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Mord in den Schären

Mord im Urlaubsparadies an der idyllischen schwedischen Westküste – Dennis Wilhelmsons erster Fall

Dennis Wilhelmson, Polizist bei einer Eliteeinheit in Göteborg, braucht eine Pause. Er nimmt sich eine Auszeit und fährt nach Smögen. Auf der beschaulichen Schäreninsel an Schwedens schöner Westküste möchte er den Sommer verbringen. Als Unterkunft für die nächsten Monate dient ihm ein altes Fischerboot. Doch mit der Ruhe ist es schnell vorbei, denn im Hafenbecken wird die Leiche des Zimmermannlehrlings Sebastian Svensson gefunden. Als der örtliche Polizeidirektor ausfällt, muss Dennis einspringen und die Ermittlungen übernehmen. An seiner Seite: die junge und engagierte Polizeianwärterin Sandra Haraldsson. Und plötzlich verschwindet ein Kollege von Sebastian. Können die beiden Ermittler den Mörder stoppen, bevor er wieder zuschlägt?

»Der erste Fall (…) verspricht den Beginn einer hochwertigen Thriller-Serie.« ekz Bibliotheksservice


  • Erscheinungstag: 09.07.2019
  • Aus der Serie: Ein Fall Für Dennis Wilhelmson
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678322
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Danke!

Dan-Robert, Tim und Isabella –
für all Eure Liebe und Zeit …

Das Wasser war klar. Auf dem Grund verschwand eine Krabbe eilig unter einem Büschel Seetang. Er versuchte zu schwimmen. Versuchte, Hände und Füße so zu bewegen, wie er es einmal gelernt hatte, doch sie wollten ihm nicht gehorchen. Sein Körper wurde mit jeder Sekunde schwerer. Ihm fehlte die Kraft, seinen Kopf noch länger über der Wasseroberfläche zu halten. Er sank in die Tiefe, und sein letzter Gedanke war, dass er seine Liebste verließ. Wie sollte sie ohne ihn zurechtkommen? Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sich um sie zu kümmern. Nur eine einzige Sache hätte er noch erledigen müssen, um ihr ein anderes Leben zu bieten. Aber es war etwas dazwischengekommen, das seinen Plan zunichtegemacht hatte. Jetzt war es zu spät.

1

Vor ihm erstreckte sich die Uddevallabron majestätisch über das Wasser. Dennis Wilhelmson gab Gas und spürte, wie ihn die Beschleunigungskräfte in den Sitz drückten. Der schwarze Maserati flog durch die Landschaft. Die Pforte zu seinem geliebten Bohuslän öffnete sich, und als es in seiner Magengrube zu kribbeln begann, wusste er, dass er trotz allem die richtige Entscheidung getroffen hatte. Die Situation bei der Arbeit war untragbar geworden. Aus Loyalität der Abteilung und seinen Kollegen gegenüber hatte er um ein Haar sein Leben geopfert. Und als Dank dafür bot man ihm eine Versetzung an: aus Göteborg, wo er über zehn Jahre lang beim Spezialeinsatzkommando der Polizei gearbeitet hatte, auf einen Schreibtischposten in Töreboda, mitten in der Pampa. Sie hatten ihn komplett abgesägt. Erneut spürte er, wie die Mischung aus Enttäuschung und Wut in ihm aufstieg, die ihn seit Tagen begleitete. Um nicht verrückt zu werden, war er gezwungen gewesen, etwas Neues zu machen. Es durchzuziehen. Sich beurlauben zu lassen und nach Smögen – an den Ort seiner Jugend – zurückzukehren, war ihm schließlich als einziger Ausweg erschienen, um auf andere Gedanken zu kommen. Gestern hatte er seine Dienstwaffe und seine Polizeimarke abgegeben und anschließend den Wagen abgeholt, der fast seine gesamten Ersparnisse verschlungen hatte. Doch der Kitzel, den er jedes Mal spürte, wenn er das Gaspedal durchdrückte, war jede Krone wert.

Dennis verließ die E6 und wechselte auf die von kleinen Fischerdörfern gesäumte Küstenstraße von Sotenäs. Zu spät entdeckte er die Polizeikontrolle am Fahrbahnrand. Er nahm den Fuß vom Gas. Glück gehabt! Sie packten gerade zusammen. Eine Polizeibeamtin, unter deren Dienstmütze ein blonder Zopf hervorschaute, und ein männlicher Kollege, der sich gerade ins Auto setzte. Ach, dachte er und warf einen Blick zurück. Das musste Paul Hammarberg gewesen sein. Sein Freund und Feind aus Jugendzeiten. Sie waren zusammen gesurft, gesegelt, waren Wasserski gefahren und hatten wilde Partys gefeiert. Sie waren die sogenannten Anführer der beiden Gangs gewesen, die während der späten Achtzigerjahre in Smögen und Kungshamn den Ton angaben. Sie hatten ständig, wenn auch im Scherz, miteinander gekämpft – gegeneinander, und um Eva. Er sah sie vor sich. Ihr langes schwarzes Haar, das in der Sonne glänzte.

Paul hatte immer betont, dass Dennis nicht von der Küste stammte, sondern ein Feriengast war, ein Sommerfrischler, ein Tourist unter vielen, die Smögen nur während der kurzen Sommerwochen einen Besuch abstatteten und dann wieder verschwanden. Doch Dennis hatte sich nie als einer dieser Touristen gefühlt und es jedes Mal gehasst, wenn Paul diese Sprüche klopfte. Er spürte, wie sich der Groll von damals wieder in ihm regte.

Sein Handy summte. Er sah auf das Display. Cleuda. Er ließ es klingeln und drehte die Musik lauter. God only knows what I’d be without you. Carl, der jüngste der Beach Boys, hatte eine Stimme, die ihm direkt unter die Haut ging. Langsam fuhr Dennis über die Smögenbron. Am höchsten Punkt warf er zuerst einen Blick nach Osten, auf Kungshamn und Tången, dann nach Westen, auf Hasselösund und die sanfte Klippenlandschaft von Sandön. Nirgendwo auf der Welt gab es eine schönere Aussicht als diese. Davon war er felsenfest überzeugt. Die Sonne strahlte in das Cabrio, Meer und Himmel schimmerten in herrlichen Blautönen. Sommerblau. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er keinerlei Verpflichtungen. Eine ganze lange Weile nicht. Das würde sein bester Sommer seit Teenagerzeiten werden. Damals hatte sich in seiner Welt alles um Musik, Surfen und seine Kumpels gedreht – und natürlich das weibliche Geschlecht. Dieses Mal hatte er sich vorgenommen zu baden, die Ruhe zu genießen und zu schreiben. Um Frauen würde er einen großen Bogen machen. Im Frühjahr hatte er sich in Sachen Beziehung gehörig die Finger verbrannt, und das wollte er nie wieder erleben. Ihretwegen hatte er alles verloren: sein Selbstvertrauen, seinen Job, seine Karriere. Seine Lebensfreude. Alles außer seinen Ersparnissen, die sich stur und starrköpfig immer noch auf seinem Konto befanden, nachdem alles andere in die Brüche gegangen war. Doch jetzt hatte er beinahe jede Öre in ein Auto investiert. Und er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er finanziell über die Runden kommen sollte.

Sein Handy meldete sich erneut. Diesmal war es Åke Strömberg.

»Ja, ich bin jetzt da. Sollen wir uns gleich treffen? In Ordnung. Ich komme dahin.«

Eva hatte sich damals für Åke entschieden. Direkt vor Dennis’ und Pauls Augen war Åke plötzlich mit seinem Segelboot auf der Bildfläche erschienen und hatte Eva im Sturm erobert. Zuerst war Dennis am Boden zerstört gewesen, doch mit der Zeit waren er und Åke Freunde geworden. Åke hatte ein angenehmes Wesen und sprudelte förmlich über vor verrückten Ideen und Einfällen. Dennis konnte es Eva nicht verdenken, dass sie sich Hals über Kopf in Åke verliebt hatte. Das musste er widerwillig zugeben. Jetzt machte die kleine Vera ihr gemeinsames Glück perfekt. In den letzten Jahren hatte Dennis den Kontakt zu seinen alten Freunden nur sporadisch gepflegt, doch in diesem Sommer würden sie sich wieder treffen, wie früher. Darauf freute er sich wirklich.

Smögen, 2. November 1837

Der Sturm fegte aus Westen über die Küste von Sotenäs hinweg und machte erbarmungslos alles zunichte, was sich ihm in den Weg stellte. Seit fast zwei Tagen wütete er, zertrümmerte Schiffe von nah und fern, schleuderte sie gnadenlos gegen Felsen und Klippen, wo sie zerschellten. Die Katen der sogenannten Strandsitzer standen auf der Leeseite der Insel Kleven, die dem Fischerdorf Smögen vorgelagert war. Doch etliche Male drohten die starken Windböen auch ihre Dächer mitzureißen.

Carl-Henrik betrachtete seine Frau Anna-Katarina, die, obwohl sie unmittelbar vor der Niederkunft ihres ersten Kindes stand, dünn wie ein Löwenzahnstengel war. Er machte sich Sorgen, wie sie die Strapazen der Geburt überstehen würde. Gerade ruhte sie sich auf der Küchenbank aus. Er hatte sie aus Treibholz gezimmert, das nach einem Sturm in den kleinen Buchten von Kleven angeschwemmt worden war. Ihre Wangen waren eingefallen, nur der Hunger konnte ein junges Gesicht derart zeichnen. Sie wurde bald zwanzig, und bisher hatte die bittere Realität ihnen ein hartes Dasein beschieden, fernab ihrer Träume von einem glücklichen Familienleben.

Carl-Henrik goss ein wenig Heidekrauttee mit getrockneten Brombeeren und Himbeerblättern in einen Becher. Das war alles, was er ihr gerade bieten konnte. Bevor das Unwetter über sie hereinbrach, waren ihm ein paar Makrelen ins Netz gegangen, die er über dem Feuer gebraten hatte. Die Mahlzeit war drei Tage her, und Anna-Katarinas Magen musste sich vor Hunger zusammenkrampfen, auch wenn sie sich mit keinem Wort beklagte. Sobald der Sturm abflaute, würde er zum Fischen hinausfahren.

Er war fest entschlossen, Anna-Katarina eines Tages all das zu geben, wovon sie träumte. Er hatte keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte, doch tagtäglich zerbrach er sich den Kopf, wie er für das, was Meer und Inseln darboten, einen Lohn erhalten konnte. Ein ärmliches Strandsitzer-Leben hatte er Anna-Katarinas Vater nicht versprochen, als er ihn auf dem Totenbett um die Hand seiner Tochter bat.

2

Åke Strömberg war groß. Er strahlte eine Ruhe und Selbstsicherheit aus, um die Dennis ihn beneidete. Dennis hatte sich im Laufe der Jahre den Respekt seiner Polizeikollegen erarbeitet, und es gab viele, die ihn für seinen Mut in Gefahrensituationen bewunderten. Aber Åkes Ausstrahlung kam von innen. Sie war unerschütterlich. Dennis hatte von jeher gegen seine Selbstzweifel ankämpfen müssen, damit sein positives Selbstbild die Oberhand gewann. Vielleicht lag es an ihrer unterschiedlichen Kindheit. Åke war in einer intakten Familie aufgewachsen, in der beide Eltern dem einzigen Sohn ihre ganze Aufmerksamkeit widmeten; Åke hatte nie mit irgendjemandem konkurrieren müssen. Dennis hingegen hatte seinen Vater nie kennengelernt, er wusste nicht einmal, wer er war. Seine Mutter hatte ihm zahlreiche Männer präsentiert, in den verschiedenen Wohnungen, zwischen denen sie hin und her gezogen waren, aber keiner von ihnen hatte je die Vaterrolle übernommen. Seine Mutter weigerte sich, ihm etwas über seinen Vater zu erzählen. Eines Tages würde er herausfinden, wer er war. Aber nicht jetzt.

»Hallo, Dennis«, sagte Åke und umarmte ihn.

Dennis erwiderte die Umarmung und spürte eine tiefe Freude, seinen Freund wiederzusehen. In seiner Gegenwart fiel es einem leicht, unbeschwert zu sein.

»Ich hole uns mal ein Bier«, sagte Åke und grinste. »Du bist bestimmt wie immer total abgebrannt.«

Während Åke die Bar des Surfers Inn ansteuerte, machte Dennis es sich draußen an einem der Tische in der Sonne bequem. Obwohl es auf den Abend zuging, war es immer noch warm, und in dem kleinen Innenhof zwischen den Häusern ließ es sich aushalten.

»Ich hab was Großes am Laufen«, verkündete Åke, als er das Tablett abstellte, auf dem sich außer dem angekündigten Bier auch zwei Burger mit Jalapeños und eine Soßenauswahl befanden. Die Aufregung in seinen Augen war nicht zu übersehen.

»Was stellst du jetzt wieder auf die Beine?«, erkundigte sich Dennis lächelnd. Er kannte Åkes abenteuerliche Ideen zur Genüge, manchmal erwiesen sie sich als Luftschlösser, doch hin und wieder hatten sie durchaus Hand und Fuß.

»Ich habe Wrackteile der Sankt Anna entdeckt«, flüsterte Åke und sah sich um, als wollte er sich vergewissern, dass niemand sie belauschte.

»Aha«, erwiderte Dennis, der von diesem Schiff noch nie gehört hatte.

»Sie ist im Herbst 1837 vor Kleven auf Grund gelaufen und gesunken. Seitdem hat man weder Reste des Wracks noch Teile ihrer Ladung gefunden.«

»Aber wie hast du das Schiff entdeckt?«, fragte Dennis skeptisch. »Woher weißt du, dass es wirklich die Sankt Anna ist, und falls ja, was ist an ihr so Besonderes?«

»Ihre Geschichte ist phänomenal«, erwiderte Åke eifrig. »Und ich wollte dich fragen, ob du jetzt gleich Lust auf einen Tauchgang hast, damit ich sie dir zeigen kann.«

Dennis schwieg einen Moment, dann antwortete er: »Åke, das klingt unheimlich spannend, aber ich bin gerade erst angekommen und brauche einen Tag zum Eingewöhnen. Können wir das nicht auf morgen verschieben? Sobald ich meine Taucherausrüstung bei Johan abgeholt habe, komme ich mit.«

Åke fuhr sich mit der Hand durch sein dunkelbraunes Haar, und Dennis sah ihm die Enttäuschung deutlich an, hoffte aber, dass sein Freund ihn verstand. Åke war noch nie ein geduldiger Mensch gewesen. Warten gehörte nicht zu seinen Stärken. Er lebte im Hier und Jetzt.

»Kein Problem«, sagte er schließlich. »Ich bin mindestens ein Mal am Tag draußen. Wir werden im Laufe des Sommers also genügend Gelegenheiten haben.«

Als sie sich verabschiedeten, war das schelmische Funkeln in Åkes Augen zurück. Dennis blickte ihm nach, als er mit schnellen Schritten zum Kai des Fischereihafens ging, wo sein Boot lag und auf ihn wartete.

Es war ein heller Abend. Aus den Felsspalten zwischen den Klippen lugten die rosafarbenen Blüten der Strand-Grasnelken hervor. Dennis lächelte, als ihm der Wind die Haare zerzauste. Geschickt kletterte er über die Klippen, hinunter zur Badebucht, der Makrillviken, die ihm nur allzu vertraut war. Seine Füße fanden intuitiv Halt, die Spalten und Vorsprünge waren seit vielen Jahren in seinem Gedächtnis gespeichert. In dem natürlichen Becken der Makrillviken war keine einzige Qualle zu sehen. Was sich im Laufe des Sommers schnell ändern konnte, je nachdem, aus welcher Richtung der Wind kam. Er ließ sich von der Treppe des Stegs ins Meer gleiten und machte ein paar Schwimmzüge unter Wasser. Die Nächte waren noch immer kalt, doch tagsüber wärmte die Sonne das Meer auf beinahe angenehme Temperaturen auf. Als Dennis wieder an die Oberfläche kam, tauchte ein Stück von ihm entfernt eine Seeschwalbe auf der Jagd nach Nahrung ins Wasser. Dieser Sommer würde fantastisch werden. Dennis schwang sich die Leiter empor, setzte sich, ein Handtuch um die Hüften gewickelt, auf den Steg und wandte den Blick gen Nordwesten zum rosafarbenen Horizont.

Als er genug Abendsonne getankt hatte, zog er sich an und ging mit schnellen Schritten zum Bootsanleger zurück, um sich aufzuwärmen. Seine Vermieterin wohnte oben im Friskens väg. Er ging an ihrem Briefkasten vorbei, in dem sie einen Umschlag mit dem Bootsschlüssel für ihn hinterlegt hatte. Gunnel, so hieß seine Vermieterin, war heute nicht zu Hause, deshalb musste er alleine zurechtkommen. Sie hatte ihm angeboten, bei ihr im Souterrain zu wohnen, das sie während der Sommermonate vermietete. Da der Zimmerpreis im Sommer jedoch in astronomische Höhen stieg, war seine Wahl stattdessen auf den Fischkutter gefallen, den Gunnel beim Hauskauf als Dreingabe dazubekommen hatte. In den nächsten Wochen würde sein Zuhause also ein Fischerboot namens Dolores sein, für fünfhundert Kronen pro Monat war sie diesen Sommer die Seine. Dennis’ Schwester Victoria hatte nur den Kopf geschüttelt, als er ihr erzählte, wo er untergekommen war. Sie hatte ihm vorgeschlagen, bei ihr zu wohnen, aber Dennis stand nicht der Sinn danach, den ganzen Sommer zwischen Kindergeschrei und vollen Windeln zu verbringen. Es reichte, wenn er Victoria und ihre Familie hin und wieder besuchte.

Er hatte den Kutter erreicht. Dennis fischte den Schlüsselbund aus dem Umschlag und schloss die Steuerkajüte mit dem kleinen Bootsschlüssel auf, der daran hing. Dann betrat er sein neues Reich. Er setzte sich an einen Tisch, der zur Hälfte mit einem Stoß Seekarten bedeckt war. Der Tisch ließ sich absenken. Mit einem Polster und den beiden Sofas an jeder Seite würde er sich eine gemütliche Schlafkoje bauen können. Für die richtige Atmosphäre stellte Dennis eine Flasche Barbados-Rum auf den Tisch. Er zündete die Petroleumleuchte an und goss einige Fingerbreit des honigfarbenen Getränks in ein Glas. Dann machte er es sich mit einem Kissen im Rücken auf einem der beiden Sofas gemütlich.

Anthony Parker lehnte den Kopf an die Nackenstütze des Flugzeugsitzes. Im Laufe der Jahre hatte er etliche Flugmeilen zurückgelegt. Inlandsflüge, überwiegend zu seiner Schwester nach Miami. Aber über den Atlantik, nach Europa, war er noch nie gereist. Wie üblich hatte am Newark Airport Hochbetrieb geherrscht, aber er hatte sich vor die gigantische Pano­ramafensterfront gesetzt und über die Dächer der Stadt geblickt. Seit dem Tag vor fast vierzig Jahren, an dem er das Landleben und den Hof seiner Vorväter verlassen hatte und nach Greenwich Village zog, war New York sein Zuhause. Es ging ihm gut, aber sein Lebensstil hatte nicht die Voraussetzungen geboten, eine Familie zu gründen. Vielleicht waren das auch nur Ausreden, doch inzwischen ging er auf die sechzig zu und war immer noch Single.

Anthony tastete nach dem Karton unter seinem Sitz – oder genauer gesagt: nach einem der Kartons. Seine Reisetasche hatte er am Check-in-Schalter abgegeben, und im Gepäckfach über seinem Kopf lag noch mehr Material. Er hatte fast alles einpacken können. Eine Reise nach Schweden ohne sämtliche Unterlagen wäre für ihn undenkbar gewesen. Die Briefe, Fotografien und Dokumente verdienten es, wieder auf schwedischen Boden zu kommen. Er würde seinen Traum verwirklichen.

Dennis wurde durch das Schaukeln des Kutters geweckt. Er musste eine ganze Weile geschlafen haben. Eine Person ging vor dem Kajütenfenster über Deck, und ein dunkler Schatten glitt durch die Kabine. Die Tür wurde langsam aufgeschoben, und kühle Abendluft wehte herein.

»Hallo!«, rief jemand. Dennis blinzelte in die Richtung, aus der die Stimme kam. Im Türrahmen erschien ein Frauenkopf.

»Eva, was machst du denn hier?« Seine verschlafene Stimme klang rauer als beabsichtigt. »Wolltest du heute Abend nicht ins Skäret?«

Hasse, der sich um die Verwaltung sämtlicher Ferienwohnungen auf Smögen kümmerte, lud jedes Jahr zu Saisonbeginn alle Wohnungsbesitzer zu einem Umtrunk ein. Viele Einheimische vermieteten während der Sommermonate ihre Kellerräume an Touristen, um sich ein paar Kronen dazuzuverdienen. Hasses Auftaktveranstaltung war äußerst beliebt, und Eva und ihre Mutter standen immer auf der Gästeliste.

»Doch, aber Åke ist nicht nach Hause gekommen, und ich konnte Vera schließlich nicht alleine lassen. Als Mama wieder zurück war, habe ich sie gebeten, auf sie aufzupassen. Ich habe ihr gesagt, ich müsste kurz frische Luft schnappen.«

»Wo ist Åke denn? Wie spät ist es überhaupt?«

»Ich wollte dich fragen, ob du ihn gesehen hast.« Eva klang niedergeschlagen. »Es ist fast Mitternacht, und er ist immer noch nicht zu Hause.«

»Möchtest du?« Dennis deutete auf die Rumflasche, doch Eva schüttelte den Kopf. »Åke und ich haben ein Bier getrunken, aber er wollte noch mit dem Boot raus. Wir haben uns nur kurz gesehen. Ich war in der Makrillviken zum Baden und bin dann Richtung Fischereihafen gegangen, am Kai entlang. Aber am Bootsanleger habe ich ihn nicht gesehen.«

Evas dunkles Haar glänzte im Schein der Petroleumlampe. Ihre Augen waren gerötet, doch Dennis dachte, dass sie immer noch genauso schön war wie früher.

»Das ist dieses Wrack«, seufzte sie. »Åke ist wie besessen davon. Er ist der Meinung, dass er der Erste ist, der es entdeckt hat, obwohl es schon vor fast zweihundert Jahren gesunken ist.«

Dennis vermied es, Eva in die Augen zu schauen. Er hoffte inständig, dass Åke nichts zugestoßen war. Aber Åke war ein erfahrener Taucher und würde kein unnötiges Risiko eingehen.

3

Hafenkapitän Neo Waltersson schloss den obersten goldfarbenen Knopf seines Hemds und setzte seine Kapitänsmütze auf. Vielleicht war das ein bisschen übertrieben, doch wenn man ihn gezwungen hätte zu gestehen, was ihn dazu brachte, seinen Dienst so pflichtbewusst zu verrichten, dann war es das Gefühl, wenn er seine Uniform anzog. Seit er vor über einem Jahrzehnt an Land gegangen war, arbeitete er während der Sommermonate im Gästehafen. Jeden Morgen fand er sich pünktlich um sieben Uhr unten am Kai ein, wo ihn die jüngeren Hafenmeister, die gerne bis weit in den Vormittag hinein schliefen, zum Elf-Uhr-Kaffee ablösten.

Seine Frau trat hinter ihn und strich mit den Händen über die Epauletten seiner Kapitänsjacke.

»Alles kommt wieder ins Lot, du wirst schon sehen«, beruhigte sie ihn. Sie kannte ihn gut und wusste, woher die tiefen Sorgenfalten auf seiner Stirn stammten.

»Hm«, murmelte er skeptisch.

Es gab zwei Dinge im Leben, die Neo ganz besonders am Herzen lagen. Das eine war das Meer und das andere seine jüngste Tochter Maya. Was das Meer anging, fühlte er, dass diese Liebe auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie war unkompliziert. Das Meer hatte ihm die Möglichkeit gegeben, seine Familie zu versorgen, ein ganzes Arbeitsleben lang, genau wie sein Vater und sein Großvater es getan hatten. Die Liebe zum Meer verlieh seinem Dasein einen Sinn und erfüllte es mit einer Freude, mit der sich nichts anderes messen konnte. Außer Maya.

Er hatte drei Töchter. Die beiden ältesten hatten ihm nie Anlass zur Sorge geboten. In ihrer Kindheit hatte sich in erster Linie seine Frau um sie gekümmert, was er ihr hoch anrechnete, denn er war meistens auf See gewesen. Beide Mädchen hatten eine Ausbildung zur Krankenschwester absolviert, die Älteste war mit einem Feuerwehrmann verheiratet, die Zweit­älteste mit einem Polizisten. Inzwischen wohnten beide mit ihren Familien auf dem Festland.

Seine jüngste Tochter Maya hatte sich als kleine Überraschung kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag eingestellt. Während der Geburt ordnete der Arzt plötzlich einen Notkaiserschnitt an. Als sich seine Frau nach dem Eingriff erholte, hatte Neo stundenlang mit dem kleinen Mädchen im Arm dagesessen. Er war ganz verzaubert gewesen von dem winzigen Wesen, das seelenruhig in seinen Armen schlummerte. Seit diesem Moment hatte Maya von seinem Innersten Besitz ergriffen. Wenn Maya weinte, war er traurig, wenn sie lachte, war er glücklich. Mayas Haar war weiß wie Milch und bildete einen auffälligen Kontrast zu ihren großen grünen Augen. Wenn Neo früher in diese Augen geblickt hatte, war er bereit gewesen, Maya jeden Wunsch zu erfüllen. Doch jetzt hatte sich alles verändert. Im letzten Sommer war sie eines Tages mit schwarz gefärbten Haaren nach Hause gekommen und hatte verkündet, sie würde ihre Krankenschwesterausbildung abbrechen und ein Studium an der Kunsthochschule beginnen. Wohnen würde sie im Studentenwohnheim auf dem Campus. Im Herbst und Winter hatte er seine Tochter kaum zu Gesicht bekommen. Und auch im Frühjahr war sie nur sporadisch zu Hause gewesen. Aber vergangenen Freitag hatte sie um die Mittagszeit aus heiterem Himmel vor der Tür gestanden und sie gebeten, in die Souterrainwohnung ziehen zu dürfen, die sie eigentlich an Sommergäste vermieten wollten. Neo hatte erst Nein gesagt, doch seine Frau stimmte ihn um. Die Kinder sind zu Hause immer willkommen, hatte sie gesagt. Er hatte nachgegeben, aber die Spannungen, die im Haus herrschten, seit Maya wieder bei ihnen wohnte, zehrten an seinen Kräften. Eigentlich würde er sie am liebsten ganz fest in die Arme schließen, aber das brachte er nicht über sich, er konnte sie nicht einmal ansehen.

Neo zog die Haustür hinter sich zu und ging zum Kai hinunter. Dort war alles wie immer, dort war er in seinem Element.

Obwohl die Junisonne die roten Klippen wärmte, die zwischen den Bootsschuppen hervorlugten, hatten noch nicht übermäßig viele Sommerfrischler den Weg auf den Smögen-Kai gefunden. Während der Hochsaison bevölkerten Segler und Touristen aus der ganzen Welt die in den Felswänden verankerten grün gestrichenen Bänke. Neo absolvierte seine übliche Runde. Am Eiskiosk stand eine halb ausgetrunkene Saftpackung, und in einer Ritze der Bretterwand steckte eine Papierserviette. Er sammelte den Abfall auf und warf ihn in eine Mülltonne, in der bereits ein voller Beutel lag. Vermutlich von dem norwegischen Ehepaar, das gestern Abend angekommen war, dachte er. Er hatte gesehen, dass sie schon in aller Frühe wieder aufgebrochen waren. Warum nur? grübelte er. Mit einem Motorboot wie dem ihren fuhren sie die Küste von Bohuslän innerhalb von ein paar Stunden rauf und wieder runter, so eilig konnten sie es doch wohl kaum haben.

Neo hielt sein wettergegerbtes Gesicht in die Sonne, zog leicht an seiner Pfeife, die ihm im Mundwinkel hing, und schritt entschlossen den Kai hinunter, dessen verwitterte Planken von der jahrelangen Behandlung durch Salzwasser und Wind silbergrau schimmerten. Plötzlich zuckte er zusammen. Ein schriller Schrei durchschnitt die kühle Morgenluft. Er kam aus Richtung des Hafenbeckens. Neo biss auf das Mundstück seiner Pfeife und lief zur Kante des Kais. Eine Frau schwamm im Wasser und ruderte wild mit den Armen. Neo kletterte an Bord der vor ihm liegenden Motorjacht und von dort zum hinteren Badesteg des Bootes. Er beugte sich tief herunter, bekam die Frau unter den Achselhöhlen zu fassen und zog sie zur Leiter. Neben der Frau trieb ein toter Mann im Hafenbecken. Seine Augen starrten blicklos in den Himmel.

Jacqueline Bijou stieß die Fensterläden auf und genoss die Aussicht über die Terrasse. Vor ihr erstreckte sich die grüne Bergkette bis hinunter ans Mittelmeer, am Horizont verschmolz das Blau des Wassers mit dem Himmel. Sie sog den würzigen Duft von provenzalischen Kräutern ein. Alphonse lag noch im Bett, Sonnenstrahlen fielen auf seine schöne, junge Gestalt. Jacqueline fragte sich, was sie eigentlich dazu veranlasst hatte, mit einem Mann den Bund fürs Leben einzugehen. Obwohl ihr Gatte zehn Jahre jünger war als sie, hatte er in den letzten Jahren nicht nur angefangen, sich wie ein alter Mann zu benehmen, er sah auch wie einer aus. Alphonse gab ihr etwas völlig anderes und außerdem Freiheit. Zwischen ihnen existierte nur eine einzige stillschweigende Übereinkunft, und die bestand darin, dass es keine gab. Diese Art von Beziehung war ganz nach ihrem Geschmack.

Sie hatte ihren Vater François Bijou nie kennengelernt und hatte ihn nie vermisst. Doch vor einigen Jahren erfuhr sie, dass er gestorben war und ihr ein Haus in den Bergen oberhalb von Nizza vererbt hatte. Ihre Mutter hatte sich viele Male bitterlich beklagt, kurz vor der Geburt von ihm sitzen gelassen worden zu sein. Aber was hatte sie erwartet? Ein Sommerflirt in Nizza, was hätte daraus anderes werden sollen? Als ihre Mutter vor einigen Jahren starb, hinterließ sie ihr nichts außer einem Paar Goldohrringe, die Jacqueline sofort versetzt hatte, als ihr klar wurde, dass sie ein paar Tausend Kronen wert waren. Sie hatte noch nie eine nostalgische Ader besessen. Nicht, dass sie das Geld wirklich benötigte. Ihre Firma florierte. Das Haus auf Smögen hatte sie von ihren eigenen Ersparnissen für sich und ihren Mann gekauft. Als Lehrer verdiente er nicht gerade üppig. Sie hatte keine Ahnung, wie er nach der Scheidung über die Runden kommen sollte, doch sie selbst würde ihr Leben fortan in vollen Zügen genießen. Wie es ihr zustand.

Im Herbst würde sie fünfzig werden, aber körperlich und geistig fühlte sie sich wie Alphonse, höchstens fünfundzwanzig. Und das hatte er ihr auf Französisch wieder und wieder bestätigt, nicht zuletzt in der vergangenen Nacht. Jacqueline betrachtete ihn erneut und lächelte. Ein bisschen schade war es schon, dass sie heute nach Schweden zurückflog, doch sich von ihren Ehemann am Telefon zu trennen kam für sie nicht infrage. Nach beinahe acht Jahren Ehe gebot es der Anstand, dass sie ihm ihre Entscheidung persönlich mitteilte. Außerdem wollte sie seine Miene sehen, wenn sie es ihm sagte. Wie befreit sie sich hinterher fühlen würde! Sie hatte Alphonse versprochen, dass er während ihrer Abwesenheit im Haus wohnen konnte. Es war nur für eine Woche, sie würde im Nu verfliegen. Und in der Zeit würde er auf zwei Modenschauen seine neue Strandkollektion präsentieren. Im Kaufhaus La Fayette in Nizza und im Jimmy’z in Monaco. Im Anschluss fanden große Aftershow-Partys statt, er würde also beschäftigt sein. Sie wäre liebend gern selbst hingegangen, aber das musste eben noch bis nächste Woche warten. Von nun an würde ihr Leben aus einer endlosen Kette an Partys und Modenschauen bestehen. Mittlerweile trug fast jedes Model ihre Schmuckkreationen, und darauf kam es an.

Bertrand hatte auf dem Terrassentisch ein Silbertablett mit einer Kanne Traubensaft und warmen Croissants bereitgestellt. Jetzt ging er durch den Garten und beschnitt Rosenbüsche und Bäume. Was würde sie nur ohne ihn tun? Er kümmerte sich um das Haus, den Garten, und er kochte. Jacqueline nahm sich ein Croissant, den Traubensaft ließ sie stehen. Stattdessen goss sie sich aus der angebrochenen Flasche im Weinkühler ein Glas Rosé ein und machte es sich in einem der Korbstühle bequem.

Ihr Leben hatte in den letzten Jahren eine Hundertachtzig- Grad-Wendung vollzogen. Sie hatte den grauen Alltagstrott hinter sich gelassen und sich ein Leben im Kreis der Schönen und Reichen mit eleganten Kleidern, teuren Autos und Nobelrestaurants aufgebaut. Sie liebte es.

Die Polizei hatte den Kai abgeriegelt, und vor dem blau-weißen Absperrband stand inzwischen eine Traube von Zuschauern. Eine Polizeibeamtin wies die Leute an, obenrum zu gehen, zwischen den Häusern hindurch, um auf die andere Seite zu gelangen, doch keiner der Schaulustigen schien großes Interesse daran zu haben, den Ort des Geschehens zu verlassen.

Hafenkapitän Neo Waltersson hatte die badende Frau in den Salon der Motorjacht begleitet, wo sie von ihrem Mann in Decken gewickelt worden war. Die Frau zitterte am ganzen Körper. Ein Rettungshubschrauber hoverte über dem Kai, und ein Rettungskorb hing in der Luft. Die Leiche des Mannes wurde gerade nach oben gefiert.

»Paul Hammarberg, Polizei Kungshamn.« Neo kannte den Polizisten, der auf ihn zukam und ihm die Hand gab.

»Hafenkapitän Neo Waltersson«, erwiderte er mit fester Stimme.

»Ich würde Sie bitten, heute Nachmittag auf die Wache zu kommen und eine Zeugenaussage zu machen«, fuhr der Polizist fort, ohne zu erkennen zu geben, dass er Neo kannte. Sein Tonfall war professionell-freundlich, doch er markierte deutlich, wer seiner Ansicht nach der Ranghöhere von ihnen beiden war.

»Selbstverständlich«, antwortete Neo mit gleichbleibend fester Stimme. Er spürte, dass dies einer der interessantesten Tage seit Langem werden würde, ließ sich seine Aufregung jedoch nicht anmerken. Er verzog keine Miene. Ihm fiel auf, dass sich die Menschenansammlung vor dem Absperrband inzwischen noch vergrößert hatte. Er kannte einige der Leute.

Im Hafenbecken ließ sich ein Taucher rückwärts aus einem Schlauchboot des Rettungsdienstes ins Wasser fallen.

Neo ging über den Steg an Land und nahm Kurs auf die Kautabak-Front. In Kürze würden alle alten Seebären dort drüben auf der Bank hocken und darauf warten, dass er ihnen erzählte, was passiert war. Er konnte es kaum erwarten, sie zu sehen.

Dennis stand vor dem Absperrband auf dem Kai und bekam gerade noch mit, wie der Rettungskorb an Bord des Hubschraubers gefiert wurde. Er blickte sich um. Auf der gegenüberliegenden Seite entdeckte er seinen Schwager Björn, den Mann seiner Schwester Victoria. Er war in den Anzeige-Modus seiner Kamera vertieft und bemerkte Dennis nicht. Dann mussten sie mittlerweile im Sommerhaus angekommen sein, dachte Dennis. Am Freitag war Mittsommer, und seine Schwester war ganz bestimmt schon mit den Vorbereitungen beschäftigt. So wie er sie kannte, hatte sie im Supermarkt in Kungshamn garantiert die gesamte Lebensmittelabteilung leer gekauft. Er würde sie später anrufen. Heute konnte er sich sein morgendliches Bad im Meer jedenfalls abschminken. Stattdessen drehte er sich um und verschwand oben zwischen den Häusern.

Victoria hatte den Kühlschrank mit allerhand Delikatessen gefüllt und im Haus mit Kornblumen-Sträußen in hohen Glasvasen für eine sommerliche Atmosphäre gesorgt. Momentan war sie in Elternzeit, aber im Vergleich zu der Zeit vor den Kindern, als sie noch gearbeitet hatte, war ihr Tag viel vollgepackter.

Als sich schon bald nach Theos Geburt Kind Nummer zwei ankündigte, hatte sie mit Engelszungen auf Björn eingeredet, und im letzten Herbst hatten sie sich schließlich ein kleines Haus auf Smögen gekauft. Das Erbe von Björns Vater hatte den Ausschlag für Björns Zustimmung gegeben. Schließlich lebte man nur einmal, und dieses Haus war Victorias Lebenstraum. Seit ihrer frühesten Kindheit verbrachte sie die Sommerwochen auf Smögen, und nun würde sie es wieder tun, mit ihrer eigenen Familie, in ihrem eigenen Haus. Sie war den ganzen Winter und noch einen Teil des Frühlings über schwanger gewesen, und Björn hatte buchstäblich Tag und Nacht renoviert, um das Haus bewohnbar zu machen. Es war eines dieser traditionellen weiß gestrichenen Fischerhäuschen mit einer kleinen verglasten Veranda und Vordertreppe. Im Erdgeschoss lagen die Küche und ein großes Wohnzimmer. Die vorhandene Küche hatte ihre besten Tage schon hinter sich gehabt, und da die Arbeitsflächen zudem ziemlich niedrig gewesen waren, hatte die hochgewachsene Victoria auf eine neue bestanden. Um die traditionelle, urige Atmosphäre nicht komplett zu zerstören, entschied sie sich für eine weiße Küche im Landhausstil. Der alte Holzfeuerherd stand immer noch in der Ecke, und sobald Björn die Zeit fand, würde er testen, ob er noch funktionierte.

Ihre kleine Tochter Anna rollte in ihrem Laufstühlchen durch das Wohnzimmer und lutschte dabei an einem Spielzeugauto ihres großen Bruders. Der ein Jahr ältere Theo hatte schon die magische YouTube-Welt entdeckt. Gerade saß er auf der weißen Wohnzimmercouch, über die sie vorsorglich einige Decken gebreitet hatte, und schaute sich eine Folge von »Bob der Baumeister« an.

Björn war heute Morgen in aller Frühe aus dem Haus gegangen, um eine Runde über den Kai zu drehen. Sie freute sich, dass er sich allmählich auf Smögen einlebte. Und egal, wohin er ging, seine Kamera nahm er mit.

Victoria hörte, wie Theo draußen auf der Veranda »Bapa, Bapa!« rief und auf seinen Vater zustürmte, der gerade zur Tür hereinkam.

»Hallo! Kannst du bitte mal kommen?«, bat Björn.

Seine Wangen waren gerötet. Als sie sich kennenlernten, hatte er schwarze Haare gehabt, mit leicht angegrauten Schläfen. Doch inzwischen wiesen Haupthaar und Bart nur noch vereinzelte schwarze Strähnen auf. In nicht allzu ferner Zukunft würde Björns Bart komplett silbergrau sein.

»Sie haben heute Morgen einen ertrunkenen Mann im Hafenbecken gefunden«, sagte Björn. Er klang außer Atem. »Dennis war auch da, er stand auf der anderen Seite der Absperrung, aber ich glaube nicht, dass er mich gesehen hat. Ich hatte die Kamera dabei und habe ein paar Bilder gemacht. Das war vielleicht etwas unpassend, ich weiß, aber ich konnte einfach nicht anders. Ich hatte das richtige Objektiv dabei, die Aufnahmen sind ziemlich gut geworden.«

Viktoria ging in den Anzeige-Modus und zoomte ein Foto näher heran, auf dem das Gesicht des Mannes ziemlich deutlich zu erkennen war. Sie drehte die Kamera, um das Bild im Querformat zu betrachten.

»Setz deine Brille auf«, bemerkte Björn ein wenig gereizt. Victoria versuchte häufig, ohne ihre Lesebrille zu sehen, weil sie keine Lust hatte, nach ihr zu suchen. In der letzten Zeit hatte ihre Weitsichtigkeit stark zugenommen.

»Um Gottes willen! Das muss Sebastian sein!«, rief Victoria entsetzt, als sie endlich ihre Brille auf der Nase hatte.

»Sebastian? Welcher Sebastian?« Björn kannte noch nicht alle Inselbewohner.

»Sofies Freund. Du weißt schon. Die Sofie, die mit Maya befreundet ist«, erwiderte Victoria zerstreut. Ein ungutes Gefühl sagte ihr, dass der Sommer nicht ganz so verlaufen würde, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie beschloss, ihren Bruder Dennis anzurufen. Er müsste seit gestern Abend auf Smögen sein. Aber warum hatte er sich nicht sofort nach seiner Ankunft gemeldet?

Eva wohnte direkt neben ihren Eltern, und die Grundstücke teilten sich einen gemeinsamen Garten. Wobei die Bezeichnung Garten etwas hochgegriffen war: Es handelte sich um ein kleines Rasenviereck zischen den Häusern, auf dem Veras Bobbycar und ein paar andere Spielsachen herumlagen. Es dauerte einen Moment, bis Eva öffnete. Sie trug noch ihren Schlafanzug und hatte sich einen roten Bademantel übergezogen.

»Oma, Oma!«, rief ein kleines Mädchen, das Vera sein musste.

»Nein, Vera. Oma kommt später. Das ist Dennis, ein Freund von Mama«, erklärte Eva. Vera wirkte fröhlich und aufgeweckt. Ihre Augen blitzten schalkhaft.

»Darf ich reinkommen?«, fragte Dennis.

»Natürlich«, erwiderte Eva ohne großen Enthusiasmus. Sie sah aus, als hätte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan.

Dennis setzte sich im Wohnzimmer auf das Sofa. Durch die Spitzengardinen sickerten ein paar Sonnenstrahlen.

»Ist Åke inzwischen nach Hause gekommen?« Dennis suchte Evas Blick, doch sie wich ihm aus.

»Nein, Polizei und Rettungsdienst haben die ganze Nacht mit Booten und Hubschraubern nach ihm gesucht, ohne Erfolg. Ich habe ›Missing People‹ kontaktiert. Wenn die Polizei ihn bis heute Nachmittag nicht findet, schicken sie einen Suchtrupp los.«

»Ja, ich habe den Post auf Facebook gelesen«, sagte Dennis. »Die Jungs aus meiner Band und ich gehen mit.« Zwar war er momentan auf eigenen Wunsch vom Polizeidienst beurlaubt, aber als Privatperson würde er dennoch alles tun, um Åke zu finden. Heute Morgen war er bis an die Landspitze von Kleven gejoggt, um nachzusehen, ob er in Richtung Penningskär etwas entdecken konnte. Doch das Meer und die Buchten von Kleven hatten allem Anschein nach ruhig und verlassen dagelegen. Auch Åkes Boot hatte er nicht gesehen.

Es klopfte, Eva ging zur Tür und öffnete.

»Hallo, Eva!«, begrüßte sie der Polizeibeamte auf der Schwelle. Dennis erkannte Paul Hammarbergs Stimme sofort. Eine Polizistin, die hinter Paul stand, stellte sich als Sandra Haraldsson von der Polizei Kungshamn vor.

»Habt ihr ihn gefunden?«, fragte Eva knapp.

»Dürfen wir reinkommen?« Paul und seine Kollegin gingen an ihr vorbei durch die Veranda und setzten sich an den Küchentisch. Eva nahm gegenüber von ihnen Platz.

»Eva, wir haben heute Morgen einen ertrunkenen Mann im Hafenbecken gefunden. Aber es ist nicht Åke. Wir wollten, dass du es von uns erfährst, bevor irgendwelche Gerüchte die Runde machen. So etwas führt häufig zu Missverständnissen. Wir suchen weiter nach Åke, aber noch besteht kein Grund zur Sorge. Er taucht bestimmt bald wieder auf.« Die Polizeibeamtin warf Paul einen undefinierbaren Blick zu.

Eva nickte, konnte die Tränen aber nicht zurückhalten. Pauls Kollegin ging um den Tisch und legte ihr den Arm um die Schultern.

»Ihr Mann ist bestimmt bald wieder bei Ihnen«, sagte sie.

Eva schüttelte den Arm der Polizistin ab und gab deutlich zu verstehen, dass sie ihr nicht glaubte. Sie wandte sich ab, um nach ihrer Tochter zu sehen. Vera saß neben Dennis auf dem Sofa, und die beiden blätterten zusammen ein Totte-Buch durch. Dennis las gerade aus »Totte badet« vor.

Paul folgte ihrem Blick. Als er Dennis entdeckte, verdüsterte sich seine Miene.

»Dennis, es ist am besten, wenn du jetzt gehst«, sagte er. »Eva braucht Ruhe.«

Dennis sah auf. Beruflich zeigten Paul und er eigentlich nie, dass sie einander kannten. Wenn sie sich bei irgendwelchen dienstlichen Anlässen gesehen hatten, waren sie sich bisher geschickt aus dem Weg gegangen.

»Es ist am besten, wenn ihr jetzt geht«, erwiderte Eva und ließ Paul nicht aus den Augen. Dennis merkte, dass Paul das ganz und gar nicht passte, doch er fügte sich. Seine Kollegin und er verließen die Küche und gingen hinaus zu ihrem Streifenwagen.

Smögen, 2. November 1837

Die Tür schlug mit einem lauten Knall hinter ihm zu. Anna-Katarina saß neben der Küchenbank auf dem Boden, und trotz der feuchtkalten Luft in der Kate war ihr Gesicht schweiß­überströmt. Die Haare klebten ihr an Stirn und Wangen. Carl-Henrik stürzte zu ihr hin und strich ihr die nassen Strähnen aus dem Gesicht.

»Atme, Liebste«, beschwor er sie.

»Jaa«, stöhnte Anna-Katarina. Dieses Stöhnen kannte er aus seiner Kindheit, er hatte früher häufig genug bei der Entbindung seiner kleinen Geschwister zugesehen. Anna-Katarina schrie. Wenn ihm diese Schreie nicht so vertraut gewesen wären, hätte er geglaubt, sie läge im Sterben, doch bisher schien alles so zu verlaufen, wie es sollte.

»Warte hier, ich bin gleich zurück«, sagte er ruhig und stand auf. Anna-Katarina sah ihn verzweifelt an. Er strich ihr über den Kopf und versuchte, ihr mit seinem festen Blick zu verstehen zu geben, dass alles gut gehen würde.

Er verließ die Hütte und hastete zur Kaufmannskate hinüber, die nur einige Schritte entfernt lag. Die Kaufmannskate unterschied sich nicht von ihrer eigenen Behausung, wurde aber so genannt, weil ihr Besitzer, Herr Kreutz, als Kaufmann arbeitete und nicht wie Carl-Henrik ein einfacher Strandsitzer war. Ohne anzuklopfen, öffnete er die Tür und ging hi­nein.

»Es ist so weit«, sagte er.

Die Kaufmannsfamilie saß gerade am Tisch und löffelte ihre Suppe.

»Wir essen«, brummte Herr Kreutz, ohne von seinem Teller aufzublicken.

Frau Kreutz kommentierte die Bemerkung ihres Mannes mit einem Schnauben und ging zu dem Schrank, in dem sie ihr Leinen aufbewahrte. Die fünf Kinder blickten Carl-Henrik mit leuchtenden Augen an. Plötzlich wurde er verlegen.

»Nehmen Sie das mit und machen Sie Wasser heiß«, sagte Frau Kreutz. »Ich komme.«

4

Paul Hammarberg saß an seinem Schreibtisch. Das Kungshamner Polizeirevier befand sich seit einem Umzug im Industriegebiet am Stadtrand von Kungshamn, in direkter Nachbarschaft von einem Taxistand und einer Elektrofirma. Ihm wäre es lieber gewesen, zentraler angesiedelt zu sein, am besten in der Nähe des Hafens so wie früher, aber egal. Mittlerweile war er zum Dienststellenleiter aufgestiegen, da spielte die Lage der Wache eine untergeordnete Rolle. Er hatte gerade mit Camilla Stålberg telefoniert, der Chefin der Bezirkskriminalpolizei Göteborg. Sie bestand darauf, Verstärkung zu schicken. Er hatte versucht zu erklären, dass er mit dem Fall allein zurechtkam, doch davon wollte sie nichts wissen. Die Kriminaltechniker schlossen ein Verbrechen hinter Sebastian­ ­Svenssons Tod nicht aus. Deshalb hielt man die Anwesenheit eines erfahrenen Voruntersuchungsleiters für erforderlich. Paul wurde in seinen Gedanken unterbrochen, als Sandra den Kopf zur Tür hereinsteckte.

»Hast du Mittagessen dabei?«, fragte sie. Auf dem Rückweg von Eva war Paul schweigsam gewesen, und Sandra schien ihn aufmuntern zu wollen, bevor sie nach der Mittagspause mit den Zeugenbefragungen begannen.

»Ja, habe ich«, erwiderte er. Seine Frau Agneta hatte ihm die Reste des gestrigen Kohlpuddings mit Salzkartoffeln und Sahnesoße eingepackt, dazu noch Preiselbeerkompott. Das Essen stand schon im Kühlschrank des Polizeireviers. In seiner Jugend war Paul durchtrainiert und schlank gewesen, hatte sich mit Windsurfen und Krafttraining fit gehalten. Doch in den letzten Jahren, seit die Kinder zur Welt gekommen waren, lag das Training auf Eis, und er wurde zusehends fülliger.

Das Telefon klingelte, Paul nahm ab. Es war die Rechtsmedizinerin Miriam Morten. Er bedeutete Sandra, dass er gleich nachkäme. Als er das Gespräch beendet hatte, ging er in die Küche und setzte sich an den Tisch. Sandra hatte schon für sie gedeckt und das Essen in der Mikrowelle aufgewärmt.

»Was glaubst du?«, fragte Sandra. »Ist er betrunken vom Kai ins Wasser gefallen, oder haben wir es mit einem Verbrechen zu tun?«

Sandra war eine Polizeianwärterin aus Lysekil, die ein halbes Jahr mit ihm zusammenarbeiten sollte. Sie war nicht so clever und routiniert wie er, aber ehrgeizig und meistens gut gelaunt.

»Das am Telefon war Miriam aus der Rechtsmedizin. Sie hat gesagt, dass Sebastian betäubt war, als er im Wasser landete«, antwortete Paul mechanisch.

»Dann stecken wir also in einer Mordermittlung«, stellte Sandra fest.

»Nein, so würde ich es noch nicht formulieren«, erwiderte Paul hastig. »Wer hätte einen so jungen Mann wie Sebastian ermorden wollen?«, fuhr er fort.

»Seine Freundin vielleicht«, spekulierte Sandra, »oder deren Vater. Möglicherweise war Sofies Vater mit Sebastian als zukünftigem Schwiegersohn und damit auch Erben seines Vermögens nicht einverstanden. Vielleicht hatten sie einen Streit, von dem wir nichts wissen.«

»Warum passieren solche Schurkereien immer nur auf Smögen? Einbrüche, Taschendiebstähle und der ganze andere Kram. Und jetzt womöglich sogar ein Mord«, ereiferte sich Paul.

»Na ja, diese Dinge passieren auch an anderen Orten«, erwiderte Sandra, »nicht zuletzt in Kungshamn.« Sie kannte die ständigen Sticheleien zwischen den alteingesessenen Bewohnern von der Insel Smögen und dem benachbarten Kungshamn, dem Hauptort der Gemeinde, doch sie hatte keine Lust, in diese Kabbeleien mit hineingezogen zu werden.

»Ich kann Sofies Vater anrufen und ihn bitten, heute Nachmittag zu einer Befragung vorbeizukommen. Vielleicht kommen wir weiter, wenn wir die Aussagen von Hafenkapitän Neo Waltersson und Sofies Vater vorliegen haben.«

»Mmh«, murmelte Paul, den Mund voller Kohlpudding. Wenn es um Hausmannskost ging, reichte niemand an Agnetas Kochkünste heran.

»Gute Idee«, antwortete er, als der Bissen in seinem Magen angekommen war. Dass ausgerechnet jetzt ein Mordfall auf seinem Schreibtisch landete, kam zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Agneta würde wahnsinnig werden, wenn er nicht wie versprochen am Freitag in Urlaub ging. Am besten wäre es, wenn sie einen Mord ausschließen könnten. Aber dafür müsste er den Befund der Rechtsmedizin widerlegen – oder anders interpretieren: Vermutlich hatte Sebastian einfach zu viel von irgendeiner dieser lebensgefährlichen Drogen geschluckt, die die Kids heutzutage im Internet bestellten. Dass ein Mörder in Sotenäs sein Unwesen trieb, war völlig absurd. Hoffentlich würden die Befragungen am Nachmittag seine Theorie diesbezüglich untermauern.

»Kochst du eine Kanne Kaffee für den Vernehmungsraum?«, bat er Sandra und stand vom Tisch auf, ohne seinen Teller oder sein Glas abzuräumen.

Dennis schloss das Steuerhaus ab und sprang auf den Steg. Er wollte zu seiner Vermieterin, um die erste Monatsmiete zu bezahlen.

»Wie lange bleiben Sie hier?«, erklang eine Stimme aus dem Bootsschuppen, der in unmittelbarer Nähe der Dolores lag. Dennis drehte sich um, ging zu der geöffneten Tür und blickte hinein. Ein Mann mit einer Schiffermütze und einem kurzen weißen Bart, der den Großteil seines Gesichts bedeckte, war damit beschäftigt, ein Fischernetz zu flicken.

»Nur eine Weile«, antwortete Dennis und lächelte schief. Er streckte eine Hand aus, doch der Mann machte keinerlei Anstalten, sie zu ergreifen.

»Dürfen Sie auf dem Kutter wohnen?«, fragte er stattdessen mürrisch. Er sprach Dänisch, doch Dennis verstand, was er sagte.

»Ja, das geht in Ordnung«, erwiderte Dennis betont fröhlich, um den Mann milder zu stimmen.

»Ich arbeite hier, und ich möchte nicht, dass von morgens bis abends Leute um meinen Bootsschuppen herumlaufen«, fuhr der Däne im selben unwirschen Tonfall fort.

»Keine Sorge, ich habe nicht vor, wilde Partys zu feiern. Deswegen bin ich nicht hier.«

»Und weshalb sind Sie hier?«, fragte der Mann, und seine Stimme klang nach wie vor alles andere als entgegenkommend. Dennis wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Er hatte keine konkreten Pläne und konnte sie daher auch niemandem mitteilen.

»Wohnen Sie auf Smögen?«, startete er einen neuen Versuch.

»Ja, das tue ich«, antwortete der Däne.

»Dann werden wir uns bestimmt häufiger begegnen«, sagte Dennis und verabschiedete sich mit einem Winken.

»Das fürchte ich auch«, erwiderte der Däne und widmete sich wieder seinem Netz.

Gunnel wohnte in einer dieser kleinen, schmucken alten Fischerhütten mit Steinfundament und frisch gestrichener weißer Holzfassade. Dennis konnte sich gut vorstellen, in einem solchen Haus zu leben. Es ähnelte dem Haus seiner Schwester in der Vikingagatan und Hunderten anderen Fischerkaten auf Smögen. Dennis klopfte an. Gunnel kam in einem pinken Hausanzug zur Tür. Er reichte ihr den Briefumschlag mit der Miete.

Als er mit ihr telefoniert hatte, hatte er eine Mittsechzigerin vor sich gesehen, doch die Frau vor ihm auf der Treppe war schätzungsweise Anfang dreißig. Sie hatte eine schlanke Figur, und blonde Locken umrahmten ihr Gesicht.

»Komm rein, ich habe Kaffee gekocht«, sagte Gunnel.

»Ach, ich wollte nur schnell die Miete vorbeibringen«, versuchte Dennis, das Angebot abzulehnen.

»Aber auf eine Tasse Kaffee wirst du doch hereinkommen können«, erwiderte sie lächelnd.

Gunnel lebte erst seit Kurzem auf Smögen, und Dennis nahm an, dass sie noch keinen besonders großen Bekanntenkreis auf der Insel hatte. Er betrat das Haus, und Gunnel führte ihn ins Wohnzimmer. Dort war alles weiß: die Sofas, die Bodendielen, die Möbel, die Wände und die Decke. Die einzige Ausnahme bildete ein Strauß rosa Pfingstrosen auf dem Wohnzimmertisch. Und Gunnels pinkfarbener Hausanzug. Sie holte große weiße Keramikbecher aus der Küche und stellte eine Platte mit noch warmem Gebäck auf den Tisch.

»Gefällt es dir auf Smögen?«, fragte Dennis, bevor er in ein köstliches Cremetörtchen biss.

»Ja, bisher hatte ich alle Hände voll zu tun, das Haus zu renovieren und den Keller auszubauen, um ein Zimmer vermieten zu können. Jetzt waren gerade die ersten Gäste da, ein deutsches Ehepaar. Ich musste mein Schuldeutsch wieder hervorkramen«, lachte Gunnel ein bisschen verlegen. »Als sie heute Vormittag abreisten, bedankten sie sich und sagten, das Zimmer sei sehr ›gemütlich‹. Das hat mich natürlich gefreut. Fühlst du dich auf der Dolores wohl?«

»Das Boot ist perfekt für mich«, versicherte Dennis.

»Fühlt sich ein bisschen merkwürdig an, dich auf einem Fischkutter wohnen zu lassen, wo ich doch die Kellerwohnung habe. Aber von den Touristen bekomme ich natürlich siebenhundert Kronen pro Übernachtung, das würde für dich auf die Dauer ziemlich kostspielig.«

»Mach dir keine Gedanken, das Boot ist wunderbar«, erwiderte Dennis. »Ich habe sogar schon einen Nachbarn«, fügte er lachend hinzu.

»Ach ja, richtig, der Däne«, antwortete Gunnel. »Er heißt Mik und ist nicht besonders glücklich darüber, dass der Kutter dort am Steg liegt. Doch da hat er kein Mitspracherecht.«

»Vielleicht kommt es ihm auch nicht gerade gelegen, dass ein Polizist direkt neben seinem kleinen Fischereibetrieb eingezogen ist«, meinte Dennis lächelnd.

»Gut möglich.« Gunnel lächelte ebenfalls.

»Ich denke, dass ich bis Oktober auf dem Boot wohnen bleiben werde«, fuhr Dennis fort.

»Du kannst den Kutter mieten, solange du willst. Die Witwe, von der ich das Haus gekauft habe, sagte, dass er von ihrem Mann stammt, der vor einigen Jahren verstorben ist. Er hatte ihn von seinem Vater geerbt, und wenn ich sie richtig verstanden habe, hat er der Fischersfamilie, die in diesem Haus lebte, über mehrere Generationen ein Auskommen gesichert. Ich habe ihn zum Haus dazubekommen und weiß nicht so recht, was ich damit anfangen soll.« Gunnel bekam mit einem Mal einen besorgten Gesichtsausdruck. »Hast du übrigens von dem ertrunkenen Mann gehört, den man heute Morgen im Hafenbecken gefunden hat?«

»Ja, ich war zufällig sogar am Kai, als er geborgen wurde«, sagte Dennis.

»Weiß man, wer der Mann ist?«, fragte Gunnel.

»Sein Name war Sebastian, und er arbeitete bei Smögen-Bau.« Weiter wollte Dennis auf dieses Thema nicht eingehen, und Gunnel hakte nicht nach.

Kurz darauf verabschiedete er sich. Auf dem Rückweg schmeckte er immer noch die Cremetörtchen auf seiner Zunge. Statt des Nickerchens im Liegestuhl an Deck, auf das er sich gefreut hatte, würde er joggen gehen und sich anschließend unter die Dusche stellen. Er hatte nicht vor, diesen Sommer auch nur ein einziges Kilo zu viel auf den Rippen mit sich herumzutragen. Auch wenn er bald vierzig wurde, würde er keinen Bierbauch ansetzen. Als er Eva besucht hatte, war ihm aufgefallen, dass Paul Hammarberg ordentlich an Gewicht zugelegt hatte, und das amüsierte ihn. Seit Paul vor sechs, sieben Jahren Vater geworden war, hatte er ihn nicht mehr häufig zu Gesicht bekommen. Aus Kungshamn waren keine größeren Polizeiermittlungen gemeldet worden, jedenfalls nichts, was bis in die Kreise der Göteborger Polizei vorgedrungen wäre. Dennis fragte sich, wie Paul in diesem Fall vorzugehen gedachte. War Sebastian ertrunken? Oder würde sein Bauchgefühl recht behalten, das ihm sagte, dass Sebastian ermordet worden war?

Hafenkapitän Neo Waltersson betrat das Polizeirevier. Tatsächlich war er noch nie zuvor hier gewesen. Die Dienststelle wirkte schlicht und klein. Die Polizeibeamtin, die er auf dem Kai getroffen hatte, kam ihm entgegen und begrüßte ihn.

»Hallo, ich bin Sandra Haraldsson. Willkommen«, sagte sie in einem bestimmten, aber freundlichen Ton.

»Ich sollte mich um eins auf der Wache einfinden«, erwiderte Neo und merkte, dass er nervös klang. Warum eigentlich? Es gab nichts, weshalb er sich Sorgen machen müsste.

Sandra bat ihn, in einer Art Besprechungsraum Platz zu nehmen. Die Wände waren ebenso gelb wie die um einen rechteckigen Tisch gruppierten Armlehnstühle.

»Paul Hammarberg kommt gleich zu Ihnen. Sie können gerne einen Kaffee trinken.« Auf dem Tisch standen eine Thermoskanne und einige Pappbecher. Doch Neo würde wie immer heute Nachmittag um drei Uhr gemeinsam mit seiner Frau Kaffee trinken, und von einer Kaffeetafel zur nächsten zu ziehen kam nicht infrage. Greta backte beinahe täglich.

Paul Hammarberg betrat den Raum und setzte sich an den Tisch. In seinen Mundwinkeln klebten Gebäckkrümel. Keiner von ihnen schenkte sich Kaffee ein.

»Ist es Ihnen recht, wenn ich unser Gespräch aufzeichne?«, fragte Paul, nachdem er Neo höflich begrüßt hatte.

»Natürlich«, antwortete Neo. Inzwischen hatte sich seine Nervosität gelegt, und er fühlte sich ein wenig schläfrig. Um diese Tageszeit hielt er normalerweise ein Nickerchen.

»Was ist heute Morgen passiert? Können Sie mir schildern, was Sie gemacht haben?«, begann Paul Hammarberg und faltete die Hände auf dem Tisch.

Neo erzählte, was geschehen war, von der schreienden Frau im Wasser und wie er sie an Bord der Motorjacht gezogen hatte. Er hatte auch den toten Mann aus dem Wasser gehievt, weil er befürchtete, die Leiche könnte davontreiben und schwieriger zu bergen sein. In dem Moment hatte er angenommen, dass der Mann ertrunken war, und nicht den geringsten Verdacht gehegt, es könne sich um ein Verbrechen handeln. Viel mehr als das konnte er nicht sagen.

»Wo waren Sie gestern im Laufe des Tages und am Abend?«, fragte Paul, nachdem er ein paar Notizen auf seinen Block gekritzelt hatte.

Neo wurde unbehaglich zumute; er fühlte sich angegriffen, antwortete aber weiter auf die Fragen: »Nachmittags war ich unten am Kai, und als ich nach Hause kam, haben meine Frau und ich ferngesehen. Gegen dreiundzwanzig Uhr sind wir ins Bett gegangen.«

»Um wie viel Uhr sind Sie nach Hause gekommen?«

»Um halb sieben. Um diese Zeit essen wir zu Abend. Und danach haben wir uns eine Dokumentation über Schneeleoparden angesehen.«

»Kann Ihre Frau das bestätigen?«, hakte Paul nach.

Er schlug wieder denselben offiziellen Tonfall an wie bei ihrer Begegnung am Vormittag.

»Natürlich kann sie das?«, erwiderte Neo barsch, dessen Laune jetzt wirklich auf dem Nullpunkt war. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, stand auf und erkundigte sich, ob Paul noch weitere Fragen an ihn habe.

»Nein, fürs Erste sind wir fertig. Melden Sie sich bitte, falls Ihnen noch etwas einfällt.« Pauls Stimme klang jetzt milder, als wolle er das Gespräch in einer freundschaftlicheren Atmosphäre beenden. Neo nahm widerwillig seine Visitenkarte entgegen, dann drehte er sich um und verließ das Polizeirevier.

Er setzte sich ins Auto und fuhr in Richtung Brücke. Dieser verfluchte Grünschnabel. Aber was hatte er auch erwartet? Paul kam aus Kungshamn. Die Kungshamner hielten sich für etwas Besseres als die Inselbewohner. Er war jedenfalls froh, dass er Paul Hammarberg nichts von dem Ring erzählt hatte.

Dennis schleppte die Teile seines Schlagzeugs Stück für Stück die steile Treppe aus dem Laderaum des Fischkutters hinauf. Der Geruch der unzähligen Tonnen von Fischen, die dort unten im Laufe der Jahrzehnte nach Luft geschnappt hatten, während sie darauf warteten, auf dem Markt verkauft zu werden, hing nach wie vor in der Luft. Doch nun eignete sich der Raum hervorragend als Lagerplatz. Dennis war es gelungen, seine alten Bandmitglieder zusammenzutrommeln, mit denen er früher in den Sommermonaten immer gejammt hatte. Ihre letzte Probe war bestimmt über fünfzehn Jahre her, und die meisten hatte er seitdem nicht mehr getroffen. Brickan und Affe spielten Gitarre, Kalle übernahm meistens den Bass. Dennis selbst wechselte zwischen Schlagzeug und Hammond-Orgel hin und her, und Micke war der Mann am Saxofon. Jeder von ihnen sang. Ihr gemeinsames Interesse am Windsurfen und an der Musik der Sechziger- und Siebzigerjahre hatte sie zusammengeführt.

Als Dennis das Schlagzeug und alle anderen Sachen auf den Kai geschleppt hatte, war er komplett durchgeschwitzt. Er musste den Landungssteg abholen, den er in der Tischlerei in Auftrag gegeben hatte, damit er den Kutter leichter be- und entladen konnte. Dennis sah auf die Uhr. Wenn er sich sofort auf den Weg machte, hatte er noch genügend Zeit, um vor der Probe bei Smögen-Bau vorbeizufahren. Er verstaute sämtliche Sachen im Kofferraum und auf dem Beifahrersitz. Das Auto war für einen Drummer definitiv nicht geeignet. Bevor er losfuhr, schlüpfte er noch rasch in ein hellblaues Leinenhemd, das er locker über die Jeans fallen ließ.

Dennis spürte die Blicke des Dänen, vermied jedoch, in dessen Richtung zu sehen. Dass der neue Nachbar auch noch Schlagzeug spielte, erfreute ihn ganz sicher nicht.

Als er vor der Tischlerei parkte, die auf Kleven neben einem Geschäft für Bootszubehör lag, blieb Dennis einen Moment im Auto sitzen. Eigentlich war es nicht der passende Tag, um Pelle Hallgren einen Besuch abzustatten. Schließlich hatte er einen seiner Angestellten verloren, und sein Geschäftspartner Åke Strömberg galt als vermisst, doch zu guter Letzt siegte Dennis’ Neugier. Die Ladentür stand offen. Da er im Geschäft niemanden entdeckte, ging er auf die Rückseite und betrat den Außenhof der Baustoffabteilung. Unter einer Regenschutzplane warteten hohe Holzdielenstapel auf die unzähligen Kunden, die eifrig dem Trend folgten, ihre Häuser rundum mit Holzterrassen zu umgeben. Auch in der Baustoffabteilung war kein Angestellter zu sehen. Etwas weiter hinten auf dem Gelände befand sich ein Arbeitsschuppen, dessen Tür offen stand. Dennis ging hinein, auf einem Tisch an der rückwärtigen Wand fiel ihm ein Architekturmodell aus weißen und roten Holzklötzen und Styropor auf.

Er trat näher, um es genauer zu betrachten. Im ersten Moment hatte er keine Ahnung, was das Modell darstellte, doch dann dämmerte es ihm. War es wirklich das, was er glaubte? Entsetzt betrachtete er die Miniaturabbildung.

Auf dem Hof erklangen Schritte, Dennis drehte sich um und ging wieder nach draußen. Die Schritte entfernten sich, Dennis folgte dem Geräusch. Es war nicht Pelle, es musste einer der angestellten Tischler sein. Als der Mann Dennis bemerkte, drehte er sich hastig um und lief davon. Instinktiv sprintete Dennis ihm hinterher. Der Typ verließ die Baustoffabteilung durch den hinteren Ausgang und hielt auf die Klippen zu. Obwohl er eine Tischlerhose trug, in deren Taschen sicher schwere Werkzeuge steckten, war er schnell. Dennis gab sich alle Mühe, dem Mann auf den Fersen zu bleiben. Ihm steckte noch die Müdigkeit von seiner morgendlichen Joggingrunde in den Beinen. Doch er lief weiter die Klippen hinauf. Erst auf der äußersten Spitze von Kleven hatte die Verfolgungsjagd ein Ende. Der Mann, der sich als etwa zwanzigjähriger Jungspund entpuppte, stolperte über eine Spalte zwischen den Klippen und stürzte zu Boden.

»Warum zum Teufel sind Sie abgehauen?«, keuchte Dennis und schnappte nach Luft.

»Ich dachte, Sie wären von irgendeiner Behörde«, antwortete der junge Mann.

»Was für eine Behörde sollte das sein? Das Finanzamt? Keine Sorge, es ist mir völlig egal, ob du schwarzarbeitest.«

»Bitte sagen Sie Pelle nichts davon«, bat der Mann.

Dennis reichte ihm die Hand und zog ihn auf die Füße.

»Schwimmen Sie eine Runde, das erfrischt«, sagte er, bevor er zu seinem Auto zurückging. Jetzt war er spät dran. Eigentlich hatte er seine alten Kumpel damit überraschen wollen, pünktlich zur Probe zu erscheinen.

Smögen, 3. November 1837

Carl-Henrik legte seine neugeborene Tochter zurück in die Arme seiner Ehefrau. Am frühen Morgen hatten sich die tiefen Sorgenfalten auf Frau Kreutz’ Stirn geglättet, und mit einem Lächeln hatte sie Anna-Katarina das kleine Mädchen an die Brust gelegt. Trotz der mageren Gestalt seiner Frau hatte der Säugling bekommen, was er benötigte. Beim Anblick des winzigen Gesichtchens lief Carl-Henrik eine Träne über die Wange. Die Freude machte ihm das Herz leicht, aber der andauernde Sturm erfüllte ihn mit Sorge und Rastlosigkeit. Anna-Katarina hatte immer noch kein Wort darüber verloren, doch ihm war klar, dass der Hunger unerträglich für sie sein musste. Mutter und Tochter lagen dicht beieinander auf der Küchenbank, und er sah, wie das kleine Mädchen das letzte bisschen Kraft aus seiner Liebsten saugte, Tropfen für Tropfen. Er musste endlich etwas zu essen besorgen. Wenn Anna-Katarinas Milch versiegte, würde das Mädchen womöglich nicht überleben.

Sich in den Sturm hinauszubegeben war töricht, doch er musste nachsehen, ob das Unwetter abflaute. Er zog seinen Mantel an, klappte den Kragen hoch und strebte gegen die heftigen Böen ankämpfend an die Spitze von Kleven.

Carl-Henrik blickte auf das tosende, windgepeitschte Meer hinaus. Hohe Wellen brachen sich an den Klippen, und die Gischt überspülte ihn, obwohl er ein gutes Stück entfernt stand.

In den grauen, aufgewühlten Wogen machte Carl-Henrik ein Segelschiff aus, das westlich vom Leuchtturm der Insel Hållö in Seenot geraten war. Er musste sich niederkauern und an einem Heckenrosenbusch festhalten, um nicht von den Wellen mitgerissen zu werden. Kurz darauf war der Zweimaster so nah, dass er erkannte, was an Bord geschah. Der Kapitän stürzte an Deck, er hatte einen buschigen roten Bart. Das Schiff krängte auf eine Weise, die Carl-Henrik noch nie zuvor gesehen hatte. Der Steuermann wurde hin und her geschleudert, während er verzweifelt versuchte, das Ruder in der Hand zu behalten. Stürme vor Sotenäs waren keine Seltenheit, doch dieser wütete schlimmer als alle seine Vorgänger. Carl-Henrik sah, wie das Schiff steuerlos in den Sund zwischen Sälö und Hållö trieb, nicht weit entfernt von Smögens sicherem Hafen. Das Großsegel hatte sich losgerissen, und die Rahnocken stießen an beiden Seiten der engen Fahrrinne ans Ufer. Der Steuermann hatte inzwischen vollständig die Gewalt über das Ruder verloren, und es wirbelte so schnell hin und her, dass es ihn mit einer Drehung enthauptete. Der Kopf des Steuermanns flog über Bord in die aufgewühlte See.

Carl-Henrik erschauerte, und obwohl er ein derart grausames Schauspiel nicht zum ersten Mal verfolgte, musste er sich übergeben. Das karge und harte Leben an der Küste von Bohuslän hatte ihm etliche Male sein grausames Gesicht offenbart, doch es war immer noch genauso schmerzhaft.

Der Kapitän stürzte an das Ruder und versuchte, es wieder unter Kontrolle zu bekommen, um den Zweimaster durch den Sund zu manövrieren. Es gelang ihm, das Schiff aus der Meerenge zu steuern, doch Carl-Henrik sah, dass er zusehends ins flache Fahrwasser vor Penningskär geriet, dessen Klippen sich heimtückisch unter der Wasseroberfläche ausbreiteten. Er hatte sich nicht getäuscht: Kurz darauf lief das Schiff auf Grund. Nach einer Weile glückte es dem Kapitän jedoch, das Schiff mithilfe zweier Anker so gut festzumachen, dass es den Sturm überdauern konnte, bis die Lotsen und Fischer von Smögen der Besatzung zu Hilfe eilten. Als Carl-Henrik die Handfackel aufleuchten sah, drehte er sich um und ging zurück zu seiner Kate. So gerne er hinausgerudert wäre, um der Mannschaft behilflich zu sein, ihm waren die Hände gebunden. Der Sturm und die Wellen würden ihn in seinem Kahn gegen die Klippen schleudern und zerschmettern. Der Zweimaster lag sicher vor Anker, und sobald sich das Wetter beruhigte, würde er hinausrudern. Jetzt konnte er nur abwarten.

5

Victoria verstaute die Wickeltasche im Auto und schnallte Anna in ihrem Kindersitz an. Eigentlich war sie nicht gestresst, doch sie wollte so schnell wie möglich zum Supermarkt. So kurz vor Mittsommer konnten die neuen Kartoffeln hier in der Küstenregion schnell ausverkauft sein. Sie hatte schon vor einigen Tagen mehrere Kilo besorgt, doch nachdem ihre Arbeitskollegin Monica angerufen und gefragt hatte, ob sie auch kommen dürfte, war sie sich nicht mehr sicher, ob die Menge ausreichte. Natürlich freute sie sich, dass Monica Mittsommer mit ihnen zusammen feiern wollte. Victoria fuhr in Richtung Brücke. Der örtliche Supermarkt auf Smögen war in der Regel gut sortiert, doch sie nutzte gerne die Gelegenheit, um einen Abstecher in den Supermarkt nach Kungshamn zu machen. Zum einen war das Angebot dort größer, und zum anderen konnte sie auf diese Weise zweimal über die Smögenbron fahren. Die Aussicht von der Brücke war einfach traumhaft, besonders an sonnigen Tagen wie heute, wenn Millionen Lichtreflexe das Meer zum Glitzern brachten.

Victoria setzte Anna, die im Auto eingeschlafen war, mitsamt Kindersitz in den Einkaufswagen und steuerte die Obst- und Gemüseabteilung an, wo sich vor den Frühkartoffeln bereits eine Schlange bildete. Als sie ihre Portion ergattert hatte, entdeckte sie Eva vor einer der Auslagen. Vera saß zufrieden im Einkaufswagen und trällerte ein Lied.

»Eva, wie geht es dir?«, erkundigte sich Victoria leise, als sie die beiden erreichte.

Eva schaute Victoria mit übernächtigten Augen an. Åke war inzwischen seit fast vierundzwanzig Stunden verschwunden. Wie hoch die Chancen standen, ihn noch lebend zu finden, war ungewiss.

»Du weißt also Bescheid«, sagte Eva bedrückt.

»Ja, ich habe es heute Morgen erfahren. Aber solltest du unter diesen Umständen wirklich einkaufen? Willst du dich nicht lieber ausruhen?«

»Ich finde aber keine Ruhe«, erwiderte Eva. »Ich kann nicht tatenlos zu Hause rumsitzen. Außerdem versteht Vera ja gar nicht, was los ist. Sie erwartet, dass immer Programm ist, wie sonst auch.«

Ein unangenehmes Schweigen entstand. Victoria hatte keine Ahnung, was sie noch sagen sollte, doch Eva half ihr.

»Aber sag mal, wie alt ist diese kleine Dame eigentlich? Sie ist ja wirklich zum Anbeißen! Dennis hat erzählt, dass ihr kurz nach Theo noch einmal Nachwuchs bekommen habt. Ist das nicht ziemlich anstrengend?«

Eva gab sich Mühe, fröhlich und unbeschwert zu klingen, als sie mit Anna sprach, die sich verschlafen in der fremden Umgebung umblickte.

»Sie ist vier Monate. Am Anfang war es schwer. Björns Vater ist außerdem im letzten Jahr gestorben. Das alles hat Zeit und Kraft gekostet. Aber jetzt wollen wir hier oben einen ruhigen Sommer verbringen. Ich bin mit Anna in Elternzeit, und Björn mit Theo, wir wollen so lange wie möglich gemeinsam auf Smögen bleiben. Das Haus ist noch nicht komplett fertig, aber wir lassen es ruhig angehen und erledigen eine Sache nach der anderen.«

Da packte Eva sie plötzlich fest am Arm. »Victoria! Åke ist ermordet worden!«, platzte es aus ihr heraus.

»Was?! Warum glaubst du das?« Victoria starrte ihre Freundin entsetzt an.

»Ich spüre es einfach«, erwiderte Eva und presste die Lippen aufeinander. Dann verabschiedete sie sich rasch und eilte in Richtung Kassen davon.

Anna begann zu quengeln. Eine Weile hatte sie fröhlich und gut gelaunt im Einkaufswagen gesessen, doch jetzt war ihr langweilig, und sie hatte Hunger. Victoria ging also zur Kasse, hastete dann weiter zum Auto und packte alle Tüten in den Kofferraum. Wie immer hatte sie viel mehr eingekauft als nur die Frühkartoffeln, deretwegen sie hergekommen war. Wegen Monica hatte sie das Gefühl, extra auftischen zu müssen. Monica besaß einen erlesenen Geschmack, oder jedenfalls tat sie so, als ob. Victoria war wild entschlossen, dass sich das Mittsommerbüfett vor Delikatessen biegen würde. Nachdem sie Anna gestillt hatte, machte sie sich auf den Heimweg.

Bevor sie nach Hause fuhr, hielt sie bei Dennis’ Kutter. Sie konnte direkt am Kai parken. Anna war während der Fahrt wieder eingeschlafen, und Victoria ließ sie im Schatten der alten Garnelenfabrik im Auto sitzen. Als sie zum Fischerboot ging, sprang gerade eine Frau von der Dolores auf den Steg. Sie trug eine weiße Jeans und eine lachsfarbene Bluse. Ihre Schuhe waren auf den Farbton der Bluse abgestimmt. Die Frau nickte ihr zu und schlüpfte an ihr vorbei. Victoria drehte sich um und schaute ihr hinterher, als sie an ihrem Auto vorbeiging, in dem Anna mit offener Tür schlief.

»Wer war das?«, fragte sie Dennis neugierig.

»Meine Vermieterin Gunnel.«

Dennis stand an Deck an einem Tischgrill und bereitete Maiskolben, ein Fischfilet und einige Limettenscheiben zu.

»Aha, aber was wollte sie denn hier?«, erkundigte sich Victoria, deren Neugier immer noch nicht gestillt war.

»Bist du plötzlich unter die Detektive gegangen?« Dennis lachte. »Sie hat mir ein paar Briefe gebracht. Ich lasse mir meine Post an ihre Adresse nachsenden.«

»Das nenne ich Service.« Victoria grinste, und sie mussten beide lachen.

»Dennis, hör mal!« Victoria wurde wieder ernst. »Ich habe Eva im Supermarkt in Kungshamn getroffen. Sie glaubt, dass Åke ermordet wurde. Wie kommt sie darauf?«

»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Dennis.

»Du musst ihn finden«, sagte Victoria, »bevor Eva den Verstand verliert.«

»Das werde ich«, versicherte Dennis und schaute auf das Skagerrak hinaus, wo ein Motorboot die glitzernde Wasseroberfläche auf dem Weg in den Hafen zerteilte.

Paul Hammarberg bat Sandra, zur Tür zu gehen und einen Blick auf den Parkplatz des Polizeireviers zu werfen. Pelle Hallgren von der Firma Smögen-Bau war weder zur vereinbarten Zeit auf der Wache erschienen noch ans Telefon gegangen, als ihre Kollegin Helene Berg ihn angerufen hatte.

Die Rechtsmedizinerin hatte sich noch einmal gemeldet, und zwar mit einer ungünstigen Information: Das Narkosemittel, von dem sie Spuren in Sebastian Svenssons Mund gefunden hatten, wurde vor allem in Zoos verwendet. Die Theorie, dass er irgendeine Droge konsumiert hatte, die im Internet erhältlich war, mussten sie fallen lassen. Und ­obwohl immer noch Unklarheit über Sebastians genaue Todes­ursache herrschte, war eine Ermittlung zum Tatbestand Mord ­beziehungsweise Totschlag eingeleitet worden. Als Paul an das Versprechen dachte, das er seiner Frau gegeben hatte, spürte er einen Kloß im Hals. Fünf Wochen Urlaub gleich nach Mittsommer. Doch nun befürchtete er, dass ihm viele lange Arbeitstage samt Nachtschichten bevorstanden. Und jetzt war auf Geheiß von Camilla Stålberg auch noch Ragnar Härnvik als zusätzliche Verstärkung aus Göteborg angereist. Paul würde sich richtig ins Zeug legen müssen.

Paul rief nach Ragnar und Sandra. Ragnar Härnvik musste sich so schnell wie möglich in den Fall einarbeiten. Er bat sie, zu Smögen-Bau zu fahren und Pelle Hallgren zur Vernehmung zu holen. Selbst wenn er tatsächlich beruflich so stark eingespannt war, wie er behauptete, hatte er sich auf dem Polizeirevier einzufinden, wenn er die Aufforderung erhielt. Ordnung musste schließlich sein.

Ragnar Härnvik übernahm das Kommando und setzte sich hinters Steuer, als sie ins Auto stiegen. Sandra spürte, wie sie innerlich bereits kochte. Sie war sich sicher, dass sie sich in dieser Gegend bedeutend besser auskannte als er, aber als Polizeianwärterin musste sie sich in Geduld üben. Allerdings passte es ihr ganz und gar nicht, dass Ragnar sie ihren untergeordneten Rang spüren ließ, auch wenn sie sich noch in der Ausbildung befand.

Sandra, die es gewöhnt war, neben dem hochaufgeschossenen Paul zu sitzen, sah aus dem Augenwinkel zu Ragnar hinüber, der sich strecken musste, um über das Lenkrad sehen zu können.

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