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Das Lied der Neuen Welt

Cleveland, 1905. Als »Neapels Nachtigall« bezaubert die italienische Sängerin Teresa mit ihrer Stimme das Publikum. Allein ihre Tochter Lucia kennt Teresas dunkle Seite, ihr unkontrolliertes Temperament, das sie beide gezwungen hat, aus Italien zu fliehen und ihr Glück in der neuen Welt zu suchen. Doch Lucia will nicht länger der Spielball von Launen sein. In Cleveland findet sie endlich die Kraft, sich zu wehren: Um sich ihren Traum von einem selbstbestimmten Leben und Bildung zu erfüllen, trifft sie eine Entscheidung, die ihr Schicksal und das vieler anderer Menschen für immer verändern wird. 

Ein Must-Read für alle, die vielschichtige Charaktere, starke Frauen und ein realistisches historisches Setting lieben."
Pittsburg Examiner

"Ein großartiger Cast, eine zeitlose Familiengeschichte und ein faszinierendes amerikanisches Gesellschaftsporträt."
Publishers Weekly


  • Erscheinungstag: 02.01.2018
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677233
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Singen am Vesuv

Mittlerweile verbringe ich Stunden in Eisenbahnen oder holpere fröstelnd in geliehenen Model Ts über ausgefahrene Straßen zwischen Städten, die auf gefrorene Felder geworfenen Steinen gleichen. Ich wasche mich an Spülbecken und esse an Imbissständen am Straßenrand; manchmal aber auch von feinen Porzellantellern, gereicht von Damen, die mit mehr Schmuck behängt sind, als ich je besitzen werde. Ich spreche in Salons, Parks, Gasthäusern, Kirchen und gewerkschaftlichen Versammlungshallen im Mittleren Westen. Noch kann ich nicht nach Cleveland zurückkehren.

„Glaubt mir, ihr könnt gewinnen!“, rufe ich denen zu, die von der harten Arbeit in den Fabriken und Mühlen gezeichnet sind. Meine Stimme wird langsam rau und heiser wie das Krächzen einer Krähe. Kaum zu glauben, dass meine Mutter die Nachtigall von Neapel war!

Ich bitte um ein Glas Wasser, räuspere mich und fahre fort. „Dies ist das Jahr 1913. Euer Leben kann sich verändern. Denkt an eure Kinder.“ Die Arbeiter starren mich ungläubig an. Als ihre Zweifel die Krallen nach mir ausstrecken, höre ich meine Mutter, die mir zuflüstert: „Lucia, selbst Krähen müssen irgendwann einmal Luft holen.“ Also atme ich tief durch, stelle mich breitbeinig hin, um mir mehr Halt zu geben, und spreche weiter.

Wenn mich die Frauen danach dankbar küssen und mir die Männer ihre abgearbeiteten Hände reichen, dann bekommen die Qualen dieses Wegs – die Gefängnispritschen, auf denen ich geschlafen habe; der Verrat von Freunden; der Schmerz um die Geschundenen, denen ich geschworen hatte, es könnte ihnen nichts passieren – einen Sinn.

Wenn auf unseren Landkarten Flüsse, Seen oder Kanäle eingezeichnet sind, bitte ich darum, sie mir in natura ansehen zu dürfen, selbst wenn die seichten Gewässer übel riechen und Ölschlieren auf der Oberfläche treiben.

In meinen festen Schnürschuhen bin ich plötzlich wieder barfuß. Ich wate durch das Wasser der Bucht von Neapel, dieses warmen blauen, von leuchtendem Grün umarmten Halbrunds, beobachte die auf den Wellen schaukelnden Fischerboote und höre die Rufe der Straßenhändler. Es ist mein letzter Sommer in Italien, ich heiße noch Lucia Esposito, befinde mich an der Schwelle zum Erwachsenwerden und bin ganz zufrieden mit meinem Leben. Mamma und ich sind Hausangestellte der Contessa Elisabetta Monforte in ihrer rosafarbenen Villa, die in die Bucht hinausragt. In der Küche dieser Villa bin ich zur Welt gekommen, und in den ganzen vierzehn Jahren meines Lebens habe ich noch nie woanders geschlafen als auf der schmalen Liege neben Mamma.

Wo hätte ich auch sonst hingehen sollen? Im Obstgarten wuchsen Zitronen-, Orangen-, Feigen- und Pflaumenbäume. An den Hauswänden rankten sich Flieder und Bougainvillea empor. Sonntagnachmittags, wenn wir unseren halben freien Tag hatten, nahmen wir Brot und Wein mit zu dem großen, abgeflachten Felsen, der sich wie eine Theaterbühne vor dem Kegel des Vesuvs ausnahm. Wenn Nannina, die Köchin, guter Laune war, gab sie uns Käsestücke mit und irdene Schüsseln voller Pasta und Bohnen. Tomaten und süße Paprikaschoten, die von den Vögeln angepickt worden waren, gehörten uns. Reife Zitronen fielen von den Bäumen; wir sammelten sie in unseren Schürzen auf.

„Ich habe auf dem Markt Zitronen gesehen“, sagt ein junger Mann aus der Gewerkschaftshalle.

„Waren sie groß wie zwei Fäuste und hatten eine großporige Schale?“, frage ich. „Schwer wie Melonen und fast genauso süß? War die Schale noch warm von der Sonne, das Fruchtfleisch jedoch so kühl wie eine Meeresbrise?“

„Nein“, gibt er zu. „Ganz und gar nicht.“

Es war immer heiß an jenen Nachmittagen an der Bucht, aber es war nicht die drückende, von Kohlenstaub geschwängerte Hitze der amerikanischen Städte. Unsere altersdünnen, verschwitzten Leinenkleider klebten an unseren Körpern. Mamma war achtundzwanzig und eine Schönheit; mit sanften Rundungen, cremeweißer Haut, Mandelaugen und einer Flut glänzender schwarzer Haare, die ihr in Wellen über die Schultern fielen. Junge Männer mit Körben voller Muscheln, die sie an den Klippen von Posillipo gesammelt hatten, ruderten dicht an unseren Felsen heran und riefen: „Fahr mit uns hinaus, Teresa. Wenn du willst, kannst du deine kleine Schwester mitnehmen.“

Sie ignorierte sie oder gab so schroffe Antworten, dass ich sie einmal fragte, ob es ein Muscheltaucher gewesen wäre, der sie als erst Vierzehnjährige ins Seegras gestoßen und mit mir geschwängert hatte. „Nein, es war jemand auf einem Kostümball. Der Schuft trug eine Maske.“

„Sing mir etwas vor“, bat ich sie in solchen Momenten, wenn sie zu zittern anfing und ihre Miene sich vor Zorn verfinsterte. Dann wandte sie sich dem Vesuv zu, dem dunklen Berg, den sie so liebte, und sang „Maria Marì“, „Santa Lucia“ oder „Sì, mi chiamano Mimi“ aus ihrer Lieblingsoper La Bohème. Das Singen stimmte sie wieder weicher; sie ließ mich die Nadeln aus ihrem Haar ziehen, es zu einem Zopf flechten oder es offen über ihrem Rücken ausbreiten. In einer meiner frühesten Erinnerungen tauche ich meine kleinen Hände in diese seidige Flut und ziehe sie wieder daraus hervor. Sie gleichen Delfinen, die aus den dunklen Wellen springen.

An jenen Sonntagnachmittagen spielten Kinder auf der Mole, flickten Fischer ihre Netze, und Liebespaare ließen sich zwischen den Felsen nieder. Alle waren wie verzaubert von ihrer Stimme, die einem Seevogel gleich schwerelos zum Himmel emporschwebte. Ich lehnte an ihrer Schulter; sie drückte mich an sich, unsere Körper verschmolzen, und sie war alles, was ich brauchte.

Ich habe nie Anzeichen dafür entdeckt, dass ihr Geist so labil war, und wenn, dann habe ich sie falsch gedeutet. Ihre plötzlichen Wutanfälle; die kostbaren Porzellanfiguren, die scheinbar zufällig ihren Händen entglitten und auf dem Marmorboden zerschellten; die wiederholten Drohungen des Grafen, uns fortzuschicken, und die angespannten Gespräche zwischen Contessa Elisabetta und Paolo, dem Majordomus – all das war für mich vertrauter Alltag. Was wusste ich schon über andere Mütter? Erst jetzt, rückblickend, sprechen diese Anzeichen so deutlich zu mir wie dunkle Wolken über Kornfeldern, die Regen ankündigen.

Wenn ich in jenen Tagen über meine Zukunft nachdachte, sah ich uns beide in den Diensten einer alternden Gräfin. „Lucia, wenn du das Lesen und Rechnen beherrschst, könntest du später einmal einem hochherrschaftlichen Haushalt vorstehen“, sagte Paolo einmal, als wir allein waren. Ein breites Lächeln erhellte dabei die sonst in der Öffentlichkeit so ernsten Züge, und ich war ganz aufgeregt. Aber was sollte Mamma ohne mich anfangen? Nein, ich wollte für immer in der Villa bleiben.

Und was hätte ich getan ohne Paolo, der wie ein Fels in der Brandung immer für uns da war? Einmal dachte ich laut darüber nach, wie wunderschön unser Leben sein würde, wenn er mein Vater wäre. Mamma und ich wischten gerade Staub im Salon, in dem der Flieder, der sich draußen neben den hohen Fenstern emporrankte, seinen Duft verströmte. Ihre Miene wurde erst wehmütig, dann war es, als ob sich dunkle Wolken vor den Mond schöben. „Nun, er ist aber nicht dein Vater“, brauste sie auf und entstaubte eine Porzellanschäferin so ungestüm, dass diese umfiel. Mit einem großen Satz nach vorn konnte ich sie gerade noch auffangen.

„Aber es können doch nicht alle Männer so schlecht sein …“ Sie brachte mich mit einem wütenden Blick zum Schweigen. Als ich die kleine Porzellanschäferin an ihren Platz zurückstellte, schien diese sich mit ihrem kitschig bemalten Gesicht über mich lustig zu machen, als wollte sie sagen: „Ich habe einen guten Vater.“

„Lass mich allein! Geh und hilf Nannina“, fuhr Mamma mich an. Und so wurde ich wieder einmal in die Küche verbannt und musste angebrannte Töpfe scheuern.

„Was war es dieses Mal?“, wollte Nannina wissen, und ich gestand ihr meine heimliche Angst – dass Mamma jedes Mal, wenn sie mich ansah, in Wirklichkeit ihn sah, den maskierten Schuft. Wie konnte ich ihn nur von mir abstreifen? Heiße Tränen fielen ins Spülwasser.

„Hier“, sagte Nannina und gab mir eine Scheibe Brot vom Vortag mit Ricotta darauf. „Erstens kennen viele Leute ihren Vater nicht, viel mehr, als du glaubst. Und zweitens verdankst du diesem Mann dein Leben. Wünschst du dir, du wärst gar nicht auf der Welt?“

„Nein, aber sie ist manchmal so …“

Schwierig. Ich weiß. Aber sie hat dich lieb, nur dich. Denke immer daran.“

„Instabil“, hörte ich einmal den Grafen zu Paolo sagen. Ich stellte mir Mamma in einem schwankenden Boot stehend vor, instabil.

Bei Anbruch der Nacht war ihr Zorn verebbt. Während sie vor dem Schlafengehen mein Haar bürstete und flocht, versuchte ich wie so oft, ihre Laune zu bessern, indem ich sie zum Erzählen brachte.

„Erzähl mir von deinem Vater, Mamma.“

„Er war … Chorleiter.“ Und damit begann eine neue Fantasiegeschichte. Ihr Vater war ein gut aussehender Fischer, nein, nein, ein Kameenschnitzer, ein Fechtmeister, ein Schauspieler aus Paris, ein deutscher Prinz. Einmal, nach dem Genuss von Wein auf einem Straßenfest, ein verwunschener Fischgott. Nun murmelte sie: „Ich sage dir jetzt die Wahrheit; er verließ uns, und dann starben meine Mutter und meine Brüder an der Cholera. Ich fand Arbeit bei der Gräfin und bekam dich.“ Danach sprach sie nie wieder von ihm, und ich begriff, dass wir keine weitere Familie mehr hatten, nur noch uns beide. Dem Wohlwollen Paolos und der Gräfin Elisabetta hatten wir es zu verdanken, dass wir in der Villa lebten. „Mach die Augen zu“, sagte sie sanft, „und ich singe dich in den Schlaf.“

Am nächsten Morgen, als wir gerade die Terrasse fegten, hielt sie plötzlich inne und umarmte mich stürmisch. „Meine kleine Santa Lucia. Uns wird niemals etwas Schlechtes widerfahren. Niemals!“

„Nein, Mamma, natürlich nicht.“

Genauso plötzlich machte sie sich wieder an ihre Arbeit und erklärte, jetzt wäre ich an der Reihe, mir eine Geschichte auszudenken. Ich machte uns zu Meerjungfrauen in einer Unterwasservilla, wo das Meer allen Staub und Schmutz fortspülte, uns das Essen brachte und unsere Korallenteller blank polierte. Wir schliefen in Betten aus Seegras, für die man keine gebügelten Laken brauchte. „Und wir können den ganzen Tag lang lesen“, fuhr ich verträumt fort. Mamma runzelte die zarte Stirn, als wäre dies die seltsamste Fantasie von allen.

Rückblickend finde ich es merkwürdig, dass ich niemals daran gedacht habe, Neapel zu verlassen. 1905 legten unentwegt Schiffe nach Amerika ab. Hausierer, Tagelöhner, Fischer, ja selbst Wasserträger hatten irgendjemanden „dort drüben“. Paolo und Nannina, unser Gärtner Luigi und Alma, die Waschfrau – alle besaßen Fotos von Familienangehörigen und Freunden in Amerika. Der alte Bernardo führte in seinem Marionettentheater die Abenteuer seines Bruders in New York vor; die herrlich gemalten Kulissen zeigten die Freiheitsstatue und prunkvolle Paläste an der Fifth Avenue. Dennoch schien keins dieser Wunder ein Grund zu sein, Neapel zu verlassen.

Nein, unser Weg ins Exil begann mit einem Tintenfisch in dem Sommer, als ich gerade vierzehn war. Graf Filippo flüchtete im Sommer meist vor der Hitze in der Stadt in seine Villa in den Hügeln von Capri, in sein Lustschloss, wo er sich, wie Nannina verächtlich brummte, „von gewissen Damen unterhalten lässt.“ In jenem Jahr hinderte ihn jedoch die Malaria daran, und er war ruhelos und furchtbar gereizt. An einem brütend heißen Augustmorgen verlangte er ein Mittagessen, bestehend aus Pasta mit Tintenfischsauce, Mozzarella, Tomaten von den Hängen des Vesuvs und einem Zitroneneis vom Café Gambrinus.

„Dr. Galuppi hat dir geraten, nur leichte Kost zu dir zu nehmen“, warnte Gräfin Elisabetta.

„Ich esse, verdammt noch mal, was ich will“, brüllte er. Also schickte Nannina uns zum Einkaufen und trug uns auf, uns zu beeilen; die Sauce benötigte einige Vorbereitungszeit.

Auf dem Fischmarkt feilschte Mamma geschickt um einen fetten Tintenfisch und schlug ihn tot. Der große Olivenmann füllte unseren Tonkrug; danach kauften wir Tomaten, Brot und sahnige Mozzarellakugeln. Inzwischen war unser Korb so schwer, dass wir ihn zu zweit tragen mussten.

Im Café hatte sich eine Schlange gebildet. Vor uns unterhielten sich ein paar Frauen aufgeregt über den berühmten Mailänder Dirigenten Maestro Arturo Toscanini, der in Kürze in der San Carlo Oper eintreffen sollte. Mamma beugte sich vor und lauschte neugierig. Ich zupfte an ihrem Ärmel. „Sieh nur, Mamma, heute bedient der nette Eisverkäufer. Vielleicht gibt er mir ja wieder eine Kostprobe.“

„Hast du gehört“, wandte sich die große Frau vor uns an ihre Freundin, „wie gut Maestro Toscanini aussieht und wie ‚talentiert‘ er ist – und das nicht nur, was die Musik betrifft?“ Sie flüsterte ihr etwas ins Ohr, und beide lachten hell auf.

„Wir gehen zur Oper“, verkündete Mamma und zerrte mich aus der Schlange heraus. „Ich werde ‚Sì, mi chiamano Mimi‘ vorsingen und entdeckt werden wie Enrico Caruso.“ Sie zog mich die Via Roma entlang.

Der Korb schlug gegen meine Beine. Ihr gerötetes Gesicht machte mir Angst, und ich packte ihren Arm. „Nein, Mamma, wir müssen nach Hause gehen! Graf Filippo wird wütend sein, wenn wir zu spät kommen.“

„Der Mann ist schon wütend zur Welt gekommen! Heute Morgen war er sogar wütend auf die Möwen. Wenn meine Stimme Toscanini gefällt, werden wir reich. Du wirst Privatlehrer haben. Wir reisen in die großen Städte.“ Sie war jetzt außer Atem, und feuchte Locken klebten an ihren Wangen. „Wir werden Bedienstete haben und von feinen Porzellantellern essen. Das ist meine Chance, endlich eine Operndiva zu werden. Eine zweite bietet sich mir vielleicht nicht.“

„Aber die Tintenfischsauce …“

Sie blieb stehen, packte meine Schultern und schüttelte mich so heftig, dass mir der Kopf wehtat. „Basta mit der Tintenfischsauce! Willst du dein Leben lang immer nur Fußböden scheuern?“ Vor dem Haupteingang des Opernhauses hatte sich bereits eine aufgeregte Menge eingefunden. „Wenn Toscanini aus der Kutsche steigt, halte ihn auf, damit er mich singen hört.“

Das Blut dröhnte in meinen Ohren. „Wie soll ich ihn denn aufhalten?“ Ich hatte zwar keine Ahnung von der Oper, aber ich wusste eins ganz genau – dass Dienstmädchen keine Gentlemen behelligten.

„Halt ihn an den Rockschößen fest! Da ist die Kutsche, beeil dich!“

Doch letztlich kam ich nie dazu, ihn zu berühren. Erstarrt in der Gewissheit einer bevorstehenden Katastrophe sah ich, wie meine Mutter sich durch die Menge drängelte und sich dem Maestro in den Weg stellte, als ihm drei kleine Mädchen gerade Rosen überreichen wollten. Sie holte tief Luft, nahm Haltung an und begann zu singen. So erschrocken ich auch war, erkannte ich doch, dass ihre Stimme noch nie so schön geklungen hatte, so hoch, kraftvoll und klar. Die Menge verstummte; vielleicht glaubten manche, sie gehörte zum Willkommenskomitee der Stadt. Arturo Toscanini war in der Tat ein schöner Mann mit seinem weißen Hut, den schwarzen Augenbrauen, die sich wie Adlerschwingen über seinen scharfen Augen wölbten, dem prächtigen Schnurrbart und dem eleganten taubengrauen Anzug. Als er den Kopf zur Seite neigte, um zuzuhören, hielt ich den Atem an. Vielleicht wurde sie ja tatsächlich entdeckt. Dann streckte sie die Hände nach seinem Jackett aus.

„Nein, Mamma, fass ihn nicht an!“, rief ich, aber sie hatte bereits seine Revers gepackt, als wäre sie Mimi und er ihr Liebhaber Rodolfo. Toscanini wich abrupt zurückt und schnippte mit den Fingern.

Er ruft seine Leibwächter, dachte ich entsetzt. Ja, Offiziere mit roten Umhängen näherten sich Mamma, während sie leidenschaftlich weitersang. Ich war hin- und hergerissen zwischen Panik und Stolz – Mamma, hör auf, lauf weg! dachte ich, und gleichzeitig: Maestro, machen Sie eine Operndiva aus ihr!

„Das Problem in Neapel ist“, wandte er sich an eine Gruppe junger Männer, „dass hier selbst die Straßenweiber singen wie die Engel. Hören Sie sich dieses Timbre an, diese Beweglichkeit der Stimme! Und doch ist sie offensichtlich ein Dienstmädchen oder sogar noch Schlimmeres und schon zu alt für die Ausbildung. Ich kann sie nicht gebrauchen, aber wenn einer von Ihnen sie für ein Hauskonzert haben möchte, lässt sich das sicher arrangieren.“ Dann war er fort, behände wie eine Katze verschwand er mit fliegenden grauen Rockschößen im Opernhaus.

Ich ließ den Korb fallen und rannte zu Mamma. Ihr Gesicht war tiefrot vor Zorn. Sie hob die geballten Fäuste und schrie ihm nach: „Du Mistkerl! Du Speichellecker der Reichen mit all deinen Geliebten und seidenen Röcken! Du warst einst ein Niemand, und jetzt willst du einer ehrlichen Frau nicht helfen!“ Sie machte einen Satz in Richtung Tür, und ich bekam nur noch ihren Schal zu fassen.

Die Wachen ergriffen sie. „Lasst mich los! Graf Filippo Monforte lässt es nicht zu, dass man seine Bediensteten misshandelt!“, kreischte sie.

Die Wachen winkten eine Kutsche herbei und schoben uns hinein. „Unser Korb!“, protestierte ich und sah entsetzt zu, wie ein paar Jungen sich um den Inhalt des Korbes balgten; einer von ihnen schwenkte den Tintenfisch. Ich schloss die Augen. Was würde der Graf nun mit uns machen? In der heißen, beengten Kutsche hatte ich Mühe, zu atmen. Wieder einmal wünschte ich, meine Mutter wäre so vernünftig und gelassen wie die Gräfin, die in eleganten Räumen wohnen konnte, die andere für sie sauber hielten. Sicher, der Graf war ein ungehobelter, griesgrämiger Ehemann, aber er war oft nicht zu Hause. Sie hatte die Muße, zu lesen, Freundinnen zu besuchen und an der Bucht spazieren zu gehen. Außerdem erhielt eine reiche Frau von allen Seiten Unterstützung, davon konnte eine Bedienstete nur träumen. Natürlich wäre Mamma in einer solchen Situation auch viel stabiler gewesen, nicht so schwierig und zu diesen Wutanfällen neigend, die Nannina immer die inneren Dämonen meiner Mutter nannte.

„Kämen Sie nicht aus einem vornehmen Haushalt“, schnauzte einer der Wachleute, „dann wären Sie und Ihre Schwester jetzt auf dem Weg ins Gefängnis!“

„Meine Tochter!“, gab sie zähneknirschend zurück. Sie saß eingezwängt zwischen den Wachen, öffnete und ballte die Fäuste und wiederholte wütend: „Straßenweib! ‚Wenn einer von Ihnen sie für ein Hauskonzert haben möchte, lässt sich das sicher arrangieren.‘ Mistkerl!“ Ich wich zurück vor dem schönen, aber jetzt vor Wut ganz entstellten Gesicht.

Vor der Villa angekommen, führten uns die Wachen die Marmortreppe hinauf und übergaben uns Paolo, wobei sie Mammas Verbrechen aufzählten – sie hatte Hand an Maestro Toscanini gelegt, ihm gedroht und Schande über die Stadt Neapel gebracht, deren Ehrengast er schließlich war. Wäre der Graf nicht so ein großzügiger Unterstützer der Oper gewesen, hätten wir längst im Gefängnis gesessen. „Wenn diese Frau noch ein Mal in der Nähe der Oper gesehen wird, wenn sie Maestro Toscanini noch ein Mal in irgendeiner Weise belästigt, wird sie weggesperrt. Verstanden?“

„Sie dürfen dem Maestro versichern, es wird keine weiteren Probleme geben“, erwiderte Paolo mit so würdevoller Gelassenheit, dass die Wachen zurückwichen, als wären sie von einem Adeligen zurechtgewiesen worden.

Als sie fort waren, ließ Mamma sich auf das französische Kanapee sinken, ehe ihr ihr Irrtum zu Bewusstsein kam – die guten Möbel waren nicht für uns bestimmt. Sie stand hastig wieder auf und schwankte ein wenig. Ich eilte an ihre Seite.

„Teresa, ich werde Graf Filippo davon unterrichten müssen“, sagte Paolo kurz angebunden. „Natürlich wird er sehr zornig sein, vielleicht schickt er euch sogar fort. Denk doch an Lucia!“

„Ich habe an Lucia gedacht! Wenn ich Toscanini hätte vorsingen dürfen, hätte sie nie wieder Töpfe zu scheuern brauchen.“

„Und was ist mit dem Tintenfisch? Dem Mittagessen für den Grafen?“

„Den haben wir an der Oper zurückgelassen“, stammelte ich.

„Ich verstehe.“ Paolos Stimme war so kalt wie die Eisblöcke, die er immer bestellte. „Also gut, Lucia, dann wirst du Nannina erklären, warum sie den Wunsch des Grafen nicht erfüllen kann.“

Schweren Herzens ging ich in die Küche, wo ich von Nannina eine Ohrfeige bekam; wegen des vergeudeten Geldes und wegen des Verlustes des Korbes, der noch von ihrer Mutter stammte. „Und was soll ich jetzt für ihn kochen? Was? Sag du es mir!“

„Brühe und Reis, wie es der Doktor angeordnet hat“, sagte eine milde Stimme hinter mir. Es war die Gräfin Elisabetta. „Und das reicht jetzt, Nannina. Lucia kann für das alles nichts. Trotzdem möchte der Graf sie sehen.“ Vor lauter Angst konnte ich kaum gehen, aber die Gräfin schob mich sanft vor sich her. „Denke daran, dass er krank ist. Ich habe ihm Laudanum gegeben. Er wird bald einschlafen.“

Bis zu Graf Filippos Zimmer lag noch ein langer Flur vor uns, dennoch konnte ich bereits seine Stimme hören, als ich mit steifen Schritten weiterging. „Und ich habe dich auch noch deine kleine bastarda behalten lassen!“ Die Stimme wurde lauter. „Ist das richtig, Teresa? Ist das die Art, wie du dich dafür bei mir revanchierst? Indem du den Maestro angreifst?“

Ich stand jetzt in der offenen Tür. Der Anblick des Rückens meiner Mutter, starr wie eine Marmorsäule, verlieh mir Mut. „Sie hat ihn nicht angegriffen, Sir“, sagte ich kühn. „Sie hat nur etwas aus La Bohème gesungen.“

„Du!“ Er zeigte auf mich; sein fleischiges, fleckiges Gesicht glänzte vor Schweiß. „Lesen, immer nur Lesen! Welches Dienstmädchen, welche kleine bastarda muss schon lesen können? Du solltest lieber diesen Saustall sauber machen!“ Er zeigte im Zimmer herum. Die Porzellanfiguren und Möbel, die ich jeden Tag abstaubte, glänzten im Sonnenlicht. Er gähnte. „Hinaus mit euch beiden. Ich bin umgeben von Schwachköpfen. Ihr habt euch zum Gespött von ganz Neapel gemacht.“

„Teresa hat nichts weiter getan als gesungen“, schaltete sich die Gräfin ein. „Der Maestro hat sie einen Engel genannt. Wer hat schon so eine Bedienstete? Du solltest jetzt ruhen, Filippo.“

„Wo ist mein Tintenfisch?“

„Ich habe ihr aufgetragen, ihn nicht zu kaufen. Dr. Galuppi hat gesagt, du sollst nur leichte Kost zu dir nehmen.“ Wir schlichen uns aus dem Zimmer, während die Gräfin den wutschnaubenden Grafen dazu brachte, sich wieder hinzulegen und sich zuzudecken.

In der an die Küche angrenzenden fensterlosen Kammer, in der wir Bediensteten aßen, hielt ich mich an meinem Stuhl fest, der zu schwanken und zu schaukeln schien, als befänden wir uns auf dem Meer. Wenn wir nun das Haus mit einem schlechten Zeugnis des Grafen verlassen mussten, welcher vornehme Haushalt oder wenigstens anständige Kaufmann würde uns dann noch einstellen wollen? Bedienstete von Händlern schliefen im Treppenhaus und aßen Abfälle. Doch Mamma tobte immer noch vor Zorn, zerpflückte ihr Brot und verfluchte unser Leben. Lieber die Bediensteten eines Grafen als ein ungewisses Schicksal – sah sie das denn nicht ein?

„Bist du verrückt, Teresa?“, sagte Nannina. „Alle großen Operndiven Europas wollen zu Maestro Toscanini. Madonna mia, warum sollte er ausgerechnet dich nehmen?“

„Ich weiß es nicht.“ Mammas Stimme klang plötzlich spröde und brüchig. Mit großen dunklen Augen sah sie sich im Raum um. „Weiß er, dass wir hier wohnen?“

Ich legte den Arm um ihre hängenden Schultern. „Nein, Mamma. Er hat uns wahrscheinlich schon längst wieder vergessen. Heute Abend ist doch eine Opernaufführung, da wird er jetzt sehr beschäftigt sein.“

„Er hat aber gehört, dass ich den Grafen Monforte erwähnt habe.“

„Nein, da war er schon im Opernhaus verschwunden.“

„Die Wachen werden es ihm sagen.“

„Maestro Toscanini spricht nicht mit Wachen“, warf Nannina bissig ein.

Paolo ließ uns rufen. Wegen der Geschichte mit Toscanini und vieler anderer Sorgen, die sie ohnehin quälten, hatte die Gräfin wieder ihre Kopfschmerzen bekommen. Die Schulden des Grafen und seine vielen Liebschaften setzten ihr sehr zu. Er erinnerte sie ständig daran, dass sein Geld die baufällige Villa ihrer Eltern wieder instand gesetzt hatte, und dass das Einzige, was sie mit in die Ehe gebracht hatte, ein Adelstitel war. Nach jeder seiner Tiraden litt sie unter großen Schmerzen, die nur durch leises Vorsingen gelindert werden konnten. Immer wenn die Missetaten meiner Mutter unsere Stellung in Gefahr brachten, redete ich mir ein, dass die Gräfin die Stimme ihrer Bediensteten brauchte.

Wenn die Kopfschmerzen kamen, zog sie sich in den Salon zurück, legte ein seidenes Kissen über die Augen, um das Licht auszublenden, und ließ die Fenster öffnen, damit sie das leise Rauschen der Brandung hören konnte. Dann sang Mamma ihr mit sanfter Stimme vor – Arien, die sie von Straßensängern gehört hatte, Volkslieder und spanische und französische Weisen, deren Sprache sie perfekt nachahmte. Ich löste inzwischen das honigbraune Haar der Gräfin, bürstete es vorsichtig aus und rieb Lavendelöl auf ihre Schläfen.

Das waren unsere goldenen Stunden, eine köstliche Erleichterung nach der sonstigen harten Arbeit: Töpfe und Marmorböden scheuern, Silber putzen, Kamine säubern, Möbel wachsen und an dicken Seilen vor den hohen Fenstern hängen, um die verkrustete salzige Gischt von den Scheiben zu waschen. Diese Momente in dem wunderhübschen Raum schenkten uns reine Behaglichkeit und Ruhe. Selbst an den heißesten Tagen wehte immer eine leichte Brise durch die offenen Fenster ins Zimmer. Die Damastvorhänge raschelten leise, als hätte Mammas Stimme sie in Bewegung versetzt. Sogar die Wellen, die sich unten an den Felsen brachen, schienen dem Rhythmus ihres Liedes zu folgen.

Ich sehe den Raum auch jetzt genau vor mir. Winzige Regenbogenlichter, ausgehend von dem Kristalllüster an der Decke, tanzen über uns. Das blank geputzte Silber glänzt. Die Marmorbüsten schimmern hell im Sonnenlicht. Nanninas Blumen blühen in bunt bemalten Vasen. Der Perserteppich, den wir im Hof klopfen, fühlt sich unter meinen Füßen weich wie Moos an, und er ist so farbenfroh wie ein Sommergarten.

„Jetzt lies mir etwas vor“, pflegte die Gräfin zu sagen, wenn die Schmerzen nachgelassen hatten. Dann schlug ich ein in Leder gebundenes Buch von ihrem Lieblingsdichter Giacomo Leopardi auf. Wenn ich ins Stocken geriet, sagte sie: „Lies langsam. Konzentriere dich auf jedes einzelne Wort.“ Das tat ich dann auch, und sie lächelte. Diese Augenblicke haben sich für immer in meinem Herzen eingeprägt. Ja, ich war ein Dienstmädchen, und der Graf nannte mich kleine bastarda, aber an jenen Nachmittagen schwelgte ich in dem Glück, noch wegen etwas anderem gebraucht zu werden, nicht nur wegen meiner kräftigen Arme.

„Wenn wir ein Kind wie dich gehabt hätten“, sagte die Gräfin einmal, als wir allein waren, „dann wäre der Graf vielleicht auch ein anderer Mensch.“ Und wenn ich nun wirklich ihr Kind wäre? fragte ich mich. Doch sofort durchzuckte mich ein glühendes Schuldgefühl, weil ich mich von meiner Mutter abgewandt hatte, und sei es auch nur in meinen Träumen. „Lucia Esposito“, wiederholte ich stumm in meinen Gedanken. „Das bin ich. Lucia Esposito, die Tochter von Teresa Esposito.“

Das Laudanum hatte den Grafen in den Schlaf gewiegt, und die Gräfin entließ uns, als die Kopfschmerzen verflogen waren. Sie wollte mit Paolo noch ein paar Rechnungsbücher durchgehen und sich dann zurückziehen. Er wartete im Flur auf sie. Mir fiel auf, auch wenn ich dem damals keine Bedeutung schenkte, wie langsam sie zu den Gemächern der Gräfin schlenderten und wie nahe nebeneinander.

Mamma und ich legten uns auf unsere Pritsche und schwitzten in der warmen Sommernacht. „Straßenweib“, murmelte sie. „Er meinte Hure.“

„Er hat dich aber auch einen Engel genannt. Außerdem sind wir jetzt in Sicherheit. Du solltest ihn nur einfach nicht mehr belästigen.“

„Ich bin nicht wie du, ich lese keine Bücher“, sagte sie verbittert. „Das Einzige, was ich kann, ist singen. Du bist Gräfin Elisabettas kleiner Liebling, aber was ist mit mir? Vielleicht findet sie ja eine andere singende Bedienstete und schickt mich fort. Ich werde niemals eine Operndiva sein. Ich werde immer ein Nichts bleiben.“ Sie drehte sich zur Wand um, und ihre Schultern zuckten leicht.

Ich lag stocksteif und hilflos da. In der bedrückenden Dunkelheit stellte ich mir vor, dass ich verschwand; wie eine Spiegelung auf nassem Marmor, wenn der Marmor trocknet. Ob Mamma dann glücklicher sein würde? Meine Augen füllten sich mit Tränen. Unsere schweißfeuchten Schultern berührten sich beinahe, doch in unserem Schmerz trennten uns Welten. Als die große Standuhr Mitternacht schlug, schlich Mamma barfuß aus dem Zimmer. Unternahm sie wieder einen ihrer nächtlichen Spaziergänge? Angstvoll lauschte ich auf das leise Knarren der Haustür, aber alles blieb still. Schon bald kehrte sie zurück und strich mit ihrer kühlen Hand über meine.

„Wo warst du?“, flüsterte ich.

„Ich habe Laudanum geholt. Möchtest du auch etwas?“

„Nein.“

„Natürlich nicht. Du bist ja noch ein Kind. Du brauchst dich um nichts zu sorgen.“ Sie nahm mich in die Arme und strich mir über das Haar. „Es tut mir so leid, Lucia“, raunte sie. „Du weißt, wie sehr ich dich lieb habe. Es ist wie … wenn der Nebel sich über den Vesuv senkt, kann man ihn nicht mehr sehen, aber er ist trotzdem da. So ähnlich ist das bei mir auch, denke daran. Ich werde dich immer lieb haben. Immer!“ Ihr warmer Atem streifte meine Wange. „Und nun schlaf.“

Und das tat ich dann auch, doch in meinen Träumen hetzte uns ein Seeungeheuer mit den Gesichtszügen des Grafen durch ein Unterwasserlabyrinth.

2. KAPITEL

Feuer und Eis

Bis zum Morgen war das Malariafieber so stark angestiegen, dass der Graf kurz davor war, ins Delirium zu fallen. Er warf sich auf seinem massiven Rosenholzbett hin und her, verfluchte die afrikanische Hitze und forderte noch mehr frischen Wind. Schon seit Stunden fächelte ich mit dem Bambusstock, an dem Straußenfedern befestigt waren, in der feuchtstickigen Luft. Jeder einzelne Muskel tat mir weh. Wenn das die Strafe für den Tintenfisch sein sollte, dann war sie mehr als ausreichend.

„Bringt mich nach Capri“, verlangte er. „Wo seid ihr, Bettina, Rosalia und Isabella, mein reifer Pfirsich?“ Bei jedem Namen zuckte die Gräfin zusammen.

Paolo hatte Dr. Galuppi gebeten, ein Fläschchen seines besten peruanischen Chinins mitzubringen. Danach hatte er Nannina aufgetragen, etwas Süßes für den Doktor vorzubereiten, der für sein Leben gern naschte, und die Gräfin von ihren Pflichten im Krankenzimmer entbunden. „Und du fächelst weiter, bis er Schüttelfrost bekommt“, flüsterte Paolo mir zu. Ich stellte mir römische Galeerensklaven vor, die an Bambusstöcke gekettet waren.

Endlich traf der Doktor mit dem gewünschten Chinin ein und ließ sich in einen Brokatsessel fallen. „Und wenn mir Ihre Bedienstete jetzt … Ah, da ist sie ja.“ Mamma erschien mit einer Karaffe mit schottischem Whisky, unseren besten venezianischen Gläsern und einem mit Rum getränkten Napfkuchen. Ich packte meinen Bambusstock fester, als er Mamma an die Brust fasste und ihr schließlich über die vor Zorn ganz blass gewordene Wange strich.

„Noch mehr Wind …“, japste der Graf, als Mamma gegangen war. Sein Leinennachthemd war vollkommen durchgeschwitzt. Ich hatte das Bett schon frisch bezogen, trotzdem fluchte er, ich würde ihn wie einen „Bettler im Dreck verkommen lassen“. Wir konnten die Bettwäsche gar nicht so schnell waschen, trocknen und bügeln, wie er sie mit Schweiß und Erbrochenem beschmutzte. Auch Unmengen von Rosmarin und Lavendelöl vermochten nicht den schlechten Geruch im Zimmer zu überlagern.

Dr. Galuppi schob etwas Schnupftabak in seine riesige Nase und beobachtete mich eine Weile, wie ich dem Grafen Luft zufächelte. Er ließ den Blick seiner großen runden Augen über meinen Körper wandern, bis er offenbar genug davon hatte, ein Medizinbuch hervorzog und darin zu lesen begann, während der Graf in einen unruhigen Schlaf versank.

Wie Paolo vorhergesagt hatte, ging das Fieber schon bald in Schüttelfrost über. Der Graf erwachte ruckartig und verlangte, ich solle sofort mit diesem grässlichen Fächeln aufhören und stattdessen für mehr Decken, Pelze und ein Feuer im Kohlenbecken sorgen.

„Tu das, Mädchen“, sagte der Doktor und hob dabei nicht einmal den Kopf. Der Schweiß rann über unsere Gesichter, nachdem das Feuer angezündet war, doch er las eifrig weiter und zeichnete von Zeit zu Zeit seltsame Maschinen in ein Notizbuch aus Leder.

„Gut, und nun versuchen Sie einmal meinen Heiltrunk“, sagte Galuppi, klappte sein Buch zu und füllte die beiden Gläser großzügig mit Whisky. Er zeigte auf einen Stuhl in der Ecke. „Und du setzt dich dorthin. Vielleicht brauchen wir dich noch“, teilte er mir mit.

Ich gehorchte, und wie es bei Gentlemen so üblich ist, schenkten sie mir schlagartig keine Beachtung mehr, als wäre ich eine der Marmorbüsten an der Wand. Ich fragte mich oft, was wohl das Schlimmere für einen Bediensteten war: die endlose Schufterei, die schmerzenden Gelenke und die raue, rissige Haut – oder dieses gedankenlose Entlassenwerden ins Nichts, nur um dann mit einem Fingerschnippen wieder herbeigerufen zu werden? Als der Graf auf den Pelzberg über sich zeigte, hieß das, dass ich ihn beseitigen sollte. „In der Gegenwart von Bediensteten kann ein Mann wirklich verrückt werden“, knurrte er.

„Gewiss, gewiss. Alle Welt redet von dieser Szene zwischen Ihrer Bediensteten und Maestro Toscanini. Sie leidet eindeutig unter einer besonders unangenehmen Form von Hysterie. Allerdings hängt Ihre Frau sehr an ihr, wie ich hörte.“

Der Graf nickte, seufzte und schloss die Augen.

„Ich habe mich gründlich mit dem Thema Hysterie befasst“, fuhr der Doktor fort und tippte mit dem Finger auf sein Buch. „Dieser Zustand ist oft heilbar mithilfe faszinierender Mechanismen, die bedauerlicherweise in Italien nur selten eingesetzt werden. Mit diesen Mechanismen haben unsere angelsächsischen Kollegen schon diverse Subjekte vom Wahnsinn geheilt oder sie zumindest umgänglicher gemacht.“

Man musste mir angesehen haben, dass ich aufmerksam zuhörte, denn der Graf hob eine fleischige Hand und zeigte auf mich. „Du da. Lass uns allein. Mach die Tür hinter dir zu.“

„Ja, Herr.“

Im dämmerigen kühlen Flur atmete ich tief durch, um den Gestank des Krankenzimmers loszuwerden. Mamma und Nannina halfen der erschöpften Waschfrau. Paolo und die Gräfin schienen wieder die Bücher durchzugehen, denn ich hörte Gemurmel in ihrem Arbeitszimmer. Auf bloßen Füßen schlich ich wieder zur Zimmertür des Grafen.

„Wiederholte Injektionen mit Widderblut … Patienten so sanft wie Schafe“, hörte ich durch die Tür. Jetzt musste der Graf etwas gesagt haben. „Ja, natürlich, es kommt bisweilen zu Todesfällen, da gibt es noch viel zu lernen.“ Das Rosenholzbett knarrte, Bettzeug raschelte, und deshalb musste ich das Nächste wohl falsch verstanden haben. Oder war es etwa möglich, dass Ärzte Patienten in mit Löchern versehene Särge sperrten, diese so lange unter Wasser hielten, bis keine Luftblasen mehr aufstiegen und dann versuchten, die Halbertrunkenen wiederzubeleben? „Die Konfrontation mit dem Tod beruhigt die Wahnsinnigen.“ Etwas Gemurmeltes folgte, das ich nicht mitbekam, dann: „Drehstuhl … Stromschläge an den weiblichen Organen bisweilen sehr wirksam.“ Mir wurde übel, und ich lehnte mich an eine Marmorsäule. Wieder die Stimme des Doktors: „Sie müssen jetzt etwas Leichtes zu sich nehmen, Herr Graf. Ich läute nach dem Mädchen.“

Voller Panik rannte ich in die Küche, um mir das Gesicht zu waschen und mich zu beruhigen, bevor ich zurückkehrte und meine Befehle entgegennahm.

„Graf Filippo schläft jetzt ruhig“, verkündete Paolo uns nach dem Abendessen. „Ihr habt frei bis morgen früh. Ich werde mich selbst um den Grafen kümmern.“ Mir fiel jedoch auf, dass er nicht nach links zum Krankenzimmer ging, sondern nach rechts, wo sich die privaten Gemächer der Gräfin befanden.

„Fühlt sie sich ebenfalls nicht wohl?“, fragte ich.

Mamma und Nannina tauschten einen Blick, und Nannina zog die Augenbrauen hoch. „Ich nehme an, sie gehen die Bücher durch.“

Mamma stand auf. „Lucia, lass uns schwimmen gehen. Komm, es ist Vollmond!“

Schon wenig später liefen wir mit fliegenden Haaren zu den Felsen hinunter. Ich habe diese Nacht als reines Glück in Erinnerung. In unseren vor Schweiß starrenden Kleidern schwammen wir in dem silbernen Pfad, den der Mond quer durch die Bucht bis fast zum Vesuv ausgelegt hatte. Warme Wellen trieben unsere Körper auseinander und dann wieder zusammen. Wir schöpften das irisierende Wasser mit unseren Händen; die Gerüche des Krankenzimmers und unsere Müdigkeit fielen von uns ab. Wir waren Meerjungfrauen, Prinzessinnen, Schwestern.

„Wir sind fast frei“, sagte ich zum Sternenhimmel hinauf. „Entweder stirbt der Graf, oder aber er wird gesund und geht bis zum Winter zurück nach Capri.“

„Und wenn er geht, geht auch der Doktor“, fügte Mamma verträumt hinzu. „Wenn nicht, vergifte ich seinen Whisky.“ Wir lachten und ließen uns auf den sanften Wellen treiben. Ich hielt ihre Hand im Wasser fest. Ich werde diese Nacht für immer in meinem Herzen bewahren, dachte ich, und so war es auch. Sie war immer mein Halt in stürmischen Zeiten. Sie begleitet mich auch jetzt, obwohl ich so weit fort von Neapel bin. Viel zu bald schlugen die Turmuhren Mitternacht. Wir trockneten uns ab, wrangen unsere Kleider aus und eilten barfuß zur Villa zurück. Es sollte unsere letzte Nacht auf der Pritsche werden.

Als ich Graf Filippo das Frühstück brachte, schien es ihm viel besser zu gehen; er hatte wieder Farbe im Gesicht und schwitzte auch nicht mehr. Das Zimmer war gelüftet worden, der Gestank war fort. Vielleicht schämte er sich, weil er seine schlechte Laune während der Krankheit an mir ausgelassen hatte, denn er war beinahe herzlich zu mir, redete mich mit meinem Namen an, bedankte sich für das Tablett und bat darum, die Gräfin zu sehen, „wenn sie gerade Zeit hat.“

„Es geht ihm besser!“, berichtete ich Nannina glücklich.

„Gut, aber wenn ihr heute keine Krankenpflegerinnen zu sein braucht, wird es höchste Zeit, die Treppe zu scheuern“, gab sie zurück.

Ich stöhnte auf. Die große Marmortreppe zu säubern war die Arbeit, die ich am meisten hasste. Mamma und ich bearbeiteten zusammen jede Stufe mit Bimsstein und scheuerten sie mit einer Seife, die in den Augen brannte. Uns taten die Knie, Schultern, Ellbogen und Hände weh. Normalerweise sang sie dabei, oder wir erzählten uns Geschichten, um uns von den Schmerzen abzulenken, aber an jenem Tag schwieg sie. Es kam mir so vor, als scheuerten wir die Alpen. Doch dann wurde ich auf wunderbare Weise erlöst.

Paolo rief die Treppe herunter, die Herzogin Annamaria würde an diesem Morgen empfangen und ich sollte die Gräfin dorthin begleiten, um Nanninas Mandelkuchen zu tragen und den Bediensteten im Palast zu helfen. Zuerst müsste ich allerdings mein Haar zu einem ordentlichen Zopf flechten und mein bestes Kleid anziehen.

Mammas dunkle Augen verengten sich zu Schlitzen, als ich nach oben eilte, um mich umzuziehen. Mit bitterer Reue denke ich noch heute an ihre hochgezogenen Schultern und die flammend roten Hände, als ich kurz darauf wieder an ihr vorbeiging; ganz vorsichtig die nassen Stufen hinuntersteigend, voller Sorge um den Kuchen auf dem Silbertablett und um meine saubere, gestärkte Schürze, fast, als wäre ich die Herrin und sie das Dienstmädchen. „Ich bin bald wieder da, Mamma“, versprach ich. Sie antwortete mir nicht, und seit jenem Tag ist der Geruch von Kernseife für mich untrennbar verbunden mit dem schlechten Gewissen, das ich hatte, als ich wie eine kleine Dame davontrippelte und sie beim Scheuern der Treppe allein zurückließ.

Welche andere Entschuldigung habe ich dafür, außer dass ich damals noch so jung war? Als ich neben der Gräfin in ihrem wunderschönen rosafarbenen Morgenkleid die elegante Riviera di Chiaia entlangging, besserte sich meine Laune schnell, und der alte Tagtraum kehrte zurück – ich war die geliebte Tochter einer Gräfin. Ich hatte Hauslehrer. Ich gehörte zur gehobenen Gesellschaft und wurde nie beleidigt, nie kleine bastarda genannt. Und der Graf, mein Vater, sah aus wie Paolo und war klug, freundlich und trostreich.

Wir hatten den Palast erreicht. „Bring den Kuchen in die Küche“, sagte die Gräfin, „und danach hilfst du erst einmal bei den Näharbeiten.“ Und damit fand mein Tagtraum ein Ende. In den Räumlichkeiten der Bediensteten gab man mir Brot und Käse und wies mir einen Stuhl am Fenster zu. Nach dem Mittagessen wurde ich in den Salon gerufen, wo der Kaffee gereicht wurde. Noch nie hatte ich eine solche Ansammlung von Juwelen und Spitze gesehen; wunderschöne Frauen schwatzten zwitschernd miteinander wie bunte Vögel, lauter Adelige und Botschaftergattinnen. Ich sollte etwas von Dante vorlesen und so die Behauptung einer Vicomtesse widerlegen, die unteren Schichten seien nicht imstande, den großen Dichter zu verstehen. Man reichte mir einen Text, und die Gräfin zeigte mir, wo ich anfangen sollte.

Ich las langsam und auf die richtige Betonung achtend, so wie sie es mir beigebracht hatte. Das Gezwitscher verstummte. Geschminkte Lippen öffneten sich staunend, als hätte eins der Schoßhündchen plötzlich angefangen, einen Vortrag zu halten. Freude und Stolz durchströmten mich in diesem prunkvollen Raum, als mir die göttlichen Worte über die Lippen kamen. Ein Dienstmädchen stellte diskret ein Glas Wasser neben mir ab, und ich, Lucia Esposito, trank aus feinstem Kristall inmitten von adeligen Damen.

Nach dem Vorlesen wurde ich freundlich wieder fortgeschickt und nahm meine Näharbeit wieder auf. Ich schwelgte weiter in meinem Triumph, bis die Haushälterin sagte: „Geh jetzt nach Hause, Mädchen. Deine Herrin sagt, sie braucht dich heute Nachmittag nicht mehr.“ Ich war wieder ein namenloses „Mädchen“ geworden. Ich trödelte auf dem Rückweg zur Villa, schlenderte durch einen Park am Meer, beobachtete reiche Kinder, die mit Reifen spielten, und junge Herren auf Fahrrädern. Wie oft habe ich mich später wegen dieser Trödelei an jenem Nachmittag verflucht!

Nannina schnitt Zwiebeln, als ich nach Hause kam, und Paolo saß in seinem fensterlosen, mit Büchern vollgestellten Büro. „Teresa bügelt“, sagte er über seine Schulter hinweg. „Geh und hilf ihr.“

Ich kam nie in der Waschküche an. Ein seltsames sirrendes Geräusch ertönte von der Terrasse her. Ich sah durch das Fenster nach unten, und mir stockte der Atem. Der Graf und Dr. Galuppi saßen da und verfolgten ein besonderes Spektakel: Ein riesiger behaarter Mann, einem Gorilla nicht unähnlich, drehte ein gewaltiges Rad, in das ein Stuhl einmontiert war. Eine Frau war auf diesem Stuhl festgeschnallt; schwarzes Haar flatterte, das Gesicht verschwamm vor meinen Augen. Ich sah genauer hin. Mamma! Ich flog förmlich die Treppe hinunter. Diese Scheusale, diese elenden Scheusale!

Auf der Terrasse angekommen, sah ich, dass ihr Gesicht kreidebleich war; ihr Mund war weit aufgerissen zu einem stummen Schrei, ihre Schürze befleckt von Erbrochenem. Als ich zu schreien anfing: „Halt! Lassen Sie sie los!“, erhob sich meine Stimme über die Mauern und den Obstgarten hinweg bis weit über die Bucht hinaus. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib und war selbst verblüfft über dieses Geräusch.

Beide Herren sahen mich an. Ein Dienstmädchen wagte es, sie anzuschreien? Der Gorilla hielt wie vom Donner gerührt inne. Das Rad rollte langsamer, kam schließlich zum Stehen, und meine Mutter sackte auf dem Stuhl wie eine Lumpenpuppe nach vorn. Das schwarze Haar verbarg ihr Gesicht.

„Ugo, bring das Mädchen her“, zischte der Doktor. Ich war bereits auf dem Weg zu Mamma, um ihr zu helfen, da wurde ich hochgehoben und zum Doktor gebracht. Trotz seiner schwammigen Statur war der Griff, mit dem er mich an den Armen festhielt, eisenhart. „Und jetzt setz wieder das Rad in Bewegung! Keinen Mucks, Mädchen, sonst drehen wir sie noch eine Stunde länger und dich auch, wegen deiner Unverschämtheit!“

„Lassen Sie nur, den Drehstuhl habe ich ja nun gesehen“, sagte Graf Filippo wie ein Kind, das sein altes Spielzeug zu langweilen begann. Mit einem langen Messer mit beinernem Heft schnitt er sich ein paar dicke Scheiben Schinken ab und füllte sein Trinkglas, während Mamma sich übergab. Auch mir wollte sich der Magen umdrehen. Auf ein Zeichen des Doktors hin band Ugo sie los, und Mamma fiel auf den Boden.

„Mamma!“

„Still, Mädchen, sonst drehen wir sie wirklich noch einmal!“, warnte Galuppi. „Ugo, bring den Zähmkasten.“ An den Grafen gewandt: „Ich habe dieses Modell aus einem amerikanischen Journal nachgebaut.“ Interessiert sah der Graf sich den innen gepolsterten schwarzen Kasten an, der über den Kopf eines Menschen gestülpt werden konnte. Galuppi führte den Knebel vor, die Augenbinde, die Ohrstöpsel und die Luftlöcher. Dazu präsentierte er einen Stuhl, in dessen Sitzfläche ein Nachtgeschirr eingebaut war. Mamma hatte sich immer noch nicht bewegt. Als ich ausprobieren wollte, ob der Griff des Doktors sich gelockert hatte, packte er mich noch fester und sprach seelenruhig weiter. „Unbeweglich gemacht, abgeschnitten von allen äußeren Sinneseindrücken und ganz allein mit seinem – oder ihrem – Wahnsinn … auf die Art kann die beruhigende Wirkung auf den Patienten tiefgreifend sein. Selbst in extremen Fällen“, er nickte in Ugos Richtung, „führt die bloße Androhung der Anwendung zu sofortigem Gehorsam. Und so heilt und beruhigt dieses Gerät selbst die schwierigsten Patienten.“

Der Graf betrachtete staunend den Kasten. „Faszinierend. Wie lange tragen die Patienten ihn?“

Mamma bewegte sich. Ich versuchte, mich loszureißen, aber mir wurde der Arm schmerzhaft nach hinten gebogen. „Zwölf, vierundzwanzig und in Extremfällen sogar sechsunddreißig Stunden.“ In ihrer Begeisterung fiel keinem von beiden auf, dass Mamma sich langsam aufrichtete und sich mit einer Hand das Haar aus dem Gesicht strich. Auch Paolo, der auf uns zueilte, sahen sie nicht. „Sie haben das Mädchen schreien hören“, fuhr Galuppi fort. „War das ein normaler Laut, eine gesunde menschliche Stimme? Ich sage Ihnen, mein Freund, Hysterie kann auch die ganz Jungen befallen. Sie verbreitet sich durch das Blut; wie die Mutter, so die Tochter. Ugo, bereite das Mädchen vor.“ Massige Arme hoben mich hoch, ich war vollkommen hilflos.

Mamma versuchte aufzustehen; aber ihre Beine gaben nach. Paolo hatte den Grafen erreicht. „Wir hatten nie Schwierigkeiten mit Lucia“, keuchte er, „sie ist immer recht gehorsam.“

Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn des Grafen. „Trotzdem wird Dr. Galuppi sie untersuchen. Sie können zusehen, Paolo.“

Die fleischige Hand des Doktors tastete meinen Schädel ab. „Die Wissenschaft der Phrenologie ist einzigartig.“ An meinen Schläfen hielt er inne. „Hier, zum Beispiel, finden wir störrische Aufsässigkeit.“

„Wir haben nichts dergleichen bei ihr gefunden!“, erklärte Paolo.

Galuppi lächelte. „Ich empfehle den Zähmkasten als Therapie gegen Hysterie.“

Als Graf Filippo sah, wie ich mich zu wehren versuchte, begannen seine Augen zu glitzern. Keiner der Männer sah, wie Mamma heimlich zum Tisch schlich. Nein, Mamma, nicht … Doch, Mamma, errette mich! Der Kasten kam mir immer näher.

Mamma machte einen behänden Satz nach vorn, packte die Karaffe und schleuderte sie dem Grafen an den Kopf. Sie zerschellte an seiner gewölbten Stirn. Manchmal träume ich noch davon, wie ich ihn zum letzten Mal sah – Blut strömte auf sein gestärktes weißes Hemd. Meine Mutter griff nun nach dem Messer mit dem beinernen Heft, leichtfüßig tänzelnd wie ein Straßenkämpfer richtete sie es mal gegen Ugo, mal gegen den Doktor und den Grafen. Wo hatte sie das gelernt? Als sie sich auf Ugo stürzen wollte, zuckte er zusammen. Der Griff der großen Hände lockerte sich, ich war plötzlich frei.

„Los, Lucia, lauf weg, schnell!“, zischte Paolo.

Mamma stand wie angewurzelt da. Ich nahm ihre Hand und holte sie aus ihrer Erstarrung. Das Messer fiel klirrend auf den Boden, und sie folgte mir mit steifen Schritten wie eine Puppe über die Terrasse.

„Paolo, halten Sie sie auf!“, hörte ich den Doktor hinter uns rufen.

Wir hatten die Straße erreicht. Mamma stolperte benommen, als Paolo uns einholte. Er nahm ihren Arm und half mir, sie zwischen Wasserkarren und Straßenhändlern hindurchzubugsieren. Einmal blieb sie stehen und erbrach sich; Paolo ließ sie Wasser an einem Brunnen trinken und scheuchte uns weiter durch die breiten Straßen, bis wir im Labyrinth der dunklen, engen Gassen, die sich durch das Spanische Viertel wanden, verschwanden. Hier konnten wir endlich langsamer gehen.

„Mistkerle!“, keuchte Mamma atemlos. „Ich werde sie beide umbringen!“

„Teresa, du verstehst schon, wer du bist und wer er ist? Ein Wort von Graf Filippo und du landest für immer im Gefängnis. Die Gräfin könnte dir jetzt auch nicht mehr helfen. Vielleicht macht es ihm sogar Spaß, wenn sie mit ansehen muss, wie du verhaftet wirst.“

Ich stellte mir Mamma angekettet auf Stroh vor.

„Er ist auf Lucia losgegangen“, sagte sie matt. „Sie haben es doch auch gesehen. Dieses Schwein.“

„Und er hat Mamma auf diesen Stuhl gebunden“, fügte ich hinzu. „Er hat sie gefoltert!“

„Ich habe doch nur …“

Paolo hob die Hand. „Teresa! Lucia! Es ist Blut geflossen, du hast deinem Herrn eine Karaffe an den Kopf geworfen, ein Messer gezückt. Kein Richter in Neapel würde da ein Nachsehen haben. Kommt mit mir, beeilt euch.“

Wir folgten ihm, ich hatte plötzlich Kopfschmerzen. So schnell waren wir zu Kriminellen geworden, zu Vertriebenen aus unserer sonnigen Villa.

Das hier waren die dunklen Viertel der ganz armen Leute. In den Türöffnungen drängten sich Männer und Frauen, um wenigstens ein bisschen Licht auf ihre Waren fallen zu lassen. Die schwarzen Füße der Kinder hatten den ganzen Sommer lang keine Schuhe gesehen, ihre Haut war übersät mit wunden Stellen. Selbst in unserer Bedienstetentracht wirkten wir fehl am Platze. Drei Jungen unterbrachen ihr Spiel mit Kieselsteinen und kamen mit offenem Mund langsam näher wie junge Hunde, die eine schwächere Beute einkreisen. War das alles nur ein grausames Märchen? Würde man uns aussetzen, ohne eine Spur aus Brotkrumen zu hinterlassen, die uns den Weg zurück nach Hause weisen konnten? Und wo war jetzt unser Zuhause?

Paolo scheuchte die Jungen lautstark fort und blieb dann mit uns stehen. „Hör zu, Teresa“, sagte er langsam, als spräche er mit einem Kind. „Du kannst nicht in Neapel bleiben. Im besten Fall überlässt man dich Galuppi für seine Experimente. Ihm und Graf Filippo wird es völlig gleichgültig sein, ob du das überlebst oder nicht. Oder du bleibst bis an dein Lebensende im Gefängnis, als abschreckendes Beispiel für andere Bedienstete. In dieser Stadt gibt es keinen sicheren Ort mehr für dich.“

Meine Mutter verzog das Gesicht, als wollte sie zu weinen anfangen, und bewegte nur stumm die Lippen. Ich sagte an ihrer Stelle: „Paolo, Sie haben doch gesehen, was er getan hat. Können Sie nicht wieder mit der Gräfin reden, wie schon bei anderen Gelegenheiten? Können Sie es ihr nicht erklären?“

„Lucia, das hier ist nicht wie die ‚anderen Gelegenheiten‘. Deine Mutter hat einen Adeligen angegriffen. Wie ich schon sagte, dieses Mal kann die Gräfin euch nicht mehr helfen. Ihr müsst euch selbst helfen.“

„Aber wo sollen wir hingehen, was sollen wir tun?“ Jede frühere Angst, die ich ausgestanden hatte – Wellen, die mich gegen Felsen schleudern konnten, Ratten im Garten, finstere Gestalten auf der Straße –, war nichts im Vergleich zu dieser jetzt. Die Welt war plötzlich wie ein riesiger schwarzer Strudel, der uns zu verschlingen drohte.

Paolo wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch ab, das in der dunklen Straße blütenweiß aufleuchtete. „Ihr müsst weit fort, in eine andere Stadt. Rom ist noch viel zu nahe, vielleicht nach Mailand oder Venedig.“

Mamma wirkte völlig benommen. „Ich bin hier geboren! Ich kann doch nicht von hier fortgehen!“

„Wir gehen nach Amerika“, verkündete ich. Beide starrten mich an, und ich war selbst ganz überrascht. Woher war dieses Wort Amerika bloß gekommen, wie ein eisiger Windhauch an einem heißen Sommertag? Und doch überkam mich plötzlich eine absolute Gewissheit. „In Amerika werden sie uns nicht suchen, auf die Idee kommen sie gar nicht erst.“

Mamma schüttelte den Kopf. „Wie denn? Wir haben kein Geld für die Überfahrt, und ich will in Italien bleiben.“

Doch Paolo dachte bereits nach. „Amerika, ja. Ihr könntet euch das Geld für die Überfahrt und den Anfang drüben von Gräfin Elisabetta leihen und es ihr zurückzahlen, wenn ihr Arbeit gefunden habt. Meine Cousine Rosanna hat ein Fremdenheim in Cleveland.“ Er wandte sich mir zu. „Lucia, du könntest durchaus hierbleiben. Du warst nur Zeugin des Angriffs. Vielleicht können wir Graf Filippo überreden, dich zu behalten, wenn Teresa fort ist. Oder die Gräfin findet eine neue Stelle für dich in einer anderen Stadt. Ich habe immer gesagt, du hast das Zeug dazu, dich in einem vornehmen Haus ganz nach oben zu arbeiten.“

Einen Moment lang verblasste Mammas Schicksal hinter Visionen meiner möglichen Zukunft – ich in Lederschuhen und dem feinen, mit Spitze besetzten Kleid einer Haushälterin, eine makellos saubere Marmortreppe hinabschwebend, die ich niemals gescheuert hatte, mit weißen Handschuhen, um zu prüfen ob die Bediensteten auch ordentlich Staub geputzt hatten. Dann sah ich Mamma mit ihrem vor Angst verzerrten Gesicht. Ich sah sie wieder auf der Treppe knien, als ich mit der Gräfin an ihr vorbeigegangen war. Ich sah, wie sie sich nach der Tortur auf dem Folterstuhl übergab und dennoch die Kraft aufbrachte, mich zu retten.

Paolo rüttelte meine Schulter. „Lucia, entscheide dich.“ Mamma starrte mich reglos an.

„Wir gehen zusammen fort.“

„Bist du dir sicher?“

„Ja, ganz sicher.“

„Du weißt schon, dass ihr dann zwei Überfahrten zurückzahlen müsst.“

„Ich werde in einer Fabrik arbeiten“, verkündete Mamma. „Lucia kann in die Schule gehen.“

Schule? Das war ein ganz neuer Gedanke. An einem Tisch sitzen und lesen. Schreiben, anstatt Fußböden zu scheuern. All diese Märchen über Amerika, wo die Straßen mit Gold gepflastert waren und sich jedem Menschen unbegrenzte Möglichkeiten boten – sie bedeuteten mir nichts, solange ich nur einen Stift in der Hand halten konnte. Meine vom Schrubben aufgeschürften Knie und die vom Winterfrost rissigen Hände würden endgültig abheilen, wenn ich mein Leben den Büchern weihen konnte.

„Um auszuwandern, braucht ihr Papiere“, sagte Paolo. „Doch wenn der Graf davon Wind bekommt, dass ihr fortwollt, dann hat er mächtige Freunde, die euch daran hindern werden.“

Mamma wurde blass. „Also … können wir nicht auswandern?“

Paolo rieb über sein langes Gesicht. „Papiere können gefälscht und Beamte bestochen werden.“ Er setzte sich wieder in Bewegung, und wir eilten ihm nach. „Inzwischen wohnt ihr erst einmal bei meinem Cousin Ciro.“

Wir liefen weiter. Manche Straßen bestanden nur aus festgetretenem Schmutz, andere waren mit Basaltsteinen gepflastert, die so schwarz waren wie die rußbedeckten Häuser, an denen sie entlangführten. Vor einem Gebäude, das aussah wie ein aus dem Stein gehauener Alkoven, blieben wir stehen. Es war der Laden eines Matratzenmachers. Paolo sprach Dialekt mit einem hageren, gebeugten Mann, der ein ebenso langes Gesicht hatte wie er, und steckte ihm diskret eine Geldbörse zu.

„Das ist Ciro“, teilte er uns knapp mit. „Er nimmt euch auf, bis eure Papiere fertig sind, und sorgt dafür, dass niemand mit der Polizei spricht. Ich komme wieder und bringe euch zum Schiff.“

„Werden wir die Gräfin gar nicht mehr sehen?“

„Lucia, versuch doch zu verstehen. Graf Filippo fragt sie bestimmt, ob sie euch gesehen hat. Wollt ihr, dass sie lügt? Wollt ihr riskieren, von der Polizei geschnappt zu werden? Ich werde sagen, dass ich euch nachgerannt bin und euch dann in der Stadt aus den Augen verloren habe.“

Erinnerungen an die Villa wirbelten durch meinen Kopf – das Nachmittagslicht, das in den Salon fiel; der Garten und die Obstbäume; das Meer, der Vesuv; unser Stein, auf dem Mamma immer gesungen hatte, Nanninas Küche und ihre raue Freundlichkeit. Über allem aber schwebte Gräfin Elisabetta; die vielen Male, als sie uns geholfen hatte; ihre ruhige Stimme; ihre blasse Hand auf meiner, während sie mir beibrachte, zu schreiben und vorzulesen; ihre Geduld, wenn ich mich verhaspelte. Ich sollte sie nie wiedersehen, nie mehr ihre sanfte Stimme hören? Jetzt kam mir Amerika tatsächlich wie ein Exil vor.

„Wenn du ihr schreibst, wird sie dir bestimmt antworten.“

„Wirklich?“ Mir hatte noch nie jemand geschrieben. Eine Gräfin sollte „Liebe Lucia“ schreiben?

„Natürlich wird sie das, aber nun denk nach. Ich bringe euch eure Kleidung. Wollt ihr sonst noch etwas aus der Villa haben?“

„Mein Buch von Leopardi, es liegt unter dem Bett“, sagte ich leise und schämte mich, weil ich ihm noch eine weitere Last aufbürdete.

„Ich bringe es mit. Ich werde mich um alles kümmern, aber ihr dürft euer Versteck nicht verlassen.“

Ciro führte uns hastig ins Haus. Es war ein basso, einstöckig, bestehend aus zwei hintereinanderliegenden Zimmern. Nur das erste, seine Werkstatt, hatte ein Fenster zur Straße hinaus. Wollballen und Rollen mit steifem Stoff stapelten sich in dem heißen winzigen Raum und ließen nur noch Platz für den Ofen, einen kleinen Tisch und drei Stühle. Ciros Frau reichte uns wortlos ein paar dicke Scheiben Brot. Wir setzten uns auf den Boden vor einen Wollballen, lehnten uns mit dem Rücken dagegen und aßen. Gewiss waren wir hier sicher, so tief in den Eingeweiden der Stadt. Wer würde schon auf die Idee kommen, im Laden eines Matratzenmachers nach uns zu suchen?

„Nanninas Schwester ist nach Amerika gegangen, erinnerst du dich?“, bemerkte Mamma. „Sie war früher Zimmermädchen. Jetzt fertigt sie Seidenblumen in ihrem eigenen Laden an. Iss dein Brot auf, Lucia, lass nichts für die Ratten übrig.“

Ich wollte über die Villa reden und all das, was wir vermissen würden, aber Mammas versteinerte Miene warnte mich, lieber keine Fragen zu stellen. Also saß ich in der stickigen Nachmittagshitze einfach nur still da und beobachtete die weißen Woll- und Baumwollflöckchen, die in der Luft schwebten. Ciro und seine Frau, die keine drei Schritte von uns entfernt arbeiteten, schienen in eine Dampfwolke eingehüllt zu sein.

„Mamma, wie ist Cleveland?“, wagte ich schließlich zu fragen, als unser Schweigen unerträglich zu werden drohte. Cleveland – selbst das Wort fühlte sich beim Sprechen fremd in meinem Mund an.

„Es muss eine Stadt wie Neapel sein. Denk nicht daran.“

Wie konnte ich nicht an eine so plötzliche und gewaltige Veränderung in unserem Leben denken? Doch ich war jung, und meine Träume nahmen mich wie ein Schiff mit auf die Reise. Alles war leicht in Amerika, sagten manche. Vielleicht haben sie recht, dachte ich schläfrig. In der heißen, abgestandenen Luft schlief ich auf Wollballen gebettet ein.

Als die Dunkelheit anbrach, rief Ciro uns zur Tür. Eine schwache Brise war aufgekommen. Händler eilten mit ihren Säcken und Holzkarren nach Hause. Die unterschiedlichsten Gerüche zogen an uns vorbei – Pasta und Bohnen, Nachtgeschirre, Knoblauch, Rosmarin, Zwiebeln und Fisch, heißes Öl, Wein, aufgeschnittene Zitronen, der scharfe Geruch nasser Pflastersteine und über alldem der Schweiß derer, die tagsüber schwer in der Sonne arbeiteten und nachts in ihren Kleidern schliefen.

Schon bald wurden Hocker und alte Stühle an den Hauswänden entlang der Straße aufgestellt und Lumpen übereinandergeschichtet, auf die Babys gebettet wurden. Ciros Frau hatte eine Pasta mit Linsen, Zwiebeln und Lammfleisch gekocht – das Geld dafür stammte ohne Zweifel aus Paolos Börse –, und viele kamen neugierig schnuppernd näher. Sie reichte einen Teller mit struffoli herum: kleinen, in Öl ausgebackenen Teigkugeln mit Zuckersirup. Alte Männer spielten Karten auf Brettern, die sie sich über die Knie gelegt hatten. Die Straße hallte wider von Rufen, lebhaften Unterhaltungen und Gesang.

„Wir könnten hier wohnen“, sagte Mamma verträumt. „Wir müssen gar nicht nach Amerika gehen.“

„Der Graf würde uns finden, und dann liefert er dich dem Doktor aus.“

Sie schloss die Augen. „Wahrscheinlich. Alles wird anders sein in Amerika. Neue Lieder …“

„Ja, natürlich.“ Sie würde ihre alten Dämonen von sich abstreifen wie eine Schlangenhaut. Ich würde zur Schule gehen. Wir würden für immer glücklich sein.

Immer mehr Stimmen fielen in die Gesänge ein. Mandolinen, Tamburine und eine Gitarre wurden herbeigebracht. Ein neues Lied began: „Te voglio bene assai.“ Als Mamma sich dem Chor anschloss, verstummten die schwächeren Stimmen, bis nur noch ein Trio übrig war – ein Mann, Mamma und eine andere Frau. Ihre Stimmen erhoben sich über die begleitenden Instrumente und das Klatschen der Hände. Kinder tanzten in unserer Mitte. Als allmählich die Sterne an dem schmalen Streifen Himmel über uns zu funkeln begannen, zog ein Lied nach dem anderen durch die Straße – Balladen, Liebeslieder, Spottlieder, Seemannslieder und solche, die sehnsuchtsvoll die Schönheit Neapels besangen.

Bei den lautesten Liedern, zu denen geklatscht und die Tamburine geschlagen wurden, wagte ich es sogar, mitzusingen. Mamma hatte immer gesagt, meine Stimme wäre heiser wie die einer Krähe. „Du versuchst es ja nicht einmal!“, pflegte sie mir vorzuwerfen, auch wenn ich mich noch so sehr bemühte, die richtigen Töne zu treffen oder es selbst zu merken, wenn ich falsch gesungen hatte. Doch das fiel jetzt niemandem auf, und keiner beklagte sich über meine Stimme.

Wein wurde in Krügen herumgereicht. Langsam gingen die Gesänge wieder in Unterhaltungen über. Viele erzählten von Amerika. Ein Mann war gerade aus Pittsburgh zurückgekehrt, wo Eisen in riesigen Kesseln, so groß wie ein basso, geschmolzen wurde wie Butter. „Fleisch kann sich darin auch auflösen“, sagte er und zeigte seine Wade, an der das Fleisch verbrannt war bis fast auf den Knochen. „Ich bin lieber nach Hause gekommen, bevor ich meine starken Arme auch noch verlieren konnte.“

Eine junge Frau zog ihn an sich. „Und jetzt wirst du nie wieder fortgehen, Totò.“

„Keine Sorge, der Mann ist schon von Geburt an vom Pech verfolgt“, flüsterte Ciro uns zu. „Nicht jeder zieht sich solche Verletzungen zu, nicht einmal in den Fabriken.“

„Wie ist Amerika denn?“, wollte ich wissen.

Totò zeigte mit einer ausladenden Bewegung auf die Straße. „Ganz anders als das hier.“

„Haben Sie Englisch gelernt?“, fragte ich eifrig.

„Wie denn? Ich habe zusammen mit anderen Italienern in einem Fremdenheim gewohnt, zwölf Stunden am Tag gearbeitet, gegessen, geschlafen und wieder gearbeitet. Alle zwei Wochen ließen sie uns eine Doppelschicht einlegen. Dabei hätte man sterben können, ohne es zu merken. Warum also Englisch lernen? Man ist einfach nur ein Teil ihrer Maschinerie.“

„Atme“, murmelte Mamma. Ich tat es und beruhigte mich langsam wieder. Unser Leben würde ganz anders verlaufen als das von Totò. Ich würde zur Schule gehen und Mamma niemals in einer Stahlfabrik arbeiten.

Als der Mond aufging, brachte die Brise vom Meer eine leichte Abkühlung. Struppige Katzen erhoben sich und begaben sich auf Wanderschaft; misstrauisch scheuten sie vor jeder Berührung zurück. Die Kinder hatten sich wie kleine Kätzchen auf dem Schoß ihrer Mütter zusammengerollt und waren eingeschlafen; eins nach dem anderen wurde ins Haus und zu Bett gebracht. Überall auf der Straße vernahm man „Buona notte, sogni d’oro“ – gute Nacht, goldene Träume.

Ciro hatte uns ein Lager auf loser Wolle bereitet. Als Gäste durften wir im vorderen Zimmer schlafen, während er mit seiner Familie im engen, stickigen Hinterzimmer nächtigte. „Hörst du ihn husten?“, flüsterte Mamma. „Er wird früh sterben, wie alle Matratzenmacher.“ Wir lauschten dem Husten, schreienden Katzen und Kindern und dem leisen Scharren der Ratten. Wein und Hitze hatten mich müde gemacht, aber noch nie hatte ich eine Nacht so weit vom Meer entfernt verbracht. Neue Ängste befielen mich, und ich zupfte an Mammas Ärmel.

„Wird Graf Filippo der Gräfin die Schuld geben, wenn er uns nicht findet? Was ist, wenn sie wieder ihre Kopfschmerzen bekommt und wir sind nicht da? Hörst du mir eigentlich zu?“

„Hör auf, dir Sorgen zu machen. Sie ist reich. Und vielleicht hat sie keine Kopfschmerzen mehr, wenn ich ihr nicht länger Schwierigkeiten mache.“

„Totò sagte, in Amerika sei alles anders. Und wenn es uns nun dort nicht gefällt?“

Möchtest du denn, dass alles beim Alten bleibt?“, fragte sie mich beinahe wild. „Sollen wir wieder Bedienstete sein? Und zum Grafen zurückkehren?“

„Nein“, flüsterte ich schuldbewusst und wischte ein Wollflöckchen von ihrem verschwitzten Gesicht. „Keine Grafen, keine Doktoren mehr. Wir werden frei sein.“

„Ja, frei. Und nun versuch, zu schlafen.“

Aber ich konnte es nicht. Meine Gedanken schweiften in die Vergangenheit. Hatten unsere Probleme wirklich erst mit dem Tintenfisch und Maestro Toscanini angefangen? Oder schon früher, als ich als Baby zu viel geschrien hatte? Der Graf war ein grausamer Mann, aber hatten wir vielleicht etwas an uns, das ihn provozierte? Ob uns das Pech über den Ozean hinweg verfolgen würde? Gab es Ärzte wie Galuppi in Amerika? „Hör auf, zu zappeln“, sagte Mamma. „Du machst dir zu viele Gedanken.“ Sie drückte einen Wollwulst zwischen uns nach unten und fing an, mir „Santa Lucia“ vorzusingen; mit jeder Strophe wurde sie leiser, bis sie uns beide auf unserem federnden wolligen Lager in den Schlaf gesungen hatte.

Am Morgen erwachte ich hustend. Das läge an der Wolle, erklärte Ciro. Da ich nicht riskieren durfte, gesehen zu werden, musste ich im Haus bleiben. Ich saß hüstelnd am Fenster, erfand Rechenaufgaben für mich und sagte Gedichte auf, die ich von der Gräfin gelernt hatte.

„Erstaunlich“, stellte Ciro höflich fest, „wie viele hübsche Worte du in deinem Kopf hast.“

Paolo erschien beschwingt am Nachmittag. Die Gräfin hatte unsere Papiere besorgt; am nächsten Morgen würde das Schiff ablegen. „Graf Filippo ist wütend, weil er euch nicht finden kann. Er sagt, die Französische Revolution hätte auch damit begonnen, dass Bedienstete ihre Herrschaft angriffen.“

„Sucht die Polizei nach uns?“, fragte ich ängstlich.

„Ja, aber nicht am Hafen. Er weiß, dass ihr kein Geld für die Überfahrt und auch keine Verwandten habt, die euch helfen könnten. Heute Abend geben wir ihm Laudanum, damit er morgen lange schläft. Ich komme vor Morgengrauen. Haltet euch bereit.“

Wie hätte ich schlafen können? Ich saß auf Ciros Türschwelle und atmete zum letzten Mal die neapolitanische Nachtluft ein. In der Dunkelheit des ganz frühen Morgens eilten wir durch die stillen Straßen des Viertels. Unsere Reisetruhe war bereits verstaut. Paolo gab uns Fahrscheine für die dritte Klasse und einen Geldbeutel von der Gräfin für den Beginn unseres neuen Lebens in Amerika. Wir mussten mit den anderen Passagieren anstehen, bis wir gegen Mittag an Bord gehen konnten.

„Keine Sorge“, sagte ich. „Wir schicken der Gräfin das Geld zurück, sobald wir dort sesshaft geworden sind.“

Paolo tätschelte mir mit seiner sauberen, gepflegten Hand die Schulter. „Wie ich sehe, wird unsere Lucia langsam erwachsen.“ Er zog eine sorgfältig beschriftete Karte hervor. „Hier ist die Adresse meiner Cousine Rosanna in Cleveland. Ich habe ihr eure Ankunft schon in einem Telegramm angekündigt, ihr solltet ihr von New York aus noch eins schicken.“

Das Morgenlicht fiel auf das lange Gesicht, das ich mein ganzes Leben lang täglich gesehen hatte. Nun würde ich diesen ernsten, freundlichen Menschen verlassen müssen, der beinahe wie ein Vater für mich gewesen war. Er war wie ein klares, ruhiges Gewässer, dem Mammas Launen nichts anhaben konnten; ein Fels in der Brandung gegen die Grausamkeiten des Grafen und ein Spiegel meiner tiefen Zuneigung zu der Gräfin. Niemals hatte er sich über mein Lesen lustig gemacht oder mich kleine bastarda genannt. Als ich mich jetzt in seine Arme warf, zog er ein sauberes, gebügeltes Taschentuch hervor, um meine, aber auch seine eigenen Tränen fortzuwischen.

„Lasst es euch gut gehen in Amerika, Lucia. Sei brav und lerne fleißig. Schreib der Gräfin und pass auf deine Mutter auf.“ Er lächelte und küsste uns beide. „Teresa, zügle dein Temperament und versuche, glücklich zu sein. Es ist ein Neuanfang für dich.“ Dann war er fort und unser Leben an der Bucht von Neapel vorbei, wie ein viel zu früh endendes Lied.

3. KAPITEL

Gefallener Engel

Wir waren Teresa und Lucia Esposito auf dem Schiff von Neapel, auf Ellis Island und bis nach Pennsylvania. Dann nicht mehr. Ich war fast die gesamte Überfahrt über seekrank gewesen und hatte kaum geschlafen, sodass ich mir danach alle Mühe geben musste, vor den Einwanderungsbeamten einen halbwegs gesunden Eindruck zu machen. Als wir endlich im Zug nach Cleveland saßen, lehnte ich mich müde an die Fensterscheibe, während draußen wogende grüne Felder vorbeizogen wie ein endloses Meer.

Seit wir New York verlassen hatten, war Mamma unruhig, die vielen Wälder bedrückten sie. „Es ist so leer hier!“, jammerte sie. „Das hat mir vorher niemand gesagt.“ Sie drehte den Umschlag mit unseren Papieren hin und her und strich dann mit der stumpfen Kante so heftig über ihre Handflächen, dass ich aufstand und ihre Hände festhielt.

„Bald sind wir in Cleveland, dann wird alles gut.“

Wieder fuhren wir durch einen Wald. Sie starrte auf die rasch vorbeiziehenden Bäume entlang der Gleise und sagte plötzlich: „Ich weiß genau, womit die Probleme angefangen haben.“

„Welche Probleme?“

„Es liegt an meinem Großvater“, rief sie so laut, dass sich sogar die Amerikaner nach uns umdrehten und uns anstarrten. „Deshalb stimmt mit mir irgendetwas nicht.“

„Mit dir ist alles in Ordnung“, widersprach ich energisch und vergaß ganz, zu flüstern.

Sie entzog mir ihre Hände. „Mein Großvater Domenico wurde ausgesetzt, zur Adoption freigegeben. Deswegen heißen wir Esposito, das bedeutet nämlich ausgesetzt. Wusstest du das nicht?“

„Natürlich nicht. Das hast du mir nie erzählt.“

„Ich erzähle es dir jetzt. Seine Mutter wollte ihn nicht. Vielleicht machte er ihr zu viele Schwierigkeiten. Als er fünf war, brachte sie ihn in ein Waisenhaus, damit er an jemanden vermittelt wurde, der möglicherweise einen Jungen mit einer schönen Stimme suchte. Ein Pfarrer nahm ihn zu sich für den Kirchenchor und nannte ihn fortan Domenico Esposito. Schämst du dich jetzt, dass du Lucia Esposito heißt?“

„Es ist doch nur ein Name, Mamma. Jeder Mensch muss schließlich einen Namen haben.“

Mamma packte unsere Papiere fester. „Wir werden kein Glück haben in Amerika. Galuppi sagte, ich wäre hysterisch. Irgendetwas Schlimmes wird uns zustoßen. Das weiß ich.“ Sie wandte das Gesicht ab und starrte hinaus auf ein lang gestrecktes grünes Tal.

„Nein, Mamma, nein.“ Seit wann war es so kalt im Zug, seit wann ratterten die Räder so laut?

Uns gegenüber saß ein gedrungener Mann mit einem breiten Mund. Er war gekleidet wie ein Amerikaner und las eine amerikanische Zeitung. Nun faltete er sie ordentlich zusammen und wandte sich mit so vertrautem neapolitanischem Dialekt an Mamma, als stammte er aus der Nachbarschaft unserer Villa. „Signora, beruhigen Sie sich. Sie brauchen keine Esposito zu bleiben. Ich selbst kam als Tommaso Russo zur Welt, jetzt heiße ich Thomas Ross. In Amerika können Sie heißen, wie Sie wollen.“ Die Schule würde meine italienischen Papiere gar nicht brauchen, erklärte er, sie würden mich unter jedem Namen aufnehmen. Die Fabriken würden Mamma einstellen wegen der Arbeit, die sie verrichten konnte, nicht wegen ihres Namens. Viele Einwanderer änderten ihre Namen, damit sie amerikanischer klängen.

„Warum haben Sie Ihren geändert?“, wollte ich wissen. „Was ist an Russo auszusetzen?“

„Ich lebe in Harrisburg und backe dort für die Einwanderer. Ich backe für sie focaccia, irisches Brot, braunes Brot, Roggenbrot, Pumpernickel, Sauerteigbrot, challah, babka und Stollen. Ich schneide die Brote in Scheiben und reiche sie herum, damit die Leute alle in Amerika vertretenen Brotsorten probieren können. Daher habe ich mir einen amerikanisch klingenden Namen gegeben.“ Mamma drehte den Umschlag immer noch hin und her. Der Mann lächelte freundlich.

„Waren Sie gerade in Italien?“, fragte ich, um das Schweigen zu überbrücken.

„Ja, ich habe dort meine Familie besucht. Das mache ich alle drei Jahre.“

So einfach war das also; man konnte über die große Distanz hin- und herpendeln und in zwei Ländern leben, wie ein Baum, der an beiden Ufern eines Flusses verwurzelt war. Für uns wäre das auch möglich gewesen, wenn uns in Neapel nicht die Polizei gesucht hätte.

„Ah, das ist Harrisburg!“, rief der Mann fröhlich und griff nach seinem Gepäck. „Und da sind sie ja!“ Eine amerikanisch gekleidete Familie stand winkend am Bahnsteig; alle waren klein und lächelten wie Tommaso/Thomas, der eilig aus dem Zug stieg, um seine Frau und seine Kinder zu begrüßen.

„Mamma“, sagte ich, als er fort war, „wir könnten unseren Namen auch ändern.“

Sie nickte, und ihre Augen begannen zu funkeln. „Ja, lass uns das tun! Wie sollen wir heißen?“ Ihre Stimme klang beinahe schrill vor Begeisterung. „Russo ist viel zu gewöhnlich. Verdi, Garibaldi oder Leopardi, wie dein Dichter.“

„Vesuv“, schlug ich vor, und sie lachte so laut, dass die Leute sich wieder zu uns umdrehten.

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