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Ein Himmel voller Bücher

Eine bunte Postkarte aus Malibu, eine alte Ausgabe von Shakespeares Der Sturm und der kleine, kurz vor dem Bankrott stehende Buchladen Prospero Books in Los Angeles. Die junge Lehrerin Miranda Brooks staunt nicht schlecht über das einzigartige Vermächtnis ihres Onkels Billy. Schon immer hat er ihr Rätsel aufgegeben. Warum hat er ihrer Familie den Rücken gekehrt? Warum spricht ihre Mutter nie über ihn? Miranda folgt der Spur der Botschaften, die er für sie versteckt hat - und die sie nicht nur in die Welt der Bücher führt, sondern ihr Leben von Grund auf ändert.


  • Erscheinungstag: 04.06.2018
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677288
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Alles Vergangene ist nur ein Prolog.

Shakespeare, Der Sturm

EINS

Das letzte Mal, als mein Onkel mich besuchte, schenkte er mir einen Golden Retriever mit traurigen Augen und herzförmiger Nase. Ich hatte den Welpen nicht lange genug, um ihm einen Namen zu geben. Den einen Moment lief er noch kreuz und quer durchs Wohnzimmer und ließ mich auf die vielen Abenteuer hoffen, die wir gemeinsam erleben würden, den nächsten war er verschwunden. Genauso war es mit Onkel Billy. Eben hat er mir noch zum Abschied zugewinkt, während er im Rückwärtsgang aus der Einfahrt fuhr, dann sah ich ihn nie wieder.

Meine Mutter wollte nie einen Hund haben. Ich hatte sie angefleht und versprochen, jeden Tag mit ihm rauszugehen und sogar den Teppich zu reinigen, falls ein Malheur passierte, aber sie ließ sich nicht erweichen. Das hatte nichts mit dem Teppich oder den Schuhen zu tun, die der Hund auf dem Gewissen hatte. Und an der fehlenden Liebe lag es auch nicht. Mutter bezweifelte nicht, dass ich den Hund lieben würde. Sicher hätte sie ihn sogar selbst geliebt. Vielmehr ging es ihr bei einem Haustier, und das galt für sie in jeder Beziehung, um Verantwortung, nicht um Liebe. Ich war damals ein junger Teenager. Jungs und Freundinnen waren mir wichtiger als Taschengeld, wichtiger als Hunde und Familie. Immer wieder führten wir das gleiche Gespräch. Kein Hund. Ich wusste es.

Onkel Billy wusste es auch.

Der Hund war ein Geburtstagsgeschenk. Für meinen zwölften Geburtstag hatten meine Eltern eine Spielhalle gemietet, wo man sogar Baseballschläge üben konnte. Das war Anfang 1998 in Culver City. Wir feierten immer erst im Januar, weil ich kurz vor Silvester geboren worden bin.

Meine Freunde hatten sich hinter der Endbase versammelt und mich angefeuert, während ich noch mit dem Helm kämpfte und ängstlich den Schlagkäfig betrat. Mein Vater gab mir in letzter Minute noch ein paar Ratschläge – die Füße schulterbreit auseinanderstellen, den rechten Ellenbogen anheben –, und bestimmt hätte meine Mutter noch ihre übliche Warnung zum Besten gegeben, doch bitte vorsichtig zu sein, wenn sie nicht an den Servicetresen gegangen wäre, um zu telefonieren.

»Macht nichts, Miranda, du schaffst das«, sagte mein Vater, als ich beim ersten Schlag den Ball nicht getroffen hatte. Meine Mutter kam zurück und stellte sich an seine Seite, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Zum nächsten Schlag holte ich erst aus, als der Ball bereits an mir vorbeigeflogen war. »Inzwischen solltest du doch wissen, wie unzuverlässig er ist«, sagte mein Vater zu meiner Mutter. Dann rief er mir zu: »Du musst besser aufpassen, Miranda!«

»Er hat versprochen, zu kommen«, hörte ich meine Mutter flüstern.

»Lass uns jetzt nicht weiter darüber sprechen«, gab mein Vater leise zurück.

»Er sollte nichts versprechen, was er nicht halten kann.«

»Nicht jetzt, Suze.«

Ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, den Ellenbogen richtig zu halten und die Knie so zu lockern, wie mein Vater es mir beigebracht hatte, aber ihre tonlosen Stimmen lenkten mich ab.

Es gab nur einen Menschen, der meine Eltern zum Flüstern brachte.

Ich konnte es nicht ausstehen, wenn sie über Billy sprachen, als müssten sie mich vor ihm beschützen oder von ihm fernhalten. Ich wandte mich von der Maschine ab, die mir automatisch die Bälle entgegenschleuderte, und sah meine Eltern an, die am Käfig lehnten und sich böse anfunkelten.

Ich hörte den Aufprall, bevor ich ihn merkte.

Es knallte, und dann schien meine Schulter zu explodieren. Schreiend brach ich zusammen. Zwei weitere Bälle zischten an meinem Kopf vorbei. Mein Vater brüllte, jemand solle doch das Gerät ausschalten, als er und meine Mutter auch schon in den Käfig gerannt kamen.

»Alles in Ordnung, Süße?« Meine Mutter nahm mir den Helm ab und wischte mir die verschwitzten Haare aus der Stirn. Der Schmerz hatte mir den Atem verschlagen. Keuchend lag ich auf dem kalten Betonfußboden und konnte nicht antworten. »Miranda, sprich mit mir«, sagte sie eine Spur zu panisch.

»Alles in Ordnung«, presste ich hervor. »Wahrscheinlich brauche ich nur ein Stück Kuchen.«

Normalerweise hätten sie darüber gelacht, doch jetzt warfen sie einander nur besorgte und enttäuschte Blicke zu, als wäre allein Billy dafür verantwortlich, dass ich mir die Schulter geprellt hatte. Mit einem wütenden Schnauben, das sie an Vater richtete, stürmte meine Mutter an den Servicetresen, um den Geburtstagskuchen zu holen.

»Ist mit Mom etwas nicht in Ordnung?«, fragte ich meinen Vater, als wir sie am Tresen mit einem Teenager sprechen sahen.

»Nichts, was ein Stück Kuchen nicht richten kann«, sagte er und tätschelte mir den Kopf.

Nachdem der Kuchen verschlungen und der Eisbeutel, den ich mir meiner Mutter zuliebe an die Schulter drückte, geschmolzen war, sodass mir das Wasser vorne übers T-Shirt lief, ging ich mit meinen Freunden zu den Spielautomaten und ignorierte den stechenden Schmerz in meiner Schulter, während ich kleine Bowlingkugeln in eine Minibahn warf. Zwischen den Würfen sah ich zu meinen Eltern hinüber. Sie wischten gerade die letzten Krümel meines Geburtstagskuchens vom Tisch, wobei meine Mutter wie eine Furie über die Plastiktischdecke schrubbte, bis mein Vater sie an sich zog und in die Arme nahm. Er strich ihr übers Haar und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

Ich konnte nicht verstehen, warum sie sich so aufregte. Schließlich blieb Billy oft weg, wenn er gesagt hatte, dass er kommen würde. Ich konnte mich nicht einmal erinnern, wann er zuletzt meinen Geburtstag mitgefeiert hatte. Wenn es in Japan oder Italien ein Erdbeben gab, saß er im erstbesten Flugzeug, zusammen mit anderen Seismologen, Ingenieuren und Soziologen. Meist hatte er nicht einmal die Zeit, uns über seine Abreise zu informieren. Doch statt enttäuscht zu sein, war ich stolz. Mein Onkel war ein wichtiger Mann. Er rettete Leben. Meine Mutter hatte mir beigebracht, ihn so zu sehen. Bei einem sonntäglichen Grillen, zu dem Billy nicht erschienen war, sagte sie: »Dein Onkel wollte kommen, aber es ist sein Job, die Welt in einen sicheren Ort zu verwandeln.«

Er war mein Superheld. Captain Billy, der die Welt nicht mit übermenschlichen Kräften rettete, sondern mit seinem Superhirn. Auch als ich schon zu alt war, um noch an Superhelden zu glauben, glaubte ich immer noch an Billy. Ich hatte angenommen, meine Mutter würde ebenfalls an ihn glauben, aber jetzt stand sie da und weinte, bloß weil er eine Geburtstagsparty verpasst hatte.

***

Meine beste Freundin Joanie, die an diesem Abend bei mir übernachten durfte, und ich gingen an diesem Abend früh zu Bett. Ich war schon fast eingeschlafen und in meine Traumwelt abgetaucht, als ich es an der Tür klingeln hörte. Es folgten leise Schritte und flüsternde Stimmen, die von unten im Haus nach oben drangen. Ich schälte mich aus dem Bett und huschte in den Flur. Von dort konnte ich meine Mutter an der Haustür stehen sehen, wie sie sich ihren Bademantel aus schimmerndem Satin um den schmalen Körper zog.

Vor der Tür stand Billy auf der Veranda.

Ich war im Begriff, die Treppe hinunterzulaufen und ihm in die Arme zu fallen. Eigentlich war ich schon zu groß dafür, aber wahrscheinlich würde ich ihn auch als erwachsene Frau noch so begrüßen und vor lauter Liebe praktisch erdrücken. Als ich die ersten Stufen genommen hatte, ließen mich die Worte meiner Mutter erstarren.

»Verdammt, was soll das? Es ist drei Uhr nachts.«

Ich blieb wie eingefroren stehen. Meine Mutter wurde nur selten laut. Fluchen kam für sie nicht infrage. »Du hast vielleicht Nerven, hier mitten in der Nacht aufzukreuzen und mir Vorwürfe zu machen. Du willst es echt wissen.«

Wie gelähmt stand ich oben am Treppengeländer. Die Wut meiner Mutter machte mir Angst. So hatte ich sie noch nie erlebt.

»Es war deine Entscheidung.« Sie versuchte, die Stimme zu dämpfen. »Hast du das kapiert? Ganz allein deine Entscheidung. Wage es ja nicht, das auf mich abzuwälzen.«

Billy wandte sich ab, während meine Mutter ihn erneut anschrie, zu welcher Uhrzeit er sich hier blicken ließ, bevor sie ihn Arschloch nannte und ihn dann mit »Narzisst« und einigen anderen Ausdrücken bedachte, die ich noch nicht kannte.

Als er mich oben an der Treppe entdeckte, waren seine Wangen gerötet, seine Augen glasig. Meine Mutter folgte seinem Blick. Als ich in ihr blasses Gesicht sah, wirkte sie plötzlich viel älter. Abwechselnd schaute ich zu ihr und meinem Onkel. Bei dem Streit ging es nicht um meinen Geburtstag. Etwas anderes musste passiert sein.

»Geh wieder zu Bett, Süße«, rief meine Mutter zu mir hoch. Als ich nicht gleich reagierte, bat sie mich erneut darum.

Blitzartig zog ich mich in mein Zimmer zurück, verstört und auf eine unerklärliche Weise auch peinlich berührt von dem, was ich gesehen hatte.

Joanie drehte sich um, als sie mich neben ihr ins Bett kriechen hörte.

»Wie spät ist es?«

»Nach drei.«

»Warum kommt jemand noch so spät?«

»Keine Ahnung.«

Sie rollte sich zusammen und murmelte etwas Unverständliches. Ich konnte nicht wieder einschlafen. Immer wieder gingen mir die Worte meiner Mutter durch den Kopf.

Verdammt.

Arschloch.

Du hast vielleicht Nerven.

Wage es ja nicht, das auf mich abzuwälzen.

Es war deine Entscheidung.

Die Sonne schien durch die Vorhänge, als die Dämmerung der Morgenröte wich. Ich hatte die ganze Nacht wach gelegen, ohne zu verstehen, für welche Entscheidung mein Onkel meine Mutter verantwortlich machen wollte und was es mit dem Streit an der Haustür auf sich hatte.

Später an diesem Morgen führte mein Vater meine Freundin Joanie und mich zum Pfannkuchenessen aus.

»Wo ist Mom?«, fragte ich, als wir ins Auto stiegen.

»Sie schläft noch.« Meine Mutter stand immer spätestens um sieben auf, aber mein Vater hatte in einem Ton gesprochen, der mich davon abhielt, weiter nachzuhaken.

Als wir vom Frühstück zurückkehrten, trug meine Mutter noch immer ihren schimmernden Bademantel aus Satin. Die rotbraunen Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht, und sie rührte Schokochips in einen Keksteig. Normalerweise war ihr Gesang eine unverzichtbare Zutat bei allem, was sie kochte oder backte. Ihre wohlklingende Stimme drang in jeden Kuchen, in jede Lasagne und machte die Kirschen oder Tomaten noch eine Spur süßer, doch jetzt war es schrecklich still in der Küche, während sie den Keksteig rührte und rührte.

Sie schaute auf, als sie mich an der Tür hörte. Ihre Lider waren geschwollen, ihre Wangen immer noch blass. »Wie war das Frühstück?«

»Dad hat uns drei Sorten Pfannkuchen probieren lassen.«

»Ach, wirklich?« Sie wandte sich wieder dem Keksteig zu. »Wie nett von ihm.« Ich wünschte mir so sehr, dass sie singen und aus ihrer Trance erwachen würde, aber sie starrte nur mit leeren Augen auf den Teig in der Rührschüssel, und ich fragte mich, ob die Kekse ohne ihre Geheimzutat so gut schmecken würden wie sonst.

Nachdem wir ein paar Wochen nichts mehr von Billy gehört hatten, schaute er bei uns vorbei, um mit mir einen Ausflug zu machen und meinen Geburtstag nachzuholen. Ich wusste nicht, was er vorhatte. Das war das Schöne an einem Tag mit Billy. Was immer ich vorgeschlagen hätte – ein Trip zum Rummelplatz am Pier oder zu einem Freizeitpark –, es konnte nicht halb so aufregend wie das Abenteuer sein, das ihm vorschwebte.

Das angestrengte Schnaufen seines alten BMWs hallte bis ins Haus, und ich rechnete mit dem vertrauten Geräusch der zufallenden Autotür, mit den hektischen Schritten meiner Mutter zur Haustür, wo sie ihn mit ihren Fragen bombardieren würde. Wo würden wir hinfahren? Kamen noch andere Kinder mit? Waren kantige Klippen oder tiefe Schluchten im Spiel, die mir gefährlich werden könnten? Gab es Sicherheitsgurte? Schwimmwesten? Und was immer er antwortete, er konnte es ihr nicht recht machen.

An diesem Nachmittag hupte er bloß. »Bill ist da«, rief meine Mutter aus ihrem geschlossenen Schlafzimmer.

»Willst du ihn nicht begrüßen?«, rief ich zurück.

»Heute nicht.«

Ich zögerte, bevor ich das Haus verließ, doch die Schlafzimmertür blieb zu. Es war aber sowieso egal, denn Billy kam nicht an die Haustür, sondern wartete mit laufendem Motor in der Einfahrt auf mich.

»Da ist ja mein Lieblingskind«, sagte er, als ich in den Wagen hüpfte. So nannte er mich immer: sein Lieblingskind. Hätten meine Eltern mich so genannt, wäre es mir peinlich gewesen. Bei Billy hatte es aber den Effekt, dass ich mich wie das Kind fühlte, das ich immer noch sein wollte, obwohl das für eine Zwölfjährige völlig uncool war.

Wir bogen aus der Einfahrt, und unser Haus rückte in die Ferne. Ich fragte mich, ob meine Mutter uns aus ihrem Schlafzimmerfenster hinterherschaute.

»Ich habe eine Riesenüberraschung für dich.« Billy sah mich an und schenkte mir sein breitestes Grinsen. Ich suchte in seinem Gesicht nach Spuren des Streits, den er mit meiner Mutter gehabt hatte. Aber er sah sehr gut gelaunt aus. Beinahe übermütig.

»Eine Überraschung?« Auch wenn ich es vor Joanie niemals zugegeben hätte, fand ich Billys Überraschungen aufregender, als in einer Drogerie einen Lippenstift zu klauen. Sie berauschten mich mehr, als mit ihren älteren Schwestern das Tempolimit auf dem Highway 1 zu knacken.

»Fass da mal rein.« Billy zeigte aufs Handschuhfach, in dem ich einen schwarzen Umschlag entdeckte, der auf seinen Fahrzeugpapieren lag. Seiner Größe nach zu urteilen, hätten darin Tickets für die Universal Studios oder für ein Konzert in der Hollywood Bowl stecken können, aber niemals hätte Billy mir sein Geschenk so direkt präsentiert. Das wäre witzlos. Ich musste mir seine Geschenke verdienen, indem ich Rätsel löste.

Ich riss den Umschlag auf und las das Rätsel laut vor.

Meine Flagge ist rot, weiß und blau, aber ich bin kein Land, das dir Heimat ist. Andererseits bin ich kein Lozh – ich hatte keine Ahnung, wie man dieses Wort aussprach –, denn an einer Stelle bin ich nur fünf Kilometer von amerikanischem Grund und Boden entfernt.

»Frankreich?«, tippte ich. Billy sah mich zweifelnd an. »Kanada?«

»Die kanadische Flagge ist rot-weiß. Aber es wird schon wärmer, oder sollte ich sagen kälter? Viel, viel kälter.«

»Russland?«

»Vernvy!«, sagte er mit russischem Akzent.

»Du fährst mit mir nach Russland? Gab es da ein Erdbeben?« Ich stellte mir Billy und mich mit Fellmützen vor, wie wir durch tiefen Schnee stapften und das Ausmaß der Zerstörung in einem abgelegenen Dorf begutachteten.

»Dafür würde deine Mom mir den Kopf abreißen«, sagte Billy.

Bei der Erwähnung meiner Mutter verstummten wir beide. Ich wusste, dass er jetzt wie ich an den Blick denken musste, den wir einander zugeworfen hatten, als er sich mitten in der Nacht mit ihr gestritten hatte.

»Ist alles in Ordnung mit dir und Mom?«

»Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.« Billy brach ab, wollte dann noch etwas sagen, behielt es aber für sich und parkte den Wagen vor einem verwahrlosten Haus am Venice Boulevard. »Zurück zu unserem Rätsel.«

»Hier wolltest du mit mir hin?«, fragte ich und zählte die Fenster, die mit Brettern vernagelt waren. Für gewöhnlich fanden unsere Abenteuer in Nationalparks, auf Berggipfeln oder an naturgeschützten Stränden statt. »Hat dieses Haus etwas mit Russland zu tun?«

»Vernvy!« Billy stieg aus und geleitete mich mit einer Verbeugung zu der metallenen Haustür. Sie war nicht verschlossen, als Billy sie für mich öffnete.

»Dürfen wir hier denn überhaupt rein?« Ich zögerte und blinzelte an ihm vorbei in das dunkle Haus. »Ich glaube, Besucher sind gerade nicht erwünscht.«

»Richtig. Aber der Museumsdirektor schuldet mir einen Gefallen. Ein Museum ganz für sich allein zu haben macht doch viel mehr Spaß, oder?« Er ging hinein und gab mir mit einer Geste zu verstehen, dass ich ihm folgen sollte. »Vertrau mir«, rief er.

»Vertrau mir« war sein ewiges Mantra.

Und ich vertraute ihm. Immer.

Der erste Raum war schwach beleuchtet. Glasvitrinen säumten die kargen Wände. Aus versteckten Lautsprechern tönte leise eine Oper. In der Vitrine neben der Tür waren ausgestopfte Fledermäuse, Maulwürfe und andere kleine Nagetiere ausgestellt. In der nächsten schimmernde Edelsteine.

»Es ist den Kuriositätenkabinetten des neunzehnten Jahrhunderts nachempfunden«, erklärte Billy. »Objekte aus Wissenschaft, Kunst und Natur wurden nebeneinander ausgestellt, um dem Betrachter eine ganzheitliche Wahrnehmung der Welt zu ermöglichen. Eine Wunderkammer sozusagen.«

Mein Onkel hatte das deutsche Wort benutzt. Wunderkammer. Ich sprach es probeweise nach und hoffte, von seinem Zauber durchdrungen zu werden. Billys Blick wanderte zu einer Vitrine in der hintersten Ecke des Raums. Sie steckte voller kleiner Porzellanfiguren: bemalte Elefanten, Clowns, ein Zirkusdirektor, Akrobaten. Auf dem Schild vor der Vitrine stand: Russischer Zirkus.

Ich beugte mich darüber und versuchte, etwas zu finden, das fehl am Platz war und nicht hierher gehörte, vielleicht ein Rätsel, das er auf die Kuppel des Zirkuszelts gekritzelt hatte. Ganz bestimmt würde ich den nächsten Hinweis auf einem Zettel an der Rückseite der Vitrine finden.

Billy lachte, als er mein verdutztes Gesicht sah. Er tätschelte meinen Kopf und führte mich in den nächsten Raum. Er war so überladen, wie der erste karg gewesen war. Die Wände waren über und über mit Hundebildern behangen, die in protzige Rahmen gefasst waren. Ein Menschenporträt war auch darunter. Es war schon ganz verblasst und zeigte einen bärtigen Mann mit Zylinder. Einen gewissen Baron Tweedmouth. Neben dem Porträt hing eine Tafel mit der Kurzbiografie des Adligen, der angeblich ein schottischer Geschäftsmann und Parlamentsmitglied gewesen war.

»Gerüchten zufolge besuchte Lord Tweedmouth im Jahre 1858 einen russischen Zirkus, der eine fantastische Nummer mit russischen Hirtenhunden aufführte«, sagte mein Onkel. »Nach der Vorstellung wollte der Baron zwei dieser Hunde kaufen, aber der Zirkusdirektor weigerte sich, das Rudel zu trennen. Folglich, so heißt es, habe Tweedmouth das ganze Rudel gekauft und durch kontinuierliche Züchtung den Retriever erschaffen.« Billy zeigte auf einen Aktenschrank neben der Vitrine. »Mach ihn auf. Er gehört zur Ausstellung.«

Ich blätterte durch die Kopien der Zuchtunterlagen des Barons und ahnte bereits, worauf es hinauslaufen würde. Dafür liebte ich unsere Abenteuer besonders. Selbst wenn ich den nächsten Schritt längst erraten hatte, durfte ich keinen seiner Hinweise überspringen. Deshalb unterbrach er mich auch, als ich eines der Papiere zur Seite legen wollte. »Historiker haben diese Dokumente in den 1950er-Jahren gefunden und festgestellt, dass der Russische Zirkus ein Mythos war.« Billy zeigte auf die Beschreibung einer Retriever-Schnauze. »Siehst du das? Retriever wurden schon vor 1858 zum Aufspüren von Wild benutzt. Das bedeutet, Lord Tweedmouth kann den Retriever nicht aus russischen Hirtenhunden gezüchtet haben.« Er fuhr mit dem Finger über die Seite und verfolgte den Stammbaum der Hunde. »Stattdessen hat er sein Zuchtprogramm mit den Retrievern begonnen, die er bereits besaß, und nach und nach den perfekten Jagdgefährten geschaffen.«

»Bedeutet das, was ich glaube, was es bedeutet?« Ich führte einen Tanz auf, als müsste ich dringend die Toilette besuchen.

»Kommt drauf an, was du glaubst, was es bedeutet.«

Ich drehte das Dokument um und fand den nächsten Hinweis auf der Rückseite.

Nenn mich nicht Schönheit, Göttin, die Schönste der Welt. Mögen die Namen der Tiere einerlei sein für dich. Am Ende trifft doch nur einer den richtigen Ton.

Ich betrachtete die abgebildeten Hundeporträts eines nach dem anderen, bis ich zu einem bräunlichen Water Spaniel namens Belle kam. Auf einer Tafel neben dem Bild stand, Belle sei mit Nous, einem Gelben Retriever gekreuzt worden, um den Golden Retriever hervorzubringen.

»Unmöglich«, rief ich. »Das kann doch überhaupt nicht wahr sein.« Ich hüpfte auf und ab, umarmte Billy und kreischte vor Glück.

»Nicht so schnell.« Billy bremste mich. »Erst musst du sie finden.«

Ich durchsuchte den Raum nach einem Umschlag, in dem sich der nächste Hinweis versteckte. An der gegenüberliegenden Wand hing das Foto eines modernen Golden Retrievers zwischen seinen Vorfahren. Der schlichte schwarze Rahmen stand ein wenig von der Wand ab. Ich fuhr mit der Hand in den Spalt und zog eine Karteikarte hervor. Darauf stand eine Adresse auf dem Culver Boulevard.

Vor dem Museum wartete ich nicht erst ab, bis sich meine Augen ans Tageslicht gewöhnt hatten, sondern rannte gleich los, den Venice Boulevard mit weiteren vernagelten Fassaden und Autolackierereien hinunter.

»Nicht so schnell, Miranda!«, rief Billy und versuchte keuchend, mit mir Schritt zu halten.

An der Kreuzung zum Culver Boulevard trat ich vor der roten Fußgängerampel auf der Stelle wie ein Jogger, der sein Pulstempo halten will. »Ein Hund, ein Hund, ein Hund, ein Hund«, sagte ich. Sobald es grün wurde, sprintete ich über die Straße.

Ich hörte Billy hinter mir lachen, als wir an dem alten Hotel und den Restaurants des Culver Boulevards vorbeiliefen. Die angegebene Adresse lag ein paar Querstraßen entfernt, eine Zoohandlung, in der eigentlich nur Wellensittiche und Papageien verkauft wurden.

»Der Besitzer züchtet Golden Retriever«, sagte Billy, als er wieder zu Atem gekommen war.

In dem Laden roch es nach Nüssen. Ein großer, fast glatzköpfiger Mann stand hinterm Tresen und las Zeitung. Als er uns sah, tauchte er unter die Kasse und kam mit einem Welpen wieder hoch. Vorsichtig nahm ich ihm den Hund aus den Händen. Der Golden Retriever war ganz warm und roch nach Bauernhof. Zuerst war die Kleine ganz verschlafen. Aber als ich sie an meine Brust drückte und mit der Wange über ihr seidiges Fell fuhr, wurde sie munter und gab mir feuchte Küsse. Ich versuchte, sie festzuhalten, aber sie war zu aufgeregt, um einfach nur zu schmusen. Der Zoohändler sagte, ich sollte sie ein wenig im Laden herumlaufen lassen. Nachdem ich sie auf dem Boden abgesetzt hatte, schauten wir zu, wie sie die staubigen Ecken beschnüffelte und die Vogelkäfige ansprang. Billy legte mir einen Arm auf die Schulter, und ich wollte ihm sagen, dass er mein absoluter Lieblingsmensch auf der Welt war, aber dann musste ich an meine Mutter denken.

»Hast du mit meiner Mom gesprochen? Ist es okay für sie?«

Billy hob das Hündchen hoch und lachte, als es ihm übers Gesicht leckte. »Was könnte deine Mom gegen so etwas Süßes einwenden?«

»Ernsthaft, Onkel Billy. Sie verbietet mir einen Hund.«

»Aber du wünschst dir doch einen, oder?«

»Mehr als alles andere.«

Billy setzte den Hund wieder auf den Boden und legte wieder den Arm um mich. »Manchmal braucht deine Mom Hilfe, um die Dinge zu sehen, wie sie sind. Sobald sie begreift, wie sehr du diesen Hund liebst, kann und will sie nicht Nein sagen. Vertrau mir, okay?«

Ich wusste, dass ich ihm dieses Mal nicht vertrauen sollte. Meine Mutter würde mir niemals erlauben, den Hund zu behalten. Aber ich wollte an meinen Onkel und seine Überzeugungskraft glauben, an die magische Fähigkeit, mit der er Dinge wahr machen konnte, nur weil er sie versprochen hatte. Und ich wollte, dass auch meine Mutter daran glaubte.

»Joanie wird platzen vor Neid«, feixte ich auf der Heimfahrt. »Ein Hundebaby. Ein echtes Hundebaby. Das ist das beste Geburtstagsgeschenk aller Zeiten, Onkel Billy.«

Wir hielten vor unserem Haus. Billy hielt den Hund in den Armen, während ich das Körbchen und das andere Zubehör von der Rückbank holte. Danach wollte ich ihm den Hund abnehmen, er ließ ihn aber nicht los, sondern kraulte ihn hinter den Ohren, ehe er plötzlich ernst wurde. »Tut mir leid, dass du diese Sache zwischen deiner Mom und mir mit ansehen musstest.«

»Nicht so schlimm«, sagte ich unsicher.

»Doch, das ist es«, insistierte er. Der Hund wand sich in seinen Armen. »Aber du sollst wissen, was immer zwischen deiner Mom und mir passiert, ist nicht deine Schuld.« Ich wollte den Hund nehmen und schnell ins Haus laufen, damit Billy aufhörte zu reden, aber er hatte den kleinen Welpen fest im Griff. Bevor er es ausgesprochen hatte, war ich noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, irgendetwas könnte meine Schuld sein. »Lass den Hund nur nicht an die Schuhe deiner Mom kommen, dann wird sie ihm nicht widerstehen können.« Billy gab mir den Hund. »Ich komme euch bald wieder besuchen.« Auf Letzteres vertraute ich mehr als auf das, was er davor gesagt hatte. Wir würden Billy bald wiedersehen. Alles würde gut werden.

»Mom«, schrie ich, als ich ins Haus rannte. »Mom, komm schnell her. Du wirst nicht glauben, was Billy mir geschenkt hat.«

Meine Mutter riss ihre Schlafzimmertür auf und trat schnell ans Treppengeländer über der Diele. Immer noch trug sie ihren Bademantel. Dunkle Ringe umrahmten ihre Augen. »Herrje, Miranda.« Sie legte die Hände an die Brust. »Du hast mir vielleicht einen Schreck eingejagt. Ich dachte schon, es ist was Schlimmes passiert.«

»Guck mal!« Ich hielt den Hund in die Höhe.

Mit versteinerter Miene schaute sie zwischen mir und dem jaulenden Welpen hin und her. »Den kannst du nicht behalten.« Sie kam die Treppe heruntergerannt und nahm mir den Hund weg. »Wir bringen ihn auf der Stelle zurück.«

»Aber du kennst sie doch noch gar nicht.« Der Hund leckte ihr übers Gesicht. »Ist sie nicht süß?«

»Du weißt ganz genau, dass es nicht darum geht«, sagte meine Mutter, worauf der Welpe zu kläffen begann.

»Ich dachte, du würdest es dir anders überlegen, wenn du sie erst gesehen hast.«

»Wir haben das ausführlich besprochen, Miranda. Wir haben alle zu viel um die Ohren, um uns um einen Hund zu kümmern.«

»Ich kümmere mich ganz alleine um sie. Du brauchst nichts zu tun. Gar nichts.«

»Das ist eine viel zu große Verantwortung«, sagte sie.

»Ich bin kein Kind mehr. Ich muss mir von dir nicht anhören, was Verantwortung bedeutet.« Mein Ton schockierte uns beide. Mutter wartete ab, bis ich mich beruhigt hatte. Als mir klar wurde, dass sie nicht nachgeben würde, trampelte ich schreiend die Treppe hinauf. »Du erlaubst mir aber auch gar nichts.« Mir war völlig klar, dass ich die Nummer mit dem übellaunigen Teenager überzog, schließlich war ich noch gar nicht richtig in der Pubertät, aber ich knallte meine Zimmertür so laut hinter mir zu, dass der Boden unter meinen Füßen bebte.

Meine Mutter stieß die Tür auf. »Hier wird nicht mit Türen geknallt.« Ihre Stimme war ganz ruhig, aber ihre Augen waren eiskalt und funkelten wütend. »Du hältst dich nicht an unsere Abmachung, obwohl du genau wusstest, dass du keinen Hund haben darfst. Es gibt keinen Grund, sich jetzt so aufzuführen.«

Ich wusste, dass sie recht hatte, aber ich war in dem Alter, wo es einem egal ist, wer recht hat – Hauptsache, man bekommt seinen Willen.

»Wo ist der Hund?«, fragte ich stattdessen, denn sie hatte ihn nicht dabei.

»Verdammt!« Mutter rannte die Treppe hinunter und machte lockende Geräusche. »Miranda«, rief sie zu mir hinauf. »Wo habt ihr diesen Hund gekauft?«

»Sag ich nicht«, schrie ich zurück, ruderte aber zurück, nachdem sie nicht darauf einging. »Eine Zoohandlung am Culver Boulevard.« Dass dort nur Vögel verkauft wurden, sagte ich nicht.

Als meine Mutter mit dem Welpen das Haus verlassen hatte, rief ich Billy an, um ihm alles zu erzählen. Das Telefon in seinem Wagen hob er nicht ab, also rief ich ihn zu Hause an. »Du wirst es nicht glauben«, schrie ich auf seinen Anrufbeantworter. »Meine Mom gibt den Hund zurück. Dieses Miststück!« Als ich aufgelegt hatte, fühlte ich mich, als hätte mir jemand in den Magen geboxt. Noch nie hatte ich meine Mutter als Miststück bezeichnet. Jetzt wiederholte ich es in unserem stillen Haus. »Du bist so ein Miststück!« Immer wieder sagte ich es und hoffte, dass es sich beim nächsten Mal angemessener anhören würde. Das tat es aber nicht.

Den ganzen Nachmittag blieb ich in meinem Zimmer, bis ich meine Mutter heimkommen hörte, gefolgt von meinem Vater, der aus dem Tennisclub kam. Ich hörte beide in der Küche reden. Natürlich erzählte sie ihm, was passiert war, und es war offensichtlich, dass mein Vater bald zu mir heraufkommen und versuchen würde, zwischen meiner Mutter und mir zu vermitteln.

Um halb sieben klopfte er an meine Tür.

»Ich habe keinen Hunger«, sagte ich.

Er kam herein und setzte sich neben mich auf das Bett. »Ich weiß, dass du wütend bist. Aber wir haben das alles schon besprochen. Es ist nicht die richtige Zeit für einen Hund.«

»Das ist doch eine verdammte …« Mein Vater sah mich warnend an. »Die richtige Zeit wird nie kommen.«

»Schon möglich. Aber das musst du akzeptieren, Mimi. Wir sind eine Familie und treffen unsere Entscheidungen gemeinsam. Willst du nicht runterkommen und mit uns essen? Ich glaube, es wäre für uns alle das Beste.« Er nickte mir aufmunternd zu. Eine Geste, die ich nur zu gut kannte. Sie bedeutete, dass ich mich für das Richtige entscheiden und ihn nicht enttäuschen würde.

Am Küchentisch stocherte meine Mutter in einer Hähnchenbrust herum, ohne auch nur einen Bissen zu sich zu nehmen. Ich wusste nicht, was ich zu ihr sagen sollte. Ich wollte mich dafür entschuldigen, dass ich sie als Miststück beschimpft hatte, obwohl sie es gar nicht gehört hatte.

Stattdessen brach sie das Schweigen. »Es tut mir leid, dass wir gestritten haben. Billy hätte dich nicht in diese Lage bringen dürfen. Das war nicht fair von ihm.«

Ich spießte ein Stück Hähnchen auf und schob es mir in den Mund. Dann kaute ich wie wild darauf herum. So wollte sie die Sache also drehen. Es war nicht meine Schuld. Und ebenso wenig ihre. Nein, das ganze Theater hatten wir natürlich Billy zu verdanken. Er war es, der mir einen Hund gekauft und was auch immer getan hatte, das sie ihm am Abend meines Geburtstags vorgeworfen hatte.

»Ach! Also ist Onkel Billy mal wieder schuld? Und ich soll bloß nicht auf die Idee kommen, das auf dich abzuwälzen?« Ich werde nie vergessen, wie gekränkt meine Mutter aussah, als sie begriff, dass ich mich auf ihren Streit mit Billy bezog, den ich mitbekommen hatte. Sie musste bemerkt haben, wie ich ihre eigenen Worte als Waffe gegen sie richtete.

»Es geht doch nicht darum, einen Schuldigen zu finden«, sagte mein Vater beschwichtigend. »Wir alle sind für unsere Handlungen verantwortlich.«

»Es tut mir leid, dass ich die Tür zugeknallt habe«, sagte ich, aber es war zu spät, um den Schaden zu verhindern. Meine Mutter akzeptierte die Entschuldigung mit einem Nicken, aber sie akzeptierte auch etwas anderes: dass dieses Abendessen etwas zwischen uns verändert hatte.

Später an diesem Abend rief ich Billy noch einmal an.

»Meine Mom ist für mich gestorben«, schrie ich auf seinen Anrufbeantworter. »Ich werde ihr nie-niemals verzeihen.«

Billy rief nicht zurück. Weil ich vermutete, dass er nicht riskieren wollte, meine Mutter am Telefon zu erwischen, versuchte ich es am nächsten Tag noch einmal. Wieder nahm er nicht ab. »Morgen rufe ich genau um Viertel nach vier bei dir an«, sprach ich auf seinen Anrufbeantworter. »Bitte sei dann zu Hause, damit wir reden können.«

Aber auch am nächsten Nachmittag war er nicht da.

Es gab nur einen einzigen Ort, von dem ich wusste, dass ich ihn dort erreichen könnte: Prospero Books.

Mein Onkel hatte beruflich nicht nur mit Erdbeben zu tun, sondern war Inhaber eines Buchladens, der sich in Silver Lake befand, obwohl Billy selbst in Pasadena wohnte.

Die Seismologie bezeichnete er als seinen richtigen Job, die Arbeit im Buchladen als seine Leidenschaft. Einmal habe ich ihn gefragt, warum er den Beruf, der ihn begeisterte, nicht zu seinem richtigen Beruf machte. Er sei dafür verantwortlich, Menschen zu helfen, hatte er geantwortet. Denn anders als die meisten wisse er, was man von Erdbeben lernen könne.

Wenn er nachmittags keine Schatzsuche für mich vorbereitet hatte, brachte er mich in den Laden, in dem es immer abenteuerlich zuging. Während wir durch das Labyrinth der Regale streiften, forderte er mich auf, ein Buch auszusuchen, egal welches. Dennoch sollte ich eine kluge Wahl treffen, weil ich an diesem Tag nur dieses eine Buch zu lesen bekommen würde. Auf diese Weise habe ich Anne auf Green Gables kennengelernt, Mary Lennox aus dem Buch Der geheime Garten sowie etwas später Kristy, Claudia, Stacey und ihre Freundinnen vom Babysitter-Club.

Nachdem ich die Nummer des Ladens gewählt hatte, meldete sich eine männliche Stimme, die nicht die meines Onkels war. »Prospero Books, wo Bücher wertvoller sind als Herzogtümer.«

Wahrscheinlich war es der Geschäftsführer, ein Mann namens Lee, aber ich wollte mich nicht schon wieder in ein Gespräch darüber verwickeln lassen, warum ich immer noch nicht Bist du da, Gott? Ich bin’s, Margaret gelesen hätte.

»Ist Billy da?«

»Ich glaube, er ist im Labor, aber am Sonntag wollte er vorbeikommen. Kann ich ihm etwas ausrichten?«

Ich legte auf, bevor Lee merkte, dass ich es war.

Bis Sonntag waren es noch fünf Tage. So lange konnte ich nicht warten. Kaum hatte meine Mutter sich schlafen gelegt und mein Vater sich für die Spätnachrichten ins Wohnzimmer zurückgezogen, versuchte ich es an diesem Abend noch mal auf Billys Festnetzanschluss. »Billy? Hier ist dein Lieblingskind«, vertraute ich mich pathetisch dem Anrufbeantworter an. »Hast du meine Nachrichten gehört? Ich muss dringend mit dir sprechen.«

Nachdem ich noch mehrere Nachrichten aufs Band gesprochen hatte, kroch eine Panik in mir hoch.

»Ich wollte den Hund behalten«, verteidigte ich mich gegenüber dem Anrufbeantworter. »Das musst du mir glauben. Ich habe alles getan, was ich konnte. Du kennst meine Mom. Du weißt, wie sie ist. Bitte sei mir nicht böse. Ruf mich an.« Aber er rief nicht an, und als das Wochenende kam, hatte ich begriffen, dass es sinnlos war, ihn noch einmal anzurufen. Das Schweigen meines Onkels sagte mehr als Worte. Er würde am Sonntag nicht zum Grillen vorbeischauen. Zumindest rechnete ich nicht damit. Er würde mich auch nicht zu neuen Abenteuern abholen.

Ich musste persönlich mit ihm sprechen. Schließlich konnte er mich nicht aus seinem Leben verbannen, wenn wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenübersaßen, und von Lee wusste ich ja, was er am Sonntag vorhatte.

Bei Prospero Books würde ich ihn finden.

Joanie half mir, die beste Route quer durch die Stadt zu planen. Die Strecke war so lang, dass es mir vorkam wie eine Reise nach San Francisco. Der Bus fuhr auf direktem Weg durch Wohngebiete, den ganzen Santa Monica Boulevard hinab, bis zum Sunset Boulevard. Wenn alles glattging, würde ich eineinhalb Stunden brauchen.

Meiner Mutter erzählte ich, ich würde bei Joanie übernachten, wo deren ältere Schwestern, die sich eigentlich ständig nur in ihren Zimmern verbarrikadierten, auf mich aufpassen würden. Ich war schon oft dort gewesen, ohne dass mir etwas zugestoßen war, und meine Mutter hatte inzwischen aufgehört, sich bei Joanies Eltern abzusichern, ob sie während meines Besuchs auch zu Hause sein würden.

Bevor ich in den Bus kletterte, umarmte Joanie mich, so fest sie konnte. »Bist du dir sicher, dass du klarkommst? Denk dran, dass du an der zweiten Haltestelle hinterm Vermont-Bahnhof aussteigen musst.«

»Danke, Mom«, sagte ich sarkastisch, und sie streckte mir die Zunge heraus.

Der Bus war nicht so voll, wie ich befürchtet hatte. Ich fand eine freie Reihe und setzte mich ans Fenster. Es herrschte stockender Verkehr auf dem Santa Monica Boulevard, als wir von Beverly Hills nach West Hollywood fuhren und den schäbigeren Teil Hollywoods erreichten. An der Hyperion Avenue stieg ich aus, ging auf das Schild an der Sunset-Kreuzung zu und mimte die Tochter eines Künstlers oder Musikers, die hier in Silver Lake aufgewachsen war. Auf dem Schild über der Buchhandlung prangte eine Figur des Namensgebers der Buchhandlung: Prospero, einen Stab in der rechten, ein Buch in der linken Hand, mit rotem Umhang und weißem, vom Wind zerzaustem Haar. Vor dem Schaufenster blieb ich stehen und schaute auf die Unmengen von Büchern dahinter. Mir wurde ganz kribbelig im Bauch, wie immer, wenn ich vor den lindgrünen Wänden stand. Ich fühlte mich diesem Laden ganz besonders verbunden. Selbst wenn andere Menschen mehr Zeit in dem Geschäft verbrachten, es jede Woche oder sogar jeden Tag besuchten, durfte doch niemand außer mir sich ein Buch aussuchen, irgendeins, kostenlos, das die ganze Zeit über nur darauf gewartet hatte, von mir aus dem Regal gezogen zu werden. Ich stieß die Tür auf und dachte, wenn ich meinen Onkel gleich sähe, würde alles gut.

Prospero Books war kein großer Laden, aber mit seinen hohen Decken und den geschickt verteilten Regalen wirkte er riesig. Er hatte einen ganz eigenen Geruch, anders als der von Billys Wohnung in Pasadena oder der irgendeiner anderen Buchhandlung. Das Erdige von frisch geschnittenem Papier mischte sich mit dem Moschusparfüm der hübschen jungen Mädchen, die oft hierherkamen, und einer Spur Kaffee, die beinahe blumig roch.

»Miranda?« Lee sah mich hereinkommen. »Was für eine nette Überraschung. Hast du Billy mitgebracht?«

»Ich dachte, er wollte heute hier sein.« Sein Lederranzen war nicht unter seinem Schreibtischstuhl, und sein Becher mit einem Bild der San-Andreas-Verwerfung, die Kalifornien wie eine hässliche Narbe zeichnete, stand auf keinem der Tische des kleinen Cafés.

Ich spürte, dass Lee mich beobachtete. Ich wollte ihn aber nicht anschauen, denn ich wusste, was er als Nächstes sagen würde.

»Bestimmt ist er auf dem Weg hierher«, sagte er. »Ich rufe ihn mal an.«

Lee sagte zu der Frau, die das Café führte, sie solle mir bringen, was ich wollte. Augenzwinkernd gab sie mir einen riesigen Cookie mit Schokochips, als sei es unser kleines Geheimnis. Ich ging mit dem Cookie zu einem Tisch in der hintersten Ecke und beobachtete Lee, der hinter dem Ladentresen telefonierte. Er schaute auf, entdeckte mich, und als er sah, dass ich ihn beobachtete, verzog er das Gesicht.

»Billy kann heute nicht kommen«, sagte er, als er sich zu mir setzte. »Er wollte, dass ich deine Mutter anrufe. Sie ist schon auf dem Weg.«

»Du hast meine Mom angerufen?«

Eine mögliche Lüge nach der anderen schoss mir durch den Kopf. Ich wollte mir den neuesten Band der Babysitter-Club-Serie holen. Dad hätte es mir erlaubt. Aber diese Lügen wären so offensichtlich, dass meine Mutter nur noch wütender geworden wäre.

Ich durfte mich nicht einmal in der unmittelbaren Nachbarschaft alleine in den Bus setzen. Ich war zu meinem Onkel gefahren, obwohl die beiden Streit hatten.

Ich hatte nicht gehorcht, und zwar ganz und gar nicht.

Sie würde mir den Kopf abreißen. Hausarrest bis in alle Ewigkeit. Aber das war noch nicht einmal das Schlimmste. Dass Billy mich nicht sehen wollte, verstörte mich am meisten. Ich kämpfte mit den Tränen, dabei war ich zwölf, also fast schon ein Teenager, und ein Teenager war fast schon erwachsen. Ich war zu groß, um zu weinen.

»Hey, hey«, sagte Lee, als er meine Tränen sah. »Sollen wir uns ein Buch holen?«

»Okay«, sagte ich, obwohl ich keine Lust dazu hatte. Ich wollte kein Buch lesen, nicht mit Lee. Ich folgte ihm zu der Abteilung mit den bunten Buchrücken der Jugendbücher, deren Titel hinter meinem Tränenschleier verschwammen. Lee machte mich auf Thriller von R. L. Stine und Christopher Pike aufmerksam – Bücher, die ganz anders waren als seine üblichen Empfehlungen. Ich schüttelte den Kopf, ganz egal was er vorschlug. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, bis zum Abschluss der Highschool das ganze Sortiment des Buchladens zu lesen, aber jetzt würde ich damit aufhören.

Lee musste einen Kunden abkassieren, und ich widmete mich wieder meinem Cookie – ohne Buch in der Hand. Ich brach den Cookie in mehrere Stücke, dann die Stücke in Stücke und war zu aufgewühlt, um etwas zu essen.

Die Leute an den anderen Tischen gingen und neue kamen. Lee blieb hinterm Tresen. Ab und zu schaute er zu mir herüber, um sich zu vergewissern, dass ich noch da war. Langsam wurde es draußen dunkel, und ich begann, mir Sorgen zu machen, ob meine Mutter möglicherweise zu wütend war, um mich überhaupt abzuholen.

Nach gefühlten Stunden klingelte die Ladenglocke. Ich schaute auf und sah meine Mutter, die sich zwischen den Tischen umsah. Als sie mich entdeckte, war sie sichtlich erleichtert. Und als sich unsere Blicke trafen, vergaß ich, wie wütend ich auf sie war, lief auf sie zu und umarmte sie. Ihre Wärme und der süßliche Fliederduft ihrer Haut taten mir gut. Ich fühlte mich wie ein Kind, und es war mir egal, ob jemand mich so sah.

»Es tut mir so leid.«

Sie küsste mich auf die Stirn. »Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist.«

Ich begriff, dass mein Plan von Anfang an Schwachsinn gewesen war. Selbst wenn Billy in seinem Laden gewesen wäre, hätte es nichts daran geändert, dass er mich all die Tage nicht zurückgerufen hatte. Und ich Idiotin tat so, als sei meine Mutter die Böse, dabei war nicht Billy, sondern sie gekommen, um alles in Ordnung zu bringen.

Auf dem Heimweg rechnete ich damit, dass meine Mutter mir einen langen Sermon hielt, wie dumm ich gewesen und wie gefährlich Silver Lake war und dass mein Ausflug ein schlimmes Ende hätte nehmen können. »Was, glaubst du, wäre Großartiges passiert, wenn Billy da gewesen wäre?«, fragte sie stattdessen. Sie klang nicht wütend, sondern einfach nur neugierig.

»Keine Ahnung«, gab ich zu. »Ich möchte, dass ihr euch vertragt.«

»Das ist für Erwachsene manchmal nicht so einfach.«

»Warum nicht?«

Sie umklammerte das Steuerrad fester. »Billy und ich haben eine komplizierte Beziehung.«

»Warum? Was ist denn passiert, als ich euch streiten gesehen habe?«

Ihre Gesichtszüge wurden weicher, als sie den Blick von der Straße abwandte und mich ansah. »Es ist zu schwer zu erklären.«

»Kannst du es wenigstens versuchen?« Ich hielt den Atem an. Das war ihre Chance, mir ihre Sicht der Vorfälle zu schildern. Ich war bereit, alles zu glauben, was sie über Billy sagen würde, egal wie schrecklich es sein würde.

Sie kniff die Augen zusammen, als könne sie den Verkehr vor ihr schlecht erkennen.

»Du bist zu jung, um es zu verstehen.« Sie sagte das ganz sanft, aber es wäre mir lieber gewesen, sie hätte es strenger gesagt, um mich zu kränken, statt mich zu schonen. Denn ich wollte nicht geschont werden.

»Vertragt ihr euch wieder?«, fragte ich.

»Ich weiß es nicht, wirklich nicht«, sagte sie.

Sie wusste es also nicht. Was immer zwischen ihr und Billy lag, war zu schwerwiegend, um verziehen zu werden. Sie hatten Dinge gesagt, die sie nicht zurücknehmen konnten, und hatten einander bei dem Streit verloren. Für immer oder für viele Jahre. Ich fühlte mich ratlos, aber mir wurde schmerzlich bewusst, dass Billy nun auch mich verloren hatte. Ich wollte nicht mehr sein Lieblingskind sein. Ich wollte auch nicht wissen, warum er meine Mutter in seinen Laden geschickt hatte, statt selbst zu kommen. Selbst wenn er uns am nächsten Sonntag besuchen würde, unsere Beziehung würde nie wieder die alte sein.

Es sollte sich herausstellen, dass es keine Rolle spielte, was ich wollte, denn Billy besuchte uns weder am nächsten Sonntag noch an dem danach. Er holte mich auch nicht ab, um mit ihm einen Nachmittag bei Prospero Books zu verbringen oder ein neues Abenteuer zu bestehen.

Noch Monate nach seinem Verschwinden suchte ich nach Hinweisen auf seine baldige Rückkehr. Doch anstelle von Spuren, die mich zu ihm führen würden, fand ich nur immer mehr Spuren seiner Abwesenheit. Die emaillierten Teller, die er uns aus Bejing mitgebracht hatte, zierten das Wohnzimmer nicht mehr. Das Foto von Billy und mir im Unterwasserzoo wurde durch eins ersetzt, auf dem mein Vater mir beim Schaukeln Anschwung gab. Wir aßen nach dem sonntäglichen Grillen auch nicht mehr die Cupcakes, die er aus der kubanischen Bäckerei in Glendale mitgebracht hatte.

Als ich auf die Highschool kam, hörte ich auf, meinen Onkel zu suchen. Er wurde zu einer Figur meiner Familiengeschichte, die ich quasi vergessen hatte. Als er eines Tages zurückkehrte, hatte ich schon über zehn Jahre lang nicht an ihn gedacht.

Außerdem war er zu diesem Zeitpunkt bereits tot.

Aber Billys Tod war nicht das Ende unserer Geschichte, sondern nur der Anfang.

ZWEI

Ich wusste immer, dass Billy in Gestalt eines Rätsels zu mir zurückkehren würde. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass mich der erste Hinweis erst nach sechzehn Jahren erreichen würde.

Zu dem Zeitpunkt war ich gerade bei meinem Freund in Philadelphia eingezogen. Ich war siebenundzwanzig – eine engagierte bis übereifrige Geschichtslehrerin der achten Klasse –, und ich hatte es zum ersten Mal seit dem Auszug bei meinen Eltern gewagt, mein Zuhause mit jemandem zu teilen. Das Schuljahr war gerade zu Ende. Die Referate der Schüler über die Emanzipationserklärung zur Abschaffung der Sklaverei und die Bewegung Underground Railroad waren durchgesehen und zurückgegeben. Die Zeugnisnoten waren erteilt worden, und abgesehen von vereinzelten Protesten aus den Reihen der Eltern, mit denen wir Lehrer uns auseinandersetzen mussten, hatten die Sommerferien offiziell begonnen. Jay bestand darauf, das zu feiern. Es sollte eine Art Einweihungsparty sein, obwohl er selbst schon seit fünf Jahren in dieser Wohnung lebte. Das einzig Neue war die Tatsache, dass ich jetzt auch hier wohnte.

Jay war losgefahren, um Alkohol für den großen Abend zu kaufen. Ein paar Straßen weiter gab es eine staatlich lizensierte Spirituosenhandlung, aber er wollte unbedingt die halbstündige Fahrt nach Delaware auf sich nehmen, wo er einen Laden kannte, der billigen Whisky und steuerfreien Wodka verkaufte.

»Dir ist schon klar, dass du genauso viel für Benzin ausgibst, wie du beim Einkaufen sparst?«, argumentierte ich, während er auf der Suche nach seinen Schlüsseln wie ein Derwisch durch unser Wohnzimmer wirbelte.

»Es geht ums Prinzip.« Jay grub die Hände in die Ritzen zwischen den Couchpolstern. Außer zerkrümelten Kartoffelchips und Fusseln förderte er aber nichts zutage. Krümel und Fussel entsorgte er auf dem Couchtisch.

»Das ist ja widerlich!«, sagte ich mit Blick auf den Tisch. Jay warf mir einen Luftkuss zu und durchsuchte weiter das Innenleben der Couch, bis er seine Schlüssel tatsächlich fand und triumphierend damit rasselte. »Gleich neben der Wohnungstür haben wir einen Haken für genau diesen Zweck.« Ich zeigte auf den mit einem Vogel verzierten Messinghaken, der mein bislang einziger Beitrag zum Mobiliar war.

»Das soll ein Schlüsselhaken sein? Das wusste ich ja gar nicht«, zog Jay mich auf und zog mich auf die Couch. Er küsste mich auf Hals und Wangen und hievte mich auf seinen Schoß. Ich stellte mir vor, wie er in dem Spritladen in Delaware einen ganzen Einkaufswagen mit Flaschen belud, von deren Inhalt unseren Gästen furchtbar schlecht werden würde.

»Wir könnten übers Wochenende auch der Stadt enfliehen, eine Hütte in Vermont mieten und tief durchatmen.«

Jay ließ mich los, aber ich blieb auf seinem Schoß sitzen. »Ich dachte, du wolltest diese Party«, sagte er.

Ich zuckte mit den Schultern. Es war Jay, der diese Party wollte. Ich wünschte, dass ich etwas dafür übrig gehabt hätte, aber ich ging nur selten auf Veranstaltungen, die im Grunde nur darin bestanden, sich bis zum Morgengrauen zu betrinken. Und organisieren wollte ich sie schon gar nicht. »Ach, das war nur so ein Gedanke.«

Jay hob mich von seinem Schoß, stand auf und steckte sich Portemonnaie und Schlüssel in die Hosentaschen. »Es wird bestimmt lustig«, versprach er, küsste mich kurz auf die Wange und zog los.

Obwohl ich schon seit drei Monaten bei Jay wohnte, fühlte ich mich hier genauso wenig heimisch wie zu der Zeit, als meine Kleidung noch nicht zusammengefaltet in den Kommoden gelegen und mein Joghurt und Grillhähnchen noch nicht seinen sonst leeren Kühlschrank gefüllt hatten. Die Wohnungseinrichtung war das, was sich seine Mutter unter dem Wohnstil eines alleinstehenden Mittzwanzigers vorgestellt hatte. Eine dunkle Couch, auf der die Flecken nicht besonders auffielen, Ledersessel, deren Lehnen man glücklicherweise nicht auf Liegeposition stellen konnte, ein Fernseher, der fast eine ganze Wand bedeckte, während die anderen Wände von abstrakter Kunst der seichten Art geziert wurden. Die wenigen Dinge, die mir gehörten, befanden sich in einem kleinen Abteil einer Lagerhalle. Eine antike Kommode, die ich als einziges Schlafzimmermöbel nicht verkauft hatte. Ein steinerner Couchtisch, den meine Mutter in den 70er-Jahren in New York gekauft hatte. Ein paar gerahmte Drucke aus dem Kunstmuseum, für die sich der Kampf um einen freien Platz an der Wand nicht gelohnt hatte. Jay hatte zwar keinen besonderen Bezug zu den Bildern, die seine Mutter einem befreundeten Künstler abgekauft hatte, aber es wäre ein Affront gewesen, wenn wir sie abgenommen hätten. Jay sagte, es sei einfacher, alles so zu lassen, wie es war, und über Wichtigeres zu streiten. Ich fragte mich damals, wie es sich wohl anfühlte, in ständiger Angst vor einem Streit mit der eigenen Mutter zu leben.

Ich ging in die Küche, um die Arbeitsplatte für die Getränkekisten freizuräumen, die Jay anschleppen würde. Meine Post lag in einem unordentlichen Haufen neben dem Kühlschrank, hauptsächlich Rechnungen und Werbung für Yogakurse, zwei Karten von Schülern, die mir in ihren Sauklauen versicherten, dass ich ihre Lieblingslehrerin sei und sie niemals den Ausflug zu der historischen Druckerei von Benjamin Franklin vergessen würden. Obenauf ein Luftpolsterumschlag, auf den jemand sorgsam meinen Namen aufgemalt hatte – Miranda Brooks –, viel ansehnlicher, als ich ihn jemals hätte schreiben können. Der Brief trug keinen Absender, aber der Stempel auf der Briefmarke stammte aus Los Angeles. Vorsichtig versuchte ich, den Inhalt zu ertasten. Etwas Hartes, Viereckiges befand sich darin, offenbar ein Buch. Vielleicht war es eines der kleinen Geschenke, mit denen mich meine Mutter manchmal überraschte. Andererseits trug die Adresse nicht ihre Handschrift. Sie schickte mir ständig irgendwelche Dinge, um ihren Schmerz darüber zu lindern, dass ihr einziges Kind beschlossen hatte, an die Ostküste zu ziehen, einen kompletten Kontinent entfernt. Ein Kochbuch mit so komplizierten Rezepten, dass ich mich gar nicht erst heranwagte. Ein Bildband mit preisgünstigen Einrichtungsideen, weil sie vernünftigerweise davon ausging, dass wir Jays Wohnung umdekorieren würden, sobald sie zu unserer gemeinsamen Wohnung wurde.

Ich öffnete den Umschlag und holte ein Taschenbuch heraus, das in schimmerndes smaragdgrünes Seidenpapier eingewickelt war. Jemand hatte eine Grußkarte daraufgeklebt. Ich riss das Papier von dem Buch. Es war der Text eines Dramas, das ich auswendig kannte. Der Sturm. Meine Mutter hatte mir den Namen Miranda nach einer der Figuren gegeben, die für sie die reinste und schönste junge Frau war, welche die Literatur je hervorgebracht hatte. Das Buchcover zeigte eine mächtige Meereswelle, die ein Schiff zu versenken drohte, auf dem der König und seine Entourage – inklusive Prosperos Bruder Antonio – von der Hochzeit der Prinzessin nach Hause segelten. Meine Mutter hatte mir schon die verschiedensten Ausgaben dieses Stücks über meine Namenspatronin geschickt, immer wenn sie eine davon in Haushaltsauflösungen oder Antiquariaten entdeckte. Eine Rarität mit Goldschnitt. Eine illustrierte Ausgabe aus den 50er-Jahren. Eine Miniaturausgabe, die zu einem Kettenanhänger oder einer Brosche verarbeitet worden war. Doch dieses hier war ein schlichtes Taschenbuch mit einer Auflage von Tausenden Exemplaren und zählte eigentlich nicht zu der Art Geschenk, die meiner Mutter vorschwebte. Aber wenn es nicht von ihr kam, hatte ich keine Ahnung, wer es sonst geschickt haben sollte.

Ich zog eine Grußkarte aus einem kleinen Umschlag. Die Vorderseite zeigte eine sonnenbadende Blondine an einem Strand, die dem Betrachter zulächelte. Ihre Augen versteckten sich hinter einer geschwungenen Sonnenbrille, eine Meeresbrise hatte einige Strähnen ihres kurzen Pixie-Haarschnitts aufgewirbelt. Malibu, Kalifornien stand auf dem wolkenlosen Himmel über ihr. Die Buchstaben waren so glänzend weiß wie die Zähne der Frau.

Der Text im Inneren der Karte war wenig aufschlussreich.

Wissen rüstet uns für die Zukunft.

Das war alles. Kein »Gruß von einer alten Freundin, die du vergessen zu haben scheinst«. Kein »Wann immer ich von diesem Stück höre, muss ich an dich denken. Dein heimlicher Verehrer«. Der Satz bezog sich auch nicht auf das dem Untergang geweihte Schiff des Königs, das auf dem Cover abgebildet war, auf Prospero oder seine verzauberte Insel. Nur ein paar gewichtige Worte in pechschwarzer Tinte.

Wissen rüstet uns für die Zukunft. Irgendwo hatte ich den Satz schon einmal gehört. Von meinem Vater? Ihm hätte ich es zumindest zugetraut, seine Unterschrift zu vergessen. Wenn es sich um ein Lob der fleißigen Arbeit oder um ein Roosevelt-Zitat gehandelt hätte, wäre der Absender ganz klar mein Vater gewesen. Nur ähnelte das hier nicht den Ratschlägen, die ich von ihm gewohnt war. Vielleicht handelte es sich um eine Liedzeile oder die Weisheit aus einem Glückskeks, oder es war der Leitsatz eines dieser New-Age-Bücher, die Joanie manchmal scherzhaft zitierte. Nur erinnerte ich mich nicht daran, das Wort Zukunft jemals in Joanies verrauchter Stimme gehört zu haben, es hatte in meinen Ohren eher wie ein sanftes Wiegenlied geklungen, gesungen mit einer tiefen, verträumten Stimme, die mich eigentlich hätte trösten sollen, mich stattdessen aber in eine tiefe Sehnsucht gestürzt hatte.

Vielleicht stammte der Satz von Prospero, obwohl er nicht Shakespeares Versmaß entsprach. Trotzdem klang es wie etwas, das Prospero bei seiner Abschiedsrede ins Publikum gesprochen haben könnte. Ich blätterte in dem Buch herum. Der Epilog war nicht angestrichen, aber in der zweiten Szene des Stücks, wo Prospero Miranda erklärt, wie sein Bruder sie aus Mailand vertrieben hat, waren einige von Prosperos Worten mit einem Marker angestrichen.

Es ist Zeit, dass ich dir mehr entdecke. Leih mir deine Hand und ziehe mir dieses magische Gewand aus; so! Liege hier, meine Kunst.

Setze dich nieder, denn du musst nun noch mehr wissen.

Du musst mehr wissen. Wissen rüstet uns für die Zukunft. Wären sich die beiden Sätze nicht so ähnlich gewesen, hätte ich angenommen, dass die Markierung von einem früheren Besitzer des Buches stammte. Aber Prosperos Worte und die Zeile auf der Karte … sie waren verbunden. Nur wusste ich nicht genau, wie sie verbunden waren.

Ich gab die Zeile von der Karte in mein Smartphone ein und startete einen Suchlauf. Hunderte Beiträge über Bildung und Religion wurden mir angeboten. Keine direkten Zitate des Satzes. Aus Der Sturm konnte er also nicht stammen. Es schien nicht einmal ein Sprichwort zu sein. Trotzdem war ich mir sicher, genau diesen Satz schon einmal gehört zu haben.

Ich stopfte das Buch in meine Kommode, klebte die Karte an den Kühlschrank und hoffte, die Strandszene würde meiner Erinnerung auf die Sprünge helfen. Das strahlende Gesicht der Blondine folgte meinen Bewegungen, als ich die Arbeitsplatte sauber wischte. Obwohl ich ihre Augen hinter der Sonnenbrille nicht sah, fühlte ich mich auf Schritt und Tritt verfolgt. Immer wenn ich zu dem Gesicht aufschaute, erwartete ich einen anderen Ausdruck darin. Natürlich war dies nicht der Fall, obwohl ich nach einem längeren Blick auf die zerzausten Haare und das nichtssagende Lächeln allmählich das Gefühl bekam, dass diese Frau mehr wusste als ich.

Bis zum Abend war unsere Wohnung für die Feier hergerichtet. Eine Handvoll Kollegen, Jays Fußballkumpel und meine Collegefreunde trafen zeitig ein und brachten Salate, Couscous, Hähnchen und Kuchen mit.

Wir saßen auf dem Fußboden im Wohnzimmer, die Weingläser hatten wir neben uns gestellt, die Pappteller auf den Schoß gelegt. Alle unterhielten sich lebhaft miteinander. Es war eine Party, wie sie mir am liebsten war: nur gute Freunde, bei denen man sich nicht fragen musste, wie sie einem ins Haus geschneit sind. Ich saß zwischen Jay und der Kunstlehrerin. Jay trainierte die Fußballmannschaft der Highschool und war neben mir der zweite Geschichtslehrer für die achten Klassen, seit meine Kollegin Anne vor einigen Monaten beschlossen hatte, nicht aus dem Mutterschaftsurlaub zurückzukehren. Bevor er ihren Job übernommen hatte, hatte ich ihn an der Schule nur aus der Ferne gesehen, seine muskulösen Waden unter der knielangen Sporthose bemerkt und wie durchdringend er in seine Pfeife pusten konnte, wenn er seine Jungs auf sich aufmerksam machen wollte. Er sah gut aus und wirkte etwas spießig, was mich normalerweise nicht besonders anzog, aber er hatte eine besondere Ausstrahlung, die sowohl seine jüngeren als auch seine älteren Kolleginnen zum Kichern brachte, wenn er sie mit einem Hallo begrüßte. Sein Charisma war so überwältigend, dass die Schule ihn unbedingt halten wollte. Also bot sie ihm die Stelle als Lehrer für Amerikanische Geschichte in den achten Klassen an, obwohl er am College Volkswirtschaft studiert und noch nie unterrichtet hatte. Mir fiel die Aufgabe zu, ihm das nötige Know-how zu vermitteln, wofür mehr Geschichtsstunden nötig gewesen waren, als ich dachte. Wir trafen uns meist abends und an den Wochenenden, um die Föderalisten, die Demokratisch-Republikanische Partei unter Jefferson, die umstrittene Wahl von 1800 oder das Duell zwischen Hamilton und Burr zu besprechen. Er grinste dümmlich, als ich ihm erklärte, dass Präsidentschaftskandidaten als Einzelpersonen zur Wahl standen und derjenige mit den zweitmeisten Stimmen ungeachtet seiner Parteizugehörigkeit Vizepräsident wurde. Ich rügte ihn, dass er nicht zuhöre, worauf er erwiderte: »Du bist so engagiert. Das ist bewundernswert.« Dann grinste auch ich dümmlich, und so dauerte es nicht lange, bis aus der Grinserei mehr wurde.

Ich betrachtete es als eine unverbindliche Affäre. In den Schulfluren begrüßten wir uns als Kollegin Miranda und Kollege Jay, als hätten wir einander nie nackt gesehen. Aber nach einer Weile empfand ich diese Heimlichtuerei als verlogen. Es stellte sich nämlich heraus, dass Jay mehr zu bieten hatte als durchtrainierte Beine und ein einladendes Lächeln. Er sprach über Fußball, als handelte es sich dabei um Kunst oder eine Metapher für das Leben an sich. Er kannte jeden in seiner – jetzt unserer – Nachbarschaft mit Namen, half der alten Mrs. Peters, ihre Einkäufe in den dritten Stock zu tragen, und ging mit dem Hund seines Freundes Trevor Gassi, wenn Trevor einmal länger arbeiten musste. Er stand seinen Eltern sehr nahe, hatte eine Engelsgeduld mit seiner Mutter und tat so, als gefielen ihm die feinen Hemden, die sie ihm kaufte, obwohl sie nur als Staubfänger in seinem Schrank hingen. Und er brachte ihre uninspirierten Bilder an allen Wänden seiner – jetzt unserer – Wohnung an. Auch zu seiner Schwester hatte er ein gutes Verhältnis. Sie wohnte ein paar Straßen weiter, und jetzt saß sie uns gegenüber, flirtete mit einem alten Collegefreund von mir und schaute immer wieder verstohlen zu Jay und mir herüber. Sie hatte sich noch nicht recht daran gewöhnt, dass wir zusammen waren.

»Wie war dein letzter Tag?«, fragte ich Jay. Eigentlich wollte ich nicht über die Schule sprechen, aber ich musste noch lernen, wie ich mich an seiner Seite verhalten sollte, wenn wir beide in Gesellschaft waren. Wir waren so oft miteinander allein, dass ich mir gedanklich auf die Finger hauen musste, um nicht über ihn herzufallen oder ihm Gefühlsregungen zu entlocken, die ihn im Beisein anderer erröten ließen.

Jay berichtete also von seinem letzten Schultag. Er hatte mit seinen Schülern eine geschickt inszenierte Mörderjagd veranstaltet, die ihnen wahrscheinlich mehr Spaß gemacht hatte als meiner Klasse die letzte Stunde über Abraham Lincoln. Genau das war der Unterschied zwischen Jay und mir. Er wusste, wie er Schüler für sich gewinnen konnte. Ich wusste, wie ich ihnen etwas beibringen konnte, das ihnen heute vielleicht nicht wichtig war, in einigen Jahren aber Früchte tragen würde. Wenigstens hoffte ich das. Es gibt nicht wenige Lehrer, die sich über diese vage Hoffnung definieren. Jay begann, mit einer meiner Locken zu spielen, ich küsste ihn und probierte aus, wie es sich anfühlte, meine Zuneigung vor Freunden und Kollegen zur Schau zu stellen. Dieser Kuss war die körperliche Entsprechung eines Wechsels im Beziehungsstatus auf Facebook, ein Statement, das zwar nicht gänzlich irreversibel, aber nicht mehr aus der Welt zu schaffen war.

Gegen elf trudelten die uneingeladenen Gäste ein, Freunde von Freunden von Freunden, und Jay begrüßte sie alle. Ein paar Typen mit Baseballkappen hielt er die Hand zum High five hin, Frauen in engen grellen Tanktops umarmte er. Keinen von ihnen hatte ich je zuvor gesehen. Ich konnte mir die Fachsimpeleien über Fußball, Vereine und Spieler denken, die Jay mit den großen muskulösen Kerlen anstellte. Worüber er mit den Frauen sprach, überstieg jedoch meine Fantasie. Hoffentlich fiel nicht auf, dass ich ihr Gespräch belauschte. Jays Schwester erwischte mich aber dabei und grinste vielsagend.

Immer mehr Leute bevölkerten unsere Wohnung, und nach kurzer Zeit war es im Wohnzimmer unerträglich warm. Jemand drehte die Stereoanlage so laut, dass man sich nicht mehr unterhalten oder einen klaren Gedanken fassen konnte. Man konnte nur noch tanzen. Ich lehnte mit Jay an der Wand und beobachtete, wie mühelos sich die in schreienden Farben gekleideten Frauen zu dem elektronischen Beat bewegten. Tanzende Paare rempelten einander an und verschütteten Bier auf unseren Parkettboden. Jay wirkte wie aufgeladen, und ich wollte mich in ihm verlieren, diese Ecke unseres Wohnzimmers in unser Liebesnest verwandeln. Er tippte rhythmisch mit dem Fuß und fragte mich, ob ich tanzen wollte.

Wir schoben uns an den Frauen vorbei. Ich wollte in den gleichen fließenden Bewegungen tanzen wie sie, aber wie immer beim Tanzen merkte ich, dass meine Beine nicht taten, was mein Gehirn ihnen befahl. Auch Jay war kein guter Tänzer, und wir lachten über unsere Ungeschicklichkeit, während wir uns immer weiter aufeinander zubewegten, bis wir den Rhythmus der Musik verinnerlicht hatten und in Gleichklang kamen.

Mein Telefon vibrierte in meiner Tasche. Normalerweise hätte ich es ignoriert, aber unsere Haustürklingel funktionierte – trotz zahlloser Bitten um Reparatur beim Hausmeister – nur manchmal, und ich wollte nicht, dass einer meiner Freunde unbemerkt vor der Tür stand. Als ich den Namen meiner Mutter auf dem Display sah, wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Wir hatten erst am Morgen miteinander gesprochen. Sie hatte mir ihr Rezept für Cocktails mit frisch gepressten Limetten durchgegeben, und ich hatte es nicht über mich gebracht, ihr zu gestehen, dass ich und meine biertrinkenden Gäste es niemals zu schätzen wüssten. Es kam öfter vor, dass wir mehr als einmal pro Tag miteinander sprachen, aber niemals hätte sie mich mitten auf meiner Party angerufen, wenn nichts Ernstes passiert wäre.

Ich hielt das Telefon Jay hin, damit er sehen konnte, dass meine Mutter dran war. Dann tauschten wir ein paar Gesten aus. Er zuckte mit den Schultern, wie um mich zu fragen, ob alles okay sei. Ich überspielte meine Sorge und gab ihm ein Zeichen, dass ich kurz mal rausgehen würde, ehe ich mich zwischen all den Menschen aus der Wohnung drängte.

»Was ist passiert?«, fragte ich meine Mutter, als ich in den Hausflur trat und die Treppe hinunterging.

»Tut mir leid, dass ich dich auf deiner Party störe.«

»Ist alles in Ordnung?« Ich setzte mich auf die unterste Treppenstufe.

»Ich dachte, du willst es bestimmt wissen, und zwar sofort, weil ich glaube …«

»Mom, was ist passiert? Du machst mir Angst.«

»Ich habe gerade einen Anruf bekommen. Es betrifft Billy.« Der Alkohol in meinen Adern verstärkte den Effekt dieses Namens. Billy. Onkel Bill. Mir wurde schwindelig. Ich konnte mich nicht erinnern, wann meine Mutter zuletzt von ihm gesprochen hatte. Oder wann ich zuletzt an ihn gedacht hatte. Mir war klar, was sie als Nächstes sagen würde, aber ich wartete, bis sie es aussprach.

»Er … ist gestorben. Heute Nachmittag«, sagte sie so emotionslos, als hätte sie eine Beruhigungspille genommen, was sie möglicherweise tatsächlich getan hatte. Jedenfalls klang ihre Stimme unnatürlich ruhig.

Ein Bild kam mir in den vernebelten Kopf: Billy, wie er am Steuer seines Wagens saß, als er mich zum letzten Mal nach Hause gebracht hatte. Er hatte gelächelt dabei, aber dieses Lächeln wirkte aufgesetzt, unsicher. Ich versuchte, mir einen glücklicheren Moment vor Augen zu führen, etwa seine zufriedene Miene etwas früher an jenem Tag, als er mir den Hund gekauft hatte, oder seinen Gesichtsausdruck, nachdem ich eins seiner Rätsel gelöst hatte. Stattdessen sah ich nur dieses gezwungene Lächeln auf seinen Lippen, als er mir das letzte Mal zum Abschied zuwinkte. Es war ihm nicht gelungen, seine Traurigkeit vor mir zu verbergen.

»Oh, Mom!« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und konnte mir nicht vorstellen, wie es ihr gerade ging. Obwohl sie sechzehn Jahre lang nicht miteinander gesprochen hatten, musste sie zutiefst getroffen sein.

»Ich sollte dich jetzt weiterfeiern lassen.«

»Nein, Mom. Es ist nur eine Party.«

»Ich wünsche dir viel Spaß. Wir hören bald wieder voneinander, okay?«

»Mom«, sagte ich, bevor sie auflegte. »Es tut mir so leid.«

»Mir tut es auch leid«, sagte sie.

Ich blieb auf der Treppe sitzen und schaute auf das Display meines Telefons, bis die Nummer meiner Mutter verschwand.

Es war eine schweißtreibende Nacht. Nach neun Jahren in Philadelphia hatte ich mich immer noch nicht an die hohe Luftfeuchtigkeit gewöhnt, die auch nachts kaum nachließ. Ich dachte an das letzte Gespräch über Billy, das ich mit meiner Mutter geführt hatte. Damals hatte sie gesagt, sie sei sich nicht sicher, ob sie sich jemals mit ihm versöhnen würde. Und tatsächlich war es dazu nie gekommen. In der Zwischenzeit hatte ich meine Mutter öfter einmal auf Billy angesprochen, aber für sie schien er nicht mehr zu existieren, denn sie ließ ihn sogar aus den Geschichten ihrer gemeinsamen Kindheit verschwinden. Auch der Temescal Canyon, wo wir zu dritt eine Wanderung unternommen hatten, und die fantastischen Strände von Malibu, die mein Onkel so geliebt hatte, wurden nicht mehr erwähnt. Irgendwann muss ich dann aufgehört haben, nach ihm zu fragen. Jetzt war er tot, aber in unserem Leben hatte er schon seit Jahren keine Rolle mehr gespielt. Trotzdem traf mich der Verlust tief. Und ich war überzeugt, meiner Mutter ging es genauso.

Der Fußboden bebte, als Jay an die Wohnungstür kam. Ich freute mich, dass er nach mir sah, war aber nicht bereit, mich ihm mitzuteilen.

»Hey, da bist du ja«, sagte er und schenkte mir dieses Lächeln, das mich immer ganz schwindelig machte. Aber noch schwindeliger war mir von dem, was meine Mutter erzählt hatte, von den Erinnerungen an Billy nach so langer Zeit.

Jay hörte auf zu lächeln. Er lehnte sich an den Türrahmen, als posierte er für einen Modekatalog. »Was ist los?«

»Mein Onkel ist gestorben.«

»Scheiße.« Jay setzte sich zu mir auf die Treppe und nahm mich in den Arm. »Sollen wir die ganze Bande rausschmeißen?«

»Nein. Das muss keiner wissen. Ich bin bloß … Ich habe ihn seit sechzehn Jahren nicht gesehen und kann gar nicht glauben, dass er tot ist.« Selbst als ich es aussprach, kam es mir nicht ganz real vor.

»Ich kann ein brennendes Streichholz unter die Sprinkleranlage halten und das Ding in Gang setzen. Das wird sie alle vertreiben.«

Ich zwang mich zu lachen. »Wir haben keine Sprinkleranlage.«

»Okay. Wie wäre es dann mit einem brennenden Mülleimer? Nichts Großes, Gefährliches.«

Ein amüsiertes Gesicht zu machen begann anstrengend zu werden. »Bitte kein Wohnungsbrand! Ich möchte nur meine Ruhe haben und jetzt nicht darüber nachdenken.«

Das schien Jay nicht zu überzeugen, aber er half mir aufzustehen und führte mich die Treppe hoch. Bevor wir hineingingen, umarmte er mich.

»Ein Wort von dir, und alle fliegen raus«, versprach er.

Doch kaum hatten wir die Wohnung betreten, ließ er sich von einem Freund in ein Grüppchen führen, das gerade einen Joint rauchen wollte. Inzwischen waren die Wände beschlagen. Couch und Couchtisch waren an eine Wand gerückt worden, um die Tanzfläche zu vergrößern. Meine ehemalige Mitbewohnerin erspähte mich von der anderen Seite des Zimmers und zerrte mich auf die Tanzfläche, wo sich Körper an Körper schmiegte und sich alle im Rhythmus der Musik wiegten.

Ich konnte nicht aufhören, an Billy zu denken. Wie wir im Garten nach verlorenen Schätzen gesucht hatten, unsere Abenteuer in den Parks und an den Stränden von Los Angeles, die Geschenke, die er mir aus dem Ausland mitgebracht hatte – Perlenschmuck aus Südamerika, Elektroartikel aus Japan. Ich fragte mich, was aus all diesen Geschenken geworden war. Hatte meine Mutter sie längst weggeworfen?

Ich spürte, wie Jay meine Taille umfasste und mich beinahe im Takt der Musik drehte. Ich versuchte, mich synchron mit ihm zu bewegen, aber etwas, das meine Mutter gesagt hatte, lenkte mich ab. Mir tut es auch leid. Und die Erinnerung daran, wie schnell sie dann das Telefonat beendet hatte, ohne mich wissen zu lassen, welcher Art und wie tief ihre Trauer war.

So plötzlich Jay auf der Tanzfläche erschienen war, so plötzlich verschwand er auch wieder in eine Ecke, wo große Aufregung herrschte, weil offenbar etwas zu Bruch gegangen war. Meine Glieder wurden immer schwerer, während ich versuchte, die Bewegungen der anderen Tänzer zu imitieren. Jay bückte sich, um aufzuheben, was immer heruntergefallen war, und trug es vorsichtig ins Schlafzimmer. Die Musik endete, aber die Leute um mich herum tanzten weiter, offenbar im Rhythmus ihrer alkoholisierten Gespräche, während sie auf den nächsten Song warteten.

Ich schloss die Augen und sah Billy vor mir. Sein angestrengtes Lächeln. Wie hatte er mich als Kind immer genannt? Meine Kleine? Nein, mein Lieblingskind.

Die Musik setzte wieder ein. Ich versuchte, die allgemeine Stimmung aufzusaugen, aber ich konnte immer nur an Billy denken, sein Wissen über Geologie, Biologie und die Evolution, das er mir in Form unserer verschiedenen Abenteuer näherbrachte. Er hatte mir fast alles beigebracht, was ich über die Erde wusste, wie sie entstanden war und wie unser Leben auf ihr und durch sie geformt wurde.

Ich hielt still und schlug die Augen auf.

Natürlich. Wie hatte ich das nur übersehen können?

Meine Beine waren wie Blei, aber ich zwang sie, mir zu gehorchen, bis ich mir einen Weg durch die Tänzer in die Küche gebahnt hatte. Die blonde Frau auf der Grußkarte lächelte immer noch vom Kühlschrank herab, aber jetzt wusste ich genauso viel wie sie.

Wissen rüstet uns für die Zukunft.

Das hatte Billy gesagt, nachdem ich mein erstes Erdbeben erlebt hatte.

DREI

Die Überreste der Party am nächsten Morgen ähnelten einem sorgsam komponierten Bühnenbild: Trinkbecher lagen auf dem Fußboden verstreut, ein Filzhut auf der Armlehne der Couch. Im Hintergrund rauschte ein Lautsprecher, der nicht ausgeschaltet worden war, nachdem niemand mehr Musik abgespielt hatte. Schon um diese Uhrzeit war es heiß, und die feuchte Luft stank nach verschüttetem Bier und ausgedrückten Zigaretten.

»Hier riecht’s ja wie im Partyraum eines Studentenwohnheims«, sagte Jay genervt und hustete.

»Keine Ahnung, wie es da riecht.« Rund um die Penn University gab es viele Studentenwohnheime, aber wenn ich abends mit Kommilitonen zusammen gewesen war, hatte es Wein aus Krügen und Partyspiele gegeben, bei denen wir die Namen der amerikanischen Präsidenten und die Hauptstädte der einzelnen Staaten hatten aufsagen müssen. »Du bist so ein Nerd«, hatte Jay verkündet, als ich ihm davon erzählt hatte.

»Okay, du Nerd«, sagte er auch jetzt und zwinkerte mir zu. »Ich lade dich zum Brunch ein.«

Wir gingen in ein Lokal, das binnen kürzester Zeit zu unserem zweiten Wohnzimmer geworden war. Die Tische auf dem Bürgersteig waren alle besetzt, aber im schummrigen, kühlen Gastraum saß kaum jemand.

Jay bestellte zwei Bloody Marys. Schon der Anblick der roten Flüssigkeit, in der Pfefferkrümel schwammen, war wie ein Schlag in die Magengrube. Jay stürzte seinen Drink binnen Sekunden hinunter und erhob keinen Einspruch, als ich ihm meinen hinschob. Trotz der Nachricht von Billys Tod und der hämmernden Kopfschmerzen nach zu viel Bier und zu wenig Schlaf spürte ich eine Art freudiger Erregung. Es konnte kein Zufall sein, dass Billy mir kurz vor seinem Tod dieses Buch geschickt hatte. Und wenn Billy einen Hinweis preisgab, mussten weitere folgen. Ich fand seine Karte in meiner Handtasche und schob sie über den Tisch. Jay wischte sich die Hände sauber, bevor er die Karte vorsichtig aus dem Umschlag zog.

»Das kam gestern von meinem Onkel«, erklärte ich.

»Und was soll es bedeuten?«, fragte er, als er die Karte gelesen hatte.

»Das hat er nach meinem ersten Erdbeben zu mir gesagt.«

Dieser Abend gehörte zu meinen lebhaftesten Erinnerungen. Meine Eltern waren ausgegangen und hatten meinen Onkel als Babysitter eingeladen. Wir blieben lange auf und schauten uns Oz – Eine fantastische Welt an. Eigentlich durfte ich den Film nicht sehen, aber das sagte ich Billy nicht. Er hatte auch gar nicht erst darüber nachgedacht, ob Schocktherapien und ein dämonischer Oz der geeignete Stoff für ein vierjähriges Mädchen waren. Ich ahnte schon kurz nach dem Filmbeginn, dass ich eine schlaflose Nacht vor mir hatte. Als Billy mich dann zu Bett brachte, bat ich nicht darum, die Nachttischlampe anzulassen, obwohl das Licht vom Fenster her den monströsen Schatten des Zwergenkönigs an meine Wände warf. Ich wälzte mich in den Laken, als der Boden zu beben begann. Die Pokale in meinem Regal schepperten. Der Zwergenkönig hatte die Herrschaft über mein Zimmer übernommen. Die Wände verformten sich in steinerne Gargoyles und Kobolde, die mich fressen wollten. Ich schrie. Das Zimmer bebte immer noch. Als Billy endlich die Tür öffnete, wackelten die Bücherregale nicht mehr, aber die Untergebenen des Zwergenkönigs verharrten in den Schatten an den Wänden.

Billy setzte sich auf mein Bett und streichelte mir über den Rücken. »Das war nur ein schwaches Erdbeben«, sagte er. Er wollte Licht machen, aber es gab keinen Strom. Er wollte aus dem Zimmer gehen, aber ich schrie, dass er bleiben sollte. »Ich bin gleich wieder da. Ich hole nur eine Taschenlampe.«

Ich flehte ihn an, nicht wegzugehen, also verzichtete er auf die Taschenlampe und legte sich in meinem schmalen Doppelbett neben mich. Jedes Mal wenn ich beinahe eingeschlafen war, merkte ich, dass er aufstehen wollte. Ich bat ihn, liegen zu bleiben. Irgendwann gab er es auf und schlief neben mir ein.

Am nächsten Morgen war das Zimmer sonnendurchflutet und Billy verschwunden. Ich suchte nach den Schäden, die das Erdbeben hinterlassen hatte, und mein Onkel hatte die Wahrheit gesagt. Es war nur ein schwaches gewesen. Nichts war so schwer erschüttert worden, dass es sich jetzt an einem anderen Platz befunden hätte oder zerbrochen wäre.

Ein süßlicher Duft lockte mich in die Küche, wo Billy Teig in eine Pfanne goss, während meine Mutter Pfannkuchen wendete.

»Jetzt gib schon zu, dass mein Pfannkuchen wie ein Vogel aussieht«, sagte Billy mit Blick auf seinen Pfannkuchenteig zu ihr.

»Ich meine ja nur, du solltest für dieses Talent nicht deinen Job an den Nagel hängen«, sagte meine Mutter scherzhaft.

»Glaubst du etwa, dass du es besser kannst?«

»Das ist ein Wettbewerb, auf den du dich lieber nicht einlassen solltest.«

»Dann lass mal sehen, Schwesterchen.«

Meine Mutter goss Teig in eine Pfanne, und Billy lachte, als er ihre Kreation sah.

»Was macht ihr da?«, fragte ich. Beide drehten sich gleichzeitig zu mir um und grinsten.

»Frühstück für unser Lieblingskind«, sagte Billy, hob mich hoch und trug mich zum Tisch.

»Tapferes Mädchen«, sagte meine Mutter. »Dein erstes Erdbeben.« Sie küsste mich mitten auf den Kopf und stellte einen Teller Pfannkuchen an meinen Platz. Aus einem hatte sie das Wort GEWINNERIN aus Teig geformt.

Später an diesem Tag klopfte Billy an meine Zimmertür, um mich zu einem Ausflug abzuholen, der mit einem Rätsel begann.

»Ich bin ein Ort und ein spezielles Freizeitvergnügen. Es gibt mich national und in jeder Nachbarschaft«, las er von einem Zettel ab, den er langsam aufrollte.

»Was ist es?«, fragte ich viel zu schnell.

»Du kriegst es bestimmt heraus, wenn du gut nachdenkst.«

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