×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Das Tal der Orangen«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Das Tal der Orangen« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Das Tal der Orangen

Der Duft der Orange macht den geheimen Zauber von Magdalenas Ensaïmadas aus. Für ihr traditionelles Gebäck ist sie auf ganz Mallorca bekannt. Doch als der Spanische Bürgerkrieg ausbricht, verliert Magdalena die wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Sie entscheidet sich, ihrem Herzen zu folgen, und kämpft für die Freiheit und für die, die sie liebt. Dafür begibt sie sich in große Gefahr.
Jahrzehnte später ist Magdalenas Urenkelin Anaïs auf den Spuren ihrer Urgroßmutter. Das Schicksal führt sie ins Tal der Orangen …

»Ein gut recherchiertes Buch, toll geschrieben, mit einer starken Heldin … Mallorca ist entzückend.« Ariane Bois, Schriftstellerin


  • Erscheinungstag: 03.06.2019
  • Seitenanzahl: 240
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678599
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine Urgroßmutter Tissuze

Für meine Tochter Maïlys

Alles, wovon Dichter und Maler träumen können,

hat die Natur an diesem Ort geschaffen.

George Sand

Marseille, Hôtel du Port, 2016

Eine feine Staubschicht hatte sich über den Raum gelegt und bedeckte die Betonplatten, aus denen zahlreiche Eisenstangen ragten. Die Bauarbeiter, die in dicken Schutzanzügen steckten, unterhielten sich brüllend, um den ohrenbetäubenden Lärm der Presslufthämmer und Schlagbohrer zu übertönen. Dann und wann verstummte das lautstarke Konzert und wich der Geräuschkulisse der Stadt, die durch die weit geöffneten Fenster hereindrang. Auf der Hotelbaustelle am Alten Hafen von Marseille wurde seit fast zwei Jahren mit Hochdruck gearbeitet. Die Stadtverwaltung wollte diesem Hotel, das dem Zahn der Zeit nicht standgehalten hatte und nach und nach verfiel, seinen alten Glanz wiedergeben.

Einer der Arbeiter stützte sich mit den Ellbogen auf die schmiedeeiserne Balustrade und rauchte eine Zigarette. Vor ihm breitete sich ein unglaubliches Panorama aus. An diesem Sommernachmittag wirkte die Kirche Bonne Mère hoch oben auf ihrem Hügel wie von einem orangefarbenen Heiligenschein umgeben. Ganz allein auf ihrem Glockenturm wachte die Jungfrau mit dem Kind vor einem Himmel, der wie ein ausgewaschenes Aquarell wirkte, über die Stadt.

»Setz den Helm auf, Paco. Wir nehmen die Decken in Angriff«, hörte er eine Stimme über den Baulärm hinweg rufen.

Er griff nach seinem Hammer und machte sich an die Arbeit, ohne Zeit zu vergeuden. Auch in den benachbarten Räumen setzten sich die anderen Arbeiter in Bewegung und wimmelten umher wie Ameisen. Böden aufreißen, Wände einschlagen, die Steintreppen polieren, neue Türen einsetzen: Das war seit vielen Monaten ihr täglich Brot. Die hiesige Tageszeitung La Provence sprach von einem titanischen Projekt, dem Schmuckstück unter den Hotelbauten von Marseille. Die Architektur des Hôtel du Port sollte durch den Einsatz von Halbedelsteinen und Glaswänden, in denen sich das Meer spiegelte, an das Mittelmeer erinnern. Durchbrochenes Metall würde ein Spiel von Licht und Schatten suggerieren, wie es sonst typisch orientalische Gitterfenster taten. Das Hotel sollte das neue Wahrzeichen von Marseille werden, ein Symbol für die Erneuerung der Stadt. Doch im Moment ähnelte es noch einem ausgeweideten Tier. Einer Art Labyrinth aus weißen staubüberzogenen Wänden.

Paco schlug mit der Spitzhacke kräftig auf die Zwischendecke ein. Der Gips löste sich in Brocken, und einige Krümel setzten sich in sein braunes lockiges Haar. Die Arbeit war mühselig. Beim Herauslösen einer der Platten atmete er eine Staubwolke ein und nieste. Seine Arme fühlten sich taub an, als er von der mit Farbe bespritzten Leiter stieg, die noch die Spuren alter Malerarbeiten trug. Er genehmigte sich einen Schluck Wasser, um seine trockene Kehle zu benetzen. Seine Augen waren gerötet und gereizt. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht und fühlte sich sofort erfrischt. Dann hob er den Kopf, um sich einen Eindruck davon zu verschaffen, wie viel Arbeit noch vor ihm lag. In diesem Moment fiel sein Blick auf einen Gegenstand, der seine Aufmerksamkeit erregte.

Zwischen zwei hervorspringenden Gipsstücken schien eine verrostete Blechdose festzustecken.

Sicher eine alte Werkzeugbüchse, die bei früheren Bauarbeiten vergessen worden ist, dachte Paco.

Im Allgemeinen dienten abgehängte Decken dazu, Rohrleitungen oder Elektrokabel zu verbergen, oder auch dazu, einen Raum gegen Lärm oder Kälte zu isolieren.

Neugierig nahm er die Dose und wischte sie mit einem nassen Lappen ab. Auf dem Blechdeckel konnte man noch eine Schrift erkennen.

Aux délices de Majorque. Spécialités espagnoles.

Épicerie fine de Marseille

Mallorquinische Köstlichkeiten. Spanische Spezialitäten. Feinkost aus Marseille. Bräunliche Schimmel- und Rostflecken verunstalteten die Dose und wirkten wie Kaffeeringe. Es war eines dieser alten Schätzchen, die auf Flohmärkten oder bei Straßenmärkten von Trödlern und Händlern angeboten wurden.

Paco öffnete die Dose und versuchte dabei, sie nicht zu beschädigen. Ein ranziger, pilziger Geruch stieg ihm entgegen, als er den Deckel abhob, und Paco schnürte sich augenblicklich der Hals zu. Im Inneren der Büchse lagen ein vergilbtes Foto, ein altes Schreibheft, ein goldenes Medaillon und eine Gewehrkugel. Der Schwarz-Weiß-Abzug zeigte eine Landschaft, in der sich Felder mit Obstbäumen erstreckten, so weit das Auge reichte. Im Vordergrund stand eine wunderschöne schlanke Frau in einem weißen Kleid. Sie hatte eine schmale Taille und trug eine Stola aus makelloser Spitze über ihrem langen dunklen Haar. Die junge Frau kniff die Augen zusammen, zweifellos, um sich vor dem grellen Sonnenschein zu schützen. Das Foto wirkte wie eine nostalgische Postkarte. Paco drehte es um. Mit verblasster blauer Tinte stand in einer gerundeten Handschrift darauf:

Siempre mía. La única en mi corazón,

la que atrapa mis sentimientos.

Ein spanischer Spruch, dachte er, ohne die Worte zu verstehen. Er zog auch das Heft hervor. Darin standen Notizen, die offenbar mehrmals korrigiert worden waren.

sobrassada, Tumbet, Escabetx de rajada,

Ilet d’ametla, 300 400 gramos …

Bestimmt ein Rezeptbuch. Die Seiten, die so fein wie Seidenpapier waren, schienen allein beim Umblättern zu knittern. Zur Vorsicht legte er das Heft ganz unten in die Dose zurück.

Morgen würde Paco seinen Polier darauf ansprechen. Doch nun musste er sich erst einmal auf den Weg zu seinen Kollegen machen, die ihn an der Corniche, der Uferstraße, zu einem nächtlichen Angelausflug erwarteten, bei dem er endlich die Stille des Meeres auskosten könnte.

Die Nacht senkte sich bereits wie ein Schleier über Marseille und stürzte die bunten Gassen der Stadt ins Halbdunkel. Auf der Baustelle hatten die Arbeiter den großen Innenraum verlassen. Paco stellte die Blechbüchse neben seine staubigen Schuhe und schloss seinen Spind ab.

Er konnte nicht ahnen, dass sein Fund Familiengeheimnisse aufdecken würde. Geheimnisse, die vor langer Zeit an einem anderen Ufer des Mittelmeeres vergraben worden waren …

1. Kapitel

In einer großen Steingutschüssel rührte Anaïs Mehl, Milch, Zucker, Eier und Olivenöl zusammen. Ein angenehmer Duft nach Orangenblüten hatte sich in der Küche ausgebreitet. Durch das offene Fenster drang das Klirren der Löffel ihrer Angestellten herein. Sie wischte sich die mehlbestäubten Hände an ihrer Schürze ab und warf einen Blick auf die Uhr. Die Ensaïmadas würden pünktlich fertig sein. Nach dem Kneten musste der Teig gut eine Stunde ruhen. Dann würde sie ihn mit den Händen zu Schnecken formen wie ein Bildhauer und in den Ofen schieben. Ihr langer brauner Zopf schaukelte im Rhythmus ihrer schnellen Schritte, während sie zwischen der Arbeitsplatte und dem Tisch aus Olivenholz hin- und herging.

Diese Bewegungen waren seit Generationen ein Teil von Anaïs’ Familie. Das Café de l’Ensaïmada war in der Hauptstadt zu einem Genusstempel aufgestiegen. Seinen Namen trug es zu Ehren dieses typischen Gebäcks der Balearen, von denen Anaïs’ Vorfahren stammten, und es war zum angesagten Treffpunkt der Pariser Bürger geworden, an dem sich erlesene Genüsse, mediterraner Charme und authentische Rezepte mischten.

»Gib noch ein wenig Puderzucker hinzu. Man soll den bitteren Geschmack nicht gleich beim ersten Bissen bemerken«, erklärte sie einem ihrer Angestellten, der eine weiße Kochmütze trug.

Sie lief zwischen den Bäckern umher, überprüfte selbst kleinste Handgriffe und probierte den Teig mit einem Holzlöffel, um sich zu vergewissern, dass er genau dem Rezept entsprach, als wieder ihr Handy vibrierte, das sie in der Schürzentasche trug.

Eine neue Bestellung, dachte Anaïs.

»Sechsundfünfzig neue Nachrichten!«, rief sie aus, als sie die Benachrichtigungen auf dem Bildschirm sah. »Woher nehmen sie bloß die Zeit, um so viel zu schreiben?«

Schnell überflog sie den Gruppenchat ihrer Freundinnen, die sie für diesen Abend in die neueste angesagte Location einluden – einen Schleppkahn am Seine-Ufer, der sich bei Nacht in ein rustikales Tanzlokal verwandelte. Einige lobten die Cocktails, andere stellten Playlists der Musiker ein, die heute Abend spielen würden.

Anaïs überschlug schon, wie weit es vom Café zur nächsten Metro-Station war, wie oft sie umsteigen musste und wie viele Minuten sie bis zu ihrem Ziel laufen würde.

Sie tippte zwei Buchstaben – OK – und stellte sich die entnervte Reaktion von Mona vor, der Meisterin der Emojis, deren Nachrichten eher Bilderrätseln glichen als korrektem Französisch.

Vic: … geht’s noch kürzer?

Mona: Treffen uns dort um 20.30 Uhr.

Ihre Antworten brachten Anaïs zum Lächeln, aber sie hatte wirklich keine Zeit, sich damit aufzuhalten. Jede Minute würden die ersten Gäste kommen. Mit entschlossener Miene steckte sie das Handy in die Tasche und ließ den Blick über die Straße vor dem Café schweifen. Ein leichter Nieselregen färbte den Asphalt der Gehwege dunkler.

Ein gutes Zeichen, dachte sie.

An Regentagen suchten die Gäste gern Zuflucht in ihrem Café. »Du heizt den Ofen in einer Viertelstunde vor, okay?«

Sie klopfte dem jungen Angestellten aufmunternd auf die Schulter und überprüfte mit einem schnellen Blick, wie er sich seine Küchenutensilien zurechtgelegt hatte. Jeder Handgriff musste exakt sitzen.

Seit Anaïs vor drei Jahren das Café mit angeschlossener Konditorei der Familie übernommen hatte, setzte sie eine Innovation nach der anderen um und hatte ihrem traditionellen Gebäck mit dem unverwechselbaren Geschmack ungewöhnliche Aromen hinzugefügt, indem sie zur großen Freude der Gourmets subtil mit säuerlichen und süßen Noten spielte. Die Begeisterung war sofort groß gewesen. Die Kunden drängten sich und standen Schlange, um die Gebäckstücke zu ergattern. Auch größere Kuchen, die aus dem gleichen Gebäckteig gefertigt waren und die man mit der Familie oder Freunden teilen konnte, verkauften sich gut. Anaïs hatte sich schon immer gewünscht, die Tradition ihrer Familie in dem Viertel, in dem sie aufgewachsen war, fortzuführen.

Der Tag wurde hektisch. Wie sie es vorhergesehen hatte, bewog das Regenwetter die Passanten dazu, in das Café zu flüchten und sich bei einer Tasse eines heißen Getränks und einer Ensaïmada aufzuwärmen. Der Laden war ständig voller Kundschaft gewesen, sodass Anaïs sich keine Pause gönnen konnte. Der Regen lief an den Fensterscheiben hinunter, während draußen eine ganze Parade Regenschirme vorbeizog – der einzige Farbfleck in dieser grauen Landschaft.

Am Ende des Tages setzte sie sich gemütlich in einen der Clubsessel aus Leder, deren Armlehnen langsam rissig wurden. Irgendwann würde sie sie ersetzen müssen, und die Stühle würde sie einem Kunsthandwerker anvertrauen, der die Sitze neu bespannen würde. Doch unterdessen verlieh die Patina der Einrichtung ihrem Café einen gewissen Charme.

»Bis morgen, Chefin!«

Anaïs verabschiedete ihre kleine Truppe und verließ kurz darauf selbst das Café.

Sie schlug die Rue de l’Annonciation ein, eine Fußgängerzone, passierte das Restaurant des Viertels, die Obst- und Gemüsestände und den Buchladen und bog dann in die Rue de Passy ein. Ohne Schirm war sie rasch bis auf die Knochen durchnässt. Sie ging schneller und erreichte endlich die Metro-Station La Muette.

In diesem Moment klingelte ihr Handy. Anaïs schob eine widerspenstige Haarsträhne zurück und nahm den Anruf entgegen.

»Mona, wie geht’s?«

»Sehr gut und dir?«, fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Heute war ein hervorragender Tag. Gut besucht wie immer.«

»Ein harter Tag! Aber heute Abend kannst du dich entspannen. Ich hoffe, du hast noch Lust.«

Die Aussicht, sich in eine Decke gewickelt vor einem alten Film zu entspannen, löste sich vor Anaïs’ geistigem Auge auf. Mona hatte die Gabe, sie umzustimmen. Sie versuchte ständig, Anaïs mit Humor dazu zu bringen, ihren hektischen Alltag ein wenig zu entschleunigen.

Anaïs zog eine Grimasse. Sie trat von einem Bein aufs andere, obwohl sie es eigentlich kaum erwarten konnte, nach dem langen, anstrengenden Tag die Füße hochzulegen. Mona ließ ihr keine Zeit zum Überlegen.

»Also, abgemacht, Anaïs?«

Konnte sie da Nein sagen?

»Abgemacht.«

Kaum zu Hause angekommen, strich sie sich das Haar zurück, wobei sie ihren Hals und das Oval ihres Gesichts entblößte, band ihre Locken mit einem karierten Band hoch und schminkte sich die Lippen mit einem karminroten Lippenstift. Sie musterte den kleinen Berg bestickter Kissen auf ihrem Bett. Ein paar weitere tummelten sich auf dem Ohrensessel. In diesem Moment sehnte sie sich nach einem erholsamen Nickerchen in den weichen Federn. Sie seufzte.

Warum sollte sie heute nicht einmal etwas Ausgefallenes anziehen? Sie zog die Türen ihres Kleiderschranks auf, begleitet von einem lauten, metallischen Knarren. Anaïs schob ein Kleid nach dem anderen beiseite. Zwischendurch drehte sie die Lautsprecher auf, aus denen eine sanfte, raue Stimme klang. Während sie leise die Worte des jungen Schlagersängers mitsummte, ließ sie zahlreiche Kleiderbügel über die Stange gleiten.

Vor dem Spiegel zögerte sie lange und zog sich dreimal um, bevor sie sich schließlich für ein ausgestelltes schwarzes Kleid mit hoher Taille und eine gemusterte Strumpfhose entschied. Sie rückte ihre Träger zurecht und warf dann noch einen letzten zufriedenen Blick in den Spiegel. Langsam versetzte die Aussicht, heute Abend auszugehen, sie in Hochstimmung.

Das Pariser Lokal erwartete die Freundinnen. Bald würde sich ihr Gelächter mit der Musik der Party vermischen. Anaïs konnte es kaum erwarten; sie spürte praktisch schon die Tanzfläche unter ihren Füßen. Als sie den Schleppkahn erreichte, war noch keine ihrer Freundinnen zu sehen. Sie wollte gerade das Handy aus der Tasche ziehen, da entdeckte sie Mona, die zwei Cocktails in den Händen hielt; zwei Gin Tonic, die mit halben Zitronenscheiben und neonbunten Stäbchen geschmückt waren.

»Auf die Liebe!«

Sie schüttelten sich vor Lachen. Mona lag ihr oft mit ihren Herzensangelegenheiten in den Ohren. Während Anaïs eher eine Einzelgängerin war, hatte sich Mona auf sämtlichen Dating-Seiten registriert.

»So ist eben die virtuelle Liebe. Sie beginnt mit einem Klick und endet mit einem Knall«, hatte sie ihr einmal erklärt.

»Noch ein Grund, mich nie dort anzumelden«, hatte Anaïs lachend zurückgegeben.

»An deiner Stelle würde ich Gefühle nicht auf die leichte Schulter nehmen. Man darf sich nicht zu desillusioniert geben, sonst findet man nie einen Mann. Sieh dich doch an, du bist wunderschön!«

Mona fand immer nette Worte für sie.

»Bei der ganzen Arbeit im Café habe ich gar keine Zeit für so etwas! Und die Männer vergucken sich immer ziemlich schnell. Bei mir wirkt ihr Charme jedenfalls nicht mehr«, hatte Anaïs erwidert, um die Diskussion zu beenden.

Mona zog ihre Freundin zur Theke und streckte ihr einen Kopfhörer entgegen. Anaïs setzte ihn auf.

»Überraschung, heute ist Mottoparty.«

Die Musik war so laut, dass sie Mona nicht hören konnte.

»Ich verstehe kein Wort«, schrie sie.

Zwei Männer, die an der Bar lehnten, drehten sich mit fragendem Blick um.

Sie zog einen der Hörer vom Ohr weg.

»Du hast drei Musikkanäle«, fuhr Mona fort. »Du suchst dir den aus, der dir am besten gefällt, und tanzt. Am Rhythmus kannst du leicht erkennen, nach welcher Musik sich dein Partner bewegt. Wenn es dieselbe ist, heißt das, ihr seid füreinander bestimmt.«

Sie zwinkerte Anaïs verschwörerisch zu.

»Das glaube ich jetzt nicht, Mona! Du hast mich auf eine Single-Party geschleppt! Und was sagen die anderen dazu?«

»Hast du ihre Nachrichten nicht erhalten? Sie haben im letzten Moment abgesagt.«

»Wundert mich nicht«, murrte Anaïs, die zunehmend rot im Gesicht anlief.

Jetzt bereute sie es, nicht alle Textnachrichten ihrer Freundinnen gelesen zu haben …

»Du änderst dich nie«, flüsterte Mona Anaïs ins Ohr.

Dann begann sie sich auf der Tanzfläche zu bewegen und wiegte unter den bewundernden Blicken einer Horde von Männern die Hüften.

Anaïs hatte keine Lust, sich an diesem subtilen Spiel aus Blicken, Worten und Gesten zu beteiligen. Inzwischen weigerte sie sich grundsätzlich, Bindungen einzugehen, in denen sie sich abhängig und unsicher fühlte. Sie war eine weitblickende Führungspersönlichkeit mit festen Vorstellungen und einer reichen Fantasie, was der wachsende Erfolg des Café de l’Ensaïmada deutlich zeigte. Doch in Beziehungen, besonders Liebesbeziehungen, war sie eher ein Pechvogel. Um die Wahrheit zu sagen, hatte sie eine ganze Reihe von Don Juans, Geizkragen, Eifersüchtigen, Kindischen, Lügnern, Spinnern und Trophäensammlern – Männern, die Frauen sammelten – erlebt. Kurz gesagt, sämtliche Charaktere, denen man aus dem Weg gehen sollte. Jetzt war sie Single, was ihr ein großes Freiheitsgefühl gab.

Die Eiswürfel in ihrem Cocktail prallten aufeinander wie die Gedanken in ihrem Kopf. Mit einem Mal erinnerte sie sich an die Neckereien ihrer ersten Liebe, wie der Junge sie angebetet und mit ihr gescherzt hatte und sie doch mit keinem dieser Dinge etwas hatte anfangen können. Sie suchte keine neue Erfahrung mehr, so berauschend sie auch sein könnte, sondern kostete ihre Unabhängigkeit aus. Ihr Glück lag im Erfolg des Cafés.

Mit einem leisen, verschwörerischen Lächeln beugte sich Mona zu ihr herüber.

»Anaïs, du bist nicht starrsinnig, sondern hartnäckig. Du hast keine Angst vor der Arbeit, aber du erträgst es nicht, wenn du scheiterst. Immer suchst du nach Perfektion. Vor allem willst du mit deinem großen Talent im Backen deine Gäste glücklich machen. Denk doch auch ein wenig an dich …«

Schließlich ließ sich Anaïs zum melodischen Klang der tiefen Stimme eines Sängers, der von einem Saxofon begleitet wurde, auf die Tanzfläche ziehen. Nach ein paar weiteren Gläsern begann der Schleppkahn gefährlich zu schaukeln, und sie beschloss, sich auf den Heimweg zu machen. Sie küsste ihre Freundin auf beide Wangen. Ihre lebhafte Art und ihre spontanen Zuneigungsbekundungen liebte Anaïs besonders.

Kaum hatte sie sich abgewandt, küsste einer der Männer Mona auf der stillen Tanzfläche mitten auf den Mund. Mit ihren Kopfhörern wirkten die beiden wie Teenager in einem Remake von La Boum.

Mit schmerzenden Füßen und einer Laufmasche in der Strumpfhose, die bis zur Mitte ihres Oberschenkels reichte, ging Anaïs am Seine-Ufer entlang. Sie schlenderte über einen Boulevard, dessen Läden mit Eisengittern geschlossen waren. Silbrige Fragmente des Eiffelturms glitzerten in der Nacht, als wollten sie den Sternen Konkurrenz machen. Sie begegnete einer Straßenkehrmaschine, die laut das Laub im Rinnstein aufwirbelte. Endlich öffnete sie die Toreinfahrt ihres Hauses, das im Haussmann-Stil gehalten war. In ihrer Wohnung breitete sich schon das erste Licht des Morgengrauens aus, das schwach durch das Fenster und die Türen hineinfiel. Noch zwei Stunden Schlaf, bis der Wecker klingeln würde …

Das Café öffnete bei Tagesanbruch, um die Frühaufsteher einzulassen. Ein Duft nach frischen Hyazinthen mischte sich mit dem süßen Geruch der Ensaïmadas, die im Backofen einen Goldton annahmen. Nachdem Anaïs das Gebäck in den Ofen geschoben hatte, stellte sie jetzt Schnittblumen auf die Tische. Sie hatte eine Schmerztablette genommen, um die Nachwirkungen der Cocktails von gestern Abend zu lindern.

Kurz nach neun klingelte das Telefon des Cafés.

Einige Minuten später legte sie den Hörer des Telefons wieder auf der Eingangstheke ab. Sie war immer noch erschüttert über die Nachricht, die sie gerade erhalten hatte, und spürte, wie ihr Magen sich verknotete, und das hatte nichts mit ihrem Kater zu tun.

Wir haben auf einer Baustelle persönliche Gegenstände aus dem Besitz Ihrer Urgroßmutter entdeckt. Vielleicht sind sie ja von sentimentalem Wert. Wir können Ihnen mitteilen, dass Sie sie, wenn Sie wünschen … im Fundbüro von Marseille abholen können.

Die Worte hallten immer noch in ihrem Kopf nach.

Die Beamten hatten sie über die Website des Café de l’Ensaïmada in Verbindung mit der Dose gebracht. Dort hatte Anaïs den Namen der Begründerin des Cafés erwähnt – denselben, der auch auf dem gefundenen Heft stand.

Magdalena Cárdenas.

Marseille. Noch nie hatte ein Familienmitglied von ihr diese Stadt erwähnt. Wie hatte ihre Urgroßmutter ihre »persönlichen Gegenstände« dort verlegen können? Ob es sich um einen Irrtum handelte? Doch die auf Katalanisch verfassten Rezepte passten zu ihrer Familiengeschichte.

Mit einem Mal kam es ihr vor, als erfülle eine fremde Vergangenheit das Café. Ohne dass sie es bemerkte, traten ihr Tränen in die Augen, doch sie wischte sie rasch mit dem Ärmelaufschlag weg. Wie lange hatte sie schon nicht mehr geweint? Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann sie zuletzt offen gezeigt hatte, dass sie traurig war.

»Alles gut?«, fragte der junge Lehrling.

Sie nickte.

»Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sie sollten sich vielleicht ausruhen … Ich habe keine Ahnung, wie Sie dieses Arbeitspensum schaffen.«

Doch Anaïs hatte keine Lust zu reden. Sie machte sich daran, mit einem feuchten Tuch energisch die Glasglocken zu polieren, die versetzt angeordnet auf dem Buffet standen. Ihre Bewegungen verrieten ihre Nervosität. Das Eichenbuffet stammte aus der Zeit ihrer Urgroßmutter; dieser Vorfahrin, die sie kaum gekannt hatte, da sie von ihnen ging, als Anaïs elf gewesen war.

Was genau wusste sie eigentlich über sie?

Abgesehen von ihren Backtechniken – dem Kneten des Teigs und der charakteristischen Form der Ensaïmada, für die der Teig zuerst zu einer Rolle geformt und dann in einer Spirale ausgelegt wurde –, wusste sie nicht das Geringste über die Vergangenheit ihrer Urgroßmutter. Sie erinnerte sich nur an eine alte Dame mit grau meliertem Haar, die trotz ihres Alters schlank war und eine stolze Kopfhaltung zur Schau trug. Magdalena hatte mit einem manchmal weichen, manchmal kehligen Akzent gesprochen, der ihre Herkunft verriet. Aber sie hatte nie von ihrer Jugend auf ihrer Heimatinsel Mallorca und den Umständen erzählt, unter denen sie nach Frankreich gekommen war.

Anaïs strich über das Schwarz-Weiß-Porträt ihrer Vorfahrin, das am Eingang des Cafés hing, als hoffe sie, so die Grenzen der Zeit überwinden zu können. In ihrer Familie ging man nicht besonders offen miteinander um. Ihre Mutter stand ihr nicht wirklich nahe.

Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Was verbarg sich hinter dieser Entdeckung?

Anaïs hielt den Atem an. Sollte sie wirklich nach Marseille fahren und die Vergangenheit aufrühren?

2. Kapitel

Sóller, Mallorca, 1935

Eine erste Kundin trat über die Türschwelle. Ich stand in der Küche, doch das Glöckchen klingelte und gab mir Bescheid. Ein lachendes Gesicht tauchte hinter dem dünnen Vorhang auf, der sich durch den leichten Luftzug der Eingangstür emporhob wie ein Schmetterlingsflügel.

»Da bist du ja, Marta! Wie schön, dich so früh hier zu sehen. Nach der Nachtwache im Krankenhaus wirkst du ein wenig abgespannt«, sagte ich und strich zärtlich über ihre blasse Wange. »Setz dich, und lass dir meine ersten Ensaïmadas schmecken. Sie sind noch heiß und knusprig.«

Zum Dank sah Marta, nachdem sie mich fest umarmt hatte, mit ihren tiefbraunen Augen in meine.

»Müdigkeit? Kenne ich nicht«, sagte sie und lachte herzhaft. »Was für ein Meisterwerk, deine süßen Stückchen …«, fügte sie dann hinzu, biss in den mit Zucker überpuderten Teig und schloss die Augen. Mir fiel auf, dass dunkle Schatten darunter lagen. »Weißt du, am späten Nachmittag wird es weniger heiß sein. Ich hoffe, du kommst mit uns in die kleine Bucht. Bernat bringt einen Freund mit, den du noch nicht kennst.« Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu.

»Ich bringe eine Überraschung mit, die euch schmecken wird, versprochen.«

»Hört, hört«, gab Marta zurück, die gerade noch Zeit hatte, eine zweite Ensaïmada mitzunehmen.

Beim Hinausgehen stieß sie beinahe mit einer alten Dame zusammen, die den Laden betrat.

»Diese jungen Leute …«, schimpfte die Frau. »Vor ein paar Jahren bin ich auch noch auf den steilen Wegen in den Ort hinauf- und hinabgestiegen, trotz der Dornenbüsche und der langen Röcke. Damals hat man auf den Feldern noch mit Ochsengespannen gearbeitet, lange bevor es die Eisenbahn gab! Heute fährt die Eisenbahn über die steilen Hänge unserer Berge, um die Orangen ganz frisch bis nach Palma zu bringen. Und unsere Männer arbeiten sogar daran, die Eisenbahn zu elektrifizieren, um Fahrgäste zu transportieren! Wie schnell die Zeit vergeht …«

Ihr Blick wirkte wehmütig.

Ich nickte. Auf dem Markt hatte ich gehört, dass die Entwicklung der Eisenbahn dazu beitragen würde, die ersten Feriengäste auf die Insel zu holen. Wie eine steinerne Furche würde sich die Strecke durch das Tal der Orangen ziehen.

Meine Tage in der Konditorei waren sehr arbeitsreich, doch jedes Gespräch mit meinen Kunden machte mich glücklich. Am liebsten hätte ich vor Vergnügen gesungen, aber ich musste ohne Pause bedienen, denn jeder hatte es eilig, das typische Gebäck unserer Insel zu kosten. »Was werden Sie uns wohl heute auftischen?«, riefen die Männer mir morgens mit ironischem Unterton zu. »Welch ein Duft, welch ein Duft!«, meinten andere mit bewundernder Miene und gespielter Galanterie zu mir. Bei ihren Worten errötete ich vor Vergnügen oder vielleicht auch vor Stolz. Ich wusste, dass die Komplimente nicht mir galten, sondern den Orangenblüten. Orangen, die mein Vater anbaute wie schon die Generationen vor ihm, waren unerlässlich, um meiner Leidenschaft nachzugehen. Ehrlich gesagt waren sie täglich meine treuen Gefährten. Die berühmten Ensaïmadas, die meine Kunden so gern genossen, waren zu Schnecken gerollt, so golden gebacken, dass sie die Sonne verblassen ließen, und nur von einem ganz leichten Schleier aus Puderzucker überhaucht.

Ebenso stolz war ich auf meinen Laden. Er war so hübsch eingerichtet, dass es schwerfiel, sich davon loszureißen. Man hielt sich einen Moment dort auf, oft um temperamentvoll zu diskutieren oder sich nach dem Neuesten zu erkundigen, und dann wieder, um sich Vertrauliches zuzuflüstern. Im Dorf kannte man einander. Man war auf dem Laufenden über alles, was geschah, und traf auf berühmte Persönlichkeiten, die das Mittelmeer überquert hatten, um sich an unserer Insel zu erfreuen. Sóller war berühmt!

An diesem Abend versank die Sonne als zitronengelbe Kugel hinter dem Horizont. Ihr Licht überzog die Fassaden der Steinhäuser mit einem goldenen Schein. Als Kind hatte ich es geliebt, die Eidechsen zu verscheuchen, die auf der Suche nach einem Platz an der Sonne der Schwerkraft trotzten. Ich weiß noch, wie zutraulich sie waren; und in den Olivenhainen und Orangenplantagen veranstalteten die Grillen und Heuschrecken mehrere Monate lang ein ständiges Konzert. Bei der Erinnerung musste ich lächeln.

Ich schloss den Laden, ließ das kleine Schild hängen, auf dem Fins aras! stand – Bis bald! –, und beeilte mich, zu meinen Freunden zu stoßen. Wir waren eine kleine, fröhliche Truppe und trafen uns für gewöhnlich an unserem Lieblingsplatz, einer kleinen Bucht mit türkisfarbenem Wasser zwischen zwei kleinen Felswänden, gekrönt von einem dichten Kiefernwäldchen mit duftenden Nadeln. Das war unser geheimes Amphitheater. Man erreichte es über einen Weg, der an einem kleinen Feld und einem Thymianbusch, an Mastixsträuchern und Zwergpalmen vorbeiführte. Auf der rechten Seite des Strandes lichtete sich der Kiefernwald. Die Zweige einiger Eichen hingen fast bis in das kristallklare Wasser hinunter.

Diese wilde, kleine und vor Blicken geschützte Bucht war ein Paradies, das nur für uns geschaffen zu sein schien. Sie war versteckt, unbekannt und schwer zugänglich. Und wenn die Sonne unterging, nahm der Himmel eine rosa Farbe an und übergoss den Ort mit einem Hauch von Magie. Glücklich übten wir uns in der Kunst des süßen Nichtstuns und des Sonnenbadens. An freien Nachmittagen streckten wir – junge Frauen und Männer – uns auf den warmen Kieselsteinen aus und flüchteten vor der Hitze in Sóller. Wenn uns die Sonnenstrahlen zu heiß auf die Haut brannten, kam es uns im Schatten der Bäume frischer vor als im Meer, wo wir herumsprangen wie ein Schwarm kleiner Delfine. Doch wir waren an das milde Klima gewöhnt und zogen es vor, die Sonne auszukosten. Wir vergruben die Füße im Sand und traten genüsslich die glatten Steine ins Meer. Das fröhliche Geplauder unserer Freundesgruppe brach die Stille der ungezähmten Natur. Man konnte sich grenzenlos an diesem Ort berauschen, aber auch an den angeregten Unterhaltungen.

Ich trat schneller in die Pedale, denn ich hatte es eilig, dorthin zu kommen. Zum Strand war es nicht weit, und der Weg war mir vertraut. Außer Atem erreichte ich die kleine Bucht und nahm den Karton vom Fahrrad.

»Da ist ja unsere Zauberin der Geschmäcker!«, rief Marta, die ein Glas Orangenlimonade in der Hand hielt.

Ich lächelte ihr zu. Unglücklicherweise stolperte ich über einen Stein. Da spürte ich, wie jemand eine starke Hand um meine Taille legte und verhinderte, dass ich fiel und dabei meine Ensaïmadas verstreute. Aber es hatte nur wenig gefehlt.

»Achtung, kleines Fräulein!«, hörte ich jemanden hinter meiner Schulter sagen und drehte mich um. »Jaime, sehr erfreut. Ich bin ein Freund von Bernat.«

Ich versank tief in seinem Blick, und wir lächelten einander an. Seine gebräunte Haut betonte seine blauen Augen.

»Die Freude ist ganz meinerseits«, gab ich zurück und bot ihm eine Ensaïmada an.

Er dankte mir und verteilte den Rest an die anderen.

An diesem Nachmittag lernte ich also Jaime kennen. Er engagierte sich begeistert für den Bau einer Eisenbahnlinie zwischen Palma und Sóller und erzählte uns von allen möglichen Problemen, denen er dabei begegnete. Er schien sich bis ins Kleinste mit allem auszukennen, was diese elektrisch angetriebene Linie betraf, und beeindruckte damit seine Freunde.

»Das war schon als Kind mein Traum! Erinnert ihr euch noch an den Tag, an dem die Strecke eingeweiht wurde? Das war der 16. April 1912 … zwei Tage nach dem Unglück der Titanic. Unglaublich.«

Man hatte ihn gerade erst zum Sicherheitsinspektor ernannt. Er musste die Umgebung der Gleise überprüfen, das Schotterbett entlanggehen oder sogar durch die Tunnel. Er überwachte die Bäume, die, falls sie umstürzten, die Oberleitung oder sogar die Signale beschädigen konnten. Die Touristenzahl stieg kontinuierlich. Da war es notwendig, die Arbeiten gut zu planen, damit die Reisenden sich auf die Fahrpläne verlassen konnten.

Seine Erzählung und die Gewandtheit, mit der er die großen und kleinen Ereignisse um die Eisenbahn schilderte, schlugen mich in ihren Bann.

Marta sog begierig die reine Luft ein. Sie hatte die übel riechenden Säle des Krankhauses hinter sich gelassen, in denen sie Spritzen verabreicht und Verbände gewechselt hatte, und war eilig zu der kleinen Bucht gelaufen. Unter ihrem langen Rock trug sie bereits ihren Badeanzug, der nicht allzu tief ausgeschnitten war. Er reichte ihr bis zur Mitte der Oberschenkel, aber dennoch brachte er ihren wunderbaren Körper und ihre gebräunte Haut zur Geltung. Jedes Mal, wenn sie die Bucht erreichte, sprang sie ins Wasser, schwamm ein paar Sekunden unter der Oberfläche, tauchte mit lautem Platschen auf und ließ sich einen Moment lang treiben. Dann trat sie heraus und versprühte glitzernde Wassertropfen um sich. Damals hatten die jungen Männer nur Augen für sie. Ihre Schönheit stahl ihre Herzen.

Der Boden schien vom Zirpen der Grillen zu vibrieren. Der ferne Horizont leuchtete in einem blassen Lila. Zu unserer Freundesgruppe gehörte auch Antonella, die insgeheim davon träumte, einmal Bernat zu heiraten. Sie hatte ein sanftes, freundliches Gesicht, besonders wenn sie lächelte. Großzügig zweigte sie ein wenig von ihrer Zeit ab, um ältere Menschen zu unterstützen. Sie führte einen hübschen Kurzwarenladen, in dem sie für ihre Kundinnen meterweise Spitze und bunte Fäden abmaß. Jeden Sonntag goss sie die prächtigen Blumentöpfe vor dem Fenster der alten Agostina, was die Nachbarinnen neidisch machte und die alte Dame sehr erfreute.

Bernat war ein gut gelaunter Lebemann. Sein tiefes ansteckendes Lachen übertrug seine Heiterkeit auf die Gruppe, besonders wenn er von seinen Meisterleistungen auf dem Fahrrad erzählte. Seit einiger Zeit trainierte er für das Rennen »Fest der Pedale«. Während er davon berichtete, lag er ausgestreckt im Sand und tat, als strampele er.

»Du bist zu hochmütig, mein Freund«, erklärte ihm Pedro. »Geh lieber und erfrische deine schmerzenden Waden. Ich bin die Haarnadelkurven auf dem Camí des Rost schon gefahren, und besser als du!«, setzte er ein wenig aggressiv hinzu.

Pedro wollte seinen Rivalen, der natürlich stärker war als er, ein wenig anstacheln. Die Mädchen mischten sich nicht in diese kleinen und wenig boshaften Sticheleien ein. Sie ergriffen für keine Seite Partei, was zur guten Stimmung in der Gruppe beitrug. Bernat erzählte, leidenschaftlich wie immer, von seinen Bergfahrten und demonstrierte, wie er auf den steilen Strecken keuchte. Um uns zu amüsieren, schnaubte er wie ein Walross.

Ich hörte zu und teilte die Freude der anderen. Schon immer hatte ich die Natur geliebt und sah mich jetzt am Glanz der Wasseroberfläche satt, ließ den Blick über die graugrünen Berghänge streifen – Kiefern auf der einen und Birken auf der anderen Seite – und betrachtete die untergehende Sonne, die sich in dem azurblauen Meer spiegelte.

»Deine Ensaïmadas sind immer so wundervoll«, meinte Antonella, die eine Naschkatze war, zu mir.

Das Orangenblütenaroma des Gebäcks mischte sich mit dem Salzgeruch des Meeres und dem Harzgeruch der Kiefern.

»Genau wie sie selbst«, hörte ich jemanden leise sagen.

Ich drehte mich um. Jaime zwinkerte mir zu, und sofort wurde ich rot. Die anderen reagierten nicht. War ich die Einzige, die das gehört hatte?

Marta erlöste mich aus meiner Verlegenheit, als sie mich mit sich in das türkisfarbene Wasser zog. Sie war unermüdlich. Um ihren Hals hing an einer dünnen Kette ein goldenes Medaillon, das gegen ihre Brust hüpfte. Sie drehte sich zu mir um, warf ein paar Kieselsteine ins Meer und verschwand dann in einer Woge. Ich tat es ihr nach. Als ich triefend aus dem Wasser stieg, begegnete ich erneut Jaimes Blick. Dieses Mal schlug er die Augen nieder, als hätte er meine Verlegenheit bemerkt.

In mein weiches Badetuch gehüllt, setzte ich mich auf ein Stück Treibholz, um den Anekdoten von Pedro zu lauschen, der Bootsbaumeister war und, genau wie sein Großvater vor ihm, schon eine ganze Reihe Boote gebaut hatte. Wir hatten alle schon die kleinen küstengängigen Boote bewundert, diese katalanischen Feluken, die jeden Tag vom Hafen von Sóller ausfuhren. Pedro war stolz auf seinen Beruf. In seiner Familie gab der Vater die Techniken an den Sohn weiter, und der Bootsbau war für Pedro eine wahre Kunstform. Wir hörten ihm stets mit großem Interesse zu. Voller Begeisterung erklärte er uns, dass die Bäume für den Schiffsbau bei Vollmond geschlagen werden mussten, und zwar von Januar bis August, wenn das Holz kräftig war. Steineiche für die Vorder- und Achtersteven und den Kiel. Mallorquinische Kiefer für das Innere und nordische Kiefer für die Außenseite des Rumpfs. Seinetwegen träumten wir vom Segeln. Pedro war auf der ganzen Insel für seine handwerklichen Fähigkeiten bekannt.

»Dank dir kann mein Vater unsere Orangen exportieren«, meinte ich zu ihm.

»Und dank mir«, unterbrach mich Jaime. »Die Zitrusfrüchte sind der Reichtum unseres Landes. In erster Linie sollten die Einheimischen davon profitieren.«

Er lächelte mir zu und zog eine Orange aus seiner Jutetasche. Mit einem kleinen Taschenmesser schnitt er die Frucht an und drückte sie, sodass der Saft zwischen seinen Fingern hindurchrann. Dann hob er die Orange an den Mund und saugte sie aus. Er warf die Schale auf den ausgetrockneten Boden und erzählte uns von seiner Arbeit bei der Eisenbahnlinie. Bei großer Hitze konnte es Probleme mit der Oberleitung geben. Dann musste man rasch dafür sorgen, dass der Verkehr wieder aufgenommen wurde und der Zug fahren konnte. Wegen der Gefahr durch die elektrische Hochspannung waren Sicherheitsmaßnahmen von großer Bedeutung. Mir fiel auf, wie lebhaft seine Miene wirkte, wenn er erzählte.

»Stellt euch vor, in Palma, wo die Arbeiten 1907 begonnen wurden, hatte man eine kleine Lokomotive namens María Luisa eingeführt! Wenn ich einmal eine Tochter habe, soll sie so heißen«, fuhr Jaime fort.

Das sorgte für allgemeine Heiterkeit. Marta konnte gar nicht wieder aufhören zu lachen. Doch Jaime ließ sich nicht stören und sprach weiter.

»Von Sóller aus sollte eine Strecke durch den Gebirgszug der Serra de Alfàbia geöffnet werden, auf Maultierrücken … Und jetzt ist die Elektrifizierung der Strecke fast abgeschlossen!«

»Dann wirst du uns alles zeigen?«, fragte Bernat.

»Selbstverständlich. Ihr könnt die wunderbaren Holzwaggons bewundern und euch sogar die Bänke ansehen, die sich umklappen lassen, damit man immer in Fahrtrichtung sitzt.«

Jaime geriet regelrecht ins Schwärmen.

»Und die Fahrt dauert … wie lange?«, erkundigte sich Antonella.

»Im Durchschnitt fünfzig Minuten.«

»Dein Zug ist aber langsam!«, warf Bernat lachend ein. »Den kann ich ja mit dem Fahrrad überholen.«

Wir lachten im Chor.

»Sicher, aber mit dem Zug können die Fahrgäste wunderbare Aussichten genießen, ohne in Schweiß zu geraten! Ihr solltet durch die dreizehn Tunnel fahren, durch die man von der Serra de Tramuntana nach Palma gelangt.«

»Dreizehn! Du übertreibst«, unterbrach ihn Pedro.

Autor