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Kaltes Herz, blanker Hass

Erst kommt die Liebe.

Dann der Verrat.

Nun folgt ihre bittere Rache.

Pam hat alles gegeben, um ihrem Mann eine gute Ehefrau zu sein. Dann hat sie das Grauen erlebt. Ein Grauen, an das sie nicht zu denken versucht. Heute leben sie getrennt. Doch als er unheilbar erkrankt und sie an sein Sterbebett ruft, zögert sie nicht. Sie wird zu ihm kommen. Um ihn sterben zu sehen - und um eine alte Rechnung zu begleichen …

Fesselnd und von diabolischer Schärfe - Eine Kurzgeschichte der Bestseller-Autorin Karin Slaughter ("Pretty Girls", "Blutige Fesseln")

Zusätzliche 30-seitige Leseprobe zum neuen Thriller "Blutige Fesseln" von Karin Slaughter enthalten.


  • Erscheinungstag: 26.09.2016
  • Seitenanzahl: 70
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676878
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Karin Slaughter

Kaltes Herz, blanker Hass

Aus dem Amerikanischen von Fred Kinzel

HarperCollins®

HarperCollins® Bücher

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by HarperCollins

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Cold, Cold Heart

Copyright © 2016 by Karin Slaughter

Published by arrangement with Witness Impulse,

an imprint of HarperCollins Publishers, LLC

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln

Titelabbildung: Amy Weiss / Arcangel; cosmin4000 / ThinkstockPhotos

Redaktion: Silvia Kuttny-Walser

E-Book ISBN 978-3-95967-687-8

www.harpercollins.de

eBook-Herstellung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Selbst jetzt noch konnte sie das Eis in ihrer Hand spüren, eine brennende, beißende Kälte, die wie eine Reihe scharfer Zähne in ihre Haut drang. War ihre Handfläche so heiß gewesen, oder lag es am kalifornischen Klima, dass das, was eben noch gefroren gewesen war, so schnell in seine Ursprungsform zurückkehrte? Sie war erschrocken, als sie vor seinem Haus stand und merkte, wie die Feuchtigkeit tränengleich von ihrem Handgelenk tropfte und eine Lache zu ihren Füßen bildete.

Jon war jetzt seit fast zwei Jahren tot. Gekannt hatte sie ihn wesentlich länger, vierundzwanzig Jahre lang, um genau zu sein – seit damals, als er John noch richtig, mit einem h, schrieb und nicht im Traum daran gedacht hätte, sein gelocktes schwarzes Haar lang zu tragen und seinen Bart zu beinahe einsiedlerhaften Ausmaßen wachsen zu lassen. Sie hatten sich in einem Bibelkurs für junge Erwachsene kennengelernt, waren ein Paar geworden und dann Mann und Frau. Sie hatten mehrere Jahre lang Chemie beziehungsweise Biologie an einer Highschool unterrichtet. Sie hatten einen Sohn bekommen, ihren wunderschönen, gesunden Sohn Zachary, nach Johns Großvater benannt. Ihr Leben war vollkommen gewesen, doch dann waren Dinge geschehen – Dinge, an die sie nicht zu denken versuchte. Am Ende hatte schließlich das süße Leben gerufen, und Pam war nicht eingeladen worden.

Ihr Haar war zu lang für eine Frau ihres Alters. Pam wusste das, konnte sich aber dennoch nicht dazu überwinden, es schneiden zu lassen. Es war wie eine Versicherung, dass man sie als Mensch noch bemerkte, wenn der Zopf an ihrem Rücken schwang, und sei es auch nur des Fauxpas wegen, als zweiundfünfzigjährige Lehrerin das graumelierte Haar hüftlang zu tragen. Während andere Frauen ihres Alters sich Kurzhaarschnitte stylen ließen und Yogakurse belegten, hatte Pam rebelliert. Zum ersten Mal in ihrem Leben achtete sie nicht mehr auf ihr Gewicht. Himmel, was für eine Wohltat, sich einen Nachtisch zu nehmen, wann immer sie verdammt noch mal Lust darauf hatte. Und Brot mit Butter. Und Vollmilch. Wie hatte sie nur so lange diese lachhaft durchscheinende Flüssigkeit trinken können, die sich fettarme Milch nannte? Die schlichte Befriedigung all dieser Wünsche war lohnender als jede Freude darüber, dass man den Knopf einer Hose in Größe 36 zukriegte.

Ihre Taille.

Sie zwang sich, an die guten Dinge zu denken, nicht an die schlechten, an die ersten Jahre statt der letzten siebzehn. Wie John immer mit den Händen ihre Taille umfasst hatte – raue Hände waren es, denn damals arbeitete er gern im Garten. Das Kitzeln seiner stacheligen Schnurrbarthaare, wenn seine Lippen über ihren Nacken strichen, wie er den Zopf immer sanft über ihre Schulter schob, damit er ihren Rücken von oben bis unten mit Küssen bedecken konnte.

Während sie auf ihrer dritten – und hoffentlich letzten – Reise in den westlichen Teil des Landes durch verschiedene Kleinstädte fuhr, zwang sie sich zu angenehmen Erinnerungen. Sie dachte an seine Lippen, seine Berührungen, an die Art und Weise, wie er sie geliebt hatte. Auf dem Weg durch Alabama dachte sie an seine kräftigen, muskulösen Beine. Mississippi und Louisiana riefen ihr die Schweißströme in Erinnerung, als sie zum ersten Mal als Mann und Frau zusammenkamen. Arkansas gemahnte sie an die vollkommene Biegung seines Schwanzes, wie er sich in ihr anfühlte, wenn sie seine Hüften mit den Beinen umklammerte, wie sich ihre Lippen teilten, wenn sie aufschrie. Oklahoma, Texas, New Mexico … Es waren keine geografischen Orte für Pam, sondern Punkte in der Topografie ihrer Seele. Als sie über die Grenze zu Arizona fuhr, schwebte sie zwischen Straße und Himmel, und das Einzige, was sie auf der Erde hielt, war der Griff ihrer Hände um das Lederlenkrad.

Der Wagen.

Alles, was ihr von ihm geblieben war, war der Wagen.

Vor zwei Jahren hatte er spätabends angerufen – nicht spät für ihn, aber durch die drei Stunden Zeitunterschied fiel das Läuten des Telefons bereits in jene Stunden, in denen es Panik hervorrief. Törichterweise dachte sie sofort an ihren Sohn Zack, aber beim zweiten Läuten war sie schon klarer im Kopf, und ihr gebrechlicher Vater fiel ihr ein, der sich weigerte, in ein Pflegeheim zu ziehen, obwohl er zu kaum noch etwas anderem fähig war, als den ganzen Tag in seinem Fernsehsessel zu hocken und History Channel zu gucken.

„Dad?“, hatte sie gerufen, als sie den Hörer beim dritten Läuten ans Ohr riss. Ein Brand. Ein Sturz auf der Treppe. Eine gebrochene Hüfte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte den Satz schon so oft gelesen, aber bis jetzt nicht gewusst, dass es physisch tatsächlich möglich war. Sie spürte das Hämmern unter der Speiseröhre, bis hinauf in die Kehle nahm sie den Druck ihres schlagenden Herzens wahr.

„Ich bin’s.“

„John?“ Sie stellte sich seinen Namen richtig geschrieben vor, als sie ihn aussprach, das H blinkte wie ein Neonschild vor einem Striplokal.

Passend zu seinem neuen kalifornischen Lebensstil hatte er es so nüchtern und sachlich gesagt, als würde er über das Wetter sprechen. „Ich sterbe.“

Sie hatte schlagfertig mit einem Spruch geantwortet, den er oft auf Dr. Phil oder bei Oprah gebracht hatte: „Wir alle müssen sterben. Und genau deshalb sollten wir jetzt das Beste aus unserem Leben machen.“

Leicht gesagt für ihn. Wer aufgrund seines Reichtums unabhängig war, neigte zu einer weniger negativen Sicht auf das Leben, als Leute, die jeden Morgen um fünf aufstehen mussten, um bescheuerten Teenagern das Periodensystem der Elemente beizubringen.

„Ich meine es ernst“, hatte er gesagt. „Es ist Krebs.“

Ihr Herz schlug nicht mehr bis zum Hals, stattdessen steckte dort jetzt etwas, das ihr das Sprechen schwer machte.

„Was ist mit Cindy?“, brachte sie schließlich heraus. Die zierliche, dunkelhaarige Pilates-Lehrerin, mit der er seit einem Jahr zusammenlebte.

„Ich möchte, dass du dabei bist, wenn es so weit ist“, hatte er gesagt. „Ich brauche diese Unterstützung.“

„Dann komm nach Georgia.“

„Ich kann nicht fliegen. Du wirst nach Kalifornien kommen müssen.“

Pam verfluchte immer noch den Tag, an dem sie zum ersten Mal zu einem Lehrerseminar nach Kalifornien geflogen waren. Es war eine nette Möglichkeit gewesen, aus Atlanta herauszukommen, ein spannendes Abenteuer, ihre erste Reise in den Westen. Ihr Trauerberater hatte angeregt, sie sollten etwas unternehmen, was „Spaß machte“, um nicht ständig an das Geschehene zu denken, und John hatte eifrig diese Konferenz vorgeschlagen. Pam hatte während des Flugs die meiste Zeit aus dem Fenster geschaut und war entsetzt gewesen über das riesige und so verschiedenartige Terrain unter ihnen. Dichte Wälder, in die Schneisen wie die Hiebe einer Peitsche schnitten, wechselten sich mit kahlen Wüsten und blankem Nichts ab. Wie konnten Menschen nur an so trostlosen Orten leben, hatte sie sich gefragt. Wie konnte man überleben, wenn man vor dem Fenster nichts als Kakteen und dürres Gestrüpp sah?

„Schau“, hatte John gesagt und aus dem ovalen Flugzeugfenster auf einen Fleck roter Erde gedeutet, der für Arizona stand. „Dort unten ist Ted Williams.“

Ted Williams, der Baseballspieler, dessen abgetrennten Kopf seine durchgeknallten Kinder kryogenisch eingefroren hatten.

„Flüssiger Stickstoff“, hatte John erklärt. „Sein Körper schwimmt in einem Fass daneben.“

Pam hatte zum ersten Mal den Blick vom Fenster abgewandt und rasch zu John hinübergeschaut, zu seinen stahlblauen Augen mit den langen Wimpern, die fast wie die einer Frau waren. Sie liebte ihn innig, sah jedoch nicht, wie sie den Graben überwinden sollte, der sich zwischen ihnen aufgetan hatte. Sie hätte gern seine Hand berührt und es genossen, wie sich seine Stimme veränderte und tiefer wurde, wenn er jemandem etwas Neues beibrachte.

Stattdessen fragte sie: „Warum mussten sie ihn enthaupten?“

John hatte mit den Achseln gezuckt, aber sie sah, wie sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen.

„Weißt du eigentlich“, fing er an, „dass das einzige andere Organ im Körper, das dem Gehirn chemisch und seiner Zusammensetzung nach ähnelt, die Gedärme sind?“

Pam hätte lachen sollen. Sie hätte eine flapsige Bemerkung darüber machen sollen, etwas wie: Wir haben eben doch alle nur Scheiße im Kopf. Aber sie hatte nur „Ich weiß“ gesagt und sich die Ohren auf dem Flug ins Unbekannte vom tiefen Brummen der Motoren füllen lassen.

Zachary war nie geflogen. Sein Leben war um Decatur gekreist, den Vorort von Atlanta, in dem Pam und John gewohnt hatten, solange er auf der Welt war. Dort hatte er Baseball gespielt, dort hatte er sich in der Shopping-Mall herumgetrieben, und dort hatte er, den Kondomen nach zu urteilen, die Pam in seinen Taschen fand, wenn sie seine Jeans wusch, so ziemlich jedes Mädchen in seiner Klasse gevögelt.

Mit sechzehn war er so groß wie sein Vater gewesen, sarkastisch wie seine Mutter und süchtig wie sein Großvater. Der Obduktionsbericht offenbarte einen Blutalkoholspiegel, der beinahe das Sechsfache der erlaubten Obergrenze betrug. Der amtliche Leichenbeschauer glaubte offenbar, Pam würde es tröstlich finden, dass Zack so betrunken gewesen war, dass er wahrscheinlich keinen Schmerz gespürt hatte, als sein Wagen von der Straße abkam, eine Schlucht hinunterstürzte und sich um einen Baum wickelte.

„Ich sterbe, Pam“, hatte John am Telefon gesagt. „Bitte. Ich möchte dich hier bei mir haben.“

Ein Hirntumor. Keine Schmerzen, weil es im Gehirn keine Nerven gibt. Sie war versucht, einen Scherz zu machen, ihn daran zu erinnern, was er über Ted Williams, das enthauptete Eis am Stiel, gesagt hatte, aber John brachte es selbst zur Sprache. „Weißt du noch, wie wir zum ersten Mal nach Kalifornien geflogen sind?“ Als wäre sie nach dieser Konferenz jemals wieder dort gewesen. Sie konnte von Glück reden, wenn sie sich im Sommer einen Urlaub in Florida leisten konnte, und selbst dann musste sie sich mit einigen anderen Lehrern zusammentun, wenn sie nicht gezwungen sein wollte, in einem von Kakerlaken verseuchten Motel zehn Kilometer vom Strand entfernt zu schlafen.

„Ich möchte konserviert werden“, hatte er zu ihr gesagt. „Ich möchte kryogenisch eingefroren werden, damit ich eines Tages wiederbelebt werden kann.“

Sie hatte so heftig gelacht, dass sie buchstäblich Bauchkrämpfe bekam. Die Tränen in ihren Augen kamen vom Schmerz, hatte sie sich gesagt, nicht von irgendeinem Verlustgefühl.

Und doch hatte sie das Flugticket nicht weggeworfen, als es eintraf, hatte ihm nicht gesagt, er solle sich zum Teufel scheren mit seinem Erster-Klasse-Flug und seinen verdammten Millionen, wie sie es schon so oft getan hatte.

Millionen. Es mussten inzwischen einige Millionen sein. Sein Buch Biological Healing stand immer noch auf diversen Bestsellerlisten, und sie wusste, dass es in mindestens dreißig Sprachen übersetzt worden war. Jetzt, in diesem Augenblick, lasen wahrscheinlich Menschen in Äthiopien von Johns Theorie, mit Hilfe der „Geist-Körper-Verbindung“ Verlust und Leid zu überwinden. Das Komische dabei war, dass Pam diejenige war, die einen Doktortitel in Biologie trug. John war nur ein Highschool-Lehrer mit einer Botschaft, und er hatte seine Botschaft auch nur durch Zufall in die ganze Welt posaunt.

„Trauer“, hatte John zu einem freundlich gestimmten Larry King gesagt, „kennt keine bestimmte Sprache.“

Er hatte ein Buch darüber geschrieben, wie er erst Zack und dann seine Frau verlor. Das störte Pam wahrscheinlich am meisten an der ganzen Sache: dass sie mit Zack in einen Topf geworfen wurde, als wäre sie ebenfalls gestorben. Denn dieser Luxus war ihr nicht vergönnt gewesen, nicht wahr? Sie war zurückgeblieben, damit sie ins Leichenschauhaus gehen konnte, um ihren Sohn zu identifizieren, weil John nicht dazu imstande war. Sie hatte Zacks Adressbuch durchgesehen und seine Freunde vom Fußballcamp, vom Baseballcamp und vom Bandcamp herausgesucht, damit sie benachrichtigt werden konnten. Sie war diejenige gewesen, die zum Briefkasten gegangen war, um die mindestens hundert Briefe von Pfadfindern und Brieffreunden in Empfang zu nehmen, die Zack in seinem sechzehnjährigen Leben angehäuft hatte. Da John so handlungsunfähig war in seinem Schmerz, war Pam es gewesen, die den Anzug für Zacks ewige Ruhe ausgesucht und dann noch einen neuen gekauft hatte, als der Bestatter sie freundlich aufklärte, dass Zacks Anzug mehrere Nummern zu klein war.

Der Anzug war zwei Jahre alt gewesen. Sie hatte ihn gekauft, als Zack vierzehn war, damit er ihn zur Hochzeit seines Cousins trug. Von vierzehn bis sechzehn war ein ganzes Leben. In zwei Jahren war er von einem Jungen zu einem Mann herangewachsen, und als Pam den dunkelblauen Anzug und die Krawatte aus der Kunststoffhülle der Reinigung geholt hatte, war ihr keine Sekunde lang der Gedanke gekommen, Zack könnte aus ihm herausgewachsen sein. Die ständig wiederkehrenden Witze, dass er ihnen die Haare vom Kopf fraß, und die Tatsache, dass er alle zwei Monate neue Schuhe brauchte, weil seine Füße immer noch größer wurden, hatten ihr nicht zu denken gegeben. Und als sie in seinem Zimmer stand und den verschwitzten Teenagergeruch einatmete, der in den Laken hing, hatte sie beim Gedanken an den alten Anzug beinahe gelächelt und ihn erleichtert von der Kleiderstange im Schrank geholt, denn es war eine Entscheidung weniger, die sie treffen musste.

John brauchte ein Beruhigungsmittel, um an der Beerdigung teilnehmen zu können. Er hatte sich auf sie gestützt, als wäre sie ein Fels, darum hatte sich Pam in eine Art Stein verwandelt. Als ihre Mutter nach ihrer Hand gegriffen und sie aufmunternd gedrückt hatte, hatte Pam sich vorgestellt, sie sei ein Granitblock. Und als ein Mädchen, das in Zack verliebt gewesen war – eins von vielen, wie sich herausstellte –, schluchzend an Pams Brust zusammenbrach, hatte sie in ihrer Vorstellung kalte, glänzende Marmorplatten heraufbeschworen und daraus eine Festung um sich herum errichtet, damit sie nicht zu Boden stürzte und um ihr verlorenes Kind weinte.

Pam war diejenige gewesen, die stark war, an der sich alle aufrichteten. Sie stählte sich gegen jede Gefühlsregung, denn sie wusste, wenn sie sie zuließe, würde sie von einem Hagel aus Schuldgefühlen, Schmerz und Wut zu Tode gesteinigt werden.

„Schreib darüber“, hatte sie zu John gesagt, hatte ihn angefleht, denn sie konnte sich seine Qual nicht länger anhören, ohne ihre eigene von der Leine zu lassen. „Schreib es in dein Tagebuch.“

Er hatte immer Tagebuch geführt und seine Gedanken wie ein junges Mädchen so ziemlich täglich niedergeschrieben. Zuerst fand sie die Angewohnheit merkwürdig für einen Mann, aber später hatte sie es einfach als Ausdruck seiner liebenswerten Überspanntheit akzeptiert, so wie seine Angst vor Rolltreppen oder die Überzeugung, dass es zu Würmern im Verdauungstrakt führte, wenn man rohen Plätzchenteig aß. Als er dann mit dem Schreiben anfing, war sie froh, dass er die ganze Nacht in seinem Arbeitszimmer blieb und arbeitete, statt ins Bett zu kommen, wo er sich immer in den Schlaf weinte, in Albträumen von einer Seite auf die andere warf und Zacks Namen rief. Sie hatte diese schrecklichen Nächte ignoriert, solange sie konnte, hatte sie aus der Welt gewünscht, denn sie zur Kenntnis zu nehmen, hätte bedeutet, den Verlust zur Kenntnis zu nehmen. Doch dazu konnte sie sich nicht überwinden. Sie konnte sich nicht eingestehen, dass sie ihren kostbaren Jungen verloren hatten.

Irgendwann schließlich hatte sie in einer hitzigen Auseinandersetzung Johns unruhige Nächte zur Sprache gebracht, und er hatte sich wie ein Tier auf sie gestürzt und ihr vorgeworfen, kalt zu sein, sich nicht mit ihren Gefühlen auseinanderzusetzen.

Etwas hatte sich umgekehrt.

John war immer der Rationale gewesen, Pam die Emotionale. Er hatte sie stets mit Hilfe logischen Denkens besiegt und ausnahmslos jeden Streit für sich entschieden, weil er sich nicht von seinen Gefühlen hinreißen ließ. Selbst als Pam vor neun Jahren herausfand, dass er sie mit einer der Schulsekretärinnen betrog, hatte er sie mit Logik bezwungen.

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