×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Wo sich die Sterne spiegeln«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Wo sich die Sterne spiegeln« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Wo sich die Sterne spiegeln

Als Buch hier erhältlich:

Zu Hause ist, wo wir zusammen sind

Die drei Halbgeschwister Malcolm, Callie und Keira wussten nichts voneinander. Aber als ihr Großvater sie in der Familienvilla am See zusammenführt, beginnt für sie alle ein neues Leben. Malcolm, der schon längst den Familienkonzern »Alberto’s Alfresco« leitet, muss damit zurechtkommen, dass zu Hause plötzlich zwei Schwestern mitreden. Callie erfährt, wie es ist, von einem großen Bruder beschützt zu werden - ob sie will oder nicht. Und die 12-jährige Keira hofft nur, dass das alles kein Sternentraum ist, sondern sie ein echtes Zuhause gefunden hat.

»Ein unwiderstehliches modernes Märchen mit einem wunderschönen Happy End. Die Leser werden gern zu diesem Wohlfühlroman zum Träumen greifen.« Booklist

»Herzerwärmend! […] perfekt für Leser, die familiäre Unwägbarkeiten mögen.« Publishers Weekly


  • Erscheinungstag: 16.09.2019
  • Seitenanzahl: 464
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678483
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Ich habe immer daran geglaubt, dass wir uns zwar nicht aussuchen können, in welche Familie wir hineingeboren werden, uns dafür aber unsere Herzensfamilie selbst erschaffen können.

Genau das habe ich mein Leben lang getan: Ich habe wundervolle Mentoren gefunden, liebevolle Freunde und Fürsprecher, die mich nie aufgegeben haben – selbst dann nicht, wenn ich schon selbst kurz davor war.

Ein altes Sprichwort besagt, dass man dort blühen soll, wo man eingepflanzt wurde. Ich würde sagen, finde erst einmal einen Garten, in dem du richtig glücklich bist – dort kannst du dann aufblühen.

Dieses Buch ist all jenen gewidmet, die sich ihre Familie selbst ausgesucht haben – sorgsam und voller Liebe. Möget ihr immer als die wunderschöne Blüte geliebt und geschätzt werden, die ihr seid.

1. KAPITEL

Als Delaney Holbrook den Mann im Anzug auf sich zukommen sah, rief sie sich eilig in Erinnerung, dass sie mit Anzugträgern abgeschlossen hatte – genauer gesagt mit allen Männern und den meisten Anzügen. Sie war jetzt ein anderer Mensch, hatte neue und hehrere Ziele, auch wenn sie sich für einen gut geschnittenen Anzug noch immer begeistern konnte. Ebenso wie für die schönen blauen Augen und die markante Kinnpartie seines Trägers. Und für seine Art zu gehen. Er hatte einen sehr resoluten Gang, der unwahrscheinlich attraktiv auf sie wirkte. Sie seufzte. So viel zu ihrem Entschluss, Anzugträgern den Rücken zu kehren.

Sie wartete, bis er direkt vor ihr stand, ehe sie der Versuchung nachgab, und sagte: »Jetzt kennen wir uns schon ganze sechs Wochen, langsam wird es ernst zwischen uns. Ist es da nicht mal an der Zeit, dass du mir deinen Namen verrätst?«

Sie hatte keine Ahnung, wie er reagieren würde. Halb erwartete sie, dass er ihr einen eisigen Blick zuwerfen und sich abwenden würde. Der eisige Blick dieses speziellen Mannes im Anzug ließ einen erstarren. Das hatte sie mehrfach beobachten können, wenn auch nur bei anderen. Doch sie verschonte er und lächelte stattdessen. Nein, falsch. Er lächelte nicht einfach nur, er schenkte ihr ein träges, sexy Grinsen, das sie mitten in die Magengrube traf und dafür sorgte, dass sie sich ganz flatterig und idiotisch vorkam – und dass eine kleine Hoffnung bei ihr aufkeimte.

Wie war das noch mit der Büchse der Pandora?

»Ich bin Malcolm.«

Seine Stimme war tief und maskulin und verfügte über genau das richtige Maß an Rauheit, um ihr einen angenehmen Schauer über den Rücken zu jagen.

»Guten Morgen, Malcolm.« Sie deutete auf ihr Namensschild. »Delaney, aber das weißt du wahrscheinlich schon.«

»Stimmt.«

»Wie immer?«

Malcolms übliches Getränk bestand aus einem großen extraheißen Latte macchiato mit vierfachem Espresso. Obwohl er jeden Morgen pünktlich um zwanzig vor acht eintraf, ging er stets am überlaufenen Kaffeestand in der Mitte der Lobby vorbei und gleich weiter zu der Reihe von Aufzügen, die sich nur mithilfe einer Chipkarte oder von einem Sicherheitsbeamten in die vornehmen oberen Etagen bewegen ließen. Doch irgendwann im Laufe des Vormittags kam er dann noch einmal auf einen Kaffee nach unten.

Ihre Schicht endete eigentlich um zehn, aber sie hatte sich schon ein paarmal dabei ertappt, wie sie törichterweise länger blieb, um seine Bestellung entgegennehmen zu können. Eine lächerliche Reaktion auf ihn, für die sie sich wohl hätte schämen müssen – das tat sie jedoch nicht. Sie hielt sich nicht vor, dass sie mit neunundzwanzig zu alt dafür war, sich in einen gut aussehenden Fremden zu vergucken, sondern pflegte einen nachsichtigeren, sanfteren Umgang mit sich selbst. Die Zeit heilte in der Tat die meisten Wunden und wie sie schon vermutet hatte, war sie offensichtlich mehr als bereit, wieder ein normales Leben zu führen … egal, wie es aussehen würde.

»Wie immer«, bestätigte er und reichte ihr eine aufladbare Geschenkkarte, um seinen Kaffee zu bezahlen, dazu eine große weiße Tasse. Sie zog die Karte durch das Lesegerät, dann ging sie mit der Tasse zur Kaffeemaschine, um sein Getränk zuzubereiten.

Luzia, ihre Teamkollegin, knotete sich die Schürze auf. »Ich gehe zum Lagerraum und hole ein bisschen Nachschub«, sagte sie. »Kommst du hier alleine klar?«

»Sicher.«

Luzia lächelte Malcolm höflich zu, ehe sie hinter dem Tresen hervortrat und die Lobby durchquerte.

Endlich allein, dachte Delaney und gab sich Mühe, nicht laut loszulachen. Keinesfalls wollte sie ihm erklären müssen, was an der Sache so lustig war.

Malcolm schob die Karte zurück in sein Portemonnaie, dann wandte er sich wieder ihr zu. »Du bist neu hier.«

»Relativ. Ich arbeite schon fast zwei Monate hier.« Sie neigte das Milchkännchen etwas, sodass sie die Dampfdüse hineinhalten konnte. Das vertraute zischende Gurgeln schwoll an. Dann goss sie vier Espressi in die Tasse, die er mitgebracht hatte.

»Du arbeitest bei Alberto’s Alfresco, oder?« Sie deutete mit einer Kinnbewegung auf das Logo, das seine Tasse zierte. »Deiner Firma gehört das ganze Gebäude und unser kleiner Kaffeestand ist Mieter hier … Hm, macht dich das eigentlich zu meinem Boss?«

Er grinste. »Jetzt komm mir bloß nicht so.«

»Wieso nicht? Ich schätze mal, du bist gerne der Boss.«

»Nicht immer.«

»Aber meistens«, neckte sie ihn. »Dein Anzug ist jedenfalls zu schick, als dass ich dir das abnehmen könnte.«

»Du hast also Erfahrung mit Leuten in Anzügen?«

»Ich war selbst mal so jemand.«

»Damit hätte ich allerdings nicht gerechnet.« Er zog eine Augenbraue in die Höhe. »Und jetzt bist du’s nicht mehr?«

»Nein. Ich habe beschlossen, mich umzuorientieren.« Sie goss die dampfende Milch in seine Tasse. »Ich weiß, was du dich jetzt fragst, und die Antwort lautet: Ja, es war meine eigene Entscheidung.«

Mehr oder weniger jedenfalls, dachte sie. Die Entscheidung, sich beruflich zu verändern, war auf ihrem Mist gewachsen – die Umstände, die zu dieser Entscheidung geführt hatten, jedoch nicht.

»Und in welche Richtung hast du dich orientiert?«, fragte er.

»Ich habe beschlossen, Heilpraktikerin zu werden.« Sie suchte nach einem möglichen Fragezeichen in seinem Gesicht, ehe sie hinzufügte: »Das ist …«

»Ich weiß, was Naturheilkunde ist. Sie basiert darauf, mithilfe einer Mischung aus westlicher Medizin und Naturheilverfahren die körpereigenen Heilkräfte anzuregen.« Sein rechter Mundwinkel bewegte sich leicht nach oben. »Die Haushälterin meines Großvaters hat eine Nichte, die an der Bastyr University einen Abschluss in Akupunktur oder so was gemacht hat. Studierst du auch dort?«

Sie ignorierte die Information, dass sein Großvater eine Haushälterin hatte – sein Anzug deutete bereits darauf hin, dass seine Familie nicht unter Geldmangel litt, daher war dies nicht allzu überraschend. »Das ist der Plan. Ich muss ein paar Scheine in Naturwissenschaften vorlegen, die ich für meinen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften nicht brauchte, deshalb gehe ich wieder an die Uni, um sie nachzuholen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ist schon eine Weile her, dass ich etwas lernen musste. Mein Gehirn findet das gar nicht so lustig und ist noch ein bisschen eingeschnappt.«

Er nippte an seinem Kaffee. »Mit welchen Kursen hast du angefangen?«

»Bio und Chemie.«

Er schüttelte sich. »Hui, viel Glück damit.«

»Danke. Am Anfang musste ich jedes Kapitel drei- oder viermal lesen, um mir irgendwas merken zu können. Jetzt bin ich immerhin schon so weit, dass ich alles nur zweimal durchackern muss. Aber die Experimente im Labor sind interessant. In drei Wochen fangen wir mit dem Sezieren an, davor habe ich etwas Angst.«

»Dabei sollte eigentlich kein Blut mehr fließen. Was auch immer ihr vorgesetzt bekommt, es ist sicher schon eine Weile tot.«

»Trotzdem. Mit dem Seziermesser Organe zerteilen …« Sie erschauderte.

Seine blauen Augen blitzten amüsiert auf. »Muss ich dich daran erinnern, dass du vorhast, so was wie Medizin zu studieren?«

»Ja, mir ist klar, dass sich das widerspricht. Ich versuche, nicht zu viel darüber nachzudenken.«

Sie sahen einander an. Sie spürte … irgendetwas. Eine gewisse Anspannung oder eine Art gesteigertes Körperbewusstsein. Was auch immer es war, sie genoss die Bestätigung, dass sie lebendig und einigermaßen gesund war und offen für Neues in ihrem Leben. Die Welt drehte sich weiter und zog sie mit sich.

»Ich muss zurück an die Arbeit«, sagte Malcolm schließlich.

Sie meinte fast, einen Hauch Widerwillen in seiner Stimme auszumachen, war sich jedoch nicht sicher. Aber die Vorstellung gefiel ihr.

»Ich auch.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Beziehungsweise nach Hause, um vor den Seminaren ein paar Stunden zu lernen. Hab noch einen schönen Tag, Malcolm.«

»Du auch, Delaney.«

Er zögerte einen Moment, dann ging er hinüber zu den Aufzügen. Sie sah ihm nach und stellte sich vor, wie er sich plötzlich umdrehte und sie zum Mittagessen einlud. Oder zum Abendessen. Genau, zum Dinner auf seiner Jacht! Vielleicht würden sie mit dem Hubschrauber an einen schönen Ort fliegen – obwohl sie nicht wusste, wie weit sie mit einem Hubschrauber von Seattle aus kämen. Nach Portland? Nein, Vancouver … Oh ja, ins Ausland!

Wie auch immer, er würde sie zum Essen ausführen und dann würden sie …

Delaney lachte leise in sich hinein, während sie das Milchkännchen ausspülte und dafür sorgte, dass Luzia und die Kollegen von der nächsten Schicht alles ordentlich vorfänden. Also, was würden sie genau tun? Romantisch zu Abend essen? Sich küssen? Sich verlieben?

Wohl kaum. Schließlich hatten sie nichts gemeinsam. Vor ein paar Jahren hätte es womöglich so kommen können, als sie sich in der Finanzwelt noch voll auf der Überholspur befand. Nur war sie damals mit Tim verlobt gewesen. Von Malcolm hätte sie gar keine Notiz genommen.

»Ist auch egal«, sagte sie sich, während sie die Schürze ablegte. Sie hatte ihre Pläne und Träume und blickte hoffnungsvoll in die Zukunft. Eine Zukunft, die anders aussah, als sie sie sich immer ausgemalt hatte, doch nach allem, was sie durchgemacht hatte, fühlte es sich jetzt richtig so an. Sie würde lernen, wie man andere Menschen wieder gesund machte, und wenn sie das geschafft hatte, würde sie vielleicht auch sich selbst heilen können.

Die Büros von Alberto’s Alfresco nahmen die gesamten oberen drei Etagen des zwanzigstöckigen Gebäudes ein. Die übrigen Stockwerke vermietete die Firma, unter anderem an einen Zahnarzt, drei Anwaltskanzleien und den Giganten Amazon. Letzterer verfügte über sechs Etagen und zahlreiche Angestellte, die zu jeder Tages- und Nachtzeit ein und aus gingen und mit niemandem sprachen, der nicht in ihrer Firma arbeitete. Malcolm Carlesso hoffte, sie waren damit beschäftigt, intelligente Drohnen zu bauen. Er mochte Science-Fiction-Filme. Und so etwas einmal im wahren Leben zu sehen, wäre doch witzig. Vielleicht aber auch besser nicht, dachte er, während er in den obersten Stock fuhr. Er wollte nicht dem Kugelhagel einer wütenden Drohne zum Opfer fallen.

Malcolm verließ den Aufzug. Der Arbeitstag war bereits in vollem Gange und überall liefen Leute über die Flure, saßen in Sitzungen oder nahmen Anrufe in ihren Büros entgegen. Alberto’s Alfresco war ein dynamisches, internationales Unternehmen im Wert von mehreren Milliarden Dollar.

Auch wenn die Firma von Anfang an Erfolge gefeiert hatte, war sie vor einigen Jahren noch sehr viel kleiner gewesen. Er hatte gleich nach dem College hier angefangen, entschlossen, dem Unternehmen zu Wachstum zu verhelfen und seinen Großvater – den Alberto in Alberto’s Alfresco – stolz zu machen. Vor zwei Jahren hatte seine Mission dann eine Dringlichkeit erlangt, die er nicht mehr ignorieren konnte.

Er ging an seinem eigenen Büro vorbei und betrat das des Finanzabteilungsleiters. Santiago Trejo hatte vor achtzehn Monaten bei Alberto’s Alfresco angefangen, nachdem er ihn von einem erfolgreichen Hedgefonds abgeworben hatte. Sie zwei bildeten ein hervorragendes Team.

Malcolm nickte Santiagos Assistentin kurz zu, die vor der offenen Tür Wache hielt, betrat das geräumige Eckbüro und setzte sich. Der Finanzchef telefonierte gerade. Als er ihn sah, lächelte Santiago und beendete das Gespräch eilig.

»Die Quartalszahlen von der Ostküste sind ein einziges Chaos«, sagte er fröhlich. »Unsere Kumpels drüben in der Buchhaltung haben alles durcheinandergebracht. Ich musste ihnen unsere ›Wir lassen uns nichts vormachen‹-Philosophie hier in der Firma auseinandersetzen. Das wird nicht noch mal passieren.« Er hielt inne. »Was ist los?«

Malcolm wandte den Blick von der weiten Skyline Seattles und seiner Bucht, dem Puget Sound, ab und seinem Freund zu.

»Wieso? Was meinst du?«

»Irgendwas hast du doch. Du siehst so …«, Santiago runzelte nachdenklich die Stirn, »so anders aus. Was ist passiert? Hast du ein neues Trüffelöl aufgespürt?«

»Nichts ist passiert«, erwiderte Malcolm und hielt seine Tasse hoch. »Ich war nur einen Kaffee trinken.«

»Und?«

»Nichts und.«

Er hatte mit einer attraktiven Frau über etwas anderes als das Geschäft gesprochen. Das war zwar derzeit ungewöhnlich für ihn, aber doch nun wirklich kein bedeutsames Ereignis.

Na schön, vielleicht war es ein kleines bisschen bedeutsam – jedoch nichts, was er mit Santiago besprechen würde.

Sein Freund war der Typ »Gleich wieder rauf aufs Pferd«. Sollte jemals eine Frau Santiagos Herz brechen – ein äußerst unwahrscheinlicher Vorgang angesichts der Tatsache, wie viele Frauen Malcolm bereits bei ihm hatte kommen und gehen gesehen –, würde er sich einfach eine suchen, die noch intelligenter oder hübscher oder beides war, und sie beide sehr glücklich machen. Er dagegen hatte eine andere Strategie gewählt, mit dem Betrug seiner Ex-Verlobten umzugehen. Er vergrub sich in Arbeit.

Dennoch hatte er es genossen, sich mit Delaney zu unterhalten. Und sie anzusehen. Er hatte noch nie eine Vorliebe für einen bestimmten Typ Frau gehabt, doch seit heute stand er eindeutig auf Rothaarige. Vielleicht sollte er …

Santiagos Telefon summte und kurz darauf war die Stimme der Assistentin über Lautsprecher zu hören: »Alberto ist im Haus. Ich wiederhole, Alberto ist soeben eingetroffen.«

»Wusstest du, dass er kommt? Haben wir eine Sitzung mit ihm? Bei mir steht nichts im Kalender.«

»Nein, keine Sitzung.« Malcolm fragte sich ebenfalls, weshalb sein Großvater ohne Vorwarnung in der Firma auftauchte, doch ihm war klar, dass das sinnlos war. Alberto sprach nicht gerne übers Telefon – wenn er während der Arbeitszeit etwas Wichtiges zu besprechen hatte, fuhr er einfach ins Büro und suchte die Person auf, mit der er reden wollte.

Die Tatsache, dass er hierher gefahren war und nicht zu ihrer Fabrik, konnte nur bedeuten, dass es ihm nicht um die Lebensmittel selbst oder ihre Verpackung ging. Und das ließ nichts Gutes ahnen. Malcolm erinnerte sich noch gut an die Rotini-Fusilli-Affäre vor drei Jahren, als Alberto Packungen entdeckt hatte, auf denen die beiden Pasta-Bezeichnungen vertauscht worden waren – was für manche Leute kein Problem darstellen mochte, nicht so jedoch für eine Firma, die sich damit rühmte, original italienische Spezialitäten zu verkaufen.

Die gesamte Marketingabteilung hatte sich eine zwanzigminütige Standpauke darüber anhören müssen, wie wichtig es war, die verschiedenen Pasta-Sorten genau zu kennen, wenn man eine Kampagne vorbereitete. Eine Information, die den Angestellten in der Tat zugutekam, jedoch vielleicht nicht auf die Art, wie ein über achtzigjähriger Mann sie präsentierte, der noch immer gelegentlich in leidenschaftliches Italienisch verfiel.

Malcolm stellte seine Tasse ab und machte sich auf den Weg zu den Aufzügen, um seinen Großvater zu empfangen. Alberto Carlesso war in Italien geboren und in den Dreißigerjahren mit seinen Eltern nach Amerika emigriert. Während des Zweiten Weltkriegs, als Teenager, hatte er seine Kochkünste und Familienrezepte den Menschen in seinem Viertel zugutekommen lassen. Die Lebensmittel waren damals knapp und Albertos Fähigkeit, aus allem, was gerade zu kriegen war, köstliche Gerichte zu zaubern, hatte ihn berühmt gemacht. Jeden Sommer bereitete er aus den frischen Zutaten, die auf den Bauernhöfen der Umgebung wuchsen, seine eigene Marinara-Soße zu. Ein paar Flaschen davon hatten es schließlich bis nach New York geschafft, wo italienische Lebensmittelhändler sie mit ordentlichem Profit verkauften.

Die Aufzugtür öffnete sich. Malcolm begrüßte den leicht gebeugten, weißhaarigen Mann in Anzug und Krawatte mit einem Lächeln.

»Hallo, Großvater.«

»Malcolm! Man warnt dich also immer noch vor, wenn ich komme, was? Wovor haben eigentlich alle solch eine Angst? Ich bin ein alter Mann und leite die Firma doch gar nicht mehr. Ich bin wie ein Hauskätzchen ohne Krallen.«

»Ich würde sagen, du bist mehr Tiger als Hauskätzchen.«

Sein Großvater grinste. »Ein Tiger? Das gefällt mir.«

Obwohl sie sich erst morgens noch am Frühstückstisch gesehen hatten, umarmten sie sich. Alberto ging gerne mit anderen Menschen auf Tuchfühlung. Gott sei Dank ist er in den Ruhestand gegangen, ehe die neuen Gesetze zu sexueller Belästigung in Kraft getreten sind, dachte Malcolm. Nicht dass sein grundanständiger Großvater jemals irgendwelche unsittlichen Annäherungsversuche gestartet hätte, aber er umarmte gerne die Person, mit der er sprach, oder hielt ihre Hand – ungeachtet ihres Geschlechts. Die meisten Angestellten begriffen, dass dies einfach seine Art war, einige jedoch waren weniger verständnisvoll.

»Ich habe den neuen Katalog gesehen«, sagte Alberto auf dem Weg zum Büro.

Malcolm unterdrückte ein Stöhnen. Die Herausgabe eines neuen Katalogs bedeutete immer Stress. Würden die Kunden positiv auf ihn reagieren? Würden die neuen Produkte den gewünschten Erfolg haben? Und würde sein Großvater wissen wollen, weshalb sie plötzlich eine Produktlinie mit glutenfreier Pasta im Programm hatten?

»Er ist sehr schön«, fuhr sein Großvater fort. »Die Macarons sind nicht so meine Sache, aber mir ist klar, dass sie beliebt sind und eine exzellente Gewinnmarge haben. Man muss mit der Zeit gehen.«

»Das tun wir.«

Sie betraten das Büro. Ehe sich der alte Mann aus dem Geschäft zurückzog, hatte der große Raum Alberto zur Verfügung gestanden. Malcolm hatte die altmodische Holzvertäfelung und den Teppich entfernen lassen, das Zimmer ansonsten jedoch so belassen, wie es war. Der Schreibtisch und der Schrank, Ungetüme aus den 1970er-Jahren, erinnerten an die lange Tradition der Firma, was ihm gefiel.

Sie gingen am Schreibtisch vorbei zur Sitzgruppe im hinteren Bereich des Raums. Malcolm nutzte für Besprechungen lieber den Konferenzraum, behielt die Sofas jedoch aus demselben Grund wie den Schreibtisch – sie gehörten einfach hierher.

Seine Assistentin kam mit einem Tablett herein. Sie lächelte ihnen beiden zu, stellte es auf dem Couchtisch ab und ging wieder. Sein Großvater nahm sich eine der zwei Tassen mit dampfendem schwarzen Kaffee und dazu ein Stück Mandelgebäck. Nachdem er Letzteres in seinen Kaffee getunkt und einmal abgebissen hatte, sagte er: »Ich habe sie gefunden.«

Malcolm verspürte Gefühle der Resignation, Irritation und von Unausweichlichkeit. Ihm wurde klar, dass es keine große Rolle spielte, welches gewann – er würde seinen Großvater ohnehin nicht beeinflussen können. Alberto bedeutete die Familie einfach alles. Ein bewundernswerter Charakterzug, auch wenn er das Leben der Menschen um ihn herum gelegentlich komplizierter machte.

Ungefähr zu der Zeit, als Alberto beschloss, den Zwischenhändler auszulassen und seine Produkte den Kunden mittels eines Versandkatalogs direkt zu verkaufen, verliebte er sich in die hübsche Irin von nebenan, heiratete sie und bekam einen Sohn mit ihr. Jerry.

Alberto’s Alfresco war inzwischen eine erfolgreiche Firma, die langsam, aber stetig wuchs. Jerry hatte jedoch wenig Interesse daran, die Firma zu leiten, womit er seine Eltern sehr enttäuschte. Stattdessen nahm er sich des Vertriebs an und reiste kreuz und quer durch das Land. Er heiratete nie, schaffte es aber trotzdem, mehrere Kinder in die Welt zu setzen. Drei, um genau zu sein – alle von verschiedenen Müttern.

Als Malcolm zwölf war, brachte seine Mutter ihn aus Portland, Oregon, nach Seattle und verlangte, mit Alberto zu sprechen. Sie stellte ihm ihn als Jerrys Sohn vor. Alberto sah ihn nur an und lächelte, in seine Augen stiegen Tränen. Malcolm sei, so verkündete er, seiner verstorbenen Frau wie aus dem Gesicht geschnitten.

Jerry war jedoch misstrauischer und bestand auf einem Vaterschaftstest – Ergebnis positiv. Eine Woche später zogen sowohl er als auch seine Mutter in Albertos riesiges Haus ein.

Malcolm erinnerte sich noch daran, wie verwirrt er zu jener Zeit gewesen war. Er war dem einzigen Zuhause entrissen worden, das er je gekannt hatte, und nach Seattle verpflanzt worden. Sein Großvater liebte ihn über alles, sein Vater zeigte sich ihm gegenüber jedoch vollkommen gleichgültig. Er brauchte lange Zeit, um zu akzeptieren, dass das große Haus am See nun sein Zuhause war. Damals konnte er einfach nicht verstehen, weshalb seine Mutter plötzlich beschlossen hatte, ihrer beider Leben auf den Kopf zu stellen, und sie selbst schwieg sich die erste Zeit über ihre Beweggründe aus. Doch als sie ihm schließlich gestand, dass sie sterbenskrank war, hatte er akzeptieren müssen, dass es kein Zurück mehr gab. Nie wieder würde er allein mit seiner Mutter leben.

Als sie starb, übernahm Alberto es, sich um ihn zu kümmern. Jerry zeigte weiterhin kein Interesse – womit sich Malcolm schließlich abfand.

Als Jerry vor zwei Jahren ebenfalls starb, dachten alle, er hinterließe nur ein Kind. Doch vor ein paar Monaten hatte Alberto sich endlich dazu durchringen können, die Papiere seines Sohnes durchzusehen, und fand dabei Hinweise auf zwei weitere Kinder – zwei Töchter. Keira, eine Zwölfjährige, die als Pflegekind in Los Angeles lebte, war leicht zu finden gewesen und sechs Wochen zuvor bei ihnen eingezogen. Doch eine ältere Tochter, Callie, war schwerer aufzuspüren. Jedenfalls bis jetzt, wie es aussah.

Malcolm schickte sich in das Unvermeidliche und fragte: »Wo ist sie?«

»In Houston, Texas. Sie ist sechsundzwanzig.«

Also acht Jahre jünger als er und vierzehn Jahre älter als Keira.

»Sie lebt ein Außenseiterleben, wie man so schön sagt«, erklärte ihm Alberto. »Deshalb hat es so lange gedauert, sie zu finden. Der Privatdetektiv musste ihre Spur von Oklahoma aus verfolgen. Unsere Anwältin wird mit ihr sprechen und die Verwandtschaft durch einen Gentest bestätigen lassen.«

»Möchtest du, dass ich hinfahre und sie nach Hause hole?«

Ebenso wie Keira würde Callie eingeladen werden, bei ihrem Großvater väterlicherseits zu wohnen. Während die Zwölfjährige keine große Wahl gehabt hatte – Alberto und er waren ihre einzigen lebenden Familienmitglieder –, war Callie erwachsen. Sie konnte ihrem Großvater durchaus sagen, er solle sich zum Teufel scheren. Malcolm hatte keinerlei Vorstellung davon, was sie tun würde. Doch der Aussicht, einen Anteil von Alberto’s Alfresco zu erben, würde wohl schwer zu widerstehen sein.

»Ich schicke die Anwältin«, sagte Alberto. »Das macht die Sache offizieller.«

Malcolm fragte sich, ob das der einzige Grund war.

Er war sich nicht sicher, was er vom Familienzuwachs halten sollte. Keira verwirrte ihn – er hatte keine Ahnung von zwölfjährigen Mädchen. Nachdem er sie in einer angesehenen Privatschule untergebracht hatte, die sich praktischerweise gleich gegenüber der Firma befand, hatte er Carmen, ihre Haushälterin, gebeten, ein Auge auf sie zu haben. Ab und zu jedoch überkamen ihn Schuldgefühle, und er fragte sich, ob er wohl in ihrem Leben präsenter sein sollte – aber wie? Mit ihr shoppen gehen und sich Teenager-Musik anhören? Er unterdrückte ein Schaudern.

»Ich hoffe, sie zieht hierher«, sagte Alberto. »Dann können wir alle als Familie zusammenleben.«

Ehe Malcolm antworten konnte, fing sein Großvater an, unruhig auf dem Sofa hin und her zu rutschen. Das späte Morgenlicht beleuchtete sein Profil und ließ seine tiefen Falten stärker hervortreten. Alberto war kein junger Mann mehr. Ja, er erfreute sich bester Gesundheit, doch in seinem Alter konnte alles passieren. Malcolm mochte gar nicht darüber nachdenken, was es bedeuten würde, ihn zu verlieren, und er wollte ganz sicher nicht, dass der alte Mann in seinen letzten Jahren unglücklich war.

»Das hoffe ich auch«, erwiderte er und fragte sich zugleich, ob er log. Doch das spielte keine große Rolle. Er würde alles tun, was sein Großvater wollte. Das war er ihm schuldig, nach allem, was passiert war … und allem, was Alberto für ihn getan hatte.

2. KAPITEL

Um halb sieben an diesem unerwartet sonnigen Samstagmorgen glich der beeindruckende Fitnessraum des Mehrfamilienhauses, in dem Santiago Trejo eine Eigentumswohnung besaß, praktisch einer Geisterstadt. Santiago teilte seine Aufmerksamkeit zwischen dem Display des Laufbands und dem kleinen, in der Wand eingebauten Fernsehbildschirm auf, der auf den Sportsender ESPN eingestellt war. An diesem ersten Samstag der diesjährigen Baseball-Saison fanden einige Spiele statt.

Wie die meisten Männer mochte Santiago Sport, doch was so spannend an Baseball sein sollte, war ihm ein Rätsel. Mal im Ernst, gab es irgendein Spiel, das noch langsamer war? Er brauchte eine Sportart, in der sich was tat. Beim Hockey oder Fußball war zwar die Anzahl der Tore nicht hoch, aber die Spieler waren ständig in Aktion. Beim Baseball jedoch konnte eine ganze Spielrunde vergehen, ohne dass groß etwas passierte.

Genau in dem Moment, in dem sein Laufbandprogramm endete, setzte der Werbeblock ein. Gutes Timing, dachte er grinsend. Er desinfizierte das Gerät kurz, dann schnappte er sich sein Handtuch und seine Wasserflasche und ging zum Aufzug.

Seine Wohnung befand sich im obersten Stock mit Blick auf den Puget Sound und die Halbinsel dahinter. Von hier aus konnte er die Fähren und Frachtschiffe auf ihrem Weg zum Hafen beobachten, in vorderster Reihe die Paraden zum Nationalfeiertag verfolgen und die durchziehenden Stürme an sich vorüberwirbeln lassen. Bei klarer Sicht – in Seattle eher eine Seltenheit – sah man sogar die Olympic Mountains. Die atemberaubende Aussicht mit ihren fantastischen Sonnenuntergängen kam ihm sehr gelegen, was die Eroberung der Damenwelt betraf – nicht dass er irgendwelche Requisiten nötig gehabt hätte, doch ein Mann sollte auf mehr als eine Waffe zurückgreifen können.

Nachdem er geduscht und sich eine Jeans und einen Yale-Law-School-Pulli übergezogen hatte, fuhr er hinunter in die Tiefgarage zu seinen zwei Parkplätzen. Auf dem einen stand ein schnittiges nachtblaues Mercedes SL Cabrio, auf dem anderen ein riesiger schwarzer Cadillac Escalade.

»Nicht heute«, sagte er und tätschelte den Mercedes leicht. »Ich muss die Kleinen abholen.« Und abgesehen davon, dass deren Mutter es nicht gutheißen würde, wenn sie in einem Cabrio mitführen, hatte es schlicht keinen Rücksitz.

Santiago fuhr zu seiner Lieblingsbäckerei. Anders als im Fitnessraum war es hier brechend voll am Samstagmorgen. Er zog eine Nummer aus der Maschine am Eingang und wartete, bis er an der Reihe war. Als die Achtundsiebzig aufgerufen wurde, rückte er vor zum Tresen und grinste die kleine, mollige Frau mit dem Haarnetz an, die dahinter stand.

»Guten Morgen, Brandi. Ist deine Mutter da? Du weißt ja, wie gern ich mit ihr plaudere.«

Die über fünfzigjährige Frau rollte mit den Augen. »Du weißt genau, dass sie direkt vor dir steht, Santiago. Auf dein kleines Spielchen fällt doch niemand rein.«

Er fasste sich an die Brust und tat überrascht. »Valia? Bist du’s wirklich? Du bist so schön heute Morgen – noch schöner als sonst, was ich niemals für möglich gehalten hätte.« Er hielt die Arme auf. »Komm her! Du brauchst sicher genauso dringend eine Umarmung wie ich.«

Sie stöhnte, als wäre dies eine große Zumutung, doch dann kam sie hinter dem Tresen hervor. Santiago nahm sie hoch und wirbelte sie herum, bis sie aufschrie.

»Lass mich runter, du Spinner! Du brichst dir noch das Kreuz.«

Er stellte sie ab und küsste sie auf die Wange. »Das ist es mir wert«, flüsterte er.

Sie lachte und gab ihm einen Klaps auf den Arm. »Du bist unverbesserlich.«

»Genau deshalb bin ich doch dein Liebling.«

»Du bist überhaupt nicht mein Liebling.«

»Lügnerin.«

Sie kicherte. »Wie geht’s deiner Mama?«

»Gut. Ich fahre sie jetzt besuchen und dann gehe ich mit den Hosenscheißern in den Zoo.« Er hatte den beiden für den ersten sonnigen Frühlingssamstag einen Ausflug versprochen, woraufhin sie ihm gestern Nachrichten mit Links zum Wetterbericht geschickt hatten.

»So liebe Kinder.« Valia beäugte ihn. »Du solltest auch endlich heiraten.«

»Mag sein.«

»Du brauchst eine Frau.«

»Niemand braucht eine Frau.«

»Doch, du. Sonst bist du bald zu alt.«

»Hey, ich bin gerade mal vierunddreißig.«

»Also praktisch ein alter Mann. Heirate endlich, sonst will dich keine mehr.«

Er deutete mit dem Daumen auf sich selbst und zwinkerte. »Bist du sicher?«

Ihre Mundwinkel zuckten amüsiert. »So toll bist du nun auch wieder nicht.«

»Lügnerin, Lügnerin!«

Sie reichte ihm eine Pappschachtel, auf deren Deckel sein Name gekritzelt war. Er hatte das süße Gebäck online bestellt, gleich nachdem er von seinem Neffen und seiner Nichte gehört hatte.

»Meine Cousine hat eine sehr nette Tochter.«

Er reichte ihr zwanzig Dollar. »Ja, das sagtest du bereits. Ich hab dich echt lieb, Valia, aber nein danke. Ich such mir lieber selbst eine Frau.«

»Das höre ich ständig, aber dann passiert doch nichts. Was ist bloß dein Problem?«

»Nichts«, rief er von der Tür aus. »Ich werd’s schon merken, wenn es die Richtige ist. Da bin ich mir sicher.«

Er überquerte die Straße und kaufte zwei Latte macchiato bei Starbucks, dann fuhr er weiter in Richtung Norden, bis er zu einem Viertel mit alten Häusern gelangte. Die meisten waren umgebaut worden oder befanden sich gerade mitten im Sanierungsprozess, doch ein paar hatten noch die alten Fenster und winzigen Garagen, in die nur ein Auto passte.

Er schlängelte sich durch die engen Straßen, bis er sein Ziel erreichte und in die lange Auffahrt einbog.

Das Grundstück war so riesig, dass zwei Häuser darauf Platz hatten. Das vordere war größer – es maß inklusive Untergeschoss etwa zweihundertachtzig Quadratmeter –, verfügte über einen schönen Garten und viel Licht. Dahinter stand ein kleineres Haus mit nur einem Schlafzimmer, das jedoch jeglichen Komfort sowie Privatsphäre und Ruhe bot.

Santiago hätte es niemals offen zugegeben, doch jedes Mal, wenn er hierherkam, erfüllte ihn Stolz. Er hatte es geschafft, seiner Familie all dies zu bieten. Er – der Sohn eines Landarbeiters aus dem Yakima Valley. Häuser und Grundstück waren abbezahlt und wurden in einem Familienfonds verwaltet. Sein Bruder Paulo wohnte mit seiner Familie im vorderen Haus und seine Mutter lebte in dem kleineren.

Vor Letzterem parkte er und ging die paar Stufen zum Eingang hoch. Noch ehe er klopfen konnte, öffnete seine Mutter ihm die Tür.

»Deine Autos sind alle so laut«, begrüßte sie ihn lachend. »Das Subtile ist einfach nicht so deine Art, stimmt’s?«

»Stimmt.«

Er umarmte und küsste sie, dann folgte er ihr in die helle Küche, deren Wände in verschiedenen Gelbtönen gehalten waren. Wie immer war sie beinahe erschreckend sauber und aufgeräumt. Auch seine Wohnung war sauber, aber das lag nur daran, dass er kaum zu Hause war und einen Reinigungsdienst beschäftigte. Er reichte seiner Mutter einen Latte macchiato und öffnete die Schachtel mit dem Gebäck. Er hatte gerade mal einen Bissen herunterbekommen, als die Befragung losging.

»Wie läuft’s bei der Arbeit?«

»Gut. Viel zu tun.«

»Ernährst du dich auch richtig? Und trinkst du genug Wasser? Das hast du ja noch nie gerne gemacht, aber es ist gut für die Nieren und hält dich gesund.«

»Mom«, setzte er an, auch wenn er nicht wusste, weshalb er sich überhaupt die Mühe machte. Was war nur los mit diesen Frauen über fünfzig, dass sie einem ständig irgendwas einreden wollten? Er versuchte, ein wenig Entrüstung aufzubringen, schaffte es jedoch nicht. Nicht seiner Mutter gegenüber. Ihre festen Grundsätze hatte sie sich durch Jahre der Aufopferung und der harten Arbeit verdient.

Sie nippte an ihrem Kaffee und lehnte sich an die Küchentheke. »Hast du abgenommen?«

»Ich wiege genauso viel wie letztes Mal, als wir uns gesehen haben. Genauso viel wie letztes Jahr und das Jahr davor.«

»Aber bekommst du auch genügend Schlaf? Du gehst immer viel zu lange aus mit all diesen Frauen. Und wieso kriege ich eigentlich nie mal eine zu Gesicht? Nie bringst du eine mit nach Hause.«

»Du hast mir gesagt, das soll ich erst, wenn es mir ernst ist mit einer.«

»Ja, aber das liegt nur daran, dass es immer schon vorbei ist, ehe es richtig angefangen hat. So als würdest du in eine Drehtür gehen, die dich gleich wieder rausbefördert. Sieh dir Paulo an. Er ist dein jüngerer Bruder und schon seit zwölf Jahren verheiratet.«

Santiago nahm einen Bissen von seiner Zimtschnecke, damit er nicht antworten musste. Er liebte seinen Bruder, und es gab auf der ganzen Welt kaum einen Menschen, den er mehr mochte als seine Schwägerin, doch niemals würde er sich seinen Bruder zum Vorbild nehmen. Paulo hatte seine Freundin geschwängert, als die beiden noch auf der Highschool waren. Daraufhin hatten sie eilig geheiratet, ihr Kind bekommen und zwei Jahre später noch eins.

Paulo hatte damals einen Fließbandjob bei Alberto’s Alfresco angenommen und arbeitete noch heute dort. Santiago hatte versucht, ihn dazu zu bewegen, aufs College zu gehen oder ein Handwerk zu erlernen, aber Paulo sagte, er ziehe das Fließband vor. Schließlich war er zum Aufseher befördert worden, und das genügte ihm.

Hanna, Paulos Frau, war zu Hause bei den Kindern geblieben, bis das jüngste fünf war, und hatte dann ihren Abschluss nachgeholt. Jetzt befand sie sich im letzten Jahr ihrer Ausbildung zur Krankenpflegerin.

»Jeder von uns muss seinen eigenen Weg gehen, Mom.«

»Nur hast du keinen Weg«, grummelte seine Mutter.

Er fuhr zusammen. »Bitte sag du mir nicht auch noch, dass ich endlich heiraten soll. Valia hat mir schon eine Standpauke gehalten, als ich in der Bäckerei war.«

»Das hat sie gut gemacht. Ich mach mir wirklich Sorgen um dich.«

Er stand auf, ging zu ihr hinüber und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Mach dir keine Gedanken, Mom. Mir geht’s gut.«

Das Geräusch trappelnder Füße auf dem Gartenweg verhieß Erlösung. Santiago ließ seine Mutter los, und im selben Moment flog die Haustür auf und seine Nichte und sein Neffe rannten auf ihn zu.

»Der Zoo macht um halb zehn auf«, sagte die zwölfjährige Emma. »Ich hab eine Liste von allen Tierbabys, die wir uns anschauen müssen. Ich verfolge ihre Entwicklung.«

»Das habe ich mir schon gedacht.«

Noah, ihr zehnjähriger Bruder, verspottete sie: »Sie hält sich für so schlau.«

»Ich bin schlau«, erwiderte Emma. »Ich werde mal Tierärztin. Und du?«

»Ich werde Football-Spieler!«

Santiago betrachtete Noahs schmale Statur. Wie es aussah, kam Noah, was den Körperbau betraf, eher nach seiner Mutter, aber vielleicht würde sich der Junge noch entwickeln. Oder sich mit der Rolle des Kickers zufriedengeben. Er packte sie beide und drückte sie so fest an sich, dass sie quiekten.

»Wir gucken uns die Tierbabys und die Bären und die Löwen an«, sagte er. »Und wenn sich einer von euch danebenbenimmt, kriegt euch der Löwe zum Abendessen.«

»Ach, Santiago.« Emma schüttelte mitleidig den Kopf. »Du drohst jedes Mal, uns in das Gehege zu werfen, dabei würdest du das nie tun. Du hast uns doch lieb.«

Er ging zurück zum Tisch und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Wie kannst du da so sicher sein? Ihr werdet viel zu schnell groß. Das ist total deprimierend.«

»In zehn Monaten werde ich schon dreizehn.«

Er warf seiner Mutter einen flehenden Blick zu. »Das gefällt mir nicht. Mach, dass das aufhört.«

»Kinder werden nun mal groß, Santiago. Und manchmal, wenn sie groß werden, heiraten sie und bekommen eigene Kinder.«

Er setzte ein falsches Lächeln auf und überlegte ernsthaft, den Kopf auf den Tisch zu knallen. Was war nur heute los mit den Frauen in seinem Leben? Bei seinem Glück würde Emma auch noch versuchen, ihn mit einer ihrer Lehrerinnen zu verkuppeln. Er war glücklicher Single. Er hatte ständig Dates. Manche würden sagen, zu viele. Aber er mochte sein Leben. Eines Tages würde er die Richtige kennenlernen und dann würde alles anders werden, doch bis dahin, warum an einer perfekten Situation etwas ändern?

Noah schnappte sich einen Donut mit Marmelade und ließ sich auf Santiagos Schoß nieder. »Können wir nach dem Zoo noch zum Lego-Geschäft?«

»Na klar.«

Jetzt wurde auch Emma wieder munter. »Und zum Buchladen?«

»Auf jeden Fall.«

»Du verwöhnst sie viel zu sehr«, murmelte seine Mutter.

Er sah sie an. »Na und?«

Sie lächelte. »Du bist ein wirklich guter Onkel.«

Er zwinkerte ihr zu. »Danke, Mom.«

Zehntausend Dollar für die Geburtstagsparty eines Fünfjährigen auszugeben ist mehr als nur verrückt, dachte Callie Smith, während sie die Ausstechform in Gestalt eines Autos auf dem Sandwich positionierte und sie so gleichmäßig hinunterdrückte, wie sie konnte. Wenn sie danach vorsichtig die Brotreste entfernte, erhielt sie ein perfektes, autoförmiges Sandwich mit Erdnussbutter und Gelee – ohne Kruste natürlich.

Das Menü zum Event war denkbar simpel und basierte vollständig auf dem Disney-Film Cars. Kleine Becher waren mit Möhren-, Sellerie- und Gurkensticks befüllt – sogenannten Dipsticks. Am Büfett gab es zwei Sorten alkoholfreie Bio-Bowle sowie Bio-Apfelsaft. Die berühmten Makkaroni mit Käse der Cateringfirma waren zu diesem Anlass mit Pasta in Form von Autoreifen zubereitet worden, und die autoförmigen Mini-Hotdogs waren startbereit. Callie hatte bereits einhundert Zahnstocher mit halben Kirschtomaten und Gurkenscheiben als Reifen bestückt, die in die Mini-Hotdogs gerammt werden würden, sobald die Würstchen heiß wären und in die Brötchen gesteckt würden.

Der Kuchen war ein beeindruckendes Kunstwerk, eine dreißig Zentimeter hohe Schichttorte in Form eines stilisierten Berges, um den herum sich eine Straße schlängelte – darauf ein Auto mit einem Fähnchen, auf dem Happy Birthday Jonathan stand.

Gestern Nachmittag hatte Callie die Geschenkbeutel mit Spielzeugen aus dem Cars-Merchandise-Programm gefüllt und sorgsam alle fünfundzwanzig Boxenmannschafts-T-Shirts so zusammengerollt, dass die aufgedruckten Namen zu erkennen waren. Ja, jeder Junge würde ein personalisiertes T-Shirt bekommen, das er auf der Party tragen und danach mit nach Hause nehmen konnte.

Janice, die Besitzerin der Cateringfirma und damit ihre Chefin, kam in die Küche geeilt. »Ich hab jetzt schon Magenkrämpfe. Und die anderen haben bereits eine Wette darüber laufen, wie lange es dauern wird, bis das erste Kind sich übergibt, aber ich hoffe, wir kommen ohne größere Katastrophen durch den Tag. Wie läuft’s bei dir?«

Callie deutete auf das Tablett mit den Erdnussbutter-Sandwiches. »Die sind fertig. Ich decke sie mit Folie ab, damit sie frisch bleiben. Die Hotdog-Reifen sind auch so weit. Die muss dann nur noch jemand in die Brötchen stecken, ehe die Würstchen reinkommen. Die Gemüsesticks sind fertig, die Torte steht an ihrem Platz und die Geschenktütchen sind verteilt. Ach, und die T-Shirts liegen am Eingang und müssen nur ausgegeben werden, sobald die Gäste eintreffen. Es gibt übrigens ganze drei Brandons. Nur dass du Bescheid weißt.«

Janice stöhnte. »War ja klar.« Sie sah sich in der riesigen Küche ihrer Kunden um. »Du hast es mal wieder geschafft, Callie. Du hast das vorgegebene Konzept angenommen und etwas daraus gemacht. Ich wäre jetzt immer noch dabei zu überlegen, wie man das alles umsetzen kann.«

Callie gab sich Mühe, ihr ein ehrlich gemeintes Lächeln zu schenken – eins ohne den leisesten Hauch von Bitterkeit. Denn was als Nächstes geschehen würde, war nicht Janice’ Schuld, das hatte sie sich ganz alleine zuzuschreiben. Da konnte sie heulen, mit den Füßen auf den Boden stampfen und ihren Ex-Freund beschuldigen, so viel sie wollte. Letzten Endes war es ihre Entscheidung gewesen und somit hatte sie auch die Konsequenzen zu tragen.

Statt darauf zu warten, dass Janice es aussprach, knotete Callie ihre Schürze auf und sagte: »Ich muss los. Bald kommen die ersten Gäste, und dann sollte ich nicht mehr hier sein.«

Janice verzog bedauernd den Mund, aus ihrem Blick sprachen Schuldgefühle. »Es tut mir leid. Ich kann einfach kein Risiko eingehen.«

Callie nickte. »Soll ich im Laden warten und später beim Aufräumen helfen?«

»Nimm dir doch den Rest des Tages frei. Am Dienstagmorgen müssen wir die Gilman-Hochzeit vorbereiten. Da brauche ich dich dann wieder.«

Callie nickte erneut und unterdrückte den Impuls, zu überschlagen, wie viel sie verdienen würde, wenn sie die Party über bleiben und weiterarbeiten könnte. Für eine Angestellte, die nach Stunden bezahlt wurde, zählte jede Minute. Aber es ging einfach nicht. Das hatte sie begriffen – so einigermaßen jedenfalls.

»Viel Spaß noch.«

Janice lachte gequält. »Mit fünfundzwanzig kleinen Jungs? Vergiss es.«

Callie holte ihren Rucksack aus der Waschküche und verließ das Haus durch die Hintertür. Dann fischte sie ihr Handy aus der Tasche, öffnete die Uber-App und bestellte sich einen Wagen.

Normalerweise würde sie einfach mit dem Bus nach Hause fahren, doch in diesem Teil von River Oaks waren öffentliche Verkehrsmittel rar gesät – vor allem an einem Sonntagmorgen. Daher musste sie ein wenig Geld verprassen.

Zehn Minuten später saß sie in einem silbernen Ford Focus und war auf dem Weg in ihr sehr viel bescheideneres Viertel. Von dort hatte sie es etwas weiter zur Arbeit, aber es war preisgünstig und sicher – zwei Dinge, die ihr am Herzen lagen.

Sie bat den Uber-Fahrer, sie am Supermarkt abzusetzen, weil sie noch ein wenig einkaufen wollte. Nur so viel, wie sie nach Hause tragen und in den nächsten Tagen verbrauchen konnte. In dem Zimmer, das sie gemietet hatte, war Küchennutzung inbegriffen, doch sie zog es vor, den kleinen Kühlschrank und die Mikrowelle in ihrem Raum zu nutzen. Ihrer Erfahrung nach war es riskant, Vorräte in der Gemeinschaftsküche zu lagern. Zwar waren die Hausregeln da eindeutig – das Essen anderer Leute durfte nicht angerührt werden –, leider wurde dieses Gesetz jedoch nur sporadisch durchgesetzt und Callie wollte niemandem die Gelegenheit geben, sich an ihren Lebensmitteln zu vergreifen.

Sie erhitzte die Suppe – die verbeulte Dose hatte nur die Hälfte gekostet! –, dann schnappte sie sich die vier Monate alte Vogue, die sie aus einem Altpapiercontainer gefischt hatte, um während des Essens darin zu lesen.

Janice nahm nur sonntags Ganztagsjobs an und montags war die Cateringfirma geschlossen, was Callie beinahe vierunddreißig Stunden Freizeit verschaffte. Am Montagabend um zehn Uhr würde sie ihren zweiten Job antreten: Büros putzen im Bankenviertel.

Sie beendete ihr Mittagessen, füllte ihre größte Tasche mit Kleidung, Bettwäsche und Handtüchern und machte sich auf den Weg zum nächstgelegenen Waschsalon. Zum Nachmittag hin war es wärmer und feuchter geworden – ein recht typisches Wetter für Houston zu Frühlingsanfang wie auch zu jeder anderen Jahreszeit.

Die Temperatur im Waschsalon musste bei über dreißig Grad liegen. Er war voll lärmender Familien, die ihre Wäsche erledigten, ehe die Plackerei in der neuen Woche wieder von Neuem begann.

Callie fand zwei freie Waschmaschinen nebeneinander, belud sie mit ihren Habseligkeiten und schob eine absurde Menge an Vierteldollarmünzen in den Schlitz. Sie hatte noch Glück, sie musste nur für sich selbst sorgen. Und da sie nur ein Einzelbett hatte, waren ihre Laken klein. Sie kam mit zwei Waschladungen alle zwei Wochen aus. Aber wie erging es Leuten mit Kindern, die ebenfalls für jede Waschladung drei Dollar bezahlen mussten?

Sie setzte sich auf einen der Stühle am Fenster und tat so, als würde sie das Buch lesen, das sie aus der Bibliothek ausgeliehen hatte, während sie in Wirklichkeit heimlich die anderen beobachtete.

Da war ein junges Pärchen, das nicht aufhören konnte, einander anzulächeln. Frisch verheiratet, befand sie, nachdem sie den bescheidenen Diamantring am Finger der Frau entdeckte. Vermutlich sparten sie auf ein eigenes Haus. In der Ecke saß eine Familie. Die Kinder rannten umher, während die Eltern es tunlichst vermieden, einander anzusehen.

Oje. Die zwei hatten sicher einen mächtigen Streit. Und keiner von beiden wollte nachgeben. Das war nie gut. Wenn sie etwas über die Jahre gelernt hatte, dann war es, wie viel ein kleines »Es tut mir leid« bewirken konnte.

»Kannst du mir vorlesen?«

Callie betrachtete das hübsche kleine Mädchen, das vor ihr stand. Die Kleine mochte drei oder vier Jahre alt sein und hielt ein großes Bilderbuch in der Hand. Callie hatte gesehen, wie ihre Mutter mit ihr und zwei weiteren Kindern sowie einer kaum zu bewältigenden Ladung Wäsche hereingekommen war. In ihrer Hast, freie Maschinen zu finden und die Wäsche hineinzupacken, hatte sie das Kleinkind ganz vergessen.

»Kann ich«, sagte Callie. »Ist es eine schöne Geschichte?«

Das Mädchen mit den dunklen Haaren und dunklen Augen nickte feierlich. »Es geht um eine Maus, die sich verläuft.«

»Oh nein, eine verlorengegangene Maus. Jetzt will ich aber unbedingt wissen, ob sie zurück nach Hause findet.«

Das Mädchen schenkte ihr ein Lächeln. »Am Ende wird alles gut, da ist sie wieder zu Hause.«

»Ah, danke, dass du mir das schon mal gesagt hast. Ich hab mir wirklich Sorgen gemacht.« Sie rutschte auf die Stuhlkante und streckte die Hand nach dem Buch aus. »Soll ich anfangen?«

Das Mädchen nickte und reichte ihr sein kostbares Buch. Callie schlug es auf und begann zu lesen: »Alistair Mouse liebte sein Haus. Er mochte die großen Türen und die großen Fenster. Er fand es toll, wie weich sich der Teppich unter seinen Mausefüßchen anfühlte. Ihm gefielen die Küche und das Badezimmer. Aber am allermeisten liebte er sein Bett.«

Callie deutete auf die Abbildung eines sehr luxuriösen Mäusebetts. »Das ist wirklich ein schönes Bett. Mir gefällt besonders die bunte Bettwäsche.«

Das Mädchen rutschte näher. »Mir auch.«

Callie fuhr fort, die Geschichte vorzulesen. Als sie sich dem Ende näherte, kam die Mutter des Mädchens herüber und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sie war Mitte zwanzig und sah aus, als wäre sie die letzten Jahre durchgehend so erschöpft gewesen wie jetzt. Sie wartete, bis Callie fertig war, dann sagte sie: »Vielen Dank, dass Sie ihr vorgelesen haben. Ich wollte sie nicht einfach so bei Ihnen abladen. Die Jungs sind nur so überdreht und ich hab so viel Wäsche und außerdem ist es so verdammt heiß hier drin.«

»Ja, es ist wirklich heiß«, erwiderte Callie. »Kein Problem. Es hat mir Spaß gemacht, von Alistair und seinen Schwierigkeiten zu lesen.«

»Noch mal«, sagte das kleine Mädchen und tippte das Buch leicht an.

»Ryder, nein. Lass die nette Frau jetzt in Ruhe.«

»Ist schon okay«, sagte Callie. Sie blätterte zurück zum Anfang des Buches und fing noch mal von vorne an. »Alistair Mouse liebte sein Haus.«

Das ist schön, dachte sie, während sie die Geschichte zum zweiten Mal vorlas. Ein paar Augenblicke mit ganz normalen Menschen, die sie nie wiedersehen würde, die Chance, einmal so zu sein wie alle anderen.

Sie las die Geschichte noch zwei weitere Male vor, dann musste sie ihre fertige Wäsche in einen Trockner befördern. Inzwischen war Ryder mit ihrer Mutter und ihren Brüdern nach draußen gegangen, wo es etwas kühler war und die Jungs auf der Wiese herumtollen konnten. Callie sah ihnen zu.

Wo sie wohl herkamen und weshalb sie jetzt wohl hier waren? Ryders Mutter musste recht jung schwanger geworden sein – ihr Ältester sah aus, als sei er sieben oder acht. Das heißt, dann war sie wie alt gewesen – siebzehn?

Plötzlich füllten sich Callies Augen mit brennenden Tränen. Wie gewohnt blinzelte sie sie weg, ehe jemand sie sah. Weinen war eine Schwäche, die sie sich nicht erlauben konnte. Diese Lektion hatte sie schon sehr früh gelernt. Nur wer stark war, überlebte.

Sie und Ryders Mutter waren vermutlich etwa gleich alt, Callie fühlte sich jedoch um Jahrzehnte älter. Früher hatte sie sich die üblichen Dinge gewünscht, einen netten Mann in ihrem Leben, den sie heiraten und mit dem sie Kinder haben konnte, und einen guten Beruf. Ihre Vorstellungen mit achtzehn waren zwar noch recht vage gewesen, doch nie hätte sie gedacht, dass nichts davon Wirklichkeit werden würde. Dass sie in einer einzigen, idiotischen Nacht ihre Zukunft zerstören und sich in einem Leben wiederfinden würde, in dem sie sich immer wieder rechtfertigen musste.

Sie holte ihre Kleidung aus dem Trockner, faltete sie eilig und verstaute sie in ihrer Tasche, dann machte sie sich auf den Weg zurück zu ihrem kleinen Zimmer. Jeder ihrer Schritte auf dem Bürgersteig klang wie ein endloser Refrain. Verurteilte Straftäterin. Verurteilte Straftäterin. Sie hatte ihre Zeit abgesessen, hatte, wie man so schön sagte, ihre gesellschaftlichen Schulden beglichen, und war doch für immer gebrandmarkt.

Sie konnte keine anständige Wohnung mieten, da keiner eine Straftäterin in seinem Haus haben wollte. Sie konnte auf keiner Kinder-Geburtstagsparty als Kellnerin arbeiten, da niemand eine Verbrecherin in der Nähe seiner Sprösslinge wissen wollte. Und obwohl sie im Gefängnis alles über die Lebensmittelbranche gelernt hatte, konnte sie keine Stelle in einem Restaurant bekommen, da niemand seine Gäste von einer verurteilten Straftäterin bedienen lassen wollte. Sie hatte hinter Gittern ihr Abitur nachgeholt und angefangen zu studieren, aber das zählte ebenso wenig.

Eine einzige hirnrissige, gedankenlose Tat – sie hatte mit ihrem Loser-Freund einen Schnapsladen ausgeraubt –, und schon hatte sie bereits als Achtzehnjährige ihre Zukunft zerstört.

Callie gab sich den gesamten Weg nach Hause, um sich mental zu geißeln, doch sobald sie ihr Zimmer betrat, atmete sie tief durch und wechselte gedanklich das Thema. Auch das hatte sie gelernt, dass man aus einer seelischen Abwärtsspirale, wenn man einmal hineingeraten war, nur sehr schwer wieder herauskam – daher musste sie dafür sorgen, dass sie so positiv wie möglich blieb. Denn sie hatte einen Plan. Das Ganze würde zwar ein wenig Zeit in Anspruch nehmen, aber sie wusste, wohin sie wollte.

Sie sparte jeden Penny, den sie entbehren konnte, und arbeitete in zwei Jobs gleichzeitig. Und wenn sie genug Geld zusammen hätte, würde sie sich eine kleine Eigentumswohnung kaufen, die nur ihr gehörte – egal was passierte. Sich ein Zuhause zu schaffen war zurzeit ihre oberste Priorität. Welche berufliche Richtung sie einschlagen wollte, hatte sie noch nicht genau herausgefunden, sie war jedoch offen für verschiedene Möglichkeiten.

Was den tollen Mann und die Kinder mit ihm betraf – nun ja, das war eher ein unwahrscheinliches Szenario. Sie war Männern gegenüber argwöhnisch und traute keinem, der bereit war, ihre Vergangenheit zu akzeptieren. Daher war sie die meiste Zeit allein und vorerst zufrieden damit. Und irgendwann würde alles besser werden. Das musste es einfach.

3. KAPITEL

Morgens war wahnsinnig viel los am Kaffeestand, nur gelegentlich gab es eine kleine Flaute. Delaney arbeitete sehr effizient, doch ihr Blick glitt immer wieder zu den großen Glastüren des Gebäudes.

Okay, ja, sie und Malcolm hatten am Freitag ein wenig geflirtet. Riesending. Trotzdem gab es keinen Grund zu glauben, dass er sie besonders beachten würde, wenn er heute Morgen hereinkam. Zwischen ihrer letzten Begegnung und dem heutigen Tag lag ein ganzes Wochenende. Womöglich hatte er sie vollkommen vergessen oder sich gar verlobt. Oder er war bereits verheiratet – was wusste sie denn schon?

Nein, dachte sie. Die Art schmieriger Typ war er nicht. Sie war sich ziemlich sicher, dass er Single war – er wirkte einfach nicht wie ein Fremdgeher. Sie konnte sich allerdings auch vollkommen irren. Bis vor zwei Jahren hatte es nur einen einzigen Mann in ihrem Leben gegeben, weshalb sie weit entfernt davon war, den Charakter eines Mannes einschätzen zu können. Aber dennoch, sie glaubte nicht, dass Malcolm etwas mit einer Frau …

Sie blickte kurz von ihrem Platz an der Kasse auf und sah ihn die weiträumige Lobby des Gebäudes durchqueren. Eine Sekunde lang glaubte sie, er würde sie nicht beachten, doch dann wandte er den Blick in ihre Richtung und zwinkerte ihr zu. Eine alberne Geste, die eine Nanosekunde andauerte und rein gar nichts zu bedeuten hatte, die sie jedoch mit freudiger Erwartung und Aufregung erfüllte. Oje, sie war hoffnungslos verknallt, und das in jemanden, den sie kaum kannte.

Sie lächelte ihm schnell zu, ehe sie ihre Aufmerksamkeit dem nächsten Kunden zuwandte. Kurz darauf entdeckte sie drei Plätze weiter hinten in der Schlange eine ihrer Lieblingskundinnen.

»Luzia«, rief sie und deutete mit dem Kinn auf das Mädchen in Schuluniform.

Luzia übernahm ihren Platz hinter der Kasse. »Ist sie deine Schwester oder so was?«

»Nein, nur eine Freundin.«

»Du verbringst jeden Tag deine Pause mit ihr.«

»Ich weiß. Es macht mir einfach Freude.«

Vor zwei Monaten war Keira zum ersten Mal an den Stand gekommen und hatte einen doppelten Espresso verlangt. Delaney hatte gelacht und ihr eine heiße Schokolade angeboten. Da gerade kaum Kundschaft da war, hatten sie sich ein wenig unterhalten. Delaney hatte erfahren, dass Keira zwölf Jahre alt und neu in der Stadt war, dass sie kürzlich an der exklusiven Privatschule gegenüber eingeschult worden war und außer einem Bruder und einem Großvater keinerlei Familie hatte.

Während der letzten Wochen hatte sich zwischen Keira und ihr eine Art Freundschaft entwickelt. Keira hatte ihr erzählt, wie sehr sie die Schuluniform hasste – »Karomuster? Ist das deren Ernst? Wollen die etwa einen Pornofilm drehen?« –, ebenso wie ihren, wie sie ihn nannte, »Arschlochbruder«.

Delaney konnte nur vermuten, dass sich hinter all dem ein verängstigtes kleines Mädchen verbarg, das einfach nur geliebt werden wollte. Vielleicht lag sie aber auch völlig falsch, schließlich hatte sie keine Kinder. Dennoch, sie wurde das Gefühl nicht los, dass Keira, obwohl sie eine Familie hatte, viel zu einsam auf dieser Welt war.

Delaney bereitete ihr eine große heiße Schokolade mit extra viel Sahne zu, nahm sich selbst einen schwarzen Kaffee und ging dann hinaus zu einem der kleinen Tische an der Seite des Kaffeestands, an dem Keira bereits saß.

»Danke.« Keira nahm ihr die Tasse ab. »Wie war dein Wochenende?«

»Gut. Ich habe hauptsächlich gebüffelt. Und was hast du so gemacht?«

»Nichts. Ich saß in meinem Zimmer, hab gelesen und Filme geguckt.«

Also genau das Gleiche wie jedes Wochenende, dachte Delaney voller Sorge. Die Kleine brauchte mehr als das in ihrem Leben.

»Was ist mit deinen Freunden? Du hast mir doch erzählt, dass du an der Schule schon ein paar gefunden hast. Wolltest du denn nichts mit ihnen unternehmen?«

Keira, ein hübsches Mädchen mit großen blauen Augen und Sommersprossen, blickte sie an.

»Dann müsste mich da jemand hinbringen, das kann ich vergessen. Keine Ahnung, ob mein Großvater überhaupt noch fahren darf. Kriegt man nicht seinen Führerschein weggenommen, wenn man so richtig alt ist? Carmen könnte ich vielleicht fragen.«

»Die Haushälterin?«

Keira nickte. »Die ist total nett und kocht super. Aber mein Arschlochbru…«

Delaney räusperte sich. »Wir hatten uns doch darauf geeinigt, dass du ihn nicht mehr so nennst.«

»Aber er ist wirklich eins. Das kann ich beweisen.«

Delaney blickte sie nur stumm an.

Keira stöhnte. »Okay, okay. Darf ich ihn meinen A-Bruder nennen?«

»Du meinst, so wie 1A?«

Keira lachte. »Nein, das nicht, auf keinen Fall. Aber das ist witzig. Wie läuft’s mit Bio?«

»Gut. Das Fach ist wirklich Furcht einflößend, doch es läuft. In meinem ersten Test hatte ich eine Zwei.«

»Das ist super! Du hattest ja Angst, durchzufallen.«

»Ich weiß. Das Studium ist härter, als ich es von meinem ersten Mal in Erinnerung habe.«

»Du schaffst das schon.«

Keira ist ein nettes Kind, dachte Delaney. Sie war lustig, intelligent und – trotz ihrer negativen Gefühle ihrem Bruder gegenüber – sehr lieb. Sie erkundigte sich stets nach ihrem Leben und erinnerte sich an alles, worüber sie gesprochen hatten.

Aus Keiras Erzählungen hatte Delaney geschlossen, dass sie in Los Angeles in einer Pflegefamilie gelebt hatte, ehe sie nach Seattle zog. Doch alles andere war verschwommen. Anscheinend lebte sie mit ihrem Großvater, ihrem erwachsenen Halbbruder und einer Haushälterin in einem großen Haus. Warum jedoch der Bruder nicht alleine, sondern bei seinem Großvater wohnte, war ihr ein Rätsel. Delaney fragte sich, ob er womöglich Probleme psychischer oder emotionaler Art hatte. Dies würde zumindest erklären, weshalb es ihm so schwerfiel, eine richtige Beziehung zu seiner Schwester aufzubauen.

»Noch mal zu deinen Freunden«, setzte Delaney erneut an. »Hängst du auch jeden Tag mit unterschiedlichen Schülern ab, wie wir es besprochen haben?«

»Ja, schon. Manchmal ignorieren sie mich einfach, aber ein paar reden auch mit mir.« Sie seufzte. »Es ist schwer. Ich bin eben nicht charmant. Ich bin nicht wie Angelina.«

»Und Angelina ist …?«

»Die Dragqueen, die mich aufgenommen hat, als meine Mutter abgehauen ist. Er wurde als Carl geboren, aber in seinem Herzen war er immer schon eine Angelina. Nach Angelina Jolie. Er, ich meine sie, respektiert Angelinas Entscheidungen total.« Sie senkte die Stimme. »Außer das mit Brad Pitt natürlich. Wieso hat sie sich nur von ihm getrennt? Die vielen Kinder und die guten Werke, die sie überall auf der Welt tut, das findet sie dagegen alles toll. Deshalb hat sie mich auch aufgenommen. Ich hatte ja sonst niemanden.«

»Aber jetzt hast du eine Familie«, sagte Delaney, die sich nicht sicher war, wie viel von der Carl-Angelina-Geschichte wirklich der Wahrheit entsprach. Sie wünschte, sie könnte mit dem Arschlochbruder sprechen und ihm klarmachen, dass er auf Keira zugehen und Verantwortung für sie übernehmen musste. Keira war unsagbar einsam. Warum kümmerte sich niemand um sie, abgesehen davon, dass man ihr eine Privatschule bezahlte und ihr ein Dach über dem Kopf gab?

Keira ignorierte den Kommentar bezüglich ihrer Familie und sagte: »Angelina will sich operieren lassen. Carl-Angelina, meine ich, nicht die Schauspielerin. Sie spart auf die OP, und dann will sie nach Hawaii ziehen, weil dort einfach alles schön ist. Sie liebt schöne Dinge.«

Keira öffnete gerade den Mund, um noch etwas hinzuzufügen, doch stattdessen sprang sie auf, schrie aus vollem Halse »Neeeiiin!« und rannte durch die Lobby.

Delaney war so verdutzt, dass sie eine ganze Sekunde brauchte, bis sie selbst in Bewegung kam. Sie lief Keira hinterher, die durch die Tür hinaus auf die Straße flitzte. Ehe Delaney begriff, was eigentlich passierte, sah sie, wie Keira sich bückte und etwas von der Fahrbahn aufhob, um sich dann wieder in Richtung des sicheren Bürgersteigs zu wenden. Doch ehe sie ihn erreichen konnte, war das grauenhafte Geräusch quietschender Bremsen zu hören, gefolgt von einem furchtbaren Rums. Ein Toyota Prius erfasste Keira und sie flog durch die Luft und landete auf der Straße, wo sie leblos liegen blieb – in den kleinen Händen ein winziges Katzenbaby.

Die Welt um sie herum wurde still. Alles, was Delaney noch hörte, war das Schlagen ihres eigenen Herzens. Es kam ihr vor, als liefen sämtliche Bewegungen in Zeitlupe ab, der Fahrer, der die Autotür aufstieß und zu dem Mädchen rannte. Die Menschen, die von allen Seiten kamen und es umringten. Dutzende Handys, die gezückt wurden, um den Notruf zu wählen.

Der Schock kann warten, jetzt musst du handeln, dachte Delaney und zwang ihre Glieder, sich zu bewegen. Sie taumelte an Keiras Seite und ließ sich neben ihr auf die Knie fallen. Keiras Lider öffneten sich flatternd.

»Kümmere dich um das Kätzchen«, murmelte sie und reichte Delaney das kleine Tier, ehe sie stöhnte: »Aua, das tut so weh.«

»Bleib ganz ruhig liegen, Keira. Es ist alles gut. Der Krankenwagen ist schon unterwegs, und ich übernehme das Kätzchen.« Die winzige Kreatur zitterte in ihren Händen. »Ich bleibe bei dir.«

»Sie kennen sie?«, fragte eine Frau.

»Ja, sie ist eine Freundin von mir. Sie geht auf die Privatschule da drüben. Keira, ähm …« Delaney fluchte. »Ich kenne ihren Nachnamen nicht. Sie hat einen Bruder und einen Großvater.«

Ihr Bruder! Delaney musste ihn anrufen. Aber wo war Keiras Handy?

Sie blickte sich um, doch dann fiel ihr ein, dass der Rucksack des Mädchens noch immer neben dem Stuhl in der Lobby stand. Ehe sie entscheiden konnte, was zu tun war, kam Luzia herausgerannt, Delaneys Tasche in der einen und Keiras Rucksack in der anderen Hand.

»Fährst du mit ihr ins Krankenhaus?«

Delaney zögerte nur eine Sekunde, ehe sie nickte. »Ich rufe ihren Bruder an und sage ihm, dass wir uns dort treffen.«

Delaney suchte im Rucksack nach Keiras Handy, während ein Mann rief, er gebe an der Schule Bescheid, dass eine ihrer Schülerinnen einen Unfall hatte. Delaney fand das Handy genau in dem Moment, als der Krankenwagen vorfuhr.

Sie scrollte die kurze Liste der Kontakte durch und musste trotz allem lächeln, denn sie entdeckte die Nummer unter A wie Arschlochbruder.

Als das Notfallteam begann, sich um Keira zu kümmern, rief das Mädchen nach ihr: »Delaney, lass mich nicht allein!« Sie sah den Sanitäter an, der sie behandelte. »Sie ist meine Schwester und sie muss mitkommen.«

»Klar, kein Problem. Doch jetzt sag mir mal, wo es genau wehtut. Kannst du deine Zehen bewegen? Nicht deine Beine, nur deine Zehen. Wir werden dich stabilisieren und dann bringen wir dich ins Krankenhaus.«

»Ich kann meine Zehen bewegen, aber das tut total weh.« Tränen flossen aus Keiras Augenwinkeln. »Delaney!«

»Ich bin hier. Ich rufe deinen Bruder an, um ihm zu sagen, was passiert ist.«

»Spar dir die Mühe. Das interessiert den nicht.« Die Tränen flossen nun schneller und sie schluchzte. »Es tut so weh! Macht, dass das aufhört.« Das Geschluchze ging in Schmerzensschreie über.

Auch in Delaneys Augen brannten nun Tränen, sie drückte eilig die Wähltaste des Handys. Geh ran, geh ran, dachte sie verzweifelt. Das Kätzchen blieb vollkommen regungslos an ihre Brust gekauert.

»Hallo?«

»Sind Sie Keiras Bruder?«

»Wie? Äh, ja. Wer ist denn da?«

»Eine Freundin von ihr. Hören Sie, sie wurde gerade von einem Auto angefahren. Sie ist bei Bewusstsein, aber ich weiß nicht, wie schwer sie verletzt ist. Sie wird jetzt ins Krankenhaus gebracht. Moment.« Sie wandte sich an die Sanitäter, die Keira auf eine Krankenbahre hoben. »In welches Krankenhaus?«

Sie gab Keiras Bruder alle Informationen durch. »Ich fahre mit ihr, damit sie nicht alleine ist. Ich habe auch das Katzenbaby.«

»Katzenbaby? Wovon reden Sie? Wer sind Sie überhaupt?«

»Delaney, lass mich nicht allein!«

Sie sah, dass Keira bereits im Krankenwagen lag, und rannte zu ihr. »Ich muss auflegen. Wir sehen uns im Krankenhaus, machen Sie schnell.« Sie beendete den Anruf und kletterte in den Wagen. Einer der Sanitäter protestierte, doch Delaney warf ihm einen bösen Blick zu.

»Sie ist noch ein Kind und wurde gerade von einem Auto angefahren. Also bitte mal die Luft anhalten, ja?«

Er nickte nur und half ihr hinein. Delaney setzte sich neben Keira.

»Es wird alles gut«, tröstete sie das weinende Mädchen. »Ich bin bei dir.«

Sie schlängelte sich aus ihrem Pullover, faltete ihn zusammen und legte ihn in ihre Tasche, um das Kätzchen daraufzusetzen. »Sobald ich weiß, dass du gut versorgt bist, kümmere ich mich um deine kleine Freundin hier. Traust du mir das zu?«

Keira nickte unter Tränen. »Das tut nur so weh.«

»Ich weiß, Süße. Das wird wieder.«

Der Sanitäter, der mit ihnen hinten im Wagen war, legte dem Mädchen einen intravenösen Zugang, dann heulte die Sirene los und der Wagen setzte sich in Bewegung. Delaney war klar, was sie als Nächstes erwartete, das Krankenhaus, dessen Geräusche und Gerüche alles wieder hochholen würden. Sie wappnete sich innerlich gegen den emotionalen Ansturm und hielt Keiras Hand. Soweit sie wusste, war sie der einzige Mensch, den Keira in diesem Moment hatte.

Malcolm warf kaum einen Blick in den Rückspiegel, als er einen verbotenen U-Turn vollführte. Er war auf dem Weg zu den Lagerhallen der Firma gewesen, als der Anruf bezüglich Keiras ihn erreichte. Während er überlegte, wie er am schnellsten durch den morgendlichen Verkehr zum Krankenhaus käme, aktivierte er die Sprachsteuerung seines Mercedes.

»Zu Hause anrufen.«

»Anruf zu Hause. Festnetznummer. Wählt.«

Sekunden später hörte er es klingeln. Carmen nahm ab. »Hallo, hier bei Familie Carlesso.«

»Carmen, hier ist Malcolm. Mich hat gerade jemand angerufen, um mir zu sagen, dass Keira einen Unfall hatte.« Er zögerte und beschloss, ihr vorerst zu verschweigen, dass sie von einem Auto angefahren worden war. Er hatte keine Ahnung, wie schwer das Mädchen verletzt war und was nun mit ihr geschehen würde. »Ich bin schon auf dem Weg ins Krankenhaus. Bitte ruf die Schule an und frag mal nach, was man dort weiß. Und erzähl es nicht meinem Großvater, ehe ich im Krankenhaus bin und herausgefunden habe, wie schlimm es ist. Er würde sich zu große Sorgen machen.«

»Keira? Im Krankenhaus?« Carmens Stimme klang belegt. »Nein, doch nicht mein kleines Mädchen! Geht es ihr gut? Was ist passiert? Heute Morgen war alles ganz normal.«

»Ich melde mich wieder, sobald ich weiß, was passiert ist. Kannst du die Schule für mich anrufen?«

»Ja, natürlich.« Ihr brach die Stimme weg. »Ich werde für sie beten. Sie ist doch noch so klein, bestimmt hat sie Angst. Wenn du sie siehst, sag ihr, dass ich sie lieb habe. Sag ihr, ich bete für sie.«

»Das mache ich«, versicherte er, fragte sich jedoch insgeheim, ob es ihm physisch möglich sein würde, Carmens Worte zu wiederholen. Das Wort »Liebe« hatte er schon seit Jahren nicht mehr in den Mund genommen. »Ich rufe dich an, sobald ich irgendwas weiß.«

»Ja, und ich lasse dich wissen, was die Schule sagt.«

»Danke.«

Er legte auf. Was war nur passiert? Wie, um alles in der Welt, konnte ein Auto Keira angefahren haben? Ja, sie ging jeden Morgen rüber zum Kaffeestand in der Lobby, aber sie war doch alt genug, um den Zebrastreifen zu benutzen, oder etwa nicht? Sie hatten nie darüber gesprochen, er hatte es nur vermutet.

Natürlich weiß sie, wie man eine Straße überquert, sagte er zu sich. Sie ist zwölf, fast dreizehn. Die Kinder von heute waren frühreif. Sie wussten, wie die Welt funktionierte. Sie kam schon klar, das tat sie immer. Sie kümmerte sich um sich selbst und …

Er umklammerte das Lenkrad fester und fluchte leise. Eine Welle von Schuldgefühlen überrollte ihn. Er erkannte die Symptome, denn Gründe, sich schuldig zu fühlen, hatte er genug. Seinem Großvater gegenüber und jetzt Keira. Sie war noch ein Kind und er wollte für sie da sein, doch er hatte einfach keine Ahnung, was er mit ihr anfangen sollte. Also sorgte er dafür, dass sie alles bekam, was sie brauchte, und gab sich ansonsten Mühe, sie zu meiden. Carmen schien diese Lücke zu füllen – aber war das genug?

Er hatte vorgehabt, mehr für sie zu tun, sie besser kennenzulernen, nur hatte er nicht gewusst, wie. Und außerdem war er immer noch so unglaublich wütend auf seinen Vater. Jerrys Treulosigkeit verfolgte ihn wie ein höhnisches Gespenst, und es war leichter, alle zu meiden, die ihm auch nur im Entferntesten ähnlich sahen, und sich einzureden, dass es seiner Halbschwester in ihrem Zimmer am anderen Ende des Flurs gut ging.

Er schob die düsteren Gedanken beiseite. Sie brachten ihn gerade nicht weiter. Später würde er sich seiner Selbstverachtung hingeben können, doch bis dahin musste er sich auf das akute Problem konzentrieren.

Er erreichte das Krankenhaus in Rekordzeit und fand einen Parkplatz am Eingang der Notaufnahme. Am Informationsschalter nannte er Keiras und seinen Namen und sagte, dass er ihr Bruder sei. Die Rezeptionistin gab den Namen in ihren Computer ein.

»Ja, sie ist hier«, sagte die Frau. »Zimmer 47. Durch diese Tür, und dann den Schildern hinterher. Sie sollte geröntgt werden, vielleicht ist sie gerade nicht im Zimmer.«

Er drückte eine der Schwingtüren auf und wurde sogleich von den Gerüchen und Geräuschen des geschäftigen Krankenhauses übermannt. Links und rechts des Flurs lagen Dutzende von Untersuchungszimmern und alle waren voll mit Patienten und deren Angehörigen. Medizinisches Personal eilte mit Patientenakten in der Hand von einem zum nächsten, während eine ruhige Lautsprecherstimme Dr. Herron bat, die Durchwahl fünf-zwei-drei anzurufen. Krankenpfleger schoben medizinische Geräte hin und her und in der Ferne schrie jemand.

Malcolm spürte, wie sich sein Magen verkrampfte, als er den Schildern zu Keiras Zimmer folgte. Er hoffte inständig, dass man sie nicht allein gelassen hatte. Sie war einfach zu jung, sie musste eine Heidenangst haben – falls sie überhaupt bei Bewusstsein war. Er blieb abrupt stehen, als ihm klar wurde, dass er gar nicht wusste, wie schwer sie verletzt war.

Schuldgefühle später, ermahnte er sich und ging weiter. Er bog um eine Ecke und erblickte einige Zimmernummern mit einer Vier vorne und schließlich die 47. Die Tür stand offen und das Bett war leer. Er wollte schon gehen, als er bemerkte, dass eine andere Person im Raum war. Eine, die er …

Die Frau drehte sich um und starrte ihn an. Ihre grünen Augen waren weit aufgerissen, ihr Gesicht war leichenblass. Unter anderen Umständen hätte ihr überraschter Ausdruck regelrecht komisch gewirkt.

»Delaney? Was machst du denn hier?«

»Das könnte ich dich auch fragen. Oh Gott! Du bist der Arschlochbruder? Nee, oder? Ist Keira deine Schwester?«

Halbschwester. Doch das sagte er nicht. »Woher kennst du sie?«

»Sie holt sich jeden Morgen eine heiße Schokolade bei mir. Wir sind Freundinnen. Immer wenn sie kommt, mache ich meine Pause und wir unterhalten uns.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Das verstehe ich nicht. Du bist ihr Bruder? Aber du sprichst nie mit ihr. Du betrittst zur gleichen Zeit das Gebäude, verhältst dich ihr gegenüber jedoch wie ein Fremder. Ich wäre nie darauf gekommen, dass ihr euch kennen könntet. Wie kann das sein? Sie ist deine Schwester und du verabschiedest dich nicht von ihr?« Ihr stiegen Tränen in die Augen. »Sie ist noch ein kleines Mädchen. Du musst dich doch von ihr verabschieden.«

Sie fing an zu schluchzen. Instinktiv schlang er die Arme um sie und hielt sie ein paar Sekunden lang fest. Ein seltsames Gefühl überkam ihn. Es war wie eine Art Schwingung zwischen ihnen, die ihn stark berührte.

Als ein kleines schwarz-weißes Katzenbaby aus ihrer Tasche krabbelte und miaute, löste er sich von ihr.

Hier passiert gerade einfach zu viel auf einmal, dachte er, bemüht, sich auf all das einen Reim zu machen.

Im selben Moment streckte eine Krankenschwester den Kopf zur Tür herein. »Delaney, Süße, ich wollte dir nur sagen, dass es ihr gut geht. Sie ist gleich zurück.« Sie senkte die Stimme. »Soweit wir sehen können, ist nichts gebrochen. Sie ist ganz schön mitgenommen, aber es sieht so aus, als wäre alles in Ordnung. Um ihren Kopf sorgen wir uns noch ein bisschen, aber der wird jetzt auch untersucht.« Sie schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. »Ich dachte, das wolltest du vielleicht gerne wissen.«

Die Frau ging, ohne ihn beachtet zu haben. Er wandte sich an Delaney, die das Kätzchen streichelte und es zurück in ihre Tasche setzte.

»Weshalb erzählt sie dir das alles? Woher kennt sie dich?«

Delaney atmete tief durch. »Mein Vater war Polizist. Vor ein paar Jahren wurde er angeschossen und hierhergebracht. Er war monatelang im Krankenhaus. Ich kenne so ziemlich jeden, der hier arbeitet.«

»Und geht es deinem Vater jetzt gut?«

»Ja. Er sitzt im Rollstuhl, doch er kommt gut klar. Vor ein paar Monaten hat er sich sogar verlobt.« Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich kann mich gerade nicht gut konzentrieren. Es ging alles so schnell und ich konnte sie nicht aufhalten. Sie ist einfach auf die Straße gerannt.«

»Aber wieso?«

Delaney starrte ihn an. »Das Katzenbaby. Sie sah die Katze und wollte nicht, dass sie überfahren wird.«

Ehe er weitere Fragen stellen konnte, wurde Keira ins Zimmer geschoben. Sie sah unwahrscheinlich klein aus in dem großen Bett. Auf ihrer blassen Haut stachen die schlimmen Schürfwunden und Blutergüsse besonders hervor. Sie bewegte sich nicht – er konnte noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob sie atmete.

In seine Schuldgefühle mischte sich Panik. Sollte man nicht irgendetwas unternehmen?

Delaney nahm Keiras Hand. »Hey, du«, flüsterte sie. »Dein Bruder ist hier. Du hättest mir sagen sollen, dass er Malcolm heißt. Dass ich das nicht wusste, hat zu einem ziemlich schrägen Telefongespräch geführt.«

Keiras Augenlider flatterten, ihre Augen blieben jedoch geschlossen.

»Du wirst wieder gesund, Keira«, fuhr Delaney fort. »Alles wird gut.«

Wer weiß, dachte er verzweifelt. Warum wurde sie nicht wach? War nicht eine Gehirnverletzung viel schlimmer als ein paar gebrochene Knochen?

Eine Ärztin kam herein. Sie war etwa einen Meter fünfundsechzig groß, hatte graues Haar und einen freundlichen Ausdruck im Gesicht.

»Sie beide sind ihre Geschwister?«, fragte sie.

Delaney lächelte. »Hallo, Dr. Newport. Das hier ist Malcolm, er ist Keiras Bruder. Und ich bin eine Freundin von ihr.«

Dr. Newport lächelte. »Sie gehen wohl davon aus, dass ich eine Ausnahme mache und Ihnen erlaube zu bleiben?«

»Irgendwie schon.«

»Dann mache ich das mal.« Die Ärztin wandte sich an Malcolm und streckte ihm die Hand hin. »Mr. …«

»Carlesso. Aber nennen Sie mich Malcolm. Wie geht es ihr?«

»Sie hat einige Schrammen abgekriegt und ziemliche Schmerzen. Ansonsten ist sie jedoch heil geblieben.« Sie zählte die Verletzungen auf, die Keira bei dem Unfall erlitten hatte. »Sie hat riesiges Glück gehabt. Alle ihre Vitalfunktionen sind normal und sie hat nur eine leichte Gehirnerschütterung. Trotzdem möchten wir sie über Nacht zur Beobachtung hierbehalten, nur zur Sicherheit. Sie muss ein paar Tage Ruhe halten, bis das Schlimmste vorbei ist. Danach wird sie sich noch eine Weile steif fühlen und leichte Schmerzen haben.«

Er warf Keira, die nach wie vor die Augen geschlossen hatte, einen Blick zu. »Weshalb ist sie bewusstlos?«

»Sie schläft. Wir haben ihr etwas gegen die Schmerzen gegeben. Auch wenn sie keine ernsthaften Verletzungen hat – ihr Körper hat einen starken Schock erlitten. Sie wird bald wieder aufwachen, dann können Sie mit ihr sprechen.«

Dr. Newport versprach, noch einmal nach Keira zu sehen, ehe sie auf die Kinderstation gebracht wurde. Malcolm entschuldigte sich, um Carmen anzurufen und sie auf den neuesten Stand zu bringen. Als er zurück ins Zimmer kam, fand er eine weitere Krankenschwester vor, die sich mit Delaney unterhielt. Als die Schwester ihn bemerkte, umarmte sie Delaney kurz und kam zu ihm herüber.

»Hallo. Ich bräuchte ein paar Angaben zu Keiras Krankengeschichte. Sie war ziemlich neben sich, als sie hier ankam, und Delaney hat keine Informationen darüber.« Sie klappte ihr Tablet auf und sah ihn an. »Wir fangen mit den wichtigsten Sachen an und arbeiten uns dann durch den Rest. Irgendwelche Allergien oder Unverträglichkeiten?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Was ist mit größeren Operationen?«

»Ich weiß es nicht.« Er blickte zu Keiras Bett, dann sah er wieder die Schwester an. »Ich kann’s Ihnen nicht sagen. Sie ist meine Halbschwester und erst vor ein paar Monaten von Los Angeles hierhergezogen. Mein Großvater hat das arrangiert. Am besten rufe ich mal zu Hause an und frage ihn, ob er irgendetwas weiß oder ob sie vielleicht ihre Krankenberichte mitgebracht hat.«

»Jegliche medizinischen Details wären hilfreich. Nur zu Ihrer Information, Sie werden auch in der Schule und zum Sportunterricht ihren Impfpass vorlegen müssen. Ach, Moment.« Sie schenkte ihm ein ermutigendes Lächeln. »Sie geht hier doch schon zur Schule, oder?«

»Ja. In die Puget-Sound-Privatschule.«

Die Schwester und Delaney tauschten einen vielsagenden Blick.

»Bei der Anmeldung muss irgendwer ihre Krankengeschichte angegeben haben«, erklärte ihm die Schwester. »Dort kann man nachfragen.«

»Ich rufe Carmen an«, murmelte er. Er fühlte sich mehr und mehr fehl am Platz.

»Wunderbar. Klingeln Sie einfach, wenn Sie etwas rausgefunden haben, dann komme ich wieder.« Sie lächelte ihm noch einmal zu und ging.

Malcolm starrte ihr nach. »Es ist nicht so schlimm, wie es klingt«, sagte er und war sich dabei seines defensiven Tons bewusst. »Mein Großvater hat sie an der Schule angemeldet. Das ist erst zwei Monate her.« Wie konnte man da erwarten, dass er so viel über sie wusste?

Nur ist sie deine Schwester, flüsterte eine leise Stimme in seinem Kopf.

»Dann stimmt es also«, sagte Delaney. »Ich dachte, sie hätte sich das alles ausgedacht.«

»Was ausgedacht?«

»Alles. Dass sie aus Los Angeles hierhergezogen ist, dass sie erst seit Kurzem hier ist. Das mit Carl und Angelina.«

»Wer sind Carl und Angelina?«

»Das spielt gerade keine Rolle.« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Sie wird wieder gesund. Das ist das Wichtigste, Malcolm. Konzentrier dich darauf und der Rest wird sich mit der Zeit von alleine regeln.«

Er deutete mit dem Kinn auf ihre Tasche. »Das ist also die Katze?«

»Ja. Ich werde mich um sie kümmern, bis es Keira wieder besser geht.«

Er verstand die unterschwellige Botschaft, seine Schwester würde das verfluchte Katzenbaby behalten, das sie beinahe umgebracht hätte. Aber das war gerade das kleinste seiner Probleme.

»Ich muss Carmen anrufen und mich nach ihrer Krankengeschichte erkundigen«, sagte er.

»Eure Haushälterin?«

»Ja. Danke, dass du bei ihr geblieben bist.« Er hatte das Gefühl, dass er noch mehr sagen sollte, wusste jedoch nicht, was.

»Schon in Ordnung. Sie ist ein liebes Mädchen und ich hab’s gern gemacht. Ich wollte sie nicht alleinlassen.«

Malcolm dachte an Keiras geräumige Suite im Haus am anderen Ende des Flurs. Wenn sie nicht in der Schule war, war sie die meiste Zeit allein. Manchmal aß sie sogar allein zu Abend. Ich sollte mich mehr um sie kümmern, dachte er. Schließlich ist sie noch ein Kind. Es war nur so, dass …

»Weshalb hast du mich eigentlich ihren Arschlochbruder genannt?«, fragte er, als ihm einfiel, was sie bei seiner Ankunft gesagt hatte. Sie wusste nun wirklich nicht genug über ihn, um ihn so zu verurteilen.

Delaney errötete. »Das tut mir leid. Ich war nur so überrascht, dich zu sehen.« Sie blickte beschämt zur Seite und dann wieder zu ihm, ehe sie an der Katze vorbei in ihre Tasche griff und ihm ein Handy reichte.

»Das ist Keiras«, sagte sie. »Sie nennt dich nie beim Namen.« Sie deutete auf das Handy. »Du, ähm, stehst unter A in ihren Kontakten.«

Er betätigte ein paar Tasten, dann scrollte er die Namensliste durch. Tatsächlich, da stand er. Unter A wie Arschlochbruder. So viel dazu, was sie von ihm hielt.

»Ich muss Carmen anrufen«, wiederholte er.

»Geh nur. Ich bleibe hier, für den Fall, dass sie aufwacht.«

Er nickte und verließ das Zimmer. Delaney würde vorerst bei ihr bleiben, aber was dann? Irgendwann würde er sich selbst mit Keira auseinandersetzen müssen. Er schielte noch einmal auf ihr Handy. Es schien, als wäre der Tag der Wahrheit gekommen.

4. KAPITEL

Der Montagmorgen war Callies liebster Moment der Woche. Von acht bis elf konnte sie sein, was immer sie wollte. Eine Prinzessin, ein Astronaut oder auch nur eine Hausfrau, die ein paar Stunden der Leere füllte. Den Katzen im Tierheim war das alles egal – Hauptsache, sie säuberte deren Klos und bürstete sie danach ausführlich.

Sie konnte sich unmöglich selbst ein Haustier halten, doch im Tierheim zu arbeiten bot ihr die Chance auf ein wenig Katzenliebe in ihrem Leben. Sie rieben den Kopf an ihr und schnurrten ausgiebig, so als würden sie ihr für alles danken, was sie für sie tat.

Als sie sich als Freiwillige beworben hatte, war sie hocherfreut gewesen, im Fragebogen nicht die allgegenwärtige Frage nach Vorstrafen zu finden. Sie hatte am Einführungskurs teilgenommen und dann angeboten, die Katzenklos zu reinigen. Keine glamouröse Aufgabe, aber dennoch eine befriedigende.

Sie mochte es, im Heim anzukommen und festzustellen, dass eine der älteren Katzen endlich ein schönes Zuhause gefunden hatte. Und sie beschäftigte sich gerne mit den weniger umgänglichen Bewohnerinnen und nahm sich besonders Zeit für sie. An jedem ersten Montag des Monats schob sie sorgsam einen Zwanzig-Dollar-Schein in die Sammelbüchse neben den Umkleiden. Das war nicht viel, aber ein beträchtlicher Anteil ihres wöchentlichen Budgets – und alles, was sie geben konnte.

Als Callie ihre Schicht beendete, war ihr T-Shirt übersät von Katzenhaaren und auf ihrem Arm prangte ein eindrucksvoller Kratzer, den ihr ein neuer Kater verpasst hatte. Jetzt ist er zu verstört, dachte sie, während sie sich die Hände wusch, aber wenn er nächste Woche immer noch da ist, kriege ich ihn schon auf meine Seite.

Sie trug sich aus und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Sie hatte gerade mal den halben Parkplatz überquert, als sie einen schnittigen schwarzen Wagen bemerkte, der neben ihr Schritttempo fuhr.

Das Auto war zu schick, um der Sorte von Kriminellen zu gehören, die ein Interesse daran haben könnten, ihren abgenutzten Secondhandrucksack zu klauen. Und sollte sie schreiend auf sich aufmerksam machen wollen, so waren genügend Leute in der Nähe, die sie hören würden. Selbst wenn man sie entführen sollte, würde dies vermutlich jemand auf Video festhalten.

Dieser Gedanke beruhigte sie jedoch nicht gerade, und so blieb sie stehen, wandte sich dem Fahrzeug zu und schrie, die Hände in die Hüften gestemmt: »Was wollen Sie von mir?«

Woraufhin das Auto neben ihr anhielt und eine Mittdreißigerin das Fenster herunterließ. Sie war gut gekleidet und blickte besorgt drein.

»Oh, Mist. Ich habe Sie erschreckt, oder? Das tut mir leid. Ich war am Telefon mit meinem Sohn. Der versucht, mich davon zu überzeugen, dass er zu krank für seinen Geschichtstest ist, und ich habe einfach nicht aufgepasst. Es tut mir so leid. Sind Sie Callie Smith?«

Callie entspannte sich etwas. »Wer sind Sie denn?«

Autor