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Isoliert

Ein einsames Haus auf einer menschenleeren Insel vor der schwedischen Küste. Sechs Menschen kämpfen um einen Platz im inneren Zirkel der Partei. Doch einer von ihnen ist ein Spion - Anna Francis. Ihre Aufgabe ist es, ihren eigenen Tod zu inszenieren und danach die Testpersonen aus dem Verborgenen zu beobachten und zu bewerten. Doch plötzlich stirbt die einzige Eingeweihte. Und dann der erste Kandidat … Anna steht vor einer einsamen Entscheidung: Aus dem sicheren Versteck den Täter ermitteln oder mit den anderen gegen die Gefahr kämpfen?

Isoliert ist ein paranoider, gut konstruierter Thriller, der in seiner Art an Agatha Christies Klassiker "Und dann gab's keine mehr" erinnert. - Sydsvenskan

Unberechenbar und perfekt - Dagens Nyheter

Ein superdurchdachter Krimistoff, der perfekt niedergeschrieben wurde. Von dieser Autorin wünscht man sich noch tolle Nachfolgebücher. - Magazin Köllefornia

Eine lohnende, überaus spannende und unterhaltsame Lektüre, für alle, die sich entscheiden müssen im Leben, einfach mitzuspielen oder doch den eigenen Weg zu gehen. - Die Rheinpfalz


  • Erscheinungstag: 01.12.2017
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677189
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Ich sah ihn an. Es gab so vieles, was ich ihn gern fragen wollte, so vieles, was ich ihm sagen wollte, aber irgendwie wusste ich, dass dazu keine Zeit war und dass alles ohnedies nicht von Belang war.

„Bist du glücklich hier?“, fragte ich ihn schließlich.

Er überlegte einen Moment. „Nicht besonders“, sagte er. „Aber du bist auch nicht sehr glücklich da, wo du bist.“

Die geheime Geschichte, Donna Tartt

„Das ist ein Betrugsmanöver für zwei Leute“, sagte Shadow. „Das ist überhaupt kein Krieg, hab ich recht?“

American Gods, Neil Gaiman

PSFU Protektorat Schweden im Verbund der Freundschaftsunion

Siehe auch: Schweden, Svearike

Das Protektorat Schweden im Verbund der Freundschaftsunion, kurz auch nur Protektorat Schweden[6], ist ein Land im Verbund der Freundschaftsunion, dessen völkerrechtlicher Status umstritten ist. Während 107 der 193 Staaten der Vereinten Nationen, darunter auch die USA, das Land anerkennen, wird seine Souveränität von den übrigen Protektoraten der Freundschaftsunion infrage gestellt.[7][8][3][glaubwürdige Quelle?]

Der erste Schritt hin zur Freundschaftsunion wurde nach dem Mauerputsch 1989 und den sich daran anschließenden Unruhen unternommen. Seit 1992 unterliegen sowohl Schweden als auch Finnland dem damals verhängten Ausnahmezustand und sind Mitglied der Schutzallianz. Dieser schloss sich später auch Norwegen an. Am 17. Februar 1995 erklärte das Parlament des Protektorats Schweden Letzteres zu einem vollwertigen Mitglied der Freundschaftsunion. Der Westblock hat diese Erklärung nicht ratifiziert, und viele Länder der Vereinten Nationen betrachten das Protektorat Schweden weiter als souveränen Staat. Es besitzt de facto wie de jure Kontrolle über sein gesamtes Territorium, unterliegt jedoch zugleich der Gerichtsbarkeit der Freundschaftsunion, welche über der jeweils lokal geltenden Gesetzgebung steht.[9] Der Internationale Gerichtshof in Den Haag sieht in der Eingliederung in die Freundschaftsunion keinen Verstoß gegen international geltendes Recht.[10][11][12][13]

Das Protektorat Schweden ist nicht länger Mitglied der Vereinten Nationen und hat die damalige Europäische Gemeinschaft noch vor deren Auflösung verlassen.[14]

Das Protektorat Schweden grenzt im Osten an das Protektorat Finnland im Verbund der Freundschaftsunion, im Westen an das Protektorat Norwegen und im Süden an Dänemark. Die Grenze nach Dänemark wurde 1992 geschlossen. Die Hauptstadt des Protektorats Schweden ist Stockholm.

Internationale Enzyklopädie 2016

Stockholm,

Protektorat Schweden,

Mai 2037

Sie sollten die Sache zu zweit durchziehen. Er sollte die Verhöre führen, sie ihm assistieren. Für den Anfang jedenfalls. Später würde sie dann übernehmen. Diese Taktik hatten sie schon viele Male angewandt, und in der Regel brachte ihnen dieses kleine Überraschungsmoment einen Vorteil. Die meisten waren nämlich voreingenommen, sie gingen davon aus, dass er hier das Kommando hatte und sie ihm nur zur Hand ging, dass alle Kompetenz bei ihm lag und sie nur eine Untergebene war, eine Assistentin vielleicht oder seine Sekretärin. Doch das war sie mitnichten. In Wirklichkeit war sie diejenige, vor der man Angst haben musste.

Sie waren ein eingespieltes Team, und mit den Jahren hatten sie gelernt, ihr Vorgehen aufeinander abzustimmen. Der eine hart und offiziell, die andere warm und freundlich. Dann tauschten sie plötzlich die Rollen, mitten im Verhör, teils um ihr Gegenüber zu verwirren, teils weil sie es konnten. Doch am Ende war fast immer sie es, die den Widerstand der Verhörten schließlich brach.

Sie musste lächeln bei dem Gedanken, wie gut sie ihren Job erledigte, außerdem hatte sie direkt vor Aufgang 302 eine freie Parklücke entdeckt. Sie riss das Lenkrad herum, touchierte beim Einscheren um ein Haar das Auto auf dem benachbarten Parkplatz und kam leicht schräg zum Stehen. Daher setzte sie wieder zurück und parkte erneut ein, diesmal perfekt, genau in der Mitte des markierten Feldes. Dann nahm sie ihre Tasche vom Beifahrersitz, stieg mit Schwung aus dem Wagen und ging auf hohen Absätzen zum Fahrstuhl. Dort hielt sie ihren Ausweis vor die Kamera, die ihre Identität bestätigte. Es ärgerte sie, dass selbst sie, eine der engsten Vertrauten, sich derartigen Kontrollen unterziehen musste. Doch, hatte es geheißen, gleiche Regeln für alle. Sogar der Vorsitzende musste sich mit seinem Identitätsnachweis vor die Kameralinse beugen, zum Beweis, dass er auch tatsächlich er war. Zumindest hatte er ihr das so erzählt. Er wollte unbedingt als ein Teil des Teams auftreten, obwohl alle wussten, er war es nicht. Genau genommen, überlegte sie, während der Fahrstuhl durch die Etagen zu ihr heruntersauste, konnte sie nicht einmal mit Sicherheit sagen, wer überhaupt zum „Team“ gehörte. Immerhin hatte sie ein gutes Verhältnis zu ihrem direkten Kollegen, das war das Wichtigste. Und sie hatte Vertrauen in den Vorsitzenden, auch wenn sie ihn deshalb noch nicht lange kannte. Aber das musste reichen. Mehr konnte sie nicht erwarten.

Sie trat durch die sich öffnenden Fahrstuhltüren, die sich hinter ihr sofort wieder mit einem Geräusch schlossen, als würde sämtliche Luft aus dem Fahrstuhl gesaugt. Dann fuhr der Lift mit ihr nach oben. In seinem Inneren herrschte eine seltsame Atmosphäre der Schwerelosigkeit, und sie hatte kaum das Gefühl, sich überhaupt zu bewegen, doch als die Fahrstuhltüren kurz darauf wieder aufglitten, stand sie hoch oben im Gebäude. Unten vor den Fenstern lag die Stadt, im Hintergrund der Hafen, dahinter zeichneten sich die Schären ab und schließlich das offene Meer. Der Gedanke, dass der Horizont nur eine optische Täuschung war, dass er keine tatsächliche Grenze markierte, sondern lediglich die Begrenzungen des menschlichen Auges aufzeigte, war beruhigend und beängstigend zugleich. Dort draußen kann viel passieren, dachte sie. Doch früher oder später wird es an Land gespült. Treibgut, das an einen Strand geschwemmt wird und dort mit der Zeit verrottet. Wie der Inhalt ihrer Aktentasche. Ihr Job bestand darin, dieses Treibgut zu beseitigen. Ihr Job und seiner. Das hatten sie schon viele Male getan, und trotzdem verspürte sie bei dem Gedanken an das, was sie heute erwartete, ein unruhiges Ziehen im Magen.

Als sie in den Umkleideraum kam, war er bereits da und schloss gerade die letzten Knöpfe seiner Uniform. „Ah, wie ich sehe, hast du deine Glücksschuhe an“, sagte er mit einem schiefen Lächeln. Sie schlüpfte aus den schwarzen Pumps mit den roten Sohlen und stellte sie in ihren Spind. Teure Importschuhe, die ihre Schwester ihr aus dem Ausland geschickt hatte. Es mochte albern sein, aber sie bildete sich ein, dass ihr die Farbe Rot Glück brachte. In anderen Dingen war sie nicht abergläubisch, doch nun hatte sie bei wichtigen Vorhaben schon so viele Jahre etwas Rotes am Körper getragen, dass sie es nicht mehr wagte, darauf zu verzichten. Es kam ihr jedes Mal aufs Neue unnötig vor, das Schicksal ausgerechnet in dieser Situation herauszufordern. Dafür war einfach nie der richtige Zeitpunkt.

„Tut gut, sie zu sehen“, fuhr er fort. „Heute können wir ein bisschen positive Energie gebrauchen. Auch wenn wir mit der Hauptperson selbst gar nicht sprechen werden.“

Sie blickte ihn an. In ihr regte sich erneut Unruhe, diesmal jedoch heftiger. „Anna Francis? Ist sie noch immer … indisponiert? Oder wie soll man ihren Zustand nennen?“

Er zuckte mit den Achseln. „Ich weiß es nicht. Keine Ahnung, wie sie es bezeichnen. Aber egal, offenbar sollen wir trotz allem schon mal loslegen. Ich warte vor der Tür.“

Er schlug die Hacken zusammen, deutete zum Scherz einen Militärgruß an, was er sich nur erlauben konnte, wenn sie beide unter sich waren, und verließ den Umkleideraum. Sie zog Rock und Blazer aus und nahm ihre Uniform aus dem Spind. Eigentlich war es lächerlich, sich für die Fahrt zur Arbeit extra so in Schale zu werfen, noch dazu mit importierter Markenkleidung vom Schwarzmarkt, nur um sich vor Ort sofort wieder umzuziehen, doch das gab ihr das Gefühl, ein Mensch zu sein. Eine solche Haltung war zwar nicht unbedingt erwünscht, aber solange sie nicht allzu viel Aufhebens darum machte, konnte sie sich das in ihrer Position leisten. Jedenfalls glaubte sie das, und bisher hatte sich noch niemand über ihren teuren Kleidungsstil beschwert.

Sobald sie in ihre dunkelblaue Uniform geschlüpft war, erfüllte sie nur noch eine Funktion in einem System, dessen Ausmaße sie nicht erfassen konnte. Sie wusste lediglich, dass es funktionierte. Meistens jedenfalls und teilweise auch dank ihr und ihrem Kollegen. Sie beide waren das Antivirusprogramm des Computers. Sie behoben Fehler und beseitigten Störfaktoren.

Rasch schloss sie die letzten Knöpfe ihrer Uniformjacke, ging zum Spiegel und schnitt eine missmutige Grimasse. Ihr jüngster Sohn kam noch immer jede Nacht hartnäckig zu ihr ins Bett gekrochen, und er lag nie still. Genauso gut könnte sie neben einem am Bratspieß rotierenden Grillhähnchen schlafen. Wie schon so häufig war sie auch diese Nacht wieder irgendwann in den frühen Morgenstunden aufgestanden und hatte sich resigniert in das kleine Kinderbett gelegt, aus dem ihre Waden herausragten. Dort war sie für eine weitere Stunde in einen unruhigen Schlaf gefallen, bis ihr Wecker klingelte und es an der Zeit war aufzustehen.

Sie rieb sich fest über die Wangen, um die Müdigkeit aus ihrem Gesicht zu vertreiben, nahm ein Haargummi zur Hand und band sich das schwarzbraune Haar mit ein paar geübten Bewegungen zu einem strammen Pferdeschwanz zusammen. Dann befeuchtete sie ihre Hände unter dem Wasserhahn und bändigte ein paar graue Haare, die nicht am Kopf anliegen wollten. Der Frühling ließ dieses Jahr ungewöhnlich lange auf sich warten, überlegte sie beim Anblick ihres bleichen Gesichts im Spiegel, und es war bereits Wochen her, seitdem die Sonne sich ihnen zuletzt gezeigt hatte. Sie dachte an ihre drei Wochen Urlaub im Sommer und ob sie es wohl dieses Jahr zur Blaubeerzeit in das kleine Ferienhaus schaffen würden, das sie für gewöhnlich von der Behörde mieteten, oder ob es am Ende wieder nicht klappte. Denn auf den Sommer war kein Verlass. Und auf den Urlaub genauso wenig. Letztes Jahr waren gerade vier Tage möglich gewesen. „Interne Probleme“, die gelöst werden mussten. Aber so war das eben, dachte sie. Damit musste man in diesem Job rechnen. Sie nahm die Aktentasche in die Hand und verließ den Umkleideraum.

Er wartete vor der Tür auf sie, und gemeinsam gingen sie durch den Korridor auf die Gittertür zu. Dort wurden sie von einem Wachmann gründlich durchsucht, doch als dieser auch in ihre Aktentasche sehen wollte, legte sie die Hand auf den Verschluss.

„Die darf nicht geöffnet werden. Schauen Sie auf Ihrer Liste nach.“ Der Wachmann ging in sein Büro und ergriff ein schwarzes Funkgerät. Durch das schalldichte Glas konnte sie sehen, wie seine Lippen sich bewegten. Dann nickte er, wohl weil er die nötige Auskunft erhalten hatte, trat wieder aus seinem Büro und deutete mit einem erneuten Nicken auf die Schleuse. „Bitte sehr.“

Vor ihnen glitten die Türen auseinander und hinter ihnen sofort wieder zu. Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Farbe der Lampe oben in der Ecke von Rot auf Grün sprang und sich das nächste Türenpaar öffnete. Diesen Moment, wenn sie eingesperrt dort in der Schleuse standen, hasste sie jedes Mal aufs Neue. Sie fühlte sich dann immer wie eine Gefangene. Als bestünde zwischen ihr und denen dort vorn überhaupt kein Unterschied.

Der dahintergelegene Korridor war schlecht ausgeleuchtet. Die Abstände zwischen den Leuchtstoffröhren an der Decke waren zu groß, und die Menschen bewegten sich abwechselnd durch Schatten und das von oben kommende, bleiche Licht. Sie sahen alle wie Tote aus. Die Geräusche waren gedämpft, ihre Schritte kaum zu hören. Er ging vor ihr her, sie folgte ihm dicht auf den Fersen. Bei einer Luke in der Wand hielten sie an. Er klopfte mit dem Knöchel gegen die Glasscheibe, und als dahinter ein unwirscher älterer Mann auftauchte, schob er ein Blatt Papier darunter hindurch. Daraufhin kam der Mann mit einem großen Schlüsselbund in der Hand heraus und ging ohne ein Wort den Korridor hinunter. Sie folgten ihm. Er schloss eine schwere Stahltür zu ihrer Rechten auf und ließ sie in einen weiteren Korridor treten. Dort war es noch dunkler. Auf der linken Seite befanden sich Fenster, hinter denen Menschen in kubusförmigen Warteräumen saßen. Einige lasen, andere blickten beunruhigt in Richtung der Glasscheiben. Sie wusste jedoch, dass man nicht zu ihnen heraussehen konnte, es handelte sich um Polizeispiegel.

Der Wachmann blieb stehen. Sie waren am Ziel. Er schloss eine letzte Tür auf und ließ sie in den sparsam möblierten Raum treten. Ein Tisch in der Mitte, mit einem Stuhl auf dessen einer Seite und zwei auf der anderen. Eine Wasserkaraffe und ein paar Plastikbecher. Daneben ein großes Tonbandgerät und ein schwarzes Telefon.

„Geben Sie uns ein paar Minuten, dann können Sie den Ersten hereinbringen“, sagte er zu dem Wachmann, der die Tür mit einem Nicken hinter sich schloss. Sie stellte die Aktentasche auf den Tisch und zog die große Mappe mit Fotos, Karten und unzähligen weiteren Dokumenten heraus. Auf der Vorderseite der Mappe prangte ein großer roter Stempel mit den Worten STRENG GEHEIM, und darunter stand:

SOR 234:397

Klasse 3

Bericht über die Vorfälle auf

ISOLA

Sie sah zu ihrem Kollegen, der mit gerunzelter Stirn in der Mappe blätterte. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben, und das sah ihm sonst nicht ähnlich. Sie hatte ihn schon häufig wütend erlebt, auch verärgert, müde, gelangweilt, frustriert oder enttäuscht, aber noch nie ängstlich. Deshalb fragte sie sich, wie viel er wusste. Ob er mehr wusste als sie. Und falls ja, was genau. Prüfend blickte sie ihn an. Als er bemerkte, dass sie ihn beobachtete, setzte er eine neutrale Miene auf, klappte die Mappe zu und legte sie vor sich auf den Tisch. „Ich hoffe inständig, deine roten Sohlen wirken, heute können wir ein bisschen Glück verdammt gut gebrauchen“, sagte er halb zu ihr, halb zu sich selbst, während er sich auf seinem Stuhl niederließ.

„Und Anna Francis wird nicht anwesend sein? Bist du sicher?“ Sie musste ihm die Frage einfach noch einmal stellen, um sich zu vergewissern.

Er sah sie an. „Nein, oder zumindest hat man mir das gesagt. Hast du etwas Gegenteiliges gehört?“

Sie schüttelte den Kopf. Doch sie war lange genug dabei, um zu wissen, dass das nichts Gutes bedeutete. Sie wollte noch etwas sagen, nahm jedoch stattdessen die Mappe vom Tisch und steckte sie zurück in die Aktentasche, die sie neben sich auf den Fußboden stellte. Gerade als sie ihn fragen wollte, ob er wisse, wo Anna Francis sich derzeit aufhalte und ob mit ihr alles in Ordnung sei, schwang die Tür auf.

Anna

Es ist schon erstaunlich, was uns dazu veranlassen kann, einen anderen Menschen wirklich wahrzunehmen, ihn wahrhaftig zu sehen. Denn jemanden wahrhaftig zu sehen, bedeutet zugleich, sich die eigene Verliebtheit einzugestehen, nämlich in dem Moment, in dem man diesen anderen Menschen plötzlich erblickt, auf der gegenüberliegenden Seite eines Raumes, so als würde man ihn zum allerersten Mal wirklich sehen. Als ich Henry Fall zum ersten Mal wirklich sah, hatten wir schon eine ganze Weile zusammen in derselben Abteilung gearbeitet, und das Merkwürdige war, dass es sich eigentlich nur um eine ganz kleine Geste handelte, die meine Aufmerksamkeit auf ihn lenkte.

Unser Chef, ein junger Mann mit großen Ambitionen, von dem es hieß, er sei genau der Richtige, um „die allgemeine Effizienz zu steigern“, hatte zu sich nach Hause eingeladen. Unsere gesamte Abteilung war anwesend, es herrschte eine etwas unbehagliche und leicht befangene Atmosphäre, und alle hatten sich ein wenig feiner herausgeputzt, die Frauen sich stärker geschminkt als sonst, und statt der üblichen alten Kaffeebecher hielten alle schlanke Gläser in der Hand. Viele trugen nagelneue, noch etwas steife Kleidung. Aus dem Kragen der Abteilungssekretärin, einer älteren Dame mit helmartiger Frisur, sah ich im Nacken ein Preisschild herausragen. Vielleicht steckte die Quittung ja noch in ihrer Brieftasche, weil sie am darauffolgenden Tag versuchen wollte, die Bluse zurückzugeben. Und ihre Coupons zurückzubekommen. Ich konnte sie vor mir sehen, wie sie, das Kleidungsstück in einer miefigen Plastiktüte, mit der Quittung in der Hand an der Kasse stand und wortreich die Qualität, die Größe oder einen Saum beanstandete. Dazu das müde, zu stark geschminkte Gesicht der Verkäuferin. Vermutlich wäre unsere Abteilungssekretärin mit ihrer Reklamation erfolgreich.

Vor dem eigentlichen Abendessen, für das in einem geräumigen Wohnzimmer mit Blick auf die Bucht eingedeckt war, wurde Rotkäppchen-Sekt von einem üppig mit Flaschen bestückten, verchromten Servierwagen ausgeschenkt. Es ärgerte mich maßlos, dass sich ein Jungspund wie unser Chef eine derartige Luxuswohnung in einem der neuen Hochhäuser draußen auf Lidingö leisten konnte, inklusive Aussicht über die Halbinsel Karlsudd mit ihren exklusiven Villen und den Militärstützpunkt auf Tynningö. Vermutlich hatte er einflussreiche Verwandte (was wiederum eine willkommene Erklärung dafür böte, wie er an seinen Chefposten gelangt war).

Henry hielt sich, wie gewöhnlich, ein wenig abseits einer Gesprächsrunde. Doch plötzlich beobachtete ich, wie er ohne Umschweife nach einer Flasche teurem Cognac griff, sein Glas vollschenkte, es in großen Schlucken leer trank und es anschließend stillschweigend auf dem Wagen abstellte, als wäre nichts passiert. Ein solches Gebaren wirkte eigentlich nicht unbedingt sympathisch, und bei jedem anderen Menschen hätte ich es sogar als besorgniserregend empfunden, als einen latenten Hinweis auf Alkoholismus, Nervosität, Schwäche oder mangelnde Erziehung. Doch bei einem derart kontrollierten Menschen wie Henry sprach es für etwas gänzlich anderes: eine Art Lebenshunger. Als ich sah, wie Henry den Cognac hinunterkippte, kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass er möglicherweise nicht derjenige war, für den ich ihn gehalten hatte, und er mir womöglich gefährlich werden konnte. Und nachdem ich einmal damit begonnen hatte, Henry zu beobachten, fielen mir noch weitere Dinge an ihm auf. Es war wie beim Pfifferlinge sammeln. Zuerst sah man überhaupt keine, dann ein paar, und auf einmal war der ganze Boden davon übersät. Als Zweites fiel mir Henrys Lachen auf. Er war ein Mann, der lachte. Das mag nicht besonders bemerkenswert klingen, doch die meisten Männer lachen nicht. Sie lächeln, glucksen oder räuspern sich eventuell verlegen, ein echtes Lachen hört man jedoch nie. Henry hingegen lachte, und zwar lauthals und hemmungslos, was eigentlich nicht zu seinem sonst so zurückhaltenden Auftreten passte.

Je länger wir zusammenarbeiteten, desto öfter ertappte ich mich bei dem Versuch, ihm genau dieses Lachen zu entlocken, nur um zu sehen, wie er völlig verausgabt über seinem Schreibtisch hing oder sich mit Tränen in den Augen gegen die Lehne seines Bürostuhls warf und seine regelmäßigen, weißen Zähne zeigte. Denn noch etwas Drittes war mir aufgefallen: Er hatte ungewöhnlich schöne Zähne.

Eigentlich war Henry ein recht durchschnittlicher Mann. Er erledigte seine Arbeitsaufgaben mit Eifer und fast schon übertriebener Gründlichkeit, allerdings auch mit einem Mangel an Originalität. Er ging keine Risiken ein, war weder verschlossen noch besonders gesprächig und erzählte nie von sich selbst, es sei denn, man stellte ihm eine konkrete Frage. Dann antwortete er höflich und knapp. Was er am Wochenende unternommen hatte, wie ihm der neueste Film gefiel, wohin er in den Urlaub fahren würde. Er beantwortete immer nur die ihm gestellte Frage, nicht mehr und nicht weniger. Anschließend lenkte er das Gespräch häufig auf sein Gegenüber, was jedoch weniger mit einem dezidierten Interesse zu tun zu haben schien, als vielmehr mit Höflichkeit, möglicherweise aber auch damit, dass er auf diese Weise nicht über sich selbst sprechen musste, wie ich mit der Zeit zu vermuten begann. Wenn Kollegen ihn zu Geburtstagen, Grillfesten oder auf ein Feierabendbier einluden, lehnte er fast immer ab, höflich und aus absolut nachvollziehbaren Gründen. Seine Tante feiere Geburtstag, er habe die Waschküche reserviert oder würde verreisen. Leider, leider. Beim nächsten Mal jedoch gern. Er war ein Mann, der andere in Ruhe ihre Arbeit machen ließ, und dementsprechend wurde auch er in Ruhe gelassen. In unserer Abteilung herrschte einstimmig die Meinung, dass Henry Fall ein netter Kerl war, kam er aber einmal nicht zur Arbeit, fiel es keinem auf. Nachdem ich allerdings damit begonnen hatte, ihn zu beobachten, wurde mir klar, dass seine freundliche Distanz, diese geradezu demonstrative Zurückhaltung, kein Zufall war. Im Gegenteil, sie war von ihm beabsichtigt.

Auch sein Äußeres verriet nichts besonders Bemerkenswertes über ihn. Er sah aus wie ein Junge aus der Vorstadt, der mit gepflegten Rasen und hinter weißen Zäunen aufgewachsen war. Dazu Mannschaftssport und Sammelbilder, Sommerlager mit den Pionieren. Henry war nicht größer als der Durchschnitt, doch er hatte die breiten Schultern eines Mannes, der in seiner Jugend viel Sport getrieben, dies aber später nicht weiterverfolgt hatte. Man konnte ihn nicht als übergewichtig bezeichnen, aber auch nicht unbedingt als schlank. Freundliche Augen, braune Haare. Er ging zu selten zum Friseur, seine Wangen hingegen waren jeden Morgen tadellos rasiert. Auf seinem bleichen Nasenrücken deuteten sich feine Sommersprossen an, ob seine Haut in der Sommersonne jedoch braun oder eher rot wurde, ließ sich nur schwer einschätzen. Im Winter ging er stets mit Mütze und Handschuhen. Und manchmal hatte er bunte Strümpfe mit Comicfiguren darauf an. Gut möglich, dass er zudem einen Wichtelschlips besaß, diesen jedoch nie trug. Seine Stimme klang beherrscht und leicht kratzig. Henry Fall kam einem wie ein entfernter Nachbar oder ein Freund aus Kindertagen vor, jedenfalls wie jemand, dem man schon einmal begegnet war, ohne so recht zu wissen, wo. Er war ein Mann, der aus der Menge nicht weiter herausstach. Hätte ich nicht mitbekommen, wie er den Cognac in sich hineinkippte, wäre er mir wahrscheinlich nie wirklich aufgefallen.

Ich begann, Informationen über ihn zu sammeln, das Wenige, was über ihn zu erfahren war. Er erwähnte nie irgendwelche Kinder, auch keine Ehefrau oder Freundin, weshalb ich davon ausging, dass er alleine lebte. Einmal sah ich ihn abends zusammen mit einer Frau, die nicht bei uns in der Abteilung arbeitete, auf dem Bahnsteig stehen. Mit ihrem gleichmäßigen schokoladenbraunen Pagenschnitt und dem mit einem Pelzkragen besetzten Mantel war sie von einer Schönheit, die an alten Adel erinnerte. Als sie lachte, legte sie ihm die Hand in einer Weise auf den Arm, die mich annehmen ließ, dass die beiden möglicherweise ein Paar oder doch zumindest schon miteinander im Bett gewesen waren. Ich versuchte sie mir zusammen vorzustellen, beim leidenschaftlichen Sex auf zerwühlten Laken, doch das Bild wollte sich nicht einstellen. Der Gedanke an Henry ohne seine kontrollierte Ruhe brachte mich nur in Verlegenheit, und trotzdem ließ er mich nicht mehr los. Bei der Arbeit starrte ich auffällig oft auf Henrys Hände, und in meiner Einsamkeit versuchte ich, sie mir auf meinem Körper vorzustellen. Doch schon allein mir eine Situation auszumalen, in der sich etwas Derartiges ereignen könnte, erwies sich als schlichtweg unmöglich, und statt erregt fühlte ich mich am Ende bloß wie der letzte Idiot. Es war einfach zu absurd. Trotzdem ging mir die Vorstellung nicht mehr aus dem Kopf.

Einige Zeit nachdem ich ihn den Cognac hatte trinken sehen, wurden wir zufällig demselben Projekt zugeteilt. Nichts Außergewöhnliches, nur einer jener Standardaufträge, wie sie eben erledigt werden mussten. Doch kaum hatten wir unsere Zusammenarbeit begonnen, stellten wir etwas fest, das wohl uns beide überraschte: Wir waren ein gutes Gespann. Was zunächst nach den eintönigsten und langweiligsten Arbeitsaufgaben aussah, wurde mit einem Mal spannend, und im Laufe der Wochen blieben wir immer häufiger als Letzte im Büro, wo wir uns in eifrige Diskussionen über Details vertieften, die keinen außer uns interessierten. Wir verstanden uns intuitiv, was unser Zusammensein so angenehm machte. Ich ertappte mich dabei, wie ich mich auf diese Abende zu freuen begann, wenn alle anderen längst zu Hause waren und das Großraumbüro im Dunkeln lag, bis auf unsere kleine, von einer Leuchtstoffröhre erhellte Insel. Dort saßen wir dann beisammen mit unseren Kaffeebechern, Papierstapeln und den in Plastikfolie eingewickelten Saure-Gurken-Sandwiches, die wir an einem Automaten im Korridor kauften. In diesen Momenten schien Henry aus seinem Schneckenhaus herauszukommen und menschlichere Züge anzunehmen, die Ärmel seines Hemdes bis über die Ellenbogen hochgerollt und die Haare völlig zerzaust, nachdem er wiederholte Male und offenbar unbewusst mit der Hand hindurchgefahren war.

Das Projekt brachte unserer Abteilung schließlich sogar eine Nominierung für die beste Arbeit im Ministerialdienst innerhalb unseres Fachbereichs ein, der Preis ging jedoch an eine andere Abteilung, und ich verlor kaum mehr einen Gedanken daran. Für mich war die Entdeckung Henrys der große, unerwartete Gewinn. Doch als Henry mir tags darauf am Kaffeeautomaten begegnete, erkannte ich, dass er mit dem Ergebnis alles andere als zufrieden war. Bei der Erwähnung des Preises zog er ein verbissenes Gesicht, und seine Antwort fiel kurz und scharf aus. Auf seine so beherrschte und korrekte Art machte ihn diese Niederlage rasend. In dem Moment begriff ich, dass Henry, all seinem bescheidenen Auftreten zum Trotz, ein Mensch war, der den Wettbewerb liebte.

Ein paar Tage später wurden wir von unserem jungen Chef zum Abendessen eingeladen, der die Gelegenheit zum Anlass nehmen wollte, uns seine Wertschätzung für unsere herausragende Arbeit auszudrücken, auch wenn wir den Preis nun doch nicht gewonnen hatten. „Für mich als Chef sind trotz allem Sie die Sieger“, hatte in seinem wöchentlichen Rundbrief gestanden, in dem er den Restaurantbesuch ankündigte. Vermutlich hatte er den Satz direkt aus dem vom Ministerium gestellten Handbuch für Führungskräfte entnommen.

Das Abendessen wurde in einem der renommiertesten Restaurants der Stadt eingenommen, das bekannt dafür war, stets frische Import-Ananas auf der Karte zu führen und von den Stromausfällen nur äußerst selten betroffen zu sein. Im Gegenzug waren die Speisen dort fantasielos und teuer und die Kellner schnodderig. Ich saß neben Henry und empfand ein gewisses Unbehagen dabei, in Gesellschaft anderer mit ihm zusammen zu sein, fast als würden wir allein durch die Tatsache, dass wir hier saßen und verlegen auf dieses Projekt anstießen, das ja doch keinen Preis gewonnen hatte, etwas Privates über uns verraten. Aus diesem Grund bekam ich auch nicht mit, wie viele Male die steifen Kellner mein Glas wieder neu auffüllten. Nach der Hälfte des Abendessens merkte ich, dass ich betrunken war. Henry beantwortete meine zunehmend unzusammenhängenden und persönlichen Fragen freundlich, aber distanziert, und in einem gänzlich anderen Ton als dem, der sich während unserer zweisamen Abende im Büro zwischen uns entwickelt hatte. Es schien, als wollte er auf höfliche Art wieder eine Distanz zu mir herstellen, und anstatt sich mit mir zu unterhalten, verbrachte er den größten Teil des Abends damit, einen Kollegen über die Vor- und Nachteile der Anlage eines Komposthaufens auf dem eigenen Grundstück auszufragen.

Bereits im Taxi nach Hause machte sich Angst in mir breit, das bedrückende Gefühl, mich in irgendeiner Weise blamiert zu haben, ohne so recht zu wissen, womit. Draußen vor dem Fenster eilten vereinzelte Nachtschwärmer heimwärts oder den Boulevard der in Freundschaft Vereinten Völker entlang, während Schneeflocken ihren Rücken nachjagten. Ich gab dem Taxifahrer ein viel zu großzügiges Trinkgeld, ging ins Haus, schloss die Wohnungstür auf und streifte mir im Flur die Schuhe ab. Meine Kleider ließ ich mitten im Wohnzimmer auf den Boden fallen und rollte mich auf dem Bett zusammen. Übelkeit stieg kalt und sauer in mir auf, und ich hatte das Gefühl, mein Bett würde ungebremst durch einen unsichtbaren Tunnel rasen. Ich drehte mich auf den Rücken und versuchte, einen Punkt an der Decke zu fixieren, bis ich irgendwann einfach wegdämmerte. Und da träumte ich von Henry. Wir lagen in Unterwäsche miteinander im Bett, in einem großen weißen Raum mit flatternden Vorhängen vor einem blinden Fenster. Es bestand kein Zweifel, dass wir uns küssen würden, doch es kam immer etwas dazwischen. Die Zeit dehnte sich aus, dann zog sie sich wieder zusammen. Plötzlich war im Nebenzimmer eine große Party im Gange. Leute kamen auf der Suche nach irgendwelchen Dingen zu uns herein, Henry ging hinaus und suchte ebenfalls nach irgendetwas, kehrte wieder zu mir zurück und erhob sich sofort aufs Neue. „Gleich“, dachte ich in meinem Traum, „gleich wird er mich küssen.“ Als ich vom Klingeln meines Weckers erwachte, hatte ich zunächst keine Ahnung, wo ich mich befand, doch sowie mir bewusst wurde, dass ich in meinem eigenen Bett lag, wäre ich am liebsten sofort wieder zurück in meinen Traum geflüchtet.

Meine morgendlichen Tätigkeiten verrichtete ich wie umnebelt, ich duschte, putzte mir die Zähne und zog mich an, ohne von meinem Tun auch nur die geringste Notiz zu nehmen. Jede einzelne Zelle meines Körpers schien bereit zur Flucht. In der S-Bahn zur Arbeit saß ich mit leicht zusammengekrümmtem Oberkörper da, als hätte mir jemand einen Schlag in den Magen versetzt. Tatsächlich litt ich unter einem Kater wie auch dem beängstigenden Gefühl, mir nicht hundertprozentig sicher sein zu können, was ich am Vorabend zu wem gesagt hatte. Und während ich hinaus auf die grauen Vororte starrte, die auf dem Weg in die Ministerialstadt vor meinem Zugfenster vorbeirauschten, und dabei minutiös jedes Wort und jede Handlung durchging, an die ich mich vom gestrigen Abend noch erinnern konnte, wurde mir erstmals in vollem Umfang klar, dass ich mich wohl in Henry verliebt hatte.

Einige Wochen später rief mein Chef mich überraschend zu sich ins Büro und bat darum, ein, wie er es nannte, Dream-Team zusammenzustellen. Wir sollten taktische Studien und Kalkulationen im Vorfeld einer möglichen Hilfsmission im Protektorat Kysylkum anstellen, einem Gebiet an der Grenze zwischen Turkmenistan und Usbekistan, das seit dem Zweiten Kalten Krieg Anfang der 2000er-Jahre in den Verantwortungsbereich der Freundschaftsunion fiel. Je mehr er berichtete, desto hoffnungsloser erschien mir das ganze Vorhaben. In seiner etwas diffusen Schilderung klang schon das eigentliche Hilfsprojekt nahezu undurchführbar, und auf Grundlage seiner vagen Vorgaben und des streng begrenzten Budgets eine solide Berechnung von Arbeitsaufwand, Material und benötigtem Personal anzustellen, kam mir mindestens ebenso schwierig vor. Doch irgendetwas in seiner Rede ließ meine Knie vor Spannung zittern. Was aber weniger am tatsächlichen Inhalt seiner Worte lag als vielmehr an dem Gefühl, dass ich hier vielleicht ausnahmsweise einmal etwas würde ausrichten können, das wirklich von Bedeutung war. Etwas Gutes. Der Auftrag würde einiges an mühseliger Schreibtischarbeit an diversen Rechenapparaturen erfordern sowie die Koordination mehrerer für ihre schlechte Organisation bekannter Abteilungen in den betreffenden Behörden, und die Zeit, die uns dafür zur Verfügung stand, war äußerst knapp bemessen. Alles in allem handelte es sich also um eine schier unmögliche Aufgabe, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass irgendwo tief unten, unter all den Schichten bürokratischer Hürden, eine echte Chance aufschimmerte. Daher beschloss ich zuzusagen, und nachdem ich mich versichert hatte, dass ich bei der Wahl meiner Mitarbeiter tatsächlich völlig freie Hand haben würde, genoss ich in vollen Zügen die überraschte Miene meines Chefs, als ich seinen Auftrag annahm.

„Solange nur Sie selbst mit von der Partie sind“, erwiderte er und schüttelte mir mit erstauntem Blick die Hand. Offenbar hatte er mit einer anderen Reaktion meinerseits gerechnet, möglicherweise mit Wut, weil er mich offensichtlich, und noch dazu so unverhohlen, aufs Abstellgleis schieben wollte. Mit mehr Rückfragen zumindest, mehr Widerstand.

Nachdem das Treffen beendet war, ging ich als Erstes in unsere Büroräume zurück und hielt nach Henry Ausschau. Nach dem Abschluss unseres gemeinsamen Projekts hatten wir noch ein paarmal zusammen zu Mittag gegessen, doch wir schienen unsere geheime Sprache verloren zu haben, seitdem wir nicht mehr miteinander arbeiteten. Deshalb freute ich mich über diesen perfekten Vorwand, unsere Allianz vielleicht wieder zu neuem Leben erwecken zu können. Ich entdeckte ihn im Korridor, und als ich ihn in die Cafeteria schleppte und ihm von dem Auftrag zu erzählen begann, sah ich auch in seinen Augen etwas aufleuchten. Wie sich herausstellte, hatte er während seiner Jahre beim Militär den Umgang mit genau jener Art von Kalkulationsprogrammen gelernt, die wir für unsere Studie benötigen würden, und passte somit perfekt in die Projektgruppe. Wir unterhielten uns lange darüber, wie wir die Aufgabe anpacken könnten, wer aus der Abteilung sonst noch infrage käme und wie das Projekt rein zeitlich und logistisch angelegt werden sollte. Und mit einem Mal schienen wir wieder zurück in unserer Blase zu sein. Als wir uns am Abend voneinander verabschiedeten, fühlte ich mich erleichtert, zum ersten Mal war ich mir absolut sicher, dass zwischen Henry und mir tatsächlich ein Band existierte, wie auch immer dieses beschaffen sein mochte, und dass wir beide es spüren konnten.

Als ich am nächsten Tag zur Arbeit kam, fand ich eine E-Mail von Henry vor, die er noch spät am vorigen Abend verfasst hatte und in der er mir in kurzen Worten mitteilte, dass er trotz allem doch nicht an dem Projekt mitwirken könne, da er seine Kenntnisse auf dem gefragten Gebiet als allzu oberflächlich und unzureichend einschätze. Er schrieb:

Aus diesem Grund muss ich mich leider aus dem Projekt zurückziehen, und ich hoffe, dass Dir dies nun nicht noch zusätzlich Umstände bereitet.

Herzliche Grüße.

Die Nachricht war in einem förmlichen Ton gehalten, wie von einem Fremden, der freundlich, aber bestimmt ein Zeitungsabonnement ablehnte.

Etwa eine Stunde später kam unsere Abteilungssekretärin in unsere Büroräume und teilte uns mit, Henry habe einen grippalen Infekt und werde heute zu Hause bleiben. Tags darauf kam er wieder zur Arbeit, erwähnte jedoch weder das Projekt noch seine seltsam distanzierte und abweisende E-Mail auch nur mit einer Silbe. Er behandelte mich aber weiterhin höflich und korrekt.

Einen Monat später beendete er seine Arbeit in unserer Abteilung und trat eine Stelle in dem weit entfernt gelegenen F-Block an, als Abteilungsleiter eines Evaluationsprogramms für Rehabilitationsmaßnahmen. An seinem letzten Tag verabschiedeten wir uns mit einer flüchtigen und äußerst hölzernen Umarmung sowie der losen Verabredung zu einem gemeinsamen Mittagessen irgendwann einmal in der Zukunft. Woraus allerdings nie etwas wurde, da er sich nicht meldete. Einige Male sah ich ihn noch aus der Ferne an der S-Bahn-Haltestelle stehen, sprach jedoch nie mit ihm.

Bis sich unsere Wege auf Isola wieder kreuzten.

Das Projekt, für das Henry seine Teilnahme abgesagt hatte, wurde – trotz aller Hürden und völlig wider Erwarten – ein Erfolg. Irgendwie, wahrscheinlich in erster Linie, weil ich es meinem verhassten Chef (und vermutlich auch Henry) hatte beweisen wollen, war es mir gelungen, die Sache innerhalb des zeitlichen und finanziellen Rahmens sowie mit dem gewünschten Resultat durchzuführen. Im Anschluss wurden ein Teil meines Teams und ich nach Kysylkum geschickt, wo wir dafür sorgen sollten, dass alles wie geplant vonstattenging, wenn die eigentliche Hilfsarbeit anlief. Anfangs war nur diese eine Reise vorgesehen, aber dann wurden wir ein ums andere Mal darum gebeten, erneut und für immer längere Zeiträume dorthin zurückzukehren, und ehe ich mich versah, leitete ich das Hilfsprojekt vor Ort selbst und koordinierte die Zusammenarbeit mit den militärischen Einsatzkräften.

Als die Auseinandersetzungen zwischen den Klans eskalierten, sich die Sicherheitslage verschärfte und die Unruhen sich auf die gesamte Region ausweiteten, waren wir plötzlich die Einzigen vor Ort, die noch humanitäre Hilfe leisten konnten. Das Militär zeigte natürlich weiterhin Präsenz, doch die Lokalbevölkerung hatte aus gutem Grund vor ihm Angst. Also kamen die Menschen zu uns, und statt Chefin einer Hilfsstation war ich auf einmal Leiterin eines von Tag zu Tag anwachsenden Flüchtlingslagers, eine Aufgabe, von der ich leider keinerlei Ahnung hatte. Keine meiner bisherigen Tätigkeiten hatte mich in irgendeiner Weise hierauf vorbereitet, auf diesen enormen Ansturm verzweifelter Menschen, denen nichts geblieben war außer den Kleidern an ihrem Leib. Die versprochene Verstärkung traf zunächst nicht ein, und als sie endlich kam, waren die Hilfsmittel derart unzureichend, dass man sie nur als Hohn bezeichnen konnte.

Mein mangelndes Wissen sowie alle sonstigen Unzulänglichkeiten versuchte ich zu kompensieren, indem ich so viel und so hart arbeitete wie nur irgend möglich. Anfangs ganze Tag lang und irgendwann auch nachts. Und es funktionierte. Es war, als hätte ich in meinem Inneren ein verborgenes Konto entdeckt, auf dem riesige und bislang unangetastete Summen lagerten. Ich tat Dinge, zu denen ich mich früher nie im Leben imstande gefühlt hätte, belastete mein inneres Konto ein ums andere Mal, doch welchen Preis ich dafür bezahlen musste, wurde mir erst danach klar, als es längst zu spät war. In den entscheidenden Momenten blieb keine Zeit für derartige Überlegungen. Da zählte nur das Resultat. Also arbeiteten wir unermüdlich weiter, ohne uns auch nur umzusehen, und als wir irgendwann wieder aufblickten, stellten wir überrascht fest, dass wir in den weit entfernten Augen anderer zu so etwas wie Helden geworden waren. Journalisten kamen zu uns nach Kysylkum gereist, machten Fotos, stellten Fragen und kehrten in ihren sicheren Transportmitteln wieder nach Hause zurück. Auf dem unzuverlässigen Postweg erreichten uns von Zeit zu Zeit Sendungen mit Zeitungsausschnitten, in denen wir unsere eigenen Großtaten nachlesen konnten, was uns unwirklich und absurd vorkam, angesichts der Tatsache, dass wir bis zu den Knien im Schlamm standen und den Menschen zu erklären versuchten, warum es nichts zu essen gab oder wir ihnen nicht von dort weghelfen konnten. Doch so ging es in einem fort. Wir erhielten Auszeichnungen und erfuhren Aufmerksamkeit in den Medien. Mein junger Chef wurde in eine andere Abteilung befördert, und mein eigener Bekanntheitsgrad nahm zu. Und jedes Mal, wenn ich nach Hause kam, wurde es schlimmer. Man lud mich zu Fernseh- und Radiosendungen ein, anfangs noch in meiner Eigenschaft als Kysylkum-Expertin, doch bald verlagerte sich das Interesse zunehmend auf meine Person. Eines der großen staatlichen Nachrichtenportale ernannte mich zu einer „Heldin der Union“. Ich sollte mit Promi-Köchen im Fernsehen auftreten, mir mein Wohnzimmer von gefeierten Innenarchitekten mit grauenhaftem Geschmack umgestalten lassen, bei großen Galas und Parteiveranstaltungen medienwirksam in vorderster Reihe sitzen und über rote Teppiche schreiten. Natürlich lehnte ich sämtliche Anfragen dankend ab. Die Vorstellung, dass alle Welt mich kennen könnte, flößte mir Angst ein, und ich empfand die Rückkehr ins Katastrophengebiet jedes Mal wieder als eine Erleichterung, so merkwürdig das auch klingen mag.

Irgendwann lief die Sache allerdings aus dem Ruder. Zwangsläufig und aus den verschiedensten Gründen. Und als es schließlich krachte, krachte es ordentlich. Ich bekam die Order, meine Mission zu beenden, und zwei Jahre nachdem ich zum ersten Mal in die Gegend gekommen war, verließ ich Kysylkum für immer.

Bei meiner Rückkehr in die Heimat befand ich mich in einem denkbar schlechten Zustand. Den ersten Monat verbrachte ich in der geschlossenen Abteilung des Veteranenkrankenhauses, um wieder zu Kräften zu kommen. Danach wurde ich auf andere, auf meinen Fall spezialisierte Stationen verlegt, und irgendwann wurde ich endgültig entlassen und durfte nach Hause gehen, zurück zu meiner Familie und meinem Schreibtischjob im Ministerium.

Dies war der Moment, in dem mich die Traurigkeit, die Scham und das Gefühl der Sinnlosigkeit überfielen. Denn nun war ich also wieder hier, in meinem sicheren Land, in meinem komfortablen Heim mit dem gefüllten Kühlschrank. Die Menschen in Kysylkum jedoch waren immer noch dort, und ich hatte sie im Stich gelassen, in so vielerlei Hinsicht.

Mir fiel ein Buch wieder ein, das ich vor langer Zeit gelesen hatte, in dem es darum ging, dass Menschen, die eine Katastrophe miterlebt hatten, häufig von schrecklichen Schuldgefühlen heimgesucht wurden, weil sie selbst überlebt hatten. Damals war mir das noch abwegig vorgekommen, doch jetzt, angesichts meiner Zeit in Kysylkum, klang es mit einem Mal absolut einleuchtend. Ich hatte das Gefühl, gar kein Anrecht auf diese Ruhe zu haben. Oder lag die Schuld am Ende womöglich doch bei mir?

Als ich unmittelbar nach meiner Rückkehr im Krankenhaus lag, wollte ich nichts als schlafen, doch nachdem ich irgendwann sämtliche Phasen der Rehabilitation durchlaufen hatte und wieder in den Alltag entlassen worden war, schlief ich zusehends schlechter. Kysylkum steckte mir noch immer in den Knochen. Ich kam mir vor wie ein Grubenarbeiter, der den Kohlenstaub nicht mehr von seinen Händen bekam. Die Angst und das Gefühl der Unsicherheit waren ein Teil von mir geworden. Die nächtliche Kälte, die Anspannung, das Geflüster aus dem Schlafsaal, die Explosionen in der Nacht, mal in weiter Ferne, mal ganz nah. Ich hörte die Ratten umherhuschen und wie die Menschen sich bewegten, ich zog vor Kälte bibbernd meine dünne Armeedecke über mich, dabei lag ich unter einem warmen Federbett allein in meiner Wohnung. Häufig fand ich mich nachts auf dem Sofa vor dem Fernseher hockend wieder, wo vor meinem starren, leeren Blick irgendwelche Sendungen über gefährliche Tiere, Kriege oder uralte Verbrechen vorbeiflimmerten. Alte Wochenschauen in Schwarz-Weiß und dahinplätschernde Dokumentationen, die zu Zeiten gezeigt wurden, zu denen normale Menschen schliefen. Meist blieb ich dort bis in die Dämmerung sitzen, wenn die Morgenzeitung mit einem Klappern durch den Briefschlitz fiel. Ein Geräusch, das ich gleichermaßen fürchtete wie begrüßte, war es doch das untrügliche Signal dafür, dass nun auch diese Nacht verloren war, ich also offiziell ein weiteres Mal versagt hatte und mich endlich noch einmal für ein paar Stunden hinlegen konnte, bis mich das Klingeln des Weckers zu einem weiteren Tag aus meinem traumlosen Schlaf reißen würde.

Siri wohnte auch in der Folgezeit bei Nour. Das war zunächst nicht weiter merkwürdig, gleichzeitig aber irgendwie doch. Bereits bei Siris Geburt hatte Nour mich überrascht, indem sie Dinge tat, die ich sie während meiner eigenen Kindheit nie hatte tun sehen. Ihr erstes Geschenk an Siri war ein Kleidchen gewesen, das aussah wie eine Torte für eine Oligarchenhochzeit, wie ein gigantischer Berg aus rosa-weißer Zuckerwatte, mit Rüschen kreuz und quer. Als ich es auf links drehte, fiel mir auf, dass man es nur chemisch reinigen konnte, als ich Nour aber auf diese Unsinnigkeit hinwies, einen Säugling in ein Kleidchen zu stecken, das nicht waschmaschinentauglich war, warf sie entnervt den Kopf zurück. „Diese zimperliche Haltung solltest du endlich mal ablegen, Anna“, erwiderte sie und nahm einen tiefen Zug an ihrem Zigarillo, den sie sich allen Verbotsschildern zum Trotz auf der Entbindungsstation angesteckt hatte. „Lass dem Mädchen seine hübschen Kleider, das hat noch keine umgebracht.“ Das war ein ziemlich starkes Stück aus dem Mund einer Person, die ihrer eigenen Tochter die Haare mit der Küchenschere geschnitten und sie jahrein, jahraus in gebrauchten Pioniermonturen hatte herumlaufen lassen, weil das „preiswert, praktisch und politisch“ war, wie ihre Devise hinsichtlich meiner Erziehung damals gelautet hatte. Doch wenn es etwas gab, worin Nour schon immer gut gewesen war, dann im Vergessen. Und ich war dankbar, dass sie überhaupt Interesse an Siri zeigte, was angesichts meiner eigenen Erfahrungen mit ihr alles andere als zu erwarten gewesen war.

Schon bald sollte sich zeigen, dass Nour sich nicht lediglich für Siri interessierte, sie liebte die Kleine aufrichtig. Und Siri liebte ihre Großmutter. Ihre „Mommo“ mit den zerfurchten Wangen und den schwarzen Haaren (Nours Haare waren schon viele Jahre grau, möglicherweise sogar weiß, doch sie färbte sie einfach hartnäckig), die nach Tabak und Patschuli-Shampoo roch. Ihre „Mommo“, die zäh war, ordentlich zupacken konnte und ihre Krücke, wenn sie wütend wurde, energisch in den Boden rammte, die aber auch summend und rauchend am Herd in ihrer Wohnung im Olof-Palme-Viertel stand, dem ehemaligen Gamla Stan, und Cevapcici brutzelte. Bereits vor meiner Abreise nach Kysylkum hatte Siri viel Zeit bei Nour verbracht. Zu viel vielleicht, dachte ich im Nachhinein gelegentlich. Nour holte Siri von der Kinderkrippe der Pioniere ab, nahm sie mit zu sich nach Hause und kochte für sie. Ich kam sie dann meist gegen sieben Uhr abholen, und wenn ich abends länger arbeiten musste, blieb Siri dort über Nacht.

Mit der Zeit verwandelte sich Nours Büro in Siris Kinderzimmer. Die Stapel aus Büchern und Papieren vollbrachten, genau wie Nour selbst, etwas, das sie während meiner eigenen Kindheit nie vollbracht hatten: Sie rückten beiseite und machten Platz. In einem geschickten Zangenmanöver hatte eine schleichende Armee von Kuscheltieren und Spielsachen, Kleidchen und geblümter Bettwäsche allmählich immer mehr Terrain erobert, bis sich die Bücherstapel schließlich zurückzogen und mit dem Rücken zur Wand standen. Nach und nach waren einige von ihnen sogar in Pappschachteln in die Abstellkammer auf dem Dachboden gewandert.

Aus diesem Grund war es also nicht weiter verwunderlich, dass Nour sich um Siri kümmerte, als ich zum ersten Mal hatte verreisen müssen. Merkwürdig war eher, was später geschah, nämlich dass Siri gar nicht mehr richtig zu mir zurückkehrte. Und ich konnte nicht einmal wirklich sagen, wie es eigentlich dazu kam. Ich erinnere mich an eine Stelle aus einem von Nours alten verstaubten Lieblingsromanen, zu dessen Lektüre sie mich vermutlich in meiner Jugendzeit gezwungen hatte. Darin wird einer der Protagonisten gefragt, wie es zu seinem Ruin kam, woraufhin er antwortet: „Sukzessive und dann ganz plötzlich“. Und genau so war es auch, als Siri zu Nour zog. Als ich das erste Mal aus Kysylkum zurückkehrte, wusste ich bereits, dass ich bald wieder würde abreisen müssen, weshalb es mir damals unnötig erschien, Siri extra zu mir zu holen. Und beim nächsten Mal kam es mir erneut unnötig vor, und das setzte sich so fort. Als ich dann schließlich krank nach Hause zurückkehrte, war es zunächst unmöglich. Und irgendwann gab es andere, weitaus schwerwiegendere Gründe. Ich brauchte mir die beiden nur anzuschauen, Siri und Nour, wie sie ihre dunklen Schöpfe zusammensteckten, den kleinen und den großen. Sie hatten begonnen zusammenzugehören. Wenn sie gemeinsam das Haus verließen, hielt Nour mit der einen Hand ihre Krücke fest und mit der anderen Siri, obwohl sie auf diese Weise auf ziemlich wackligen Beinen unterwegs war.

So hatte ich Nour noch nie erlebt. Mit einem Mal strömte Fürsorge aus ihren Händen. Sie kochten Essen, flochten Zöpfe, wickelten in Decken ein, schlossen Reißverschlüsse und banden Schuhe. Und Siri suchte stets mit einer Hand Körperkontakt, in Nours Haaren, an ihrem Arm, an ihrer Wange. Wenn ich die beiden zusammen beobachtete, sah ich ein in sich geschlossenes, autarkes System, in dem Energie von einem Part auf den anderen übertragen wurde und dem es eigentlich an nichts mangelte. Ich war fort gewesen, sie waren zusammen zu Hause geblieben, sie waren Alltag füreinander, und ich war der Fremdkörper.

Allmählich überkam mich das Gefühl, ihnen beiden vor allem eine Last zu sein, weil sie sich vielleicht schämten, da sie mich eigentlich lieben sollten, dies aber nicht konnten. Also wohnte Siri weiterhin bei Nour. Und ich war diejenige, die zweimal in der Woche auf Besuch vorbeikam. Aber selbst wenn wir uns alle drei im selben Raum aufhielten, kam es mir so vor, als würde ich die beiden nur von außen betrachten. Wie in einem Lichtkegel saßen sie beisammen, aneinandergelehnt in ein gemeinsames Projekt vertieft, das ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte. Ein Teil von mir hätte gern die Hand nach ihnen ausgestreckt und sie berührt, doch ich konnte nicht. Ich gehörte nicht länger zu meiner eigenen Familie. Die zwei bildeten eine Einheit, und ich eine andere.

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