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Nur ein kleiner Gefallen - A Simple Favor

Als Buch hier erhältlich:

Stephanie, fürsorgliche Mutter, viel gelesene Mom-Bloggerin und jung verwitwet, hilft gerne aus; erst recht, wenn ihre glamouröse Freundin Emily, PR-Chefin eines New Yorker Modedesigners, sie darum bittet.
Doch als sie an diesem Tag Emilys fünfjährigen Sohn Nicky nach der Vorschule mit zu sich nach Hause nimmt, ahnt sie nicht, dass dies das Ende ihrer brüchigen Vorstadtidylle bedeuten wird. Denn Emily holt ihren Sohn am Abend nicht ab. Und auch an den folgenden Tagen und Wochen taucht sie nicht auf. Stephanie kümmert sich um Nicky, zusammen mit Emilys Mann Sean. In ihm erkennt sie die unverhoffte Chance, noch einmal ein ganz anderes Leben zu führen. Und sie fasst einen folgenschweren Entschluss. Doch dann kommt der Anruf, vor dem sie sich die ganze Zeit gefürchtet hat …

"Wie sich nun im Nachhinein das Leben der beiden Freundinnen als wahr bis halbwahr bis gelogen entpuppt, ist ein wahrer Genuss zu lesen. Und noch dazu sehr spannend. »Nur ein kleiner Gefalllen« ist genau so, wie es der Titel suggeriert - Beginn harmlos, klein, schon oft gelesen, aber dann: die Spannung, die Wendungen und die Erkenntnis, dass man/frau niemanden genau kennt. Nichts ist sicher. Nur der Tod. Großartig." Bücherschau

"Was Menschen einander antun können, erzählt Darcey Bell in ihrem psychologisch ausgefeilten Thriller »Nur ein kleiner Gefalllen«." Leserin


  • Erscheinungstag: 10.04.2017
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676625
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

TEIL 1

Meine Mutter sagte oft: Jeder hat Geheimnisse. Darum wird man jemand anderen nie wirklich kennen. Und darf niemandem vertrauen. Darum kennt man sich selbst auch nie. Manchmal hat man sogar vor sich selbst Geheimnisse.

Als ich heranwuchs, hielt ich das für einen guten Rat, obwohl ich ihn nicht zur Gänze verstand. Oder vielleicht tat ich es, in gewisser Weise. Kinder haben Geheimnisse. Ihre imaginären Freunde, die Dinge, für die sie Ärger bekommen könnten, falls ein Erwachsener sie herausfand.

Später entdeckte ich, dass Mom aus persönlicher Erfahrung sprach. Und ich fragte mich, ob sie mich nicht nur auf Geheimniskrämerei und Misstrauen vorbereitete, sondern entsprechend programmierte. Spürte sie, dass ich als Erwachsene dunklere und beschämendere Geheimnisse haben würde als alle anderen? Geheimnisse, die ich in den meisten Fällen zu bewahren schaffte – sogar vor mir selbst?

1

Stephanies Blog

Eintrag: Dringend!

Hi Moms!

Das hier wird ein Eintrag, der sich von allen bisherigen unterscheidet. Nicht wichtiger, denn alles, was mit unseren Kindern geschieht, ihre Sorgen und Freuden, ihre ersten Schritte und ersten Worte sind das Wichtigste auf der Welt.

Sagen wir mal so … Dieser Eintrag ist dringender. Viel dringender.

Meine beste Freundin ist verschwunden. Schon seit zwei Tagen. Ihr Name ist Emily Nelson. Wie ihr wisst, nenne ich nie die Namen von Freunden im Blog. Aber jetzt werde ich aus Gründen, die ihr schon bald verstehen werdet, vorübergehend meine sonst so strikt gewahrte Anonymität aufgeben.

Mein Sohn Miles und Emilys Sohn Nicky sind die besten Freunde. Sie sind fünf. Beide wurden im April geboren, weshalb sie im Vergleich zu den anderen Kindern in ihrer Klasse verhältnismäßig spät eingeschult wurden und somit etwas älter sind. Ich finde, sie sind reifer. Miles und Nicky sind so, wie man sich Kinder nur wünschen kann: bescheidene, ehrliche und freundliche kleine Menschen. Und diese Eigenschaften sind – sorry, Männer, falls ihr hier mitlest – bei Jungs eher unüblich.

Die beiden freundeten sich in der Vorschulklasse der staatlichen Schule an. Emily und ich trafen uns das erste Mal, als wir sie dort abholten. Es passiert selten, dass Kinder sich mit den Kindern von Freunden ihrer Mütter anfreunden oder dass die Mütter sich mit den Müttern von den Freunden ihrer Kinder anfreunden. Aber in diesem Fall passte es einfach. Emily und ich hatten Glück. Zunächst mal sind wir nicht die jüngsten Moms. Wir bekamen unsere Kinder mit Mitte dreißig, als unsere biologischen Uhren bereits tickten.

Manchmal denken Miles und Nicky sich richtige Drehbücher aus und spielen sie uns vor. Ich lasse die Jungs dann mit dem Handy filmen, obwohl ich sonst immer sehr darauf achte, wie viel Zeit die Kinder mit Computer, Fernseher und all den anderen Geräten verbringen, die Elternschaft in der Moderne zu so einer Herausforderung machen. Eine tolle Darbietung war ein Krimi – „Die Abenteuer von Dick Unique“. Nicky war der Detektiv, Miles der Verbrecher.

Nicky sagte: „Ich bin Dick Unique, der schlauste Detektiv der Welt.“

Miles sagte: „Ich bin Miles Mandibel, der schlimmste Verbrecher der Welt.“ Miles spielte seine Rolle wie einen Bösewicht in einem viktorianischen Drama, mit viel Ho, ho, ho! Sie jagten einander durch den Garten und taten so, als würden sie mit ihren Fingern aufeinander schießen (niemals Waffen!). Es war richtig toll.

Ich wünschte nur, dass Miles’ Dad – mein verstorbener Mann Davis – hier gewesen wäre, um das zu sehen!

Manchmal frage ich mich, von wem Miles diese theatralische Ader hat. Von seinem Dad, vermute ich. Einmal habe ich zugesehen, als Davis vor potenziellen Kunden eine Präsentation hielt, und ich war überrascht, wie lebhaft und dramatisch er war. Er hätte einer von diesen dümmlich charmanten, attraktiven jungen Schauspielern mit weichen, schimmernden Haaren sein können. Bei mir verhielt er sich anders. Dann war er mehr er selbst, nehme ich an. Ruhig, freundlich, humorvoll, nachdenklich – obwohl er manchmal eine genau vorgefasste Meinung haben konnte, vor allem in Bezug auf Möbel. Doch das schien nur logisch, denn schließlich ist er ein erfolgreicher Architekt gewesen.

Davis war ein Engel. Mit einer Ausnahme. Oder zwei.

Nicky erzählte, seine Mutter habe ihnen geholfen, sich Dick Unique auszudenken. Emily liebt Krimis und Thriller. Sie liest viele im Zug nach Manhattan, wenn sie nicht gerade ein Meeting oder eine Präsentation vorbereiten muss.

Bevor Miles geboren wurde, las ich viel. Ab und zu nehme ich heute ein Buch von Virginia Woolf zur Hand und lese ein paar Seiten, um mich daran zu erinnern, wer ich mal war. Oder wer ich hoffentlich immer noch bin. Irgendwo jenseits der Playdates und Schulessen und der frühen Schlafenszeit ist die junge Frau, die in New York City lebte und bei einem Magazin arbeitete; die Freunde hatte, die am Wochenende brunchen ging. Keine ihrer Freundinnen hatte Kinder; niemand von ihnen ist in die Vorstädte gezogen. Wir haben uns aus den Augen verloren.

Emilys Lieblingsautorin ist Patricia Highsmith. Ich verstehe, was ihr an den Büchern gefällt; es sind echte Schmöker. Die Hauptperson ist in den meisten Fällen ein Mörder oder Stalker oder ein Unschuldiger, der verhindern will, dass man ihn umbringt. Das Buch, das ich gelesen habe, handelt von zwei Männern, die sich in einem Zug kennenlernen. Sie vereinbaren, dass sie jeweils für den anderen jemanden umbringen.

Ich wollte das Buch mögen, aber ich habe es nicht zu Ende gelesen. Aber als Emily mich danach fragte, erzählte ich ihr, ich hätte es geliebt.

Das nächste Mal, als ich zu ihr kam, sahen wir uns den Film auf DVD an, den Hitchcock nach diesem Roman gedreht hatte. Zuerst machte ich mir Sorgen. Was, wenn Emily mit mir darüber reden wollte, wo sich der Film vom Buch unterschied? Doch der Film zog mich in seinen Bann. Eine Szene, bei der ein Karussell außer Kontrolle geriet, war für mich fast schon zu spannend.

Emily und ich saßen in den beiden Ecken der riesigen Couch in ihrem Wohnzimmer, die Beine ausgestreckt und eine Flasche mit gutem Weißwein auf dem Couchtisch. Als sie bemerkte, wie ich auf die Karussellszene reagierte, die ich nur durch die gespreizten Finger angucken konnte, lächelte sie und machte das Daumen-hoch-Zeichen. Es gefiel ihr, dass ich Angst bekam.

Ich konnte nur denken: Was, wenn Miles auf dem Karussell sitzen würde?

Nach dem Film fragte ich Emily: „Glaubst du, die Menschen wären in der Realität auch in der Lage, so etwas zu tun?“

Emily lachte. „Bist du süß, Stephanie. Du wärst überrascht, wozu die Leute fähig sind. Zu Dingen, die sie niemandem gestehen würden – nicht mal sich selbst.“

Ich wollte ihr sagen, dass ich nicht so süß war, wie sie glaubte. Ich habe auch ein paar schlimme Dinge getan. Doch ich war zu überrascht, um etwas zu sagen. Sie klang gerade wie meine Mutter.

Ihr Moms wisst, wie schwer es ist, nachts gut zu schlafen, ohne dass irgendwelche Horrorgeschichten durch unsere Köpfe kreisen. Ich habe Emily immer versprochen, dass ich mehr Bücher von Patricia Highsmith lesen werde. Aber jetzt wünsche ich mir nur, ich hätte dieses eine nie gelesen. Das Mordopfer des einen Mannes war die Ehefrau des anderen.

Und wenn die eigene beste Freundin verschwindet, möchte man nicht, dass diese Geschichte einem in den Sinn kommt. Nicht, dass ich Emilys Ehemann Sean zutraue, dass er ihr was antut. Offenbar haben sie Probleme. In welcher Ehe gibt es die nicht? Und ich bin nicht gerade Seans größter Fan. Doch ich glaube, im Grunde ist er ein anständiger Kerl.

Miles und Nicky sind in derselben Vorschulklasse der hervorragenden staatlichen Schule, über die ich schon so oft gebloggt habe. Das ist nicht die Schule in unserer Stadt, die wegen der (alternden) Bevölkerung das Budget für die Schule durch ihre Wahlentscheidungen immer weiter schrumpfen lässt, sondern die bessere Schule in der Nachbarstadt, nicht weit entfernt von der Grenze von Connecticut nach New York.

Da wir außerhalb des regulären Einzugsgebiets wohnen, können unsere Kinder nicht mit dem Schulbus fahren. Emily und ich fahren unsere Jungs morgens hin. Ich hole Miles jeden Tag in der Woche ab. Emily arbeitet freitags nur halbe Tage, sodass sie dann Nicky von der Schule abholen kann. Oft unternehmen wir freitags was Tolles mit den Jungs – wir gehen Burger essen oder spielen Minigolf. Ihr Haus ist nur zehn Minuten Fahrt entfernt von meinem. Wir sind praktisch Nachbarn.

Ich liebe es, bei Emily zu sein. Dort liegen wir auf ihrer Couch, wir reden und trinken Wein, während eine von uns immer mal wieder aufsteht und nach den Jungs sieht. Ich liebe es, wie sich ihre Hände bewegen, wenn sie redet, wie das Licht ihren wunderschönen Saphir-Diamant-Ring aufblitzen lässt. Wir reden viel über das Muttersein. Uns gehen die Themen nie aus. Es ist so aufregend, eine richtige Freundin zu haben, dass ich manchmal vergesse, wie einsam ich war, bevor wir uns kennenlernten.

Den Rest der Woche holt Emilys Nanny Alison, die in Teilzeit bei ihr arbeitet, Nicky nach der Schule ab. Emilys Mann Sean arbeitet oft bis spätabends an der Wall Street. Emily und Nicky haben Glück, wenn Sean es zum Abendessen nach Hause schafft. Wenn Alison sich mal krankmeldet, schreibt Emily mir und ich springe ein. Die Jungs hole ich dann erst mal zu mir, bis Emily nach Hause kommt.

Ungefähr einmal im Monat muss Emily länger bei der Arbeit bleiben. Und zweimal, vielleicht dreimal musste sie sogar über Nacht weg.

Wie dieses Mal. Bevor sie verschwand.

Emily arbeitet als PR-Managerin für einen berühmten Modedesigner in Manhattan, dessen Namen ich bisher auch lieber nicht genannt habe. Sie ist sogar die Leiterin der Presseabteilung für diesen sehr berühmten Designer. Ich achte bewusst darauf, keine Markennamen im Blog zu verwenden, weil ich Namedropping so unschön finde und weil das wenig vertrauenserweckend wirkt. Darum habe ich mich bisher auch standhaft geweigert, Werbung im Blog zu schalten.

Selbst wenn sie später kommt oder in einem Meeting sitzt, schreibt Emily mir alle paar Stunden eine Nachricht. Sie ruft sogar an, wenn sie mal eine Minute frei hat. So eine Mom ist sie, ohne zu helikoptern oder überall dabei sein zu wollen. Auf sie trifft keiner dieser negativen Ausdrücke zu, mit denen die Gesellschaft uns gerne dafür verurteilt, dass wir unsere Kinder lieben.

Wenn Emily aus der Stadt zurückkommt, fährt sie auf direktem Weg vom Bahnhof zu uns und holt Nicky ab. Ich muss sie dann immer daran erinnern, nicht das Tempolimit zu überschreiten. Wenn ihr Zug sich verspätet, schreibt sie mir auch das. Jedes Mal! An welchem Bahnhof der Zug ist, wann sie ankommt – bis ich irgendwann zurückschreibe: Keine Sorge, den Jungs geht’s gut. Du kommst hier an, wenn du eben hier ankommst. Gute Fahrt.

Es ist jetzt zwei Tage her, seit sie nicht hier aufgetaucht oder sich bei mir gemeldet hat. Sie reagiert auf keine meiner Nachrichten oder Anrufe. Irgendwas Schreckliches ist passiert. Sie ist verschwunden, und ich habe keine Ahnung, wo sie ist.

Ihr Moms, klingt Emily für euch wie eine Mutter, die ihr Kind im Stich lässt und zwei Tage lang einfach verschwindet, ohne sich zu melden? Wenn nichts passiert wäre? Im Ernst?

Okay, ich muss los. Ich fürchte, die Schokokekse im Ofen brennen gerade an. Mehr in Kürze.

Alles Liebe

Stephanie

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Stephanies Blog

Wo wir jetzt leben

Hi Moms!

Bis jetzt habe ich versucht, nicht den Ort zu nennen, in dem wir leben. Privatsphäre ist so wertvoll – und heutzutage hat man nur noch so wenig davon. Ich will jetzt gar nicht paranoid klingen, aber sogar in einer Stadt wie unserer könnten versteckte Kameras beobachten, welche Dosentomaten man kauft. Ganz besonders in unserer Stadt. Die Leute denken immer, es müsse eine reiche Stadt sein, weil sie in dem reichen Teil von Connecticut liegt, aber das ist gar nicht so. Emily und Sean haben Geld. Ich habe genug, um von dem zu leben, was mein Mann Davis mir hinterlassen hat. Noch ein Grund, warum ich meinen Blog nicht als Geschäft ausschlachten muss.

Aber weil Emilys Verschwinden alles ändert und weil jemand, der in unserer Nähe wohnen könnte, sie gesehen haben könnte und weil ich verzweifelt bin, muss ich wohl den Namen nennen. Es ist Warfield, Connecticut. Mit dem Pendlerzug ungefähr zwei Stunden von Manhattan entfernt.

Die Leute reden hier immer von den Vorstädten, aber ich bin in einer Vorstadt aufgewachsen und habe in der City gelebt. Hier fühlt es sich für mich eher nach Leben auf dem Land an. Ich habe ja schon darüber gebloggt, wie Davis mich förmlich aus der Stadt hierher zerren musste. Was habe ich um mich getreten und gezetert! Ich hatte Jahre damit verbracht, endlich aus den Vorstädten rauszukommen. Ich habe auch darüber gebloggt, wie ich mich in das Landleben verliebt habe, wie fantastisch es sich anfühlt, aufzuwachen, wenn die Sonne in das Haus im Kolonialstil hineinscheint, das Davis restauriert hat, ohne die Details aus der Zeit der Erbauer zu opfern. Wie ich es liebe, Tee zu trinken, während die Regenbogenmaschine (eine Art Prisma, das man ins Fenster hängt), die mein Bruder Chris uns zur Hochzeit geschenkt hat, die Küche in verschiedenste Farben taucht.

Miles und ich lieben das Leben hier. Besser gesagt: Ich habe es geliebt.

Bis heute. Denn ich bin wegen Emily so besorgt, dass jeder – die Mütter in der Schule, die nette Maureen im Postamt und die Jugendlichen, die meine Einkäufe im Supermarkt einpacken – irgendwie unheimlich auf mich wirkt. Wie in diesen Horrorfilmen, wenn jeder in der Stadt sich einem Kult angeschlossen hat oder zum Zombie geworden ist. Ich habe einige meiner Nachbarn gefragt – ganz beiläufig natürlich! –, ob sie Emily gesehen haben, und sie haben alle verneint. Habe ich mir das eingebildet, dass sie mich komisch angeschaut haben? Ihr Moms versteht sicher, wie verrückt mich das alles macht.

Verzeiht mir, Moms. Ich wurde abgelenkt und habe einfach vor mich hingeplappert, wie so oft.

Ich hätte das hier schon viel früher schreiben sollen!

Emily ist ungefähr eins siebzig groß. Sie hat blonde Haare mit dunkleren Strähnen (ich habe sie nie gefragt, ob sie echt sind) und dunkelbraune Augen. Sie wiegt ungefähr sechzig Kilo. Aber das ist nur eine Schätzung. Man fragt seine Freunde schließlich nicht: Wie groß bist du? Wie viel wiegst du? Obwohl ich weiß, dass manche Männer glauben, wir Frauen würden nie über etwas anderes reden. Sie ist 41, aber sie sieht wie 35 aus. Höchstens.

Sie hat ein dunkles Muttermal unter dem rechten Auge. Ich hatte es erst bemerkt, als sie mich fragte, ob sie es entfernen lassen sollte. Ich sagte Nein, weil es gut aussieht und Frauen am französischen Hof sich diese „Schönheitsflecken“ aufgemalt hatten (habe ich gelesen).

Emily trug immer ein Parfüm, das man durchaus als ihren unverkennbaren Duft bezeichnen kann. Sie sagte, es werde aus Flieder und Lilien gemacht, von italienischen Nonnen. Sie bestellt es in Florenz. Das liebe ich an Emily – diese eleganten, weltgewandten Sachen, die sie kennt und auf die ich niemals gekommen wäre.

Ich habe auch nie Parfüm getragen. Ich finde es immer ein bisschen abschreckend, wenn Frauen nach Blumen oder Gewürzen riechen. Was haben sie zu verbergen? Welche Botschaft senden sie damit aus? Aber ich mag Emilys Parfüm. Ich mag es, dass ich immer am Geruch erkenne, ob sie in der Nähe ist oder wann sie zuletzt in einem Raum war. Ich kann ihr Parfüm in Nickys Haaren riechen, wenn sie ihn fest an sich gedrückt und umarmt hat. Sie hat mir angeboten, es auch mal zu versuchen, doch das schien mir zu verrückt, fast schon zu intim, wenn wir beide wie gruselige Geruchszwillinge riechen.

Sie trägt immer den Goldring mit einem Saphir und Diamanten, den Sean ihr zur Verlobung geschenkt hat. Und weil sie ihre Hände viel bewegt, wenn sie redet, denke ich an diesen Ring immer wie an ein funkelndes Wesen mit einem Eigenleben. Wie Glöckchen, die vor Peter Pan und den verlorenen Jungs fliegt.

Emily hat außerdem ein Tattoo: eines dieser zarten Dornenkronen-Armbänder um das rechte Handgelenk. Das hat mich überrascht. Sie machte auf mich nicht den Eindruck wie eine der Frauen, die sich ein Tattoo stechen lassen – vor allem nicht so eins, das sie nur dann bedecken kann, wenn sie etwas Langärmeliges trägt. Zuerst dachte ich, es wäre so ein Ding aus der Modeindustrie. Aber als ich das Gefühl hatte, sie etwas besser zu kennen, fragte ich nach und Emily sagte: „Ach das. Das habe ich mir stechen lassen, als ich jung und wild war.“

Ich sagte: „Wir waren alle jung und wild. Aber das war einmal …“

Es fühlte sich gut an, etwas auszusprechen, das ich meinem Mann nie gesagt hätte. Wenn er mich gefragt hätte, was ich mit wild meine, und ich es ihm gesagt hätte, wäre das Leben, wie wir es kannten, zu Ende gewesen. Natürlich war dieses Leben sowieso irgendwann vorbei. Die Wahrheit findet immer einen Weg.

Wartet. Das Telefon klingelt! Vielleicht ist das Emily. Mehr in Kürze.

Alles Liebe

Stephanie

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Stephanies Blog

Kleine Gefallen

Hi Moms!

Das war nicht Emily am Telefon. Sondern ein automatisierter Werbeanruf. Angeblich habe ich eine Reise in die Karibik gewonnen.

Wo war ich? Ach ja, genau:

Letzten Sommer sonnten wir uns im Schwimmbad, während die Jungs im Babybecken planschten, als Emily sagte: „Ich bitte dich immer um Gefälligkeiten, Stephanie. Und ich bin so dankbar. Aber darf ich dich um noch einen Gefallen bitten? Kannst du auf Nicky aufpassen, damit Sean und ich wegfahren können? Es geht um das Wochenende von Seans Geburtstag, wir wollen zu der Hütte meiner Familie.“ Emily sprach immer von der „Hütte“, aber ich stelle mir das Ferienhaus ihrer Familie am Ufer eines Sees in Nordmichigan ein bisschen schicker vor als das. „Ich war überrascht, dass Sean damit einverstanden war, und ich will ihn darauf festnageln, bevor er seine Meinung ändert.“

Natürlich war ich einverstanden. Ich wusste, wie problematisch es für sie war, Sean aus dem Büro zu locken.

„Unter einer Bedingung“, sagte ich.

„Ich mache alles“, sagte sie. „Du brauchst es nur sagen.

„Kannst du mir Sonnenöl auf diese schwer zu erreichende Stelle am Rücken schmieren?“

„Gerne.“ Emily lachte. Als ich ihre kleine, kräftige Hand spürte, die das Öl in meine Haut rieb, erinnerte ich mich wieder, wie viel Spaß es mir in der Highschool gemacht hatte, mit meinen Freunden an den Strand zu gehen.

An dem Wochenende, an dem Emily und Sean weg waren, hatten Miles, Nicky und ich eine tolle Zeit. Der Pool, der Park, ein Film, dazu Burger und Gemüse vom Grill.

Emily und ich waren seit einem Jahr befreundet, als unsere Jungs sich in der Vorschule kennenlernten. Hier habt ihr ein Foto von ihr, das ich von ihr im Six Flags Freizeitpark gemacht habe. Darauf erkennt man sie aber leider nicht so gut. Es ist ein Selfie von uns vieren, den Jungs und ihren Müttern. Die Kinder habe ich unscharf gemacht. Ihr kennt ja meine Meinung darüber, ob man Bilder von den eigenen Kindern posten soll oder nicht.

Ich weiß nicht, was sie am Tag ihres Verschwindens trug, denn ich habe sie nicht gesehen, als sie Nicky in die Schule gebracht hat. Sie war an dem Tag etwas zu spät. Gewöhnlich kommen die Busse gleichzeitig an und alle steigen direkt aus. Die Lehrer haben dann viel zu tun; sie begrüßen die Kinder und führen sie ins Gebäude. Ich kann ihnen kaum einen Vorwurf machen, weil niemand bemerkt hat, was Emily an dem Tag getragen hat und ob sie wie gewohnt gut gelaunt war oder irgendwie besorgt wirkte.

Vermutlich sah Emily so aus wie immer, wenn sie ins Büro fährt: wie eine Managerin aus der Modebranche (sie bekommt die Designerklamotten mit einem üppigen Rabatt), die unterwegs ins Büro in der City ist. Sie hatte mich an dem Morgen früh angerufen.

„Bitte, Stephanie, ich brauche deine Hilfe. Wieder mal … Bei der Arbeit gibt es einen Notfall, und ich muss länger bleiben. Alison hat Vorlesung. Kannst du Nicky von der Schule holen? Ich sammle ihn dann abends bei dir ein, spätestens um neun.“

Ich weiß noch, wie ich mich fragte, was wohl in der Modebranche ein „Notfall“ war? Die Knopflöcher waren zu klein? Jemand hatte einen Reißverschluss verkehrt herum eingenäht?

Ich sagte: „Klar, ich tue dir gerne den Gefallen.“

Ein kleiner Gefallen. Die Art von Gefallen, wie wir Mütter sie einander ständig erfüllen. Die Jungs freuten sich bestimmt. Ich bin ziemlich sicher, dass ich Emily fragte, ob sie nicht lieber wollte, dass Nicky über Nacht blieb. Und ich bin ziemlich sicher, dass sie sich bedankte und sagte, das sei nicht nötig. Sie wollte ihn am Ende eines harten Tags sehen, selbst wenn er schon schlief.

Ich sammelte Nicky und Miles nach der Schule ein. Sie waren überglücklich! Sie mochten einander so sehr, auf eine welpenhafte Art, die typisch ist für kleine Jungs. Das ist allemal besser als bei Brüdern, die immer streiten.

Sie spielten brav im Zimmer meines Sohns und draußen auf den Schaukeln, wo ich sie vom Fenster aus beobachten konnte. Ich machte ihnen Abendessen. Es gab was Gesundes. Wie ihr wisst, bin ich Vegetarierin, aber Nicky aß nur Burger. Also habe ich Burger gemacht. Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich schon darüber gebloggt habe, wie ich versuche, das gute, gesunde Grünzeug mit dem auszugleichen, was sie viel lieber essen. Die Jungs diskutierten über einen Vorfall in der Schule. Ein Junge war zum Direktor geschickt worden, weil er der Lehrerin nicht zugehört hatte, obwohl ihm zuvor schon eine Auszeit verordnet worden war.

Es wurde spät. Emily rief nicht an. Was mir komisch vorkam. Ich schickte ihr eine Nachricht, und sie reagierte nicht darauf. Was noch viel komischer war.

Okay, sie hatte von einem Notfall gesprochen. Vielleicht war etwas in einer Fabrik in einem der Länder passiert, in denen die Kleidung produziert wurde. Ich habe den Eindruck, die Sachen werden von Billiglöhnern genäht, doch darüber verlor nie jemand ein Wort. Vielleicht war es erneut zu einem Skandal um ihren Boss Dennis gekommen, dessen diverse Drogeneskapaden ausführlich in den Klatschspalten abgehandelt worden waren. Emily musste dann vielleicht Schadensbegrenzung betreiben. Vielleicht war sie auch in einem Meeting und konnte nicht einfach verschwinden. Oder sie war irgendwo, wo es keinen Handyempfang gab. Vielleicht hatte sie auch das Ladegerät verloren?

Wenn ihr Emily kennen würdet, wüsstet ihr, wie unwahrscheinlich es ist, dass sie ihr Ladegerät verliert. Oder dass sie keinen Weg gefunden hätte, mich anzurufen und sich nach Nicky zu erkundigen.

Wir Mütter sind es so sehr gewohnt, miteinander in Kontakt zu stehen. Man weiß doch, wie es sich anfühlt, wenn man versucht, jemanden zu erreichen. Man ruft immer wieder an, schreibt Nachrichten und versucht zugleich, nicht schon wieder anzurufen oder Nachrichten zu schreiben, weil man genau das gerade getan hat.

Jedes Mal wurden meine Anrufe auf die Mailbox umgeleitet. Ich hörte Emilys „professionelle“ Stimme – lebhaft, forsch und geschäftig. „Hallo, Sie haben Emily Nelson erreicht. Bitte hinterlassen Sie eine kurze Nachricht und ich melde mich so bald wie möglich. Bis dann!“

„Emily, ich bin’s, Stephanie! Ruf mich zurück!“

Es war inzwischen Schlafenszeit für die Jungs, und Emily hatte immer noch nicht angerufen. Das war noch nie passiert. In meinem Bauch spürte ich das ängstliche Flattern von Schmetterlingen. Ich hatte echt Angst! Aber ich wollte die Kinder nicht beunruhigen, besonders nicht Nicky …

Ich kann nicht mehr schreiben, Moms. Ich bin zu aufgewühlt.

Alles Liebe

Stephanie

4

Stephanies Blog

Geister der Vergangenheit

Hi Moms!

Ihr erinnert euch bestimmt, wie oft ich darüber schrieb, Miles nicht mit ansehen zu lassen, wie sehr mich die Trauer niederdrückte, nachdem sein Dad Davis bei demselben Unfall ums Leben kam wie mein Bruder Chris.

Es war ein wunderbarer sommerlicher Samstagnachmittag. Davis verlor die Kontrolle über unseren alten Camaro, und sie prallten gegen einen Baum. In einer Minute hat sich unser ganzes Leben verändert.

Ich habe die beiden einzigen Männer verloren, die mir je etwas bedeutet haben – abgesehen von meinem Dad, der starb, als ich achtzehn war. Und Miles verlor seinen Vater und seinen geliebten Onkel.

Miles war damals erst zwei, aber er spürte meinen Kummer. Ich musste seinetwegen stark sein und durfte erst zusammenbrechen, wenn er schlief. Man könnte also sagen, dass ich gut darauf vorbereitet war, nicht auszuflippen oder die Jungs spüren zu lassen, wie besorgt ich wegen Emily war.

Nachdem ich die beiden ins Bett gesteckt hatte, genehmigte ich mir noch ein Glas Wein, um meine Nerven zu beruhigen. Am nächsten Morgen wachte ich mit Kopfschmerzen auf, doch ich verhielt mich so, als wäre alles in bester Ordnung. Ich zog die Jungs an. Es half, dass Nicky schon öfter bei uns übernachtet hatte, weshalb es nicht irgendwie komisch war. Nicky und Miles sind ungefähr gleich groß und so konnte Nicky was von Miles’ Sachen anziehen. Das war noch ein Hinweis darauf, dass Emily ursprünglich Nicky abholen wollte. Sie gab ihm immer Wechselklamotten mit, wenn er über Nacht bei uns blieb.

Emily hatte immer noch nicht zurückgerufen. Ich war inzwischen richtig in Panik. Meine Hände zitterten so heftig, dass ich die knusprigen Cheerios, die ich den Kindern in Schüsseln füllte, über den ganzen Tisch und den Fußboden verteilte. Ich glaube, so sehr habe ich Davis noch nie vermisst. Ich brauchte jemanden, der mir half, der mir etwas riet und mich beruhigte.

Ich beschloss, die Kinder zur Schule zu bringen, und wollte dann versuchen, mehr herauszufinden. Ich wusste nicht, wen ich anrufen konnte. Ich wusste, Sean – Emilys Mann und Nickys Dad – war irgendwo in Europa unterwegs, doch ich hatte seine Handynummer nicht.

Ich kann all die Mütter da draußen hören, die glauben, ich habe meine eigenen Regeln gebrochen. NIE DAS KIND VON ANDEREN ZUM SPIELEN DA HABEN, OHNE EINE ZUSÄTZLICHE KONTAKTADRESSE! Ich sollte die Nummern beider Eltern bei der Arbeit, mobil und zu Hause haben. Oder die Kontaktdaten eines nahen Verwandten oder jemandem, der medizinische Entscheidungen treffen darf. Dazu den Namen und die Telefonnummer vom Kinderarzt.

Ich hatte die Nummer von der Nanny Alison. Sie ist eine verantwortungsvolle Person. Ihr vertraue ich, obwohl ihr ja wisst, dass es mir Sorgen bereitet, wenn Kinder nur von Nannys großgezogen werden. Alison sagte mir, Emily habe ihr mitgeteilt, dass Nicky bei Miles übernachtete. Das war eine gute Nachricht! Ich fragte nicht, ob Emily sich über die Länge seines Aufenthalts geäußert habe. Es könnte so aussehen, als hätte ich nicht alles im Griff … Ihr wisst schon, wir Mütter können empfindlich reagieren, wenn wir nicht in jeder Hinsicht kompetent erscheinen.

Ihr glaubt bestimmt, ich bin nicht nur unverantwortlich, sondern verrückt, wenn ich euch erzähle, dass ich die Handynummer von Nickys Dad nicht hatte. Dafür gibt es wirklich keine Entschuldigung. Ich kann euch nur bitten, mich dafür nicht zu verurteilen.

Als ich die Kinder in der Schule absetzte, erzählte ich Mrs. Kerry, ihrer wunderbaren Vorschullehrerin, dass die beiden über Nacht bei mir gewesen waren. Ich hatte irgend so ein krass verrücktes Gefühl, dass Emily Schwierigkeiten bekommen könnte, wenn ich sagte, dass sie nicht nach Hause gekommen war und sich auch nicht gemeldet hatte. Als würde ich sie … ja, als würde ich sie verraten. Sie verpetzen, weil sie eine schlechte Mom war.

Ich sagte nur, ich könne Emily nicht erreichen, doch bestimmt sei alles in Ordnung. Wahrscheinlich war es nur ein Missverständnis, wie lange Nicky bei uns bleiben sollte. Aber ob die Schule mir nur für den Fall, dass ich sie nicht erreichte, die Nummer von seinem Dad geben könnte? Mrs. Kerry sagte, Emily habe erwähnt, dass ihr Mann geschäftlich für ein paar Wochen in London sei.

Miles’ Lehrer mögen mich. Sie lesen alle in meinem Blog und ihnen gefällt, wie positiv ich über die Schule berichte und wie oft ich ihnen Umarmungen und Küsse schicke, weil sie für unsere Kinder so großartige Arbeit leisten.

Mrs. Kerry gab mir Seans Nummer. Aber ich konnte über den Rand meines Telefons sehen, dass sie mich leicht misstrauisch beobachtete. Ich redete mir ein, dass ich paranoid war. Sie versuchte, nur besorgt zu wirken, aber nicht überbesorgt. Sie versuchte, sich kein Urteil zu bilden.

Ich fühlte mich mit Seans Nummer viel besser. Ich hätte ihn sofort anrufen sollen. Keine Ahnung, warum ich das nicht gemacht habe.

Ich rief stattdessen bei Emilys Arbeitgeber in New York an.

Dennis Nylon Inc. Da. Jetzt habe ich es gesagt. Für mich und viele von euch Moms ist Dennis Nylon das, was Dior oder Chanel für unsere Mütter waren. Ein unerreichbarer, unerschwinglicher, allmächtiger Modegott.

Ich habe den jungen Mann (jeder, der dort – abgesehen von Emily – arbeitet, ist praktisch noch ein Kind), der meinen Anruf entgegennahm, gebeten, mich mit Emily Nelsons Büro zu verbinden. Ihre Assistentin Valerie fragte mich zum ungefähr tausendsten Mal, wer ich denn bitte schön sei. Okay, ich habe verstanden. Valerie ist mir nie begegnet. Aber gibt es wirklich so viele Stephanies in ihrem Leben? Oder in Emilys Leben?

Ich sagte ihr, ich sei die Mutter von Nickys bestem Freund. Valerie sagte, es tue ihr leid, doch Emily sei im Moment nicht im Büro. Ich sagte ihr, nein, es tue mir leid. Nicky hatte bei mir letzte Nacht geschlafen, und Emily sei nicht gekommen, um ihn abzuholen. Gab es sonst jemanden, mit dem ich reden konnte? Ich stellte mir vor, dass jede Mom ihre eigene Valerie hatte. Eine Assistentin! Es gibt so vieles, das wir machen – und wir brauchen so oft Hilfe dabei!

Davis hatte zwei Assistenten – Evan und Anita. Talentierte, junge Designer. Manchmal habe ich das Gefühl, die Einzige auf der Welt ohne Assistentin zu sein. Das ist natürlich ein Scherz. Wir haben so viel mehr als die meisten Menschen. Trotzdem …

Ich spürte, dass irgendwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Valerie sagte, dass mich jemand zurückrufen würde. Aber niemand hat sich bei mir gemeldet.

Ich habe über die alberne, schmerzhafte Kluft geschrieben, die sich oft zwischen den Müttern mit Jobs und den Hausfrau-Müttern auftut. Ich habe es für mich behalten, aber ich bin immer schon ein klitzekleines bisschen eifersüchtig auf Emilys Karriere gewesen. So viel Glamour, Aufregung, dazu Klamotten quasi umsonst! Die geheimen Telefonnummern der Stars, die Modenschauen … All die coolen Sachen, die Emily macht, während ich zu Hause Erdnussbuttersandwiches schmiere und verschütteten Apfelsaft aufwische und blogge. Man darf zugleich nicht unterschätzen, wie glücklich und dankbar ich bin, inzwischen zu Tausenden Müttern weltweit sprechen zu können. Ich weiß außerdem, dass Emily eine Menge verpasst – und sei es nur das simple Rumalbern, das Miles und ich jeden Nachmittag genießen.

Aber niemand in Emilys Firma scheint sich allzu große Sorgen zu machen. Sie hat dort fast direkt nach dem College angefangen zu arbeiten. Dennis sollte sich an die Medien wenden und einen Aufruf starten, damit sie bald gefunden wird.

Entspann dich, Stephanie. Ganz ruhig. So lange ist sie noch nicht verschwunden.

Danke, ihr Lieben. Es tröstet mich zu wissen, dass ihr da draußen seid und das hier lest.

Alles Liebe

Stephanie

5

Stephanies Blog

Alles meine Schuld?

Hi Moms!

Ich bin eine typische Mom! Inzwischen habe ich mich fast davon überzeugt, dass dieses ganze Missverständnis allein meine Schuld ist. Emily muss mich gefragt haben, ob ich Nicky für ein paar Tage zu uns nehme und nicht nur für eine Nacht. Aber warum erinnere ich mich nicht daran, dass sie mich bat, ob Nicky bei uns übernachten kann, sondern dass sie ihn spätestens um neun wieder abholen würde?

Viele von euch haben in den Kommentaren schon erzählt, wie schwer es für Mütter ist, den Bezug zur Realität zu behalten. Welcher Tag ist heute, was wird von uns erwartet, was hat jemand gesagt oder nicht gesagt … Nichts ist leichter, als eine Mom davon zu überzeugen, dass irgendwas ihre Schuld ist. Selbst wenn das gar nicht stimmt. Erst recht, wenn es gar nicht stimmt.

Bis zum Nachmittag hatte ich mich so weit wieder im Griff, dass ich halb erwartete, Emily unter der großen Eiche in der Nähe des Schuleingangs vorzufinden, wie sie es immer freitags tat. Ich war so überzeugt davon, dass sie dort sein würde, dass ich mir für den Bruchteil einer Sekunde einbildete, sie zu sehen.

Es konnte nicht sie sein. Schließlich war Mittwoch. Mir wurde ganz bang ums Herz. Als ob man sein Kind überall sucht und während der Ewigkeit, die es braucht, um es zu finden, hat man das Gefühl, dass das Herz explodiert. Es gab eine Phase, als Miles es liebte, sich vor mir zu verstecken, und ich bin jedes Mal schier ausgeflippt …

Wartet. Ich habe einen Plan. Mehr in Kürze.

Alles Liebe

Stephanie

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Stephanies Blog

Ein Besuch bei Emily zu Hause

Hi Moms!

Normalerweise würde ich nicht zu Emily fahren, ohne vorher anzurufen. Ich habe es beim Festnetzanschluss probiert. Niemand ging dran. Emily hatte mir ihre Schlüssel mal gegeben und mich im Gegenzug um die von meinem Haus gebeten. Ich war so beeindruckt, weil es für mich so eine vernünftige, erwachsene und für Mütter typische Sache war. Außerdem bedeutete es, dass wir richtig gute Freundinnen waren. Wir konnten die Schlüssel im Notfall benutzen. Oder wenn wir einfach zu früh zu einer Spielverabredung kamen und die andere nicht zu Hause war. Und hier lag ein Notfall vor. Ich wollte nicht in Emilys Privatsphäre eindringen, aber ich musste mich davon überzeugen, dass sie nicht gestürzt war oder sich etwas angetan hatte oder krank war und meine Hilfe brauchte.

Ich konnte die Jungs nicht mitnehmen. Was, wenn ich etwas Schreckliches vorfand? Meine Fantasie ging mit mir durch. Ich stellte mir ihr Haus blutverschmiert vor, als hätte Charles Manson dort gewütet. Ich sah sie in einer Badewanne voller Blut vor mir.

Darum beschloss ich, bei Emily Halt zu machen, bevor ich die Jungs von der Schule abholte.

Schon als ich bei ihr in die Einfahrt bog, spürte ich die Gefahr und mich gruselte. Es regnete leicht; ein Wind schüttelte die Bäume, und ich hatte das Gefühl, als würden die Äste mich warnen. Geh nicht da rein. Geh nicht da rein. Nein, Scherz. Ich bin eine vernünftige Mom, ich höre nicht, wie die Bäume mit mir reden.

Ich fühlte mich jedenfalls deutlich besser, als ich den Wagen von Emilys Haushälterin Maricela in der Einfahrt entdeckte. Maricela sagte mir, sie sei bald fertig, was ich tröstend fand. Wenn Emily tot war oder irgendwo im Haus hilflos lag, wäre das Maricela mit Sicherheit aufgefallen.

Maricela ist ein Engel. Ich wünschte nur, sie könnte auch für Miles und mich arbeiten, aber wir können sie uns nicht leisten.

Sie erklärte: „Die Señora hat gesagt, sie wäre für vier Tage weg. Sie meinte, ich solle zum Putzen kommen und dann noch ein zweites Mal zum Blumengießen.“

Vier Tage! Was für eine Erleichterung!

„Haben Sie von ihr gehört?“

„Nein. Warum sollte ich?“, fragte Maricela herzig. „Señora, geht es Ihnen gut? Möchten Sie gerne was trinken? Was essen? Die Señora hat tolles Obst im Kühlschrank gelassen.“

Tolles Obst war ein gutes Zeichen. Emily wollte auf jeden Fall zurückkommen. Ich bat um ein Glas Wasser und Maricela holte es mir.

Es fühlte sich merkwürdig an, auf der Couch zu sitzen, auf der ich schon so viele Stunden mit Emily verbracht hatte. Ihr großes, bequemes Sofa fühlte sich plötzlich merkwürdig klumpig an, wie etwas, in dem man einfach versank und nie mehr herausklettern konnte. Wie eine Venusfliegenfallencouch. Ich überlegte, ob ich das Haus nach Hinweisen absuchen sollte.

Warum hatte Emily mir nicht gesagt, dass sie vier Tage lang weg sein würde? Und warum rief sie nicht zurück? Ich kannte meine Freundin. Etwas Schreckliches musste passiert sein.

In Emilys Haus zu sitzen, machte mich nur noch nervöser und ängstigte mich. Ich erwartete immer noch, dass sie jeden Moment hereinkam und fragte, was ich hier zu suchen hatte. Im ersten Moment wäre ich erleichtert und außer mir vor Freude, sie zu sehen. Und dann vielleicht schuldbewusst, obwohl sie mir genug Gründe geliefert hatte, bei ihr vorbeizufahren.

Wo ist sie? Mir war nach Weinen zumute wie einem kleinen Kind.

Ich schaute auf das Foto der Zwillinge über dem Kamin. Es gab in Emilys Haus so viele tolle Dinge: Perserteppiche, chinesische Vasen, Designstücke mit Kultstatus, Meisterwerke der modernen Möbelkunst der Jahrhundertmitte. Davis hätte ihr Haus geliebt, wenn er noch leben würde. Aber Emily hatte mir das Schwarzweißfoto der beiden Mädchen in ihren Partykleidern mit den Haarschleifen mal gezeigt, die so merkwürdig schön und zugleich quälend wirkten mit diesem halben Lächeln, als teilten sie ein geheimes Wissen.

Emily sagte: „Das Foto kostet mehr und ist für mich von größerem Wert als alles andere im Haus. Wenn ich dir erzähle, wie wir es bekommen haben, würde unser Freund in dem Auktionshaus mich umbringen. Was glaubst du, welcher von den Zwillingen der dominante ist?“

Es war für mich fast wie ein Déjà-vu oder die Erinnerung aus einem anderen Leben. Mein anderes Leben, als ich noch in der Stadt lebte und bei einer Zeitschrift arbeitete. Es war ein Magazin für Inneneinrichtung, das man im Supermarkt an der Kasse kaufen kann. Aber immerhin eine Zeitschrift mit Cover, Papier, Texten und Fotos. Ich hatte damals ein Leben, in dem ich Leute traf, die merkwürdige Meinungen vertraten und interessante Fragen stellten, die schöne, unerwartete Objekte in ihren Häusern stehen hatten. Leute, die über etwas anderes redeten als über die Frage, welche Kurse ihre Kinder am Nachmittag belegten und ob man sicher sein konnte, dass die Tomaten bio waren. Leute, die Spaß hatten!

„Ich weiß nicht“, antwortete ich. „Was glaubst du, welcher Zwilling ist es?“

Sie sagte: „Manchmal denke ich, es ist der eine, dann wieder der andere.“

„Vielleicht keiner von beiden“, sagte ich.

„Das kommt nie vor“, sagte sie. „Es gibt immer jemanden, der dominant ist. Sogar in Freundschaften.“

War Emily die dominierende Freundin? Ich habe zu ihr aufgeschaut, ich weiß …

Jetzt war meine Freundin verschwunden. Und da waren die Zwillinge, die mich immer noch mit ihren zarten, undurchdringlichen kleinen Gesichtern anblickten.

Das Wohnzimmer war perfekt. Natürlich, Maricela war schließlich hier. Auf dem Kaffeetisch – Davis hätte sofort gewusst, welches moderne Genie aus der Mitte des letzten Jahrhunderts ihn designt hatte – lag ein Taschenbuch. Ein Roman von Patricia Highsmith. Venedig kann sehr kalt sein. Aus den Seiten lugte ein Lesezeichen von unserer örtlichen Buchhandlung hervor. Das war der Moment, als mir etwas klar wurde – nicht blitzartig, sondern eher wie ein Flackern –, dass Emily verschwunden sein könnte. Sie hatte ihren Sohn bei mir gelassen und war fortgegangen. Menschen verschwanden. Das passierte immer wieder. Ihre Freunde und Nachbarn und Familienmitglieder sagen dann immer, sie hätten nichts bemerkt.

Ich beschloss, den Highsmith-Roman zu lesen, um vielleicht Informationen zu finden, die mir entgangen waren. Ich konnte aber nicht ihre Ausgabe mitnehmen. Wenn sie zurückkam, würde sie ärgerlich werden. Ich habe eine Ausgabe bestellt, falls die Bibliothek das Buch nicht vorrätig hat. Wenn ich nur entspannt und vernünftig bleiben könnte, klärte sich bestimmt alles und es würde sich als ein böser Traum erweisen. Ein Fehler, ein Missverständnis, über das Emily und ich später lachen konnten.

Maricela brachte mir Wasser in einem alten Glas mit Punkten. Das perfekte Glas. Selbst dieses Glas war typisch Emily!

„Trinken Sie“, sagte Maricela. „Danach fühlen Sie sich besser.“

Ich trank das kalte, klare Wasser. Doch ich fühlte mich nicht besser.

Ich bedankte mich bei Maricela und verließ das Haus. Draußen schaute ich wieder auf mein Handy. Keine Nachrichten oder E-Mails. Ich war sicher, dass Emily nicht zu denen gehörte, „die einfach gingen“. Irgendwas stimmte hier ganz und gar nicht.

Ich hätte die Polizei rufen sollen. Aber ich leugnete immer noch die Tatsachen und gab mir die Schuld, weil ich die Fakten durcheinandergebracht hatte. Weil ich glaubte, dass meine Freundin etwas gesagt hatte, das sie eben nicht gesagt hatte.

Seitdem hat mein Unterbewusstsein in den Turbogang geschaltet und vor meinem inneren Auge laufen Horrorfilme ab über Carjacking, Entführung, Mord, eine Leiche im Straßengraben, einen Schlag gegen den Kopf, der Emily nach einem Gedächtnisverlust umherstreifen lässt. Jemand hätte sie dann aber gefunden. Vielleicht bringt dieser Jemand sie bald nach Hause.

Und darum schreibe ich das alles hier. Wir haben doch alle schon mal von den Wundern gehört, über diese positiven Seiten des Internets. Das ist doch das Beste daran, wenn man ein soziales Netzwerk hat und bloggt! Darum bitte ich die Müttergemeinschaft: Haltet eure extrascharfen Augen offen! Wenn ihr eine Frau seht, die wie Emily aussieht – fragt sie, ob es ihr gut geht. Wenn ihr eine Frau seht, die Emily ähnelt, die verletzt scheint oder verwirrt, schreibt mir sofort eine Nachricht an die Telefonnummer, die unten auf der Seite steht.

Danke, liebe Moms!

Alles Liebe

Stephanie

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Stephanies Blog (am nächsten Tag)

Bei näherem Nachdenken … & ein Anruf bei Sean

Hi Moms!

Unruhiger Schlaf. Seltsame Träume. Als ich um sechs aufwachte, wusste ich nicht, was gerade falsch lief. Dann erinnerte ich mich an Emilys Verschwinden und an den Rest, und ich hatte Angst, auf mein Handy zu schauen. Ich hatte meine private Nummer preisgegeben und meine Leser gebeten, mir von jeder Frau zu berichten, die Emily ähnlich sieht, die – ehrlich gesagt – wie viele blonde, dünne, hübsche und vom Sport gestählte Moms aussieht. Ihr Tattoo und der Ring könnten den Personenkreis eingrenzen, aber viele Mütter haben Tattoos. Wer weiß schon, ob sie ihren Ring noch trägt? Was, wenn sie ausgeraubt wurde?

Gott sei Dank ist die Gemeinschaft der Mütter so vernünftig. Ich bekam nur zwei Nachrichten. Beide haben Emily an Orten gesichtet (einmal in Alaska, einmal im Norden von Schottland – schon erstaunlich, wo mein kleiner Blog überall gelesen wird!), die so weit weg sind, dass ich nicht wüsste, wie Emily dort in der (kurzen, wie ich mir immer wieder sage) Zeit, die seit ihrem Verschwinden vergangen ist, dort hingelangt sein könnte.

Ich habe sogar überlegt, meine Telefonnummer zu ändern, falls Tausende Mütter sich jetzt bei mir melden und versuchen, mir zu helfen. Aber auch wenn wir immer vorsichtig sein müssen, wem wir unsere persönlichen Daten anvertrauen, ist diese Nummer die einzige, die Emily von mir hat. Ich hoffe immer noch, dass sie anruft. Nicky und ich müssen sicher sein, dass sie sich bei uns melden kann.

Am zweiten Abend wurde Nicky beim Abendessen ganz zappelig. Das würde jedes andere Kind auch. Ich bin sicher, er hat auch meine Besorgnis gespürt. Bis zu diesem Zeitpunkt ist er noch nie zwei Nächte in Folge bei uns geblieben, mal abgesehen von dem Wochenende, an dem seine Eltern wegfuhren und wir alle eine tolle Zeit hatten und niemand nervös war. Jetzt begann Nicky mich zu fragen, wann seine Mom kam und ihn abholte. Er aß seinen vegetarischen Burger und musste sich direkt danach erbrechen. Ich streichelte seinen Kopf und erklärte ihm, dass seine Mom bald zurückkam und ich in der Zwischenzeit seinen Dad anrufen würde.

Es war sieben, als ich Sean in England anrief. Ich war so verzweifelt, dass ich dummerweise die Zeitverschiebung vergaß. Er klang ziemlich erledigt.

„Habe ich dich geweckt? Das tut mir leid!“ Warum entschuldigte ich mich überhaupt? Seine Frau wurde vermisst!

„Du hast mich nicht geweckt“, sagte er langsam. „Wer spricht da?“

Ich verspürte den merkwürdigen Drang zu kichern, denn ich habe mich immer schon gefragt, ob Sean diesen schicken britischen Akzent hatte, wenn man ihn aus dem Tiefschlaf riss. Hatte er.

„Emilys Freundin“, sagte ich. „Stephanie.“

„Stephanie“, wiederholte er. Offenbar hatte er keine Ahnung, wer ich war, obwohl er mich schon oft getroffen hatte. „Was gibt’s, Stephanie?“

„Ich will ja nicht unnötig Panik verbreiten“, sagte ich, „aber Emily hat Nicky bei mir gelassen, und ich habe mich gefragt … Nun ja, wo sie ist und wann sie wieder nach Hause kommt. Ich muss sie irgendwie falsch verstanden haben. Ich wusste nicht, dass Nicky länger bleiben würde …“

Ich konnte förmlich hören, wie sein Geduldsfaden riss.

„Sie ist beruflich unterwegs“, sagte er ruhig. „Also bleibt sie noch ein paar Tage weg.“ Er klang sehr klar und bestimmt.

„Oh“, sagte ich. „Das ist ja eine Erleichterung. Tut mir echt leid, dass ich dich gestört habe.“

„Kein Problem“, sagte er. „Und ruf jederzeit wieder an, wenn du mich brauchst … Stephanie.“

Erst nachdem wir aufgelegt hatten, ging mir auf, dass er sich gar nicht nach Nicky erkundigt hatte. Was für ein Vater war er, bitte schön? Was für ein Ehemann? Machte er sich nicht mal ein bisschen Sorgen um seine Frau? Aber warum sollte er – beide waren geschäftlich unterwegs. Das war ihr gemeinsames Leben. Glaubte ich denn wirklich, dass ein Ehepaar jeden Tag miteinander sprechen musste?

Außerdem hatte ich ihn geweckt. Viele Männer können halb wach bleiben, nachdem sie geweckt wurden. Ein Luxus, den alleinerziehende Mütter sich nicht leisten können.

Emily kam auch an diesem Abend nicht nach Hause. Ich rief Sean nicht noch mal an, und wieder tat ich so, als wäre alles in bester Ordnung. Ein ganz normaler Abend mit den Kindern. Nicky weinte immer mal wieder. Ich nahm die Jungs mit in mein Bett und ließ sie Cartoons schauen, bis es Schlafenszeit war. Die schlimmen Gedanken verbannte ich ganz weit nach hinten in meinem Verstand. Mütter lernen das irgendwann. Ich brauchte nur geduldig zu sein. Noch einen Tag abwarten. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten.

Am folgenden Abend, als Sean aus England zurückkam, war Emily immer noch nicht aufgetaucht. Er rief mich vom Flughafen an. Jetzt klang auch er nervös. Er brachte sein Gepäck nach Hause, wo er insgeheim vielleicht hoffte (oder fürchtete), Emily anzutreffen. Danach fuhr er direkt zu mir.

Sobald Nicky die Stimme seines Dads hörte, flog er förmlich aus Miles’ Zimmer in seine Arme. Er schlang die Arme um seinen Vater. Sean hob seinen Sohn hoch, küsste und umarmte ihn und drückte ihn an seine Brust.

Irgendwie verwandelte Seans Anwesenheit in meinem Haus und die Tatsache, dass er seinen verängstigten, tapferen kleinen Jungen im Arm hielt, eine schwer greifbare Furcht in Gewissheit.

Das hier ist real. Meine Freundin ist verschwunden.

Ihr Mütter überall, bitte helft uns!

Alles Liebe

Stephanie

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Stephanie

Jeder hat Geheimnisse, sagte meine Mutter gern. Nichts, was man einer Tochter sagt, von der du willst, dass sie zu einer psychisch gesunden Person heranwächst und mit anderen gesunden Leuten gesunde Beziehungen führt. Aber meine Mom hatte bestimmt ihre Gründe dafür.

Vier Tage nachdem mein Vater verstorben war, als ich achtzehn war, klopfte ein Fremder an unsere Tür. Meine Mutter schaute aus dem Fenster und sagte: „Sieh mal, Stephanie. Da ist dein Vater.“

Ich hatte schon vorher davon gehört, dass man vor Trauer verrückt wurde, doch Mom war absolut gesund. Natürlich brach ihr der Tod meines Vaters das Herz. Sie hatten einander so sehr geliebt. Zumindest soweit ich wusste.

Vielleicht glaubte keiner von uns wirklich daran, dass Dad fort war. Er war viel gereist, weshalb es uns einige Zeit, nachdem er auf dem Golfplatz in der Nähe unseres Hauses in einem hübschen Vorort von Cincinnati einen Herzanfall hatte, so vorkam, als sei er immer noch auf Geschäftsreise. Er war Führungskraft bei einem Pharmaunternehmen gewesen und nahm an vielen Konferenzen und Sitzungen überall im Land teil.

Jedenfalls, was meine Mutter tatsächlich meinte, war: „Sieh nur. Es ist dein Vater, als er vierundzwanzig war. In dem Jahr, als wir geheiratet haben.“

Ich schaute aus dem Fenster.

Der junge Mann vor unserer Tür war der Bräutigam auf dem Hochzeitsfoto meiner Eltern.

Obwohl ich ihn noch nie gesehen hatte, fühlte es sich an, als hätte ich ihn jeden Tag meines Lebens gesehen. Und das hatte ich ja auch. Ich hatte mit ihm gelebt, nur hatte er in dem Bilderrahmen auf dem eingestaubten Klavier gestanden.

Der einzige Unterschied war, dass der Fremde Jeans und eine Jeansjacke statt des weißen Smokings trug, und seine dunklen Haare waren modisch geschnitten und nicht im Stil von Elvis aus dem Gesicht gekämmt, wie es mein Vater am Hochzeitstag getan hatte.

Meine Mutter sagte: „Bitte ihn herein.“ Er sah so gut aus, dass ich nicht aufhören konnte, ihn anzustarren. Mein Dad war gut aussehend gewesen, bevor die Reisen, das exzessive Trinken und das Essen an den Flughäfen ihm zusetzten.

Zu dem jungen Mann sagte Mom: „Bleiben Sie so stehen. Sagen Sie nichts.“ Sie holte das Hochzeitsfoto vom Klavier und gab es ihm. Er starrte auf das Foto und schien schockiert zu sein. Dann lachte er laut. Wir alle lachten.

Er sagte: „Ich nehme an, den DNA-Test können wir uns sparen.“

Sein Name war Chris. Er lebte in Madison, Wisconsin. Mein Dad war auch sein Vater. Sie sahen sich alle sechs Monate; mein Vater legte seine Reisen so, dass er einen Abstecher nach Wisconsin machen und dort seine andere Familie besuchen konnte: Chris’ Mom und Chris.

Chris hatte den Nachruf auf meinen Vater in der Onlineausgabe unserer Lokalzeitung entdeckt. Er hatte einen Google-Alert eingestellt. Bei mir drängte sich der Gedanke auf, dass er (armer Kerl!) seinen Dad ständig im Auge behalten wollte. Seinen Dad. Seine Mutter war ein Jahr zuvor an Herzversagen gestorben. Natürlich wurde Chris in Dads Nachruf nicht erwähnt. Aber wir. Und wir standen im Telefonbuch – genauer gesagt, mein Dad.

Die Tatsache, dass dieser heiße Typ mein Halbbruder war, musste ich erst mal begreifen. Ich erwartete immer noch, dass er mir erklärte, er sei ein entfernter Cousin, der zufällig meinem Dad ähnelte.

Es gab noch ein merkwürdiges Detail, das ich erwähnen sollte. Zu diesem Zeitpunkt sah ich fast genauso aus wie meine Mutter, als sie in meinem Alter war. (Ich ähnele ihr noch heute, aber nicht mehr so sehr wie damals.) Ich sah aus wie sie auf dem Hochzeitsfoto, und mein neu entdeckter Bruder Chris sah aus wie mein – unser! – Dad. Und da waren wir, das glückliche Brautpaar, direkt vom Hochzeitskuchen gesprungen. Zwanzig Jahre später geklont und wieder zum Leben erweckt. Was soll ich sagen? Es war richtig heiß.

Ich trug Jeans und ein T-Shirt, doch ich war mir bewusst, dass ich mich so hielt wie meine Mom in ihrem Hochzeitskleid – die Ellbogen an meine Seiten gedrückt, die Hände vor der Brust verschränkt wie die Pfoten von Streifenhörnchen. Als ich mich zwang, die Arme zu senken und wie eine normale Person zu stehen, bemerkte ich, dass Chris auf meine Brüste starrte.

Hatte meine Mutter die Wahrheit geahnt? Hat sie deshalb immer davon gesprochen, dass jeder Geheimnisse hatte? Diese Frage stellte ich mir nie bewusst, erst recht nicht, nachdem Chris in unser Leben getreten war.

Sie lud Chris ein, sich zu uns an den Küchentisch zu setzen, und servierte ihm einen Teller mit Schnittchen, die von der Beerdigung meines Dads noch übrig waren. Wir hatten viel zu viel bestellt, und obwohl der Schock über Dads Tod durch den Schock dieser Begegnung mit einem brandneuen Bruder überlagert wurde, ließ allein die physische Anwesenheit von Chris, der auf Dads Platz saß und in aller Ruhe Mortadella aß, die Situation fast normal erscheinen. Fast richtig.

Meine Mutter sagte: „Es tut uns so leid, Chris, dass wir dich nicht zur Beerdigung eingeladen haben!“

Warum entschuldigte Mom sich? Weil sie das immer tat, wie es von allen Frauen erwartet wurde. Alles ist immer unsere Schuld! Obwohl Mom mir leidtat, wollte ich auch, dass sie den Mund hielt.

„Warum sollten Sie?“, fragte Chris. „Sie wussten doch nichts über mich.“

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