging so schnell sie konnte, legte zwischendurch immer wieder ein paar Meter im Laufschritt zurück, bis ihr in den viel zu engen Lederpumps, die sie sich von ihrer Mitbewohnerin geliehen hatte, die Füße schmerzten. Sie schwitzte, fächelte sich mit der dünnen Notenmappe kühle Luft zu. Wenigstens war es noch nicht unerträglich heiß. Sie passierte die Statue des Diplomaten Gribojedow und hastete an der gepflegten Grünfläche in der Mitte des Pionerskaja-Platzes entlang, vorbei an Müttern, die ihre Kinderwagen auf dem von Bäumen gesäumten Gehweg dahinschoben, vorbei an den Zigaretten rauchenden Stilyagi, die zu laut über die Scherze lachten, die sie einander erzählten, und in ihren schmal geschnittenen Hosen und bunten Hemden so taten, als wären sie schnieke Amerikaner.

»Katya!« Boris Abramowitsch, ihr Freund vom Leningrader Konservatorium, lief ihr entgegen und ergriff ihre Hand. »Ich hatte schon befürchtet, du hast es dir womöglich anders überlegt.«

»Aber nein, natürlich nicht. Der Trolleybus kam mal wieder zu spät.«

»Auf die sowjetischen Fahrpläne ist eben kein Verlass.« Seine Tänzer-Schritte waren gut eineinhalbmal so lang wie die ihren, sodass er sie förmlich hinter sich herschleifte.

»Sag so was nicht, Borya! Die Wände haben Ohren.«

Boris streckte anmutig die Arme zum bewölkten Himmel empor. »Wir sind hier mitten auf der Promenade! Du machst dir echt zu viele Gedanken. Sei doch mal ein bisschen locker!« Er verlangsamte seine Schritte und schickte sich an, den obersten Knopf ihrer Bluse zu öffnen. Katya wischte seine Hand beiseite, als sei sie eine lästige Fliege. Er lachte. »Außerdem wird uns Gerald Ford mit seiner Entspannungspolitik retten.«

Katya mochte Boris von Herzen gern, aber er war eindeutig zu weltfremd, zu verträumt. Er studierte Tanz und Choreografie am Leningrader Konservatorium, wo sie selbst eine Ausbildung zur Konzertpianistin absolvierte, und sie verdankten ihre Bekanntschaft dem Umstand, dass die Musikstudenten dann und wann die Gelegenheit bekamen, die Balletttänzer bei den Proben und Aufführungen zu begleiten und bisweilen sogar eigene Kompositionen für ihre Choreografien zu schreiben.

Katya bewunderte Boris’ Tanzkünste und seinen Intellekt, und sie genoss seine Gesellschaft, empfand seine Begeisterung für nahezu alles jedoch als anstrengend. Denn ganz egal, was es war – der Sonnenschein, der Verkehr rund um den Theaterplatz, eine gute Nachricht, bisweilen sogar eine schlechte –, alles konnte für Boris Anlass für ein spontanes Tänzchen sein. Einmal hatte er, während sie in der Haltestelle Sadowaja auf die U-Bahn warteten, eine Pirouette nach der anderen gedreht, den gesamten Bahnsteig entlang.

Im vergangenen Winter hatte er sie gedrängt, ihn auf eine Party in der Wohnung eines anderen Studenten zu begleiten, dessen Eltern verreist waren. Sie hatte die Einladung nur widerstrebend angenommen, waren ihr doch allerlei Gerüchte zu Ohren gekommen, denen zufolge es auf solchen Partys recht laut und wild zugehen konnte, doch am Ende hatte er sie davon überzeugen können, dass sie viel zu viel Zeit mit Üben zubrachte. »Du wirst noch irgendwann mit deiner Klavierbank verwachsen wie ein Baumschwamm mit einer Fichte«, hatte er gescherzt. Auf der Party gab es Jazzplatten vom Schwarzmarkt, dazu billige Zigaretten und noch billigeren Wodka. Es wurde getanzt und laut gelacht – und geknutscht, auch wenn man einander nicht kannte, und vor der Abstellkammer lungerten andauernd etliche Pärchen herum, die auf eine Gelegenheit warteten, ein paar Minuten ungestört zu sein. Katya ließ sich von Boris zu einem Trinkspiel überreden, das sie verlor, dann zerrte sie aus dem Stapel neben der Tür ihren Mantel hervor und schlich hinaus in die relative Stille der Nacht. In ihrer Erleichterung darüber, endlich allein zu sein, hatte sie damals nicht einmal groß darüber nachgedacht, ob unter den Gestalten, die außer ihr am Ufer der Fontanka unterwegs waren, womöglich auch KGB-Leute waren.

»Hast du jemanden zur Vorstellung eingeladen?«, erkundigte sich Boris. Sie näherten sich der Rückseite des Gebäudes und spähten um die Ecke. Vor den paar Stufen, die zum Eingang führten, hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Boris hatte einen Flügel in den überdachten Portikus schieben lassen, der ihm als Bühne dienen sollte. Ihr gemeinsamer Auftritt war seine Idee gewesen. Er hatte von einem seiner Professoren den Auftrag erhalten, ein klassisches Ballett neu zu interpretieren. Seine Wahl war auf »Das bucklige Pferdchen« gefallen, das Märchen vom einfältigen Iwan, dem es mit der Hilfe eines Zauberpferdes gelingt, das Herz einer schönen Prinzessin zu gewinnen. Normalerweise wurde das Stück mit großer Besetzung, aufwändig gestalteten Kulissen und einem Orchester aufgeführt, das Iwans Abenteuer unter Wasser und seine Reise ans Ende der Welt mit gefühlvoller Musik untermalte, doch Boris hatte es vollkommen umgekrempelt: ein Tänzer, ein Instrument, eine Aufführung im Freien. Und er hatte Katya damit beauftragt, die Musik dafür zu komponieren.

»Nein. Es ist deine Vorstellung. Ich spiele nur eine Nebenrolle«, sagte sie.

»Ach, du schämst dich wohl vor deinen Freunden für mich?«, fragte er mit gespielter Gekränktheit. Sie verdrehte die Augen.

»War doch nur ein Scherz«, beschwichtigte er sie. »Aber du hättest jemanden einladen sollen. Deine Musik ist großartig. Die gesamte Orchesterpartitur, gespielt von einem einzigen Instrument. Du hast meine kühnsten Erwartungen übertroffen, Katya.«

Sie lief rot an und wandte sich ab. »Es ist doch bloß eine Szene.«

»Schon, aber die schönste. Also, dann mal los.«

Er gab ihr einen sanften Schubs, und Katya ging andächtig auf den Flügel zu. Es gab keinen Applaus; alle warteten ab, was passieren würde. Sie nahm Platz, spielte einen Akkord, und Boris betrat – nun in hautfarbenen Strumpfhosen, Ballettschuhen und einem spitz zulaufenden Filzhut – mit ausladender Geste die improvisierte Bühne, eine lange, orangefarbene Feder in der einen Hand, ein Steckenpferd in der anderen. Vereinzeltes Gelächter, überwiegend von Kindern. Er verbeugte sich, nickte Katya zu, und dann legten sie los.

Boris, allein vor der schlichten Kulisse, wurde zu Iwan, der auf der Suche nach den sagenhaften Feuervögeln und nach der Prinzessin aus dem Traum des Zaren einen Berg erklimmt. Und während er, sich schlängelnd und windend, zwischen den Säulen umherjagte, sich drehte, streckte, zusammenkauerte, mühelos in die entsprechenden Rollen schlüpfte, um das Märchen zum Leben zu erwecken, spürte Katya, wie ihre Umgebung allmählich verblasste. Das Publikum, zu dem sich immer neue Passanten hinzugesellten, rückte in den Hintergrund, weit weg von den steinernen Stufen. Alles schien innezuhalten – die Trolleybusse und Autos hinter ihnen verharrten mitten auf der Fahrbahn, der trübe Fluss erstarrte auf seinem Weg zur Ostsee. Sämtliche Geräusche der Stadt – wenn nicht gar der ganzen Welt – verstummten; außer der Musik war kein Laut zu hören. Auf dem Blüthner klingt es besser, dachte Katya. Und dennoch war es ein magischer Augenblick.

Katya erhob sich in die Lüfte, hoch über den Klavierhocker, über die Pflastersteine. Die Schuhe drückten nicht mehr, die Finger waren das Einzige, was sie noch mit der Welt dort unten verband, während sie auf der Melodie himmelwärts schwebte. Die Wolkendecke teilte sich, die grauen Rauchschwaden verzogen sich ebenso wie die Ausdünstungen der Großstadt, der Geruch nach Elend und Verfall. Katya schloss die Augen und segelte inmitten einer wirbelnden Farbenpracht, wie sie sie noch nie erlebt hatte, mit den Feuervögeln zur Spitze des Berges, auf dem die Prinzessin wohnte. Der Himmel schimmerte, üppig blühende Blumen überall. Da! Die Prinzessin, mit raschelndem Rock und flatterndem Fächer auf ihrem hell erleuchteten Balkon hoch über der Welt, erfüllt von frisch entfachter Liebe. Und da war auch Iwan, der Einfaltspinsel. Er hatte sie gefunden und würde sie überzeugen, ihn in die Hauptstadt des Zarenreichs zu begleiten. Welch überwältigende Schönheit! Sie blendete Katya beinahe.

Eine solche Verzückung empfand sie nur, wenn sie spielte.

Die Szene dauerte gerade mal sieben Minuten; allzu bald war alles vorbei. Katya schwebte im Geiste noch immer in höheren Sphären, irgendwo über dem Theater, durchflutet von Musik, als ihr Boris eine Hand auf den Rücken legte und sie drängte, aufzustehen und sich zu verbeugen. Sie gehorchte wie in Trance, als hätte sie tief und fest geschlafen. Das Publikum jubelte »Браво! Браво!« und applaudierte fast eine volle Minute lang, ehe es sich allmählich zerstreute. Boris tänzelte von der Bühne zu seinem Lehrer und einigen Freunden. Katya blieb allein zurück, klammerte sich haltsuchend an den offenen Flügel und versuchte, wieder in ihren unzulänglichen Körper zu finden, während sie der Alltag Schritt für Schritt einholte.

Als sie schließlich wieder zu sich gekommen war, stellte sie fest, dass auf den Stufen ein junger Mann stand und sie musterte. Er zog einige Male kräftig an seiner Zigarette, wobei er jeweils die Augen etwas zusammenkniff und den quadratischen Schädel leicht zur Seite wandte, um aus dem Mundwinkel auszuatmen, als wollte er den Rauch nicht direkt in ihre Richtung blasen. Katya hatte keine Ahnung, wer er war, und sein unverhohlenes Interesse überraschte sie.

Er nahm gemächlich einen letzten Zug, ließ den Stummel fallen und trat ihn mit dem Absatz aus, ehe er mit schweren wohlüberlegten Schritten auf sie zukam, wobei er sie die ganze Zeit über nicht eine Sekunde aus den Augen ließ. Er war durchschnittlich groß und kräftig gebaut, sein Hemd spannte nur ein klein wenig zwischen den Knöpfen über dem Gürtel. Trotzdem bewegte er sich, als würde ihm die Schwerkraft stärker zu schaffen machen als anderen Menschen. Es ließ ihn ernst wirken. Trotzig. Er baute sich vor ihr auf und schob die Hände in die Hosentaschen.

»Ich fand das Stück motivisch kohärent«, bemerkte er und schob das Kinn vor. »Es war gut. Hat mir gefallen. Du zitierst im Aufbau mehrfach das Hauptthema, richtig?« Seine Stimme war tiefer als erwartet, eine Tonlage, bei der Katya an die alte Oktavistentradition des Zarenhofs denken musste.

Sie blinzelte. Er sah nicht aus wie ein Musikwissenschaftler, und auch nicht wie ein Musiker. Aber was wusste sie schon? »Ja«, sagte sie. Es klang heiser und schüchtern. Sie räusperte sich. »Danke.«

»Bitte.« Er zündete eine weitere Zigarette an und hielt sie ihr hin.

Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte es einmal versucht und sich schon an der dafür erforderlichen Fingerhaltung gestört. »Studierst du auch am Konservatorium?«, fragte sie, weil sie nicht wollte, dass das Gespräch damit endete.

»Nein, Maschinenbau.« Wieder wandte er den Kopf zur Seite, ehe er ausatmete, doch ein warmer Windstoß blies ihr den Rauch trotzdem ins Gesicht. »Aber ich verstehe etwas von Musiktheorie. Hin und wieder lese ich Schenker.«

Katya hatte die Theorien von Heinrich Schenker ebenfalls gelesen, aber nur, weil sie zur Pflichtlektüre gehörten. Wer auch immer dieser junge Mann war, der ihr da gegenüberstand, er schien sehr intelligent zu sein. Aus der Nähe betrachtet waren seine Augen von der Farbe des Kanalwassers. Katya sah sich in diesen schmutziggrauen Wirbeln gespiegelt, gleich einer dunklen Sonne auf der Wasseroberfläche.

»Komm doch mit zu mir auf eine Tasse Tee«, schlug er vor. »Ich habe ein paar Estrada-Platten …«

Sie war zwanzig und noch Jungfrau, wenngleich sie es nicht direkt darauf angelegt hatte. Im letzten Schuljahr hatte sich eine ernste Beziehung mit einem Jungen aus ihrem Wohnblock in Zagorsk angebahnt, doch nachdem er sich darüber beschwert hatte, dass sie wegging, um am Konservatorium zu studieren, hatte sie Schluss gemacht, zur Erleichterung ihres Vaters und zur Enttäuschung ihrer Mutter. Du musst an deine Zukunft denken, Katenka. Du brauchst einen Ehemann, eine Familie! Und was ist mit mir? Ich habe nur dich. Es wäre schön, wenn du mich zur Großmutter machen würdest!

Boris hatte sie in betrunkenem Zustand einmal geküsst, und wer weiß, vielleicht wäre sie mit ihm ins Bett gegangen, wäre er damals nicht an ihrer Schulter eingeschlafen. Eine ähnliche Gelegenheit hatte sich nicht mehr ergeben, und schüchtern, wie sie war, hatte sie es nicht gewagt, selbst den ersten Schritt zu tun. Abgesehen davon hatte kein anderer Mann sonst Interesse an ihr signalisiert, seit sie nach Leningrad gekommen war.

»Ich kenne dich doch gar nicht«, sagte sie sanft, aber nicht abweisend.

»Ich bin Mikhail Zeldin.« Er machte keine Anstalten, ihr die Hand zu schütteln, starrte sie bloß weiter ausdruckslos an. Dann zuckte er die Schultern. »Jetzt kennst du mich.«

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