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Stumme Wut

Das Harkness-Massaker jährt sich zum 20. Mal. Es gibt keine Spuren und nur einen damals elfjährigen Zeugen, der nicht spricht. DCI Matilda Darke wird nach einer mehrmonatigen Zwangspause mit dem unaufgeklärten Doppelmord betraut. Genau das, was die Leiterin der Mordkommission nicht wollte: das Abstellgleis. Doch plötzlich weist ein neues Verbrechen Verbindungen zum Harkness-Fall auf. Entgegen ihrer Befehle ermittelt Matilda in dem aktuellen Mord. Es ist ihre letzte Chance, den Täter von einst zu fassen und sich ihren Vorgesetzten zu beweisen.

"DCI Matilda Darke wird es nach ganz oben schaffen" - James Oswald


  • Erscheinungstag: 02.01.2018
  • Aus der Serie: Dci Matilda Darke
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677202
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Mum

Danke. Vielen Dank für alles.

PROLOG

Der Raum hätte das Wohnzimmer jedes beliebigen Hauses des Landes sein können, in Wirklichkeit aber befand er sich mitten im Hauptquartier der Polizei von South Yorkshire und sollte eine entspannte, behagliche Atmosphäre vermitteln. Von außen betrachtet wirkte er friedlich und einladend, doch hätten die Wände reden können, hätten sie eine andere Geschichte erzählt. Hier wurden Kinder getröstet, die ihre Eltern verloren hatten. Opfer von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch durften auf Tee und Mitgefühl hoffen. Weibliche Constables mit frischen Gesichtern, sanften Stimmen und einem nie versiegenden Vorrat an Papiertaschentüchern standen bereit, um älteren Menschen, die Opfer von Gewaltverbrechen geworden waren, zur Seite zu stehen.

Auf dem Boden saß ein blonder, blauäugiger Elfjähriger in einem grauen Trainingsanzug, der ihm nicht gehörte. Er war umgeben von Zeichenpapier, einem Sammelsurium aus Wachsmalkreiden, Bunt- und Filzstiften. Neben ihm kauerte ein junger Beamter, der entgegen der Anordnung seiner Vorgesetzten die Uniform nicht gegen Zivilkleidung getauscht hatte.

Die Tür schwang auf, und Dr. Sally McCartney kam herein. Im Gegensatz zu dem Constable hatte sie sich bemüht, freundlicher und inoffizieller zu erscheinen. Verschwunden waren der Pferdeschwanz und das konservative Jackett. Sie hatte die Brille abgenommen und Kontaktlinsen eingesetzt, obwohl sie dabei immer mit der Angst davor kämpfen musste, die eigenen Augäpfel zu berühren. Sie warf dem Constable einen verärgerten Blick zu. Er hätte wenigstens die Uniformjacke ablegen können. »Hallo, Jonathan«, sagte sie. Der kleine Junge blickte nicht von seinen Zeichnungen auf. »Mein Name ist Sally. Ich möchte mich ein bisschen mit dir unterhalten. Ist dir das recht?«

Er kritzelte weiter auf seinem Blatt herum. Sally McCartney kauerte sich hinter ihn und sah ihm über die Schulter. Er hatte ein Haus gezeichnet und malte soeben einen großen Baum aus, der davorstand.

»Ist das euer Haus?«

Jonathan nickte.

»Es ist sehr hübsch. Der Baum auch. Kletterst du gerne darin herum?« Keine Antwort. »Wo ist dein Zimmer?«

Er deutete auf das Fenster oben rechts mit den blauen Vorhängen, bevor er weiter den Baum ausmalte.

»Gehört das Zimmer daneben deinem Bruder?« Er nickte wieder.

»Jonathan, wir suchen nach ihm, konnten ihn aber bis jetzt nicht finden. Weißt du, wo er sein könnte?«

Jonathan hörte auf zu zeichnen und sah gedankenverloren auf. Er richtete den Blick auf Dr. McCartney und fixierte sie mit ausdruckslosen Augen. Dann wandte er sich wieder seinem Bild zu.

»Jonathan, wir müssen deinen Bruder finden. Das ist sehr wichtig. Kennst du seine Freunde?«

Die Tür öffnete sich, und Detective Sergeant Pat Campbell steckte den Kopf herein. Sie war seit mehr als zwanzig Stunden im Dienst und wirkte ausgelaugt. Sie bedeutete Dr. McCartney, zu ihr in den Korridor hinauszukommen.

»Warum hat dieser Constable nicht wie angeordnet seine verdammte Uniform ausgezogen?«, fragte Sally, bevor Campbell Gelegenheit hatte, etwas zu sagen.

»Weiß ich nicht. Es wäre besser gewesen.« Sie seufzte und verdrehte die Augen. »Hat der Junge etwas gesagt?«

»Noch nicht.«

»Es ist ungeheuer wichtig, dass wir seinen Bruder finden.«

»Ich hörte, dass seine Mutter noch am Leben ist. Wie geht es ihr?«

»Keine Ahnung, wo dieses Gerücht herkommt. Beide Eltern wurden noch am Tatort für tot erklärt. Sie sind brutal erstochen worden.«

»Mein Gott. Das sollte er vorerst nicht erfahren.«

»Wir haben eine Verwandte in Newcastle ausfindig gemacht. Sie ist auf dem Weg hierher, wird aber noch ein paar Stunden brauchen. Hören Sie, was immer in dem Haus geschehen ist, er hat es gesehen oder zumindest gehört. Ich muss es erfahren.«

»Das ist mir klar.«

Pat Campbell blickte über die Schulter der Ärztin durch das schmale Glasfenster der Tür in den Raum, in dem der kleine Junge ungerührt weitermalte, als wäre nichts Außergewöhnliches passiert. »Was macht er für einen Eindruck auf Sie?«

»Er hat sich komplett in sich zurückgezogen, was allerdings nicht ungewöhnlich ist. Das menschliche Gehirn braucht eine Weile, um traumatische Ereignisse zu verarbeiten, und so lange schaltet es ab. Das ist reiner Selbstschutz.«

»Dann wird er also bald aus diesem … Zustand herauskommen und uns sagen können, was vorgefallen ist?«

»Theoretisch ja.«

»Warum nur theoretisch?«

»Je nachdem, was er gesehen hat, will sein Gehirn sich vielleicht nicht daran erinnern.«

»Verdammt noch mal«, fluchte Campbell und lehnte sich müde gegen die Wand. »Was ist mit den Zeichnungen?«

»Diese Methode hilft kleinen Kindern, das Erlebte zu verarbeiten. Ihre Zeichnungen sind normalerweise Ausdruck dessen, was in ihren Köpfen vorgeht. Hoffentlich helfen seine uns zu verstehen, was in diesem Haus passiert ist, und darauf bauen wir dann die Therapie auf.«

»Und was hat er bisher gemalt?«

»Ein Haus und einen Baum.«

»Können Sie daraus irgendwelche Schlüsse ziehen?«

»Noch nicht.« Sie lächelte schief. »Dafür ist es noch zu früh. Offensichtlich betrachtet er die Geschehnisse von außen. Falls sein nächstes Bild auch ein Haus zeigt, werde ich ihn fragen, was sich darin befindet, und sehen, was er malt, wenn ich über die Räume im Haus spreche.«

Pat schüttelte den Kopf. »Mein Gott, der menschliche Verstand ist ganz schön kompliziert, nicht wahr? Ich beneide Sie nicht um Ihren Job.«

Darauf wusste die Ärztin nichts zu sagen. Manchmal beneidete sie sich selbst nicht darum. »Besteht die Möglichkeit, ihm eigene Kleidung zu besorgen? Dieser Trainingsanzug ist scheußlich.«

»Ich lasse ihm etwas aus dem Haus holen.«

»Und wie wär’s mit einem Glas Milch und etwas Schokolade?«

»Was immer Sie wollen.«

»Vielen Dank.«

Sie wandte sich ab und kehrte ins Zimmer zurück. Jonathan hatte zwei Erwachsene und ein Kind gezeichnet und malte gerade ein zweites Kind: seine Familie. Dr. McCartney beugte sich über ihn und beobachtete, wie er an den Details arbeitete – Haare, Kleidung, Augen, Lächeln. Dann griff er nach einem roten Filzstift und schmierte das Blatt mit heftigen Bewegungen, die die Ärztin und den Constable zusammenzucken ließen, damit voll. Er hörte nicht auf, bis seine Mutter, sein Vater und sein Bruder völlig mit Blut bedeckt waren.

KAPITEL 1

Zwanzig Jahre später

Matilda Darke hatte diesen Tag neun Monate lang herbeigesehnt. So lange war sie durch einen tiefen Sumpf schmerzlicher Emotionen gewatet. Sie reichten von einer schweren Depression, in der sie den Rest ihres Lebens im Bett verbringen wollte, bis zu hysterischen Anfällen, bei denen sie sich aus unerklärlichen Gründen die Seele aus dem Leib weinte. Nach einer langwierigen kognitiven Verhaltenstherapie, wöchentlichen Besuchen bei einer Therapeutin und Unmengen Antidepressiva war sie wieder ganz auf der Höhe – das redete sie sich jedenfalls ein.

Es war der erste Montag im Dezember. Zwei Stunden bevor der Wecker klingelte war sie in einem eiskalten Haus aufgewacht. Die Zentralheizung war nicht angesprungen, und laut dem Digitalthermometer auf dem Fensterbrett lag die Temperatur draußen bei vier Grad minus. Im Haus fühlte es sich nicht viel wärmer an.

Sie duschte sich warm, dann würgte sie ihr Frühstück, das aus zwei Scheiben Vollkorntoast und schwarzem Kaffee bestand, hinunter. Das Kauen fiel ihr schwer. Ein Teil von ihr freute sich darauf, mit hoch erhobenem Kopf zur Arbeit zurückzukehren und der Welt zu zeigen, dass mit ihr noch zu rechnen war. Ein anderer Teil weinte still vor sich hin und sehnte sich ins sichere Bett zurück.

Ihr drei Jahre alter Ford Focus stotterte erst in der Kälte, der Motor wurde aber relativ schnell warm. Er schien zu wissen, dass sie an diesem Tag keine Schwierigkeiten gebrauchen konnte. Zwanzig ereignislose Minuten später war Matilda am Ziel, holte tief Luft und bog mit einem leisen Lächeln links auf ihren angestammten Parkplatz ein.

Sie trat heftig auf die Bremse und umklammerte das Lenkrad. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und das kribbelnde Gefühl, das sich in ihrem Nacken breitmachte, kündigte eine Panikattacke an. »Walpole, Compton, Pelham, Newcastle, Devonshire«, flüsterte sie atemlos.

Sie starrte den schwarz glänzenden Audi an, der auf ihrem angestammten Parkplatz stand. Wem gehörte er? Hatte man den Besitzer nicht informiert, dass sie wieder da war? Sie konnte den Kloß in ihrem Hals nur mit Mühe hinunterschlucken. Auf einmal fand sie gar nicht mehr, dass das mit der Rückkehr eine gute Idee gewesen war.

Eine Viertelstunde später hatte sie ihr Auto in einer Parklücke an der Rückseite des Gebäudes abgestellt und saß auf einem unbequemen Stuhl, dessen Polsterfüllung herausquoll, während sie darauf wartete, ins Büro ihrer Chefin vorgelassen zu werden.

Sie sah sich in dem kleinen Vorzimmer um, betrachtete die billigen Drucke an den Wänden. In einer Ecke stand eine große Vase mit Plastikblumen. Die künstlichen Blütenblätter waren von einer dicken Staubschicht bedeckt, die ihre leuchtenden Farben zu einem trüben Grau dämpfte. Der beißende Geruch eines Desinfektionsmittels mit Kiefernduft hing in der Luft und kratzte ihr in der Kehle.

Die Lampe über der Tür sprang auf Grün.

»Scheiße«, sagte sie zu sich selbst. »Na dann.«

Sie stand auf und strich ihren dunkelblauen Hosenanzug glatt. Er war das erste Kleidungsstück, das sie seit über einem Jahr gekauft hatte, und zu ihrem Entsetzen hatte sie festgestellt, dass sie eine Konfektionsgröße zugelegt hatte. Sie fuhr sich durchs dunkelblonde Haar. Ihr Friseurbesuch war erst eine Woche her. Matilda war einundvierzig Jahre alt und fühlte sich wie ein Schulmädchen, das man wegen Mogelns bei der Mathearbeit zum Direktor zitiert hatte.

Bevor sie die Klinke hinunterdrückte, betrachtete sie ihre Hände. Sie zitterten. Das war kein gutes Zeichen.

»Da sind Sie ja! Schön, Sie wiederzusehen.« Jedes Wort klang wie ein eigener Satz. Es war natürlich höchst unprofessionell, aber Assistant Chief Constable Valerie Masterson sprang auf, kam hinter ihrem übergroßen Schreibtisch hervor und zog Matilda in eine feste Umarmung. »Nehmen Sie doch Platz. Ich habe gerade frischen Kaffee gekocht.«

Sie setzten sich, und die schmale Assistant Chief Constable wirkte beinahe zwergenhaft an dem massiven Tisch. Eine ganze Weile nahmen sie sich schweigend in Augenschein. Valerie kam Matilda wesentlich älter vor als dreiundfünfzig. Sie hatte seit ihrer letzten Begegnung abgenommen und ein paar neue Falten bekommen, wie ein Reifen, in dem ein Nagel steckte und dem allmählich die Luft ausging. Matilda fragte sich für einen kurzen Moment, ob Valeries Urteil über ihr eigenes Aussehen wohl ähnlich unerfreulich ausfiel. Merkt sie, dass ich zugenommen habe? Ist meine Frisur in Ordnung? Sehe ich älter aus?

»Sie sehen sehr gut aus«, log Valerie recht überzeugend.

»Danke. So fühle ich mich auch«, log Matilda zurück.

Valerie Masterson war koffeinsüchtig und mochte das schwarze Zeug aus den Automaten nicht, die an strategischen Punkten der Polizeistation standen. Deshalb hatte sie ihre persönliche Gaggia in ihrem Büro. Sie schenkte ihnen je eine mittelgroße Tasse ein, Kaffee mit Milch und einem Löffel Zucker für sich selbst, schwarz für Matilda. Das hatte sie sich gemerkt.

»Na, sind Sie bereit für Ihren ersten Arbeitstag?«

»Absolut. Ich will das letzte Jahr hinter mir lassen und so schnell wie möglich zur Normalität zurückkehren.«

»Das denke ich mir. Leider kann ich Sie nicht sofort in den aktiven Dienst zurückschicken.«

Das starre Lächeln in Matildas Gesicht erlosch unvermittelt. »Warum nicht? Wir haben doch letzte Woche am Telefon besprochen …«

»Ich muss mich an die Vorgaben Ihres psychiatrischen Gutachtens halten.«

»Meines was?«

Valerie lehnte sich vor und fischte eine braune Aktenmappe aus den Tiefen ihrer Ablage. Sie zog ein fünfseitiges Gutachten heraus und überflog es.

Matilda hätte ihr das Dokument am liebsten aus den Händen gerissen. Sie wollte wissen, was diese herablassende Therapeutin über sie zu sagen hatte.

»Es besteht kein Grund zur Sorge. Ich kenne keine Details Ihrer Sitzungen bei Dr. Warminster. Diese unterliegen der Schweigepflicht, wie Sie wissen. Ihre Therapeutin wurde jedoch gebeten, uns vor Ihrer Rückkehr schriftlich mitzuteilen, ob Sie den Dienst ihrer Ansicht nach schon wieder aufnehmen können und welche Arbeitsbelastung zumutbar ist.«

»Sie hat etwas dagegen, dass ich wieder Vollzeit arbeite?« Unter dem Schreibtisch ballte Matilda die Fäuste so fest, dass sich die Fingernägel in die Handflächen gruben. Ihre Knöchel verfärbten sich weiß. Der Schmerz wanderte ihre Arme hoch, und sie spürte die Erleichterung, die er ihr bereitete.

»Ganz und gar nicht. Sie hat ein geradezu überschwängliches Gutachten verfasst. Sie bewundert Ihren Mut und Ihren Genesungswillen.« Die Assistant Chief Constable lächelte.

War das ein echtes oder ein gezwungenes Lächeln? Die Fältchen um die Augen, die es als echt ausgewiesen hätten, fehlten, allerdings war in ihrem Gesicht kaum noch Platz für weitere Falten. Matilda schalt sich, weil ihre Gedanken abschweiften. »Aber …«

»Sie ist nur nicht der Ansicht, dass Sie sofort wieder die Abteilung leiten sollten. Sie empfiehlt, dass Sie sich langsam einarbeiten, und ich neige dazu, ihr zuzustimmen.«

»Ist das eine freundliche Art, mir zu sagen, dass Sie mich degradieren?« Die ganzen neun Monate ihrer Abwesenheit hatte Matilda die Vorstellung gequält, man könnte ihr den Titel des Detective Chief Inspectors wegnehmen, für den sie so hart gearbeitet hatte.

»Ich degradiere Sie nicht, Matilda. Sie sind eine der besten DCIs in South Yorkshire. Ihre gute Arbeit und Ihr Engagement sind allgemein bekannt. Ich kann Ihnen nur keinen großen Fall übertragen, bis alle beteiligten Parteien sicher sind, dass Sie wieder voll einsatzfähig sind.«

»Alle beteiligten Parteien?«

»Sie, ich, Dr. Warminster, der Chief Constable. Wir stehen alle zu hundert Prozent hinter Ihnen.«

Newcastle, Bute, Grenville, Rockingham, Pitt der Ältere, zählte sie in Gedanken auf. Warum reichte allein der Name ihrer Therapeutin, um Angstgefühle auszulösen? Zur Bewältigung von Stresssituationen rezitierte Matilda die Namen britischer Premierminister, eine Technik, die ihr ausgerechnet Dr. Warminster vorgeschlagen hatte. Matilda war sich darüber im Klaren, dass die Rückendeckung ihrer Vorgesetzten ein leeres Versprechen war. Ja, sie hatte einen Fehler begangen, und ja, sie hatte dafür bezahlt. »Hören Sie, es ist nicht zu leugnen, dass ich mich im letzten Jahr verändert habe, aber ich bin immer noch DCI. Ich bin in der Lage, meinen Job zu machen. Wenn ich das nicht glauben würde, wäre ich jetzt nicht hier.« Sie fragte sich, wen sie eigentlich zu überzeugen versuchte.

Valerie griff in die oberste Schreibtischschublade und zog eine dicke Akte heraus. Sie hatte schon bessere Tage gesehen und war mit Kaffeetassenringen und Spritzern übersät. »Erinnern Sie sich an die Harkness-Morde?«, fragte sie, faltete die Hände und legte sie auf den Ordner.

Matilda wusste, worauf das hinauslief. »Sie übertragen mir einen ungeklärten Fall?«

»Ich möchte nur, dass Sie ihn sich mal ansehen. Einen Monat lang, höchstens sechs Wochen.«

»Gibt es neue Hinweise?«

Valerie senkte den Blick auf den Ordner. »Nicht direkt.«

»Was soll das heißen?« Matilda verschränkte die Arme. Sie spürte wieder dieses Kribbeln im Nacken.

»Sind Sie mit dem Fall vertraut?«

»Jeder kennt diesen Fall. Er gehört zur Geschichte Sheffields.«

»Das Haus wird morgen abgerissen.«

»Wurde auch langsam Zeit.«

»Letzte Woche rief mich ein Reporter von The Star an. Er wollte wissen, ob wir den Fall wieder aufnehmen.«

»Das sieht dann ja wohl so aus.«

»Aufgrund von Budgetkürzungen haben wir leider keine Kommission mehr, die sich ruhenden Fällen widmet. Dass das Haus abgerissen wird, ist nicht nur von lokalem Interesse, es wird auch überregional Aufmerksamkeit erregen. Der Fall hat damals ganz schön Wellen geschlagen. Ich möchte nicht, dass jemand denkt, man könnte in South Yorkshire mit Mord davonkommen.«

»Es geht also vor allem um PR?«

»Ich glaube fest daran, dass wir den Fall aufklären können. Er mag lange zurückliegen, doch der Täter steckt irgendwo in dieser Akte. Ich weiß es. Wenn es jemanden gibt, der den Mörder von Stefan und Miranda Harkness finden kann, dann Sie, Matilda.«

Matilda wusste, dass das nur ein Trostpflaster war. Dass sie die Entführung Carl Meagans versiebt hatte, war den Einwohnern von Sheffield noch bestens im Gedächtnis. Es hätte nicht gut ausgesehen, wenn eine Ermittlerin, über deren Kopf eine düstere Wolke hing, einen wichtigen Fall leitete. Sollte es ihr aber gelingen, einen bekannten ungelösten Fall aufzuklären, wären alle zufrieden. Sie streckte die Hand nach der Akte aus, zuckte jedoch wieder zurück.

Grafton, North, Wentworth, Petty, North und Fox.

»Ich brauche einen DC.«

»Ich teile Ihnen einen zu.«

»Außerdem brauche ich ein Büro zum Arbeiten.«

»Kein Problem.«

»Wo sind die Beweismaterialien?«

»Auf dem Weg aus dem Lager hierher. Sie haben Zugriff auf alles, was mit dem Harkness-Fall zu tun hat, und freie Hand, was Vernehmungen betrifft.«

Matilda verdrehte die Augen. Die Beweisstücke waren bereits unterwegs. Die Entscheidung war gefallen. Sie fragte sich, ob das für sie den Anfang vom Ende bedeutete. Wollte überhaupt noch irgendjemand mit ihr zusammenarbeiten? »Was, wenn ich den Fall nicht lösen kann?«

»Ich glaube fest an Sie.«

»Das beantwortet meine Frage nicht.«

»Dann bleibt er ungelöst.«

»Werde ich zur Mordkommission zurückkehren, wenn das hier vorbei ist?«

»Das wird zu gegebener Zeit überprüft.«

Sie spürte einen Spannungskopfschmerz in sich aufsteigen. Der Impuls, ihre Marke auf den Tisch zu werfen und den Dienst zu quittieren, brodelte in ihr und stand kurz vor dem Ausbruch.

»Sind Sie noch bei Dr. Warminster in Behandlung?«, fragte Valerie, als sie sah, dass die DCI auf ihrer Unterlippe herumkaute.

»In dieser Frage habe ich kein Mitspracherecht. So ähnlich wie hier gerade.«

»Matilda, im vergangenen Jahr hat sich bei uns viel verändert. Bearbeiten Sie diesen Fall, gehen Sie weiter zu Ihren Sitzungen bei Dr. Warminster, und jeder ist glücklich.«

»Außer mir.«

»Haben Sie wirklich geglaubt, Sie könnten so mir nichts, dir nichts direkt wieder an die Front zurückkehren, als wäre nichts geschehen?«

»Ja. Die Untersuchungskommission hat mich von jeder Schuld freigesprochen. Ich sollte da weitermachen dürfen, wo ich aufgehört habe.«

»Das werden Sie auch. Dies ist die letzte Hürde. Hören Sie, die Polizei von South Yorkshire genießt im Moment keinen besonders guten Ruf. Die Hillsborough-Untersuchung und der Kindesmissbrauchsskandal von Rotherham bereiten mir Kopfzerbrechen, und das sind nur zwei von vielen Dingen, mit denen ich mich herumschlagen muss. Ich darf Sie nicht einfach wieder in die vorderste Reihe schicken, als wäre nichts passiert.«

Widerwillig griff Matilda nach der Akte. Sie fürchtete, dass es kein Zurück mehr gab, sobald ihre Finger die Mappe berührten.

»Es gibt noch eine Bedingung …«, begann Valerie.

Natürlich.

»Dr. Warminster hat für Sie reduzierte Arbeitszeiten empfohlen.«

Matilda blieb stumm. Man hatte sie ihrer Kompetenzen und ihrer Rolle innerhalb der Polizeitruppe beraubt und sie von den Kollegen isoliert. Was jetzt kam, konnte sie ebenso wenig beeinflussen und war es nicht wert, dafür zu kämpfen. Diese Schlacht konnte sie nicht gewinnen.

»Sie dürfen den Dienst nicht vor neun Uhr antreten und müssen das Revier um sechzehn Uhr verlassen haben. Ist das klar?«

Matilda stand auf und presste die Akte an die Brust. »Kein Problem«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Dann komme ich wenigstens rechtzeitig nach Hause, um meine Gameshows zu sehen.«

Sie machte auf dem Absatz kehrt und eilte hinaus. Am liebsten hätte sie die Tür hinter sich zugeknallt, doch damit wartete sie besser, bis sie zu Hause war. Dort würde sie auch aus voller Kehle in ein Kissen hineinbrüllen – eine weitere stresslindernde Übung, die diese doppelzüngige Harpyie Dr. Warminster empfohlen hatte.

KAPITEL 2

Das große Einfamilienhaus stand auf einem weitläufigen Grundstück im Stadtteil Whirlow. Es lag in einiger Entfernung zur Hauptstraße, und eine einstmals säuberlich geschnittene immergrüne Hecke versperrte nach wie vor den Blick darauf. Die geschotterte Zufahrt verzweigte sich. Ein Weg führte zu einer zweiflügeligen Haustür, der andere zu einer imposanten frei stehenden Garage neben dem Haus. Es war aus rotem Backstein erbaut worden, stammte aus viktorianischer Zeit und verfügte über zwei eindrucksvolle Schornsteine und große Fenster.

Es hätte viel Pflege bedurft, das alte Haus und den Garten instand zu halten, damit das Anwesen seinen ursprünglichen Glanz nicht verlor. Unglücklicherweise hatte sich in den letzten zwanzig Jahren niemand dieser Aufgabe angenommen. Die immergrüne Hecke hatte wild vor sich hin wuchern können, ihre Äste hingen leblos herab, und das früher leuchtende Grün wirkte stumpf und glanzlos.

Der Garten war verwildert, und die Zufahrt verschwand fast völlig unter Unkraut und braunem Laub. Das Haus war völlig zerfallen. Eingeworfene Fenster waren mit billigem Sperrholz vernagelt worden. Ein Schornstein war eingestürzt, und jemand hatte das Blei vom Dach gestohlen, auf dem nur noch wenige Ziegel verblieben. Graffiti bedeckte das Garagentor.

Ein hölzerner Bauzaun umgab das Gelände. Provisorisch befestigte Zettel wiesen Passanten darauf hin, dass der Abriss des Hauses unmittelbar bevorstand. Das einstmals hochherrschaftliche Gebäude war zu einem Schandfleck verkommen, der mittlerweile den Verkaufswert der umliegenden Immobilien minderte.

Auf der von der Straße abgewandten Seite des Grundstücks gab es eine Lücke zwischen dem letzten Zaunelement und der Hecke. Sie war schmal, aber wer dünn genug war, konnte sich hindurchwinden, ohne von der Hauptstraße aus gesehen zu werden.

Als er es geschafft hatte, klopfte der Mann in Schwarz seine Kleidung ab, richtete sich auf und betrachtete das Haus. Es war ein Jammer, das einst beeindruckende Bauwerk in einem derartigen Zustand des Verfalls vorzufinden.

Viel war nicht zu sehen. Die Fenster im Erdgeschoss waren alle mit Brettern vernagelt. Aber das Vorhängeschloss an der Sperrholztafel am Hintereingang war verrostet und gab nach ein paar Schlägen mit einem Stein nach. Der Mann stieß die Tür auf und trat ein.

Die Hintertür führte direkt in die Küche, die früher das Herz der Wohnung gewesen war. In der Düsternis lag der bittere Geruch des Todes in der Luft. Spinnweben hingen von Wänden und Leuchten, eine dicke Staubschicht bedeckte jede ebene Fläche. Die Küche war mit allem Komfort ausgestattet, den eine reiche Familie sich damals hatte wünschen können, auch wenn inzwischen das meiste veraltet war. Die Küchenmaschine hatte die Größe einer Mikrowelle. Eine gelbe Salatschleuder stand auf der Arbeitsfläche neben dem Herd. Benutzten die Leute heute noch Salatschleudern?

Der Mann ging weiter in die große Diele. Eine geschwungene Treppe mit kunstvoller Holztäfelung führte in den ersten Stock. Die Stufen wirkten verworfen. Er glaubte nicht, dass er es riskieren sollte, hinaufzusteigen.

Als er ins Wohnzimmer gelangte, stellte er überrascht fest, dass die Möbel noch da waren. Er konnte verstehen, dass Einbrecher mit der mittlerweile antiquierten Küche nichts hatten anfangen können, doch er wunderte sich, dass niemand die Sitzgarnitur oder den riesigen Fernseher mitgenommen hatte. Der Raum weckte angenehme Erinnerungen, und er setzte sich an die Stelle, die er als Kind bevorzugt hatte. Hier, direkt vor dem Fernseher, hatte er ungestört seine Lieblingssendungen sehen können, ohne dass ständig jemand zwischen ihm und dem Bildschirm durchging.

Das Esszimmer bot einen jämmerlichen Anblick. Die Kommode, die das gute Geschirr beherbergt hatte, war umgefallen, und die Teller lagen zerbrochen am Boden. Er bückte sich, um eine Scherbe aufzuheben, wischte den Staub ab und lächelte beim Anblick des rosa Blumenmusters. Seine Mutter hatte dieses Essgeschirr geliebt. Sie hatte es nur zu wichtigen Anlässen hervorgeholt, an Weihnachten, Geburtstagen und zu anderen Festlichkeiten. Wahrscheinlich waren Jugendliche eingebrochen und hatten es zerschlagen, ohne sich über den ideellen Wert Gedanken zu machen.

Von der Diele aus schaute er die Treppe hinauf. Er war versucht hinaufzugehen, obwohl sie baufällig wirkte. Doch er hatte Angst vor dem, was er vorfinden könnte. Wenn die Küche sich noch im selben Zustand befand wie am letzten Abend, als das Haus noch bewohnt gewesen war, wie würde es dann in den Schlafzimmern aussehen? Machte die Polizei nach einem Verbrechen sauber, oder waren die Wände noch bedeckt von getrocknetem Blut, der Teppich mit den Innereien der Opfer verklebt? Hatte man die Körperflüssigkeiten versickern lassen, bis sie in die Seele des Hauses eingedrungen waren und sie verseucht hatten?

Die Erinnerung daran, was im ersten Stock passiert war, machte ihn wütend. Alles kam wieder hoch. Er wollte nicht mehr nach oben, sondern nur noch weg. Er hätte nie herkommen dürfen. Eilig ging er hinaus, knallte die Hintertür hinter sich zu und brachte die Sperrholzplatte so an, wie er sie vorgefunden hatte. Keinen würde es kümmern, dass das Vorhängeschloss aufgebrochen worden war. Er betrachtete seine zitternden Hände. Sie waren schmutzig. Staub hing in seinem Haar, in seiner Nase, seinem Mund. Er schmeckte den Verfall, den Schimmel und die Fäulnis nicht nur des Hauses selbst, sondern auch der Menschen, die einmal darin gewohnt hatten.

KAPITEL 3

Alles war für Matilda bereit. Man hatte ihr einen Raum zugewiesen und die verstaubten Harkness-Akten aus dem Lager geholt.

Das Büro war nicht größer als eine der Arrestzellen in den Eingeweiden des Polizeireviers. Hinter der Tür standen ein alter Mopp und ein Blecheimer, die vor langer Zeit jemand hier vergessen hatte. Das Zimmer roch muffig und feucht. Eine vergilbte Jalousie mit staubverklebten Lamellen hing vor dem einzigen Fenster.

Matilda trat an den Schreibtisch, warf einen raschen Blick auf die Akten und zog an der spröde gewordenen Kordel der Jalousie. Sie riss ab, und das Ding blieb zu. Auf Tageslicht musste sie also verzichten. Als Beleuchtung baumelte eine nackte 60-Watt-Birne von der Decke. Wenn es je ein Büro gegeben hatte, das eine depressive DCI in den Tod treiben konnte, dann war es dieses.

Matilda kehrte dem Fenster den Rücken zu und musterte den Raum, der für die nächsten sechs Wochen ihr Arbeitsplatz sein sollte.

»Willkommen zurück, Matilda«, sagte sie zu sich selbst, »wir haben dich wirklich vermisst.«

Sie sah die verblassten Beschriftungen auf den säuberlich auf ihrem Schreibtisch gestapelten Ordnern. Zeugenaussagen, Bericht der Forensik, Tatortfotos, Polizeiberichte – alles war da. Alles, was sie über den Harkness-Fall wissen musste. Sie streckte die Hand nach einer Akte aus, ergriff sie jedoch nicht. Was war das nur für eine mentale Blockade, mit der sie da plötzlich zu kämpfen hatte?

An einer Ecke des Schreibtischs lag eine Archivbox. Sie beugte sich vor und klappte den Deckel auf. Sie war praktisch leer, abgesehen von einem dicken Taschenbuch. Stirnrunzelnd nahm sie es heraus und untersuchte es. Die Seiten waren vergilbt, und es wirkte ziemlich zerlesen. Das ausgeblichene Cover zeigte eine Tatortszene: den zusammengesunkenen Körper einer nackten Frau, die mit dem Gesicht nach unten auf einem zerknitterten Bett voller Blutspritzer lag. Matilda wusste sofort, worum es sich handelte. Ein Weihnachtsmord von Charlie Johnson war laut Klappentext »der definitive Tatsachenbericht über Großbritanniens größtes ungelöstes Verbrechen«.

Sie erinnerte sich, dass das Buch Ende der 90er Jahre erschienen war, aber sie hatte es nie gelesen. Wenn möglich, mied sie Bücher über wahre Verbrechen.

In der Autorenbiografie stand, Charlie Johnson sei einer der führenden britischen Kriminalschriftsteller und habe in seiner über zwanzig Jahre reichenden Karriere für verschiedene überregionale Zeitungen gearbeitet. Anscheinend hatte er viele von Großbritanniens schockierendsten Verbrechen für die nationalen und internationalen Medien bearbeitet. Matilda fragte sich, ob Charlie Johnson seine Biografie selbst verfasst hatte. Es gab kein Foto von ihm, aber sie stellte sich ihn mit kleinen Schweinsaugen und einem selbstzufriedenen Grinsen vor, das man ihm nur mit einer kräftigen Ohrfeige aus dem Gesicht wischen konnte.

EINLEITUNG

Die britische Polizei ist eine der besten und angesehensten der Welt und verfügt über ein großes Reservoir an engagierten Detectives, die niemals aufgeben, bis sie den Schuldigen gefunden haben. Unglücklicherweise kommt es manchmal vor, dass eine Spur erkaltet. Der Mörder taucht unter, und die Gerechtigkeit für das Opfer hängt in einem ungewissen Schwebezustand fest.

Eines der aufsehenerregendsten Verbrechen der 1990er Jahre war der Fall der Harkness-Morde zur Weihnachtszeit. Ein hart arbeitender Ehemann und seine Frau wurden brutal abgeschlachtet, während ihr jüngstes Kind entsetzt dabei zusehen musste. Was in jener schicksalhaften Nacht geschah, konnte niemals vollständig aufgeklärt werden …

… bis jetzt. Mit ausführlichen Interviews mit Zeugen, Familienangehörigen, Freunden und Nachbarn wirft Ein Weihnachtsmord frisches Licht auf den Fall und …

Das Klingeln ihres Handys unterbrach Matildas Lektüre. Sie war dankbar dafür. Die Einleitung klang, als hätte der Autor bei den Morden Mäuschen gespielt, und verursachte ihr Übelkeit. »Guten Morgen, DCI Darke. Na, wie fühlt es sich an, wieder die Zügel in der Hand zu halten?«, hörte sie eine lebhafte Stimme. Die Anruferin war Adele Kean, die diensthabende Pathologin, Matildas beste Freundin.

Adeles unbekümmerte Art wirkte ansteckend, und Matilda merkte, dass sie zum ersten Mal seit Langem lächelte. »Leider halte ich gar nichts in der Hand. Man könnte sagen, der Gaul ist unter mir zusammengebrochen.«

»Was soll das heißen?«

Matilda lehnte sich vorsichtig in ihrem hölzernen Stuhl zurück und hoffte, dass er nicht so fragil war wie die Jalousie. »Anscheinend kann man mir nicht vertrauen. Ich muss mich erst beweisen, bevor ich wieder bei den großen Jungs mitspielen darf.«

»Ach, Matilda. Das tut mir so leid. Aber wir hatten ja schon befürchtet, dass es so kommen könnte, nicht wahr? Ich vermute, es traf dich nicht völlig unerwartet.«

»Nein, das nicht. Ich darf allerdings nicht mal bei den großen Jungs sitzen. Man hat mir ein schäbiges Büro zugewiesen, das kaum mehr ist als eine Rumpelkammer unter der Treppe.«

»Also wenn es aussieht wie die Abstellkammer unter meiner Treppe, da legt die Katze normalerweise ihre Beute ab. Gib Acht auf tote Spatzen.«

»Dem Geruch nach zu urteilen muss hier ein toter Albatros herumliegen.«

»Sind wenigstens alle froh, dass du wieder da bist?«

»Ich habe noch mit niemandem gesprochen. Sie scheinen mich zu meiden. Keine Ahnung, wovor sie Angst haben. Ich hatte nur eine Unterredung mit der Assistant Chief Constable. Sie hat mir ein Projekt übertragen, bei dem ich keinen Mist anstellen kann.«

»Was denn?«

»Offenbar muss ich erst einen Test bestehen, bevor ich zum nächsten Level aufsteigen darf. Sie hat mir einen ungelösten Fall gegeben«, antwortete Matilda, während sie den ersten Ordner öffnete und einen Blick auf die oberste Seite warf.

»Na, du magst doch Rätsel.«

»Rätsel kann ich lösen. Aber das ist kein ungelöster Fall, sondern ein unlösbarer.«

»Was für ein Fall ist es denn?«

»Die Harkness-Morde.«

»Verdammte Scheiße. Na ja, solltest du etwas mit mir durchsprechen wollen, melde dich einfach. Ich habe nichts dagegen, Jessica Fletcher zu spielen.«

»Ich werde daran denken, bevor ich anfange, mir die Haare zu raufen. Wusstest du, dass das Haus morgen abgerissen werden soll?«

»Ach ja? Okay, überraschend ist das nicht. Es steht seit Jahren leer, und selbst Dracula würde einen Umzug in Erwägung ziehen, wenn er dort lebte.«

Matilda lachte und fühlte, wie sie sich entspannte.

»Es ist schön, dich lachen zu hören, Mat. Treffen wir uns zum Lunch? Panini auf meine Kosten?«

»Ja, gerne. Ich weiß nur nicht, wann ich hier wegkomme.«

»Kein Problem. Ich habe heute frei. Ruf einfach an.«

Matilda versprach es, verabschiedete sich und legte auf. Sie stellte fest, dass sie immer noch lächelte und einen Anflug von Zuversicht verspürte. So wirkte Adele immer auf Menschen. Ihre positive Ausstrahlung war ansteckend wie das Kichern eines Babys. Man hätte Adele auf Flaschen ziehen und Menschen mit Depressionen verschreiben sollen.

Ein Klopfen an der Tür riss Matilda aus ihren Gedanken. Sie ließ den Blick durch das düstere Büro schweifen, und es drehte ihr den Magen um. Wie war es nur möglich, dass ihre Stimmung so unvermittelt ins Gegenteil umkippen konnte? Sie machte sich im Geiste eine Notiz, morgen ihre Antidepressiva mitzubringen.

Sie wollte den Besucher hereinrufen, doch ihr Mund war zu trocken. Sie räusperte sich ein paar Mal und versuchte es erneut.

Die Tür öffnete sich mit lautem Knarren einen Spalt weit. Ein Kopf schob sich hindurch. Es war Detective Sergeant Sian Mills.

»Hallo, ich habe gehört, dass Sie wieder da sind.« Ihre Stimme hatte einen leisen, fast scheuen Unterton, als spräche sie mit einer Patientin, die soeben nach einer schweren Operation aus der Narkose erwacht war.

All die alten, vertrauten Gesichter, die Menschen, mit denen sie zusammengearbeitet hatte, würden sie der Reihe nach aufsuchen und ihr dasselbe Begrüßungsgespräch aufnötigen. Matilda war nicht sicher, ob sie dafür die Kraft hatte. Manche würden es ernst meinen, so wie Sian, anderen würde es eher um die Befriedigung ihrer perversen Neugier gehen. Sie würden sehen wollen, wie es ihr ging, und die blutigen Einzelheiten ihrer Abwesenheit in Erfahrung bringen wollen. Plötzlich wurde Matilda klar, dass sie die menschliche Entsprechung eines Autounfalls war.

Sie holte tief Luft. »Sian, schön, Sie zu sehen. Kommen Sie rein.«

»Willkommen zurück, Mats. Wir haben Sie vermisst. Ehrlich.«

»Vielen Dank. Hübsche Frisur.«

»Danke. Ich war zuerst nicht sicher. Ich fand, ich sehe damit aus wie ein zwölfjähriger Junge. Aber Stuart gefällt es.« Sie strich sich mit der Hand über den ausrasierten Nacken. »Sie sehen … gut aus«, meinte sie, weil ihr kein besseres Wort einfiel. Sie versuchte, die Frau nicht allzu offenkundig anzustarren, die de facto immer noch ihre Chefin war. Doch es war schwierig, eine so drastische Wandlung nicht zur Kenntnis zu nehmen.

»Danke. Ich fühle mich auch gut.« Hörten die Lügen denn an diesem Morgen gar nicht mehr auf?

»Ich wusste nicht, dass Sie heute zurückkommen, sonst hätte ich ein paar Muffins gebacken und eine Willkommenskarte organisiert.«

»Das ist lieb, aber ich will kein Aufhebens.«

»Nein, natürlich nicht. Sie haben recht. Man soll so anfangen, wie man weitermachen will, nicht wahr?« Sie lachte halbherzig.

»In der Art.« Matilda lächelte schwach und warf einen Blick auf die Harkness-Akten.

»Sie müssen unbedingt zur Mordkommission raufkommen und alle begrüßen, eine Tasse Kaffee mit uns trinken.«

»Gut. Später vielleicht.« Noch eine Lüge.

»Wie wär’s mit Mittagessen? Wir könnten einander auf den neuesten Stand bringen. Habe ich schon erzählt, dass Stuarts Vater gestorben ist? Er hat uns nur sein Boot hinterlassen. Ist das zu fassen? Was sollen wir denn in Sheffield mit einem Boot anfangen?«

»Ein andermal gerne. Heute habe ich schon etwas vor.«

»Oh. Klar. Kein Problem. Ich verstehe. Sagen Sie einfach Bescheid.«

»Gut.«

»Na, ich mache mich besser mal wieder auf den Weg.« Sie ging zur Tür. »Es ist wirklich toll, dass Sie wieder da sind.«

Matilda schenkte ihr ein gequältes Lächeln zum Abschied. Jedes Wort wäre ihr in der Kehle stecken geblieben.

Sobald Sian das Büro verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte, spürte Matilda, wie sie sich entspannte. Während der Unterhaltung war sie völlig verkrampft gewesen. Warum war sie in Sians Gegenwart so nervös? Sie kannte sie seit Jahren, hatte bei zahlreichen Ermittlungen mit ihr zusammengearbeitet, mit ihr auf das Rechtssystem geflucht, wenn wieder einmal ein Mörder freigekommen war, und auch bei Weihnachtspartys ein paar Martinis zu viel mit ihr getrunken. Wenn sie sich in Gegenwart einer Freundin nicht entspannen konnte, wie würde sie dann bei anderen reagieren, die sie als reine Kollegen betrachtete?

Pitt der Jüngere, Addington, Pitt der Ältere, Grenville, Cavendish-Bentinck.

Vielleicht war sie zu früh wieder zur Arbeit gegangen, aber wie viel länger hätte sie es noch hinausschieben können? Neun Monate Pause mussten doch mehr als ausreichen.

Sie schüttelte den Kopf, als könne sie damit die düsteren Gedanken vertreiben, und beschloss, sich mit den Archivboxen zu befassen, die im Raum verstreut lagen. Sie hob eine auf und stellte fest, dass sie überraschend leicht war. Sie legte sie auf den Schreibtisch. Es befand sich nur ein einziger Gegenstand darin: das säuberlich zusammengefaltete weiße Hemd eines kleinen Jungen in einem Asservatenbeutel. Die getrockneten Blutflecken auf der Vorderseite standen in krassem Kontrast zu dem schneeweißen Baumwollstoff.

Matilda griff hinein und holte das Hemd heraus. Sie nahm es fest in beide Hände. Als sie in ihrem Gedächtnis kramte, erinnerte sie sich, dass man vor zwanzig Jahren den elfjährigen Jonathan Harkness allein am Tatort vorgefunden hatte. Wie lange war er dort gewesen? Hatte er sich im selben Raum befunden, in dem der Mörder seine Eltern abgeschlachtet hatte? Falls ja, warum hatte er sich nicht auch den Jungen vorgenommen? Vorsichtig und respektvoll legte sie das Hemd in die Box zurück und schloss den Deckel. Ein erneutes Klopfen ließ sie hochschrecken.

Sie schniefte und merkte, dass sie kurz vor einem Tränenausbruch stand. Das war die Wirkung, die der Anblick des blutigen Hemds eines unschuldigen Kindes auf ihren ohnehin labilen Gemütszustand hatte. Hoffentlich wurde das besser, wenn sie sich erst einmal eingearbeitet hatte.

»Herein.«

Diesmal schwang die Tür ganz auf, und Detective Constable Rory Fleming kam hereingerauscht wie Tigger auf Ecstasy.

»Rory, schön Sie zu sehen. Was kann ich für Sie tun?« Sie versuchte, unbekümmert zu klingen, doch es kam ziemlich gepresst heraus.

»Ich bin Ihnen zugeteilt, Ma’am. Für den Harkness-Fall.«

»Ah ja. Kommen Sie herein. Nehmen Sie Platz, sofern Sie irgendwo einen freien Flecken finden.«

Er schloss die Tür und nahm auf dem harten Holzstuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs Platz. Sie musterten sich in unbehaglichem Schweigen.

»Sind Sie froh darüber, wieder hier zu sein?«

»Richtig«, begann sie und schlug die Handflächen auf die Tischplatte, »klären wir erst einmal ein paar Dinge. Erstens: Sie müssen mich nicht behandeln, als wäre ich aus Glas, ich zerbreche schon nicht. Zweitens: Sie müssen nicht aufpassen, was Sie sagen. Irgendwann wird die Sprache auf vermisste Kinder oder Entführungen kommen, und selbst wenn das Erinnerungen hochspült, sind es doch meine Erinnerungen und nicht Ihre, also keine Sorge. Drittens hatte meine lange Abwesenheit persönliche Gründe, die keinen Einfluss auf meine Arbeit haben, daher müssen Sie sie auch nicht kennen. Ist das so weit klar?«

Rory wirkte von ihrer Ansprache leicht verdattert. Er nickte, als wolle er sie erst rekapitulieren. »Damit habe ich kein Problem.« Er lächelte gequält.

»Gut. Also, wie geht es Ihnen?«

»Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber das ist eine persönliche Angelegenheit, die keinen Einfluss auf meine Arbeit hat, daher müssen Sie es auch nicht wissen.«

Matilda warf den Kopf in den Nacken und lachte aus vollem Halse. Ja, es war definitiv die richtige Entscheidung gewesen, wieder zur Arbeit zu gehen.

KAPITEL 4

Detective Constable Rory Fleming war ein gut aussehender junger Mann Ende zwanzig. Er besaß die durchtrainierte Ausstrahlung eines jugendlichen Premier-League-Rugbyspielers und die dazugehörigen Muskeln. Er achtete auf seine Erscheinung. Stets trug er maßgeschneiderte, saubere Anzüge, die an ihm ebenso gut saßen wie an den Puppen im Schaufenster, und er schien täglich eine neue Krawatte umzubinden. Doch jetzt steckte er mit jeder Menge Papierkram in einem unbelüfteten Büro von der Größe einer Gefängniszelle fest. Seine Haut war trocken, sein Haar zerzaust, und er hatte die Ärmel seines zerknitterten weißen Hemds hochgekrempelt.

Gerade hatte er einen Abschnitt von Charlie Johnsons »definitivem Buch« über die Harkness-Morde zu Ende gelesen. Zum Zeitpunkt der Tat war Rory noch ein kleines Kind gewesen und hatte sich ausschließlich für die bevorstehende Ankunft des Weihnachtsmanns und die Schokolade am abgewandten Teil des Christbaums interessiert.

DC Fleming stammte aus Sheffield und war hier aufgewachsen. Er kannte natürlich den Harkness-Fall und hatte die Geschichte zahllose Male gehört, aber mit den blutigen Details war er nicht vertraut. Die Morde waren wie in einem Anfall von Wahnsinn geschehen. Den Tatortfotos nach zu schließen war Stefan Harkness an seinem Schreibtisch getötet worden. Anscheinend hatte sich der Mörder von hinten angeschlichen und ihn überrascht. Eine einzige Stichwunde ins Genick hatte ihn gelähmt. Er war unfähig gewesen, den Angreifer abzuwehren, und an Ort und Stelle gestorben.

Die Ermordung seiner Frau jedoch zeugte von blindwütiger Raserei. Die Laken auf dem blutüberströmten Bett waren zerknüllt gewesen. Höhe und Richtung der Blutspritzer deuteten darauf hin, dass der Mörder ihr mehrfach in die Brust gestochen und sie verzweifelt zu fliehen versucht hatte. Sie war über das Bett gestolpert und bis zur anderen Seite gekrochen, bevor ein zweiter Angriff erfolgte. Als sie dann am Boden lag, waren die Messerstiche gleichsam auf ihren Rücken herabgeregnet und hatten ihr schwerste Verletzungen zugefügt. Der Täter war kräftig genug gewesen, um das Messer immer wieder aus den tiefen Stichwunden herauszureißen.

»Wie weit sind Sie?«, unterbrach Matilda seine Lektüre.

»An der Stelle, wo eine Nachbarin Jonathan findet.«

»Was denken Sie?«

»Über das Buch? Es ist ziemlicher …«

»Mist?«, beendete Matilda den Satz für ihn.

»Das wollte ich nicht sagen. Es ist ein bisschen … ich weiß nicht … voyeuristisch. Es geht sehr ins Detail. Wie ist dieser Charlie Johnson an das Material herangekommen?«

»Da sind Sie genauso schlau wie ich.«

Auszug aus Ein Weihnachtsmord von Charlie Johnson.

KAPITEL 1:

EINE DUNKLE, TÖDLICHE NACHT

Mittwoch, 21. Dezember 1994

Es war an diesem Tag nie richtig hell geworden. Ein grauer Himmel mit dicken Schneewolken hing über Sheffield, und die Temperatur stieg nicht über den Nullpunkt. Durch einen beißenden Nordwind kam es einem noch kälter vor, und jeder Windstoß fühlte sich an wie Nadelstiche auf der Haut. Natürlich mussten die Menschen zur Arbeit und zur Schule gehen, aber nach Einbruch der Dunkelheit blieb man lieber in den eigenen vier Wänden, wickelte sich warm ein und setzte sich vor ein loderndes Kaminfeuer.

Mittwochabend fand die erste in einer Reihe von Weihnachtsveranstaltungen in der St. Augustine’s Church in der Brocco Bank Street statt. Es war ein Weihnachtskonzert, in dem Schulkinder aus der Gegend fünfundvierzig Minuten lang ihre Interpretation populärer Weihnachtslieder vortragen sollten. Die Familie Harkness war nicht religiös, aber man kannte Stefan und Miranda in der Gemeinde, Stefan als Onkologen an der Universität Sheffield und Miranda als Allgemeinärztin. Ihre Teilnahme war eine gesellschaftliche Verpflichtung. Man hatte Stefan kurz zuvor die Mittel für klinische Lungenkrebsforschungen bewilligt. Mit Beginn des neuen Jahres würde er synthetische Krebszellen herstellen und Labormäusen injizieren. Es war eine sehr umstrittene Studie, doch das Züchten der Zellen und ihre Wirkung auf den Körper unter kontrollierten Bedingungen konnte zu einem besseren Verständnis von Lungenkrebs führen. Im Erfolgsfall sollten weitere Studien mit anderen Krebsarten folgen. Miranda war kürzlich als Partnerin ins Whirlow Medical Centre aufgenommen worden, einem Klinikum. Sie wollte sich dort auf Familienplanung spezialisieren und ein Zentrum gründen, das vertrauliche Beratung für sexuell aktive Teenager anbot. Dieses Projekt war in der Presse nicht gut angekommen, und viele Einheimische sahen darin eine Verherrlichung der sexuellen Freizügigkeit für Jugendliche. Miranda und ihre Partner in Whirlow beabsichtigten, im Januar sämtliche Patienten und Anwohner anzuschreiben, um Zweifel an dem Programm auszuräumen.

Der Haushalt der Harkness-Familie wurde komplettiert durch zwei Kinder, den fünfzehnjährigen Matthew und den elfjährigen Jonathan. Die Brüder waren wie Feuer und Wasser. Sie kamen nicht miteinander aus und unternahmen selten etwas gemeinsam. Das bereitete den Eltern keine großen Sorgen. Sie sahen den Grund für die gegenseitige Abneigung im Altersunterschied und ließen den Jungen viel Spielraum, ihre eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Matthew, ein typischer aufsässiger Teenager, hatte die Erlaubnis erhalten, dem Weihnachtskonzert fernzubleiben. Daher besuchte er direkt nach der Schule seinen besten Freund Philip Clayton, bei dem er bis nach dem Abendessen blieb und Computer spielte. Es wurde später als gewöhnlich, und um einundzwanzig Uhr lieh er sich das Mountainbike seines Freundes für die zehnminütige Fahrt nach Hause. Judith Clayton, Philips Mutter, winkte Matthew noch nach und sah, wie er an der nächsten Straßenecke links abbog. Sobald er außer Sichtweite war, kehrte sie ins Haus zurück.

Das Konzert war für zwanzig Uhr angesetzt, und ab neunzehn Uhr machte Miranda sich zurecht. Im Elternschlafzimmer arbeitete Stefan halb angekleidet an einer Rede, die er bei der Weihnachtsfeier seiner Abteilung am 29. Dezember halten sollte. Er wollte seinem Team zur Bewilligung der Mittel gratulieren, die die Weiterarbeit für die nächsten zwei Jahre garantierte. Um seinen Leuten zu zeigen, wie stolz er auf sie war, galt es die richtigen Worte zu finden. Er hatte bereits mehrere schlaflose Nächte über seinen Entwürfen zugebracht und war immer noch nicht zufrieden damit. Jonathan, der jüngste Sohn, war sich selbst überlassen worden und hielt sich in seinem Zimmer auf, um sich umzuziehen. Trotzdem war er fünfzehn Minuten, bevor sie gehen mussten, immer noch nicht fertig. Seine Mutter befahl ihm barsch, endlich sein Lego-Spielzeug wegzuräumen und sich anzuziehen.

Die Familie Harkness erreichte das Weihnachtskonzert nie. Vielen Menschen fiel ihre Abwesenheit auf.

An den Auftritt des Kinderchors schloss sich eine Predigt an, und der Pastor dankte noch zehn Minuten lang allen Beteiligten für den gelungenen Abend. Dann gab er die Termine der nächsten Veranstaltungen bekannt, die in der Mitternachtsmesse am Heiligen Abend und einem besonderen Gottesdienst am Weihnachtsmorgen gipfeln sollten. In der Halle hinter der Kirche wartete ein Büffet, das die Frauen der »Women’s Guild« vorbereitet hatten. Nachdem man sich genügend über den engelsgleichen Gesang und die gelungene Auswahl der Lieder unterhalten hatte, wandten sich die Gespräche der Abwesenheit von Stefan und Miranda Harkness zu.

Auf dem Nachhauseweg fuhr Aoife Quinn, eine Freundin der Familie Harkness, bei ihnen vorbei, um sich zu erkundigen, warum sie nicht gekommen waren. Bei ihrer Ankunft lag das Haus völlig im Dunkeln, bis auf ein Zimmer an der Rückseite, Jonathans Schlafzimmer. Ms. Quinn klingelte mehrmals, ohne Antwort zu bekommen, und ging dann nach hinten, um an die Küchentür zu klopfen. Wieder rührte sich nichts. Sie blickte zu den Fenstern empor und sah Licht durch einen Spalt in den Vorhängen fallen. Ihr war klar, dass da etwas nicht stimmen konnte. Sie drückte auf die Klinke, doch die Tür war versperrt. Sie brachte es nicht fertig, einfach wieder zu fahren, ohne herausgefunden zu haben, was – oder ob überhaupt etwas – geschehen war. Aoife klingelte bei der Nachbarin Andrea Bickerstaff, die gegenüber wohnte, und fragte, ob sie einen Haustürschlüssel hätte. Den hatte sie tatsächlich, aber sie wollte erst anrufen und nicht einfach ins Haus eindringen. Sie gab zu, dass sie niemanden das Haus hatte verlassen sehen, seit Miranda am Nachmittag von der Arbeit gekommen war. Als sie die Nummer der Harkness’ wählte, läutete es endlos durch. Der Anrufbeantworter war nicht eingeschaltet, wofür Miranda sonst immer sorgte, wenn sie das Haus verließ. Da stimmte offensichtlich etwas nicht. Inzwischen war es beinahe zweiundzwanzig Uhr geworden. Andrea Bickerstaff ging gemeinsam mit Aoife Quinn über die Straße zum Haus der Harkness’. Als Andrea den Schlüssel ins Schloss steckte, bemerkte sie, dass ihn etwas blockierte. Sie stieß ihn fester hinein, und auf der anderen Seite hörte man ein Klirren. Der Schlüssel hatte von innen gesteckt, und Andrea hatte ihn aus dem Schloss gestoßen. Sie ging als Erste durch die Tür und sah sich im Erdgeschoss um, während sie gleichzeitig nach Miranda und Stefan rief. Aoife folgte ihr, hielt jedoch am Fuß der Treppe inne. Auf der obersten Stufe saß der elfjährige Jonathan. Er war blass, zitterte vor Kälte und war nur halb bekleidet. Aoife rief Andrea, und sie starrten beide zu dem Jungen empor. Er reagierte nicht auf ihre Worte. Aoife stieg langsam die Treppe hinauf und versuchte, die Aufmerksamkeit des Jungen zu gewinnen. Sie fragte ihn, ob alles in Ordnung sei und wo seine Eltern wären, doch er gab keine Antwort. Als sie näher kam, sah sie das getrocknete Blut an seinen Händen. Sie befürchtete das Schlimmste und sagte Andrea, sie solle Jonathan mit nach unten nehmen, aber nichts anrühren und ihm auch nicht erlauben, sich die Hände zu waschen. Zögernd legte sie ihm tröstend den Arm um die schmalen Schultern und zog ihn hoch. Sie musste ihn fast die Treppe hinuntertragen. Sobald die beiden außer Sicht waren, ging Aoife weiter. Sie kannte sich aus im Haus, da sie oft zu Besuch gewesen war. Am Kopf der Treppe bog sie links ab zum Schlafzimmer von Stefan und Miranda. Dort erstarrte sie angesichts des entsetzlichen Anblicks, der sich ihr bot. Stefan war über seinem Schreibtisch zusammengesackt. Er trug ein weißes Hemd, schwarze Socken und schwarze Boxershorts. Sein Rücken war blutüberströmt. Er hatte einen Messerstich ins Genick bekommen. Eine Blutlache breitete sich am Boden zu seinen Füßen aus.

Aoife schwankte und musste sich am Türrahmen festhalten. Als sie sich wieder gefasst hatte, wagte sie sich ins Zimmer hinein. Ihr Blick glitt zu den Blutspritzern an der Wand und der Zimmerdecke über dem Bett. Hinter dem Bett fand sie Miranda am Boden liegen. Sie trug ein konservatives, knöchellanges dunkelgrünes Kleid. Es war blutgetränkt und zerfetzt, wo die Klinge hindurchgefahren und in ihren Körper eingedrungen war. Man hatte ihr acht Mal in die Brust und vierzehn Mal in den Rücken gestochen. Aoife war vor Schock wie gelähmt, bis Andreas Stimme am Fuß der Treppe ertönte und sie wieder zu sich brachte. Sie wollte wissen, was los war. Aoife rannte aus dem Zimmer und sagte ihr, dass sie die Polizei rufen sollte.

Eine Morduntersuchung wurde eingeleitet, und man brachte Jonathan ins Krankenhaus. Er wies keine körperlichen Verletzungen auf, war jedoch nicht ansprechbar. Er reagierte nicht auf die Tests, die die Ärzte an ihm vornahmen, und blinzelte nicht, wenn sie ihm in die Augen leuchteten. Er befand sich in einem katatonischen Zustand. Sie verlegten ihn in ein eigenes Zimmer im Kinderkrankenhaus von Sheffield, bewacht von einem Polizeibeamten, der die ganze Nacht bei ihm blieb. Gleichzeitig suchte die Polizei fieberhaft nach dem fünfzehnjährigen Matthew Harkness, der vermisst wurde. Nachbarn hatten ihn am Morgen zur Schule gehen sehen, doch niemand konnte sich daran erinnern, dass er heimgekommen wäre. In den folgenden Tagen durchleuchtete die Polizei das private und berufliche Leben der Familie Harkness. Das Medieninteresse war groß, und die Geschichte machte landesweit Schlagzeilen. Stefans Schwester Clara kam aus Newcastle, um sich um Jonathan zu kümmern, der auch nach drei Tagen noch kein einziges Wort gesprochen hatte. Matthew wurde immer noch vermisst.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Rory und legte das Buch weg.

»Was? Ist es schlecht geschrieben?«

»Nein, nicht nur dieses Buch, diese ganze Sache mit den ›wahren Verbrechen‹. Ich finde das scheußlich. Alles ist so detailliert und anschaulich. Woher kannte dieser Charlie Johnson überhaupt die vielen kleinen Einzelheiten, zum Beispiel, dass Jonathans Mutter ihn angeschrien hatte, weil er Lego spielte? Wer hat ihm das erzählt?«

»Das ist mir auch aufgefallen. Vielleicht ist es einfach dichterische Freiheit. Haben Sie bemerkt, was in all den Akten hier fehlt?«

»Nein. Was denn?«

»Eine Aussage Jonathans.«

»Na ja, er sprach nicht, nicht wahr?«

»Ja, aber wie lange? Bestimmt hat er doch irgendwann wieder angefangen zu sprechen. Es gibt ein psychiatrisches Gutachten, das ihm attestierte, dass er unter Schock stand, aber das ist alles. Den Akten ist nur zu entnehmen, dass seine Tante ihn nach Newcastle mitgenommen hat, und das war’s dann. Langsam begreife ich, warum dieser Fall nie aufgeklärt wurde.«

Rory wandte sich wieder seiner Lektüre zu, und seine Lippen bewegten sich leicht bei jedem Wort. »Haben Sie die Fotos von Jonathan am Tatort?«

Matilda hatte die Autopsieberichte bereits durchgelesen. Sie griff nach den beiden nächsten Mappen, bis sie den Stapel Bilder gefunden hatte, den er meinte.

Rory blätterte sie durch. Das blutbesudelte Bett ließ ihn unbeeindruckt, ebenso der durchtränkte Teppich und die bespritzte Decke. Ganz unten fand er die Aufnahmen von Jonathan, die er suchte.

Der Junge war angezogen gewesen wie sein Vater – weißes Hemd, Unterwäsche, aber keine Hose. Der Täter hatte die Familie überrascht. Die Bilder zeigten den Elfjährigen mit leerem Gesichtsausdruck. Die Hände waren rot von angetrocknetem Blut.

»Was halten Sie hiervon?« Er hielt eines der Fotos hoch und wartete, bis Matilda mit einer Haftnotiz die Stelle des Berichts markiert hatte, an der sie gewesen war. Sie griff nach dem Foto und musterte es eingehend.

»Worauf soll ich achten?«

»Auf seine Hände.«

»Gut. Was ist damit?«

»Warum sind seine Hände blutverschmiert?«

»Versetzen Sie sich mal in seine Lage, Rory. Er hat gerade seine toten Eltern gefunden, er hat Angst. Was will ein kleiner Junge, wenn er Angst hat? Seine Mutter. Er wird zu ihr gelaufen sein und versucht haben, sie wachzurütteln. Natürlich waren seine Hände dann voller Blut.«

»Ja, das ist denkbar. Miranda ist allerdings unmittelbar nach Stefan gestorben. Wenn Jonathan ins Schlafzimmer gerannt ist, hat er dort doch sicher noch den Mörder vorgefunden. Warum hat der ihn nicht umgebracht wie seine Eltern?«

Matilda runzelte die Stirn. »Vielleicht hatte der Täter nichts gegen Jonathan, sondern nur gegen die Eltern.«

»Aber Jonathan muss ihn gesehen haben, als er den Raum betrat.«

»Hm, es gibt eine Aussage von Jonathans Tante, nach der seine Mutter die Treppe heraufkam und ihn schon mit Blut an den Händen dort sitzen sah. Der Täter muss also noch im Schlafzimmer gewesen sein.« Sie überlegte einen Moment, bevor sie fortfuhr. »Wissen Sie noch, wie es war, wenn Sie als Kind etwas von Ihren Eltern wollten? Man geht nicht einfach in ein Zimmer und wartet, bis man sprechen darf, man ruft schon beim Hineingehen nach ihnen, nicht wahr?«

»Wahrscheinlich.«

»Dann hörte der Täter ihn rechtzeitig kommen und hat sich im Badezimmer versteckt, bis er eine Gelegenheit zur Flucht sah. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man einen Erwachsenen tötet oder ein Kind. Die Mehrzahl der verurteilten Mörder ist entsetzt von Verbrechen gegen Kinder.«

»Ja, das stimmt. Deshalb bringen wir ja Pädophile getrennt von den anderen Gefängnisinsassen unter«, sagte er. »Halt, warten Sie mal. Jonathans Tante behauptete, seine Mutter sei die Treppe heraufgekommen und habe Jonathan mit blutigen Händen angetroffen?«

»Ja. Warum fragen Sie?«

»Wo haben Sie das her?«

Matilda wühlte wieder in den Papieren auf dem Schreibtisch, bis sie das zweiseitige Dokument gefunden hatte, nach dem sie suchte. »Eine Aussage von Clara Harkness vom Mai 1995.«

»Das war sechs Monate nach dem Verbrechen. Da lebte Jonathan schon in Newcastle. Also hat er offenbar wieder gesprochen.«

»Offenbar.«

»Aber trotzdem gibt es keine Aussage von ihm selbst. Wieso nicht?«

Matilda musste zugeben, dass sie keine Ahnung hatte, warum man Jonathan Harkness nie vernommen hatte. Andererseits bestand auch die Möglichkeit, dass seine Aussage im Lauf der Jahre aus dem Archiv verschwunden war. Sie sah sich um, betrachtete die Stapel von Aktenmappen und Fotos, die geöffneten Archivboxen und fragte sich, ob man ihr wirklich alles ausgehändigt hatte, wie die Assistant Chief Constable versprochen hatte. Die Ermittlung warf jetzt schon mehr Fragen auf, als sie Antworten lieferte. Sie stellte fest, dass Detective Constable Fleming sich überraschend gut ausdrücken konnte. Woher war diese Intelligenz plötzlich gekommen?

Rory räusperte sich. Matilda schaute auf und bemerkte, dass er auf die Uhr sah. Sie wandte sich wieder ihrem Autopsiebericht zu, bis sie von einem lauteren Hüsteln unterbrochen wurde. Rory starrte immer noch betont auf seine Uhr.

»Ist irgendetwas?«

»Nun, es ist nur …« Er wirkte nervös, und es schien ihm schwerzufallen, seiner Chefin in die Augen zu sehen. »Es ist nur … es ist Zeit.«

Matilda sah auf ihre eigene Uhr. Es war gerade mal sechzehn Uhr fünfzehn.

»Zeit wofür …? Oh. Man hat Sie über meine Sperrstunde informiert?«

»Ja, tut mir leid.«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ist ja nicht Ihr Fehler. Danke, dass Sie mich daran erinnert haben. Ich würde es hassen, am ersten Schultag schon Arrest zu bekommen.«

Sie lachten beide, doch es war kein ehrliches Lachen.

»Soll ich mich weiter in den Fall einlesen?«

»Nein. Warum sollten Sie hierbleiben, während ich Schluss mache? Gehen Sie heim zu Ihrer Freundin.«

»Oh. Genau genommen sind wir inzwischen verlobt«, sagte er, und seine Wangen röteten sich ein wenig vor Verlegenheit.

»Wirklich? Gratuliere. Wann ist der große Tag?«

»Das haben wir noch nicht festgelegt. Amelia strebt eine Beförderung an, und die möchte sie hinter sich haben, bevor wir die Hochzeit planen.«

»Was macht sie denn?«

»Sie ist Rechtsreferendarin und hat vor, sich auf Strafrecht zu spezialisieren.«

Matilda war versucht anzumerken, dass darin ein ziemliches Potenzial für Interessenkonflikte lag, wenn Fälle vor Gericht verhandelt wurden, die er bearbeitet hatte. Aber das hinreißende Lächeln, das in seinem Gesicht aufleuchtete, war voll der Unschuld der Jugend, und sie wollte keine Spielverderberin sein. Sie stellte fest, dass sie sich in Rorys Gesellschaft wohlfühlte. Vor ihrer erzwungenen neunmonatigen Auszeit hatte sie ihn für einen nervigen, lauten, übereifrigen Detective Constable gehalten, der sich erst eine neue Persönlichkeit zulegen musste, sollte er je befördert werden wollen. Seit sie zusammen mit ihm in diesem »Besenschrank« eingesperrt war und direkt mit ihm zu tun hatte, sah sie ihn in einem anderen Licht. Er war warmherzig und intelligent.

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