×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Suizid«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Suizid« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Suizid

Als Buch hier erhältlich:

Der rätselhafte Selbstmord ihres Mannes ist nur der Anfang eines ungeahnten Albtraumes: Auf der Suche nach einer Erklärung für seinen Tod entdeckt FBI-Agentin Jane Hawk einen landesweiten Anstieg unerklärlicher Suizide. Als sie der Spur weiterfolgt, erhält sie eine unmissverständliche Warnung: Ein Unbekannter dringt in ihr Haus ein und bedroht ihren Sohn. Jemand Mächtiges scheint dahinterzustecken. Da Jane nicht mehr weiß, wem sie trauen kann, geht sie in den Untergrund. Getrieben von dem Willen, ihre Familie zu schützen und den Tod ihres Mannes zu rächen, macht sie die Jäger nun zu Gejagten.

"Dean Koontz schreibt Pageturner. Thriller, die einen fesseln und alles um einen herum vergessen lassen. Dabei trifft er unsere Herzen und unsere Nerven."
The Washington Post Book Review

"Der erste Teil einer neuen Serie von Bestsellerautor Dean Koontz ist toller Lesestoff für Freunde von actionreichen, schnellen, leicht futuristischen Thrillern: Der Kampf der toughen Jane Hawk gegen eine übermächtige Verschwörung reißt den Leser sofort mit." Literaturkalender FAZ

"Der rasant vorangetriebene Thriller mit Gänsehaut-Effekt wandelt auf einem schmalen Grat von gewaltsamer Selbstjustiz mit einer toughen Protagonistin, die sich als Einzelkämpferin gegen skrupellose Goliath-Schurken durchsetzen muss. Vorwiegend gradlinig und mit diversen Tempiwechseln erzählt, vermag der Pageturner mit SciFi-Elementen zugleich zu ängstigen und zu fesseln." ekz.bibliotheksservice

"Der Thriller ist von der ersten Seite an so spannend geschrieben, dass ich sogar nachts noch einmal das Licht angemacht habe, um weiterzulesen."
Hamburger Morgenpost

"Das Finale wird zum heftigen Showdown und wohl nie war Dean Koontz gemeiner, denn er beschert hier einen Thriller, der in beängstigender Weise mit seiner Realitätsnähe unter die Haut geht. Zu den Qualitäten seiner schnörkellosen und zugleich sprachgewaltigen Prosa gehören aber auch hinreißende Landschaftsbeschreibungen und Darlegungen mancher technischer Feinheiten. Und wer diesen absolut filmreifen Roman schließlich außer Atem gelesen hat, darf sich freuen - es wird weitere Folgen mit Jane Hawk geben!" buchrezension-online.de


  • Erscheinungstag: 20.12.2017
  • Aus der Serie: Jane Hawk
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 512
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677486
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Gerda. Du rockst mich.

Die großen zivilisatorischen Fortschritte … zerstören fast die Gesellschaften, in denen sie sich ereignen.

ALFRED NORTH WHITEHEAD

Ich blicke in dieses ganze Wespennest oder einen Bienenstock hinab … und werde Zeuge, wie sie mit Wachs bauen und Honig machen und Gift brauen und an Schwefel ersticken.

THOMAS CARLYLE, Sartor Resartus

Der stille Winkel: Leute, die tatsächlich vom Radar verschwunden und durch keine Technologie aufzuspüren sind, sich aber trotzdem ungehindert bewegen und das Internet nutzen können, halten sich im »stillen Winkel« auf.

TEIL EINS

ROCK MICH

EINS

Jane Hawk wachte in der kühlen Dunkelheit auf und konnte sich im ersten Augenblick nicht erinnern, wo sie eingeschlafen war, sondern wusste nur, dass sie wie immer in einem breiten französischen Bett lag – mit ihrer Pistole unter dem Kissen, auf dem der Kopf eines Gefährten geruht hätte, wenn sie nicht allein unterwegs gewesen wäre. Das Brummen von Dieselmotoren und die Geräusche von Lkw-Reifen auf Asphalt erinnerten sie daran, dass dies ein Motel in der Nähe der Interstate und dass es … Montag war.

Mit Leuchtziffern in sanftem Grün verkündete der Radiowecker die schlechte, aber nicht ungewohnte Nachricht, dass es 04:15 Uhr war: zu früh, als dass sie ihre acht Stunden Schlaf bekommen hätte; zu spät, um noch mal einschlafen zu können.

Sie blieb eine Zeit lang liegen und dachte darüber nach, was sie verloren hatte. Sie hatte sich vorgenommen, in Gedanken nicht länger in der bitteren Vergangenheit zu verweilen. Damit beschäftigte sie sich jetzt weniger als früher, was als Fortschritt hätte gelten können, wenn sie nicht in letzter Zeit angefangen hätte, sich auszumalen, was noch alles verloren gehen konnte.

Jane nahm frische Kleidung und ihre Pistole mit ins Bad. Sie schloss die Tür und klemmte den Stuhl, den sie am Vorabend nach dem Einchecken aus dem Zimmer mitgenommen hatte, unter die Klinke.

Das Zimmermädchen hatte so schlampig geputzt, dass in der Ecke über dem Waschbecken ein radförmiges Spinnennetz hing, das größer war als ihre Hand. Als sie gegen 23 Uhr ins Bett gegangen war, hatte in dem Netz nur ein kleiner Nachtfalter gezappelt. Im Verlauf der Nacht war er mit durchsichtigem Körper und mattgrauen, brüchig wirkenden Flügeln zur leeren Hülse eines Falters geworden. Die fette Spinne beobachtete jetzt zwei gefangene Silberfische: spärlichere Kost, auch wenn es nicht lange dauern konnte, bis ein weiterer Leckerbissen in ihre Falle aus klebrigen Fäden geriet.

Das Licht einer Natriumdampflampe ließ die Milchglasscheibe des kleinen Fensters im Bad golden aufleuchten. Es war so winzig, dass nicht mal ein Kind hätte hindurchklettern können. Andererseits hätte es ihr wegen seiner geringen Abmessungen auch nicht als Fluchtweg im Notfall dienen können.

Jane legte ihre Pistole auf den Toilettendeckel und ließ den Plastikvorhang offen, während sie duschte. Das Wasser war heißer, als sie in einem Zweisternemotel erwartet hätte; es lockerte ihre verkrampften Muskeln und steifen Gelenke, aber sie konnte nicht so lange unter der Dusche bleiben, wie sie sich gewünscht hätte.

ZWEI

Ihr Schulterholster bestand aus dem eigentlichen Halfter mit beweglichen Verbindungsstücken, einer Halterung fürs Reservemagazin und verstellbaren Riemen aus Wildleder. So hing die Waffe dicht unter ihrem linken Arm: eine Position, in der sie unter ihren maßgeschneiderten Blazern praktisch unsichtbar war.

Außer dem Reservemagazin am Schulterholster hatte sie zwei weitere Magazine in den Jackentaschen – mit dem in der Waffe steckenden Magazin insgesamt vierzig Schuss.

Allerdings konnte der Tag kommen, an dem vierzig nicht genug waren. Es gab keine Verstärkung, kein Team, das für den Fall, dass alles schiefging, in einem Van hinter der nächsten Straßenecke wartete. Diese Zeiten waren vorerst, wenn nicht sogar endgültig vorbei. Sie konnte sich nicht für einen endlos langen Kampf bewaffnen. Reichten vierzig Schuss nicht aus, würden auch achtzig oder achthundert nicht genügen. Was ihre Fähigkeiten oder ihr Durchhaltevermögen betraf, gab sie sich keinen Illusionen hin.

Sie trug ihre beiden Koffer zu dem Ford Escape hinaus, öffnete die Heckklappe, stellte das Gepäck hinein und sperrte den Wagen ab.

Auf der noch nicht aufgegangenen Sonne musste es einige Eruptionen gegeben haben. Der helle, silbern glänzende Mond im Westen reflektierte so viel Licht, dass seine Krater keine Schatten warfen. Er sah nicht wie ein fester Himmelskörper aus, sondern schien ein Loch im Nachthimmel zu sein, durch das reinweißes, fast bedrohlich wirkendes Licht aus einem anderen Universum einfiel.

Am Empfang gab sie den Zimmerschlüssel zurück. Der Kerl hinter der Theke – kahl rasierter Schädel, Kinnbart – fragte fast so, als interessiere ihn das wirklich, ob alles zu ihrer Zufriedenheit gewesen sei. Sie hätte beinahe Ich schätze, wegen all der Käfer sind viele Ihrer Gäste vermutlich Insektenforscher gesagt. Aber sie wollte nicht, dass er mehr von ihr in Erinnerung behielt als die Vorstellung, sie nackt zu sehen. Sie sagte: »Yeah, bestens«, und ging hinaus.

Beim Einchecken hatte sie das Zimmer bar bezahlt und sich mit einem ihrer gefälschten Führerscheine ausgewiesen. Diesem Ausweis nach hatte soeben Lucy Aimes aus Sacramento das Motel verlassen.

Im Vorfrühling ausgeschlüpfte geflügelte Insekten klickten in den konischen Reflektoren der Deckenlampen der überdachten Passage, und ihre übersteigert spinnenbeinigen Schatten zappelten auf den hell angestrahlten Betonplatten.

Auf ihrem Weg zu dem Diner nebenan, der zu dem Motel gehörte, nahm sie die Überwachungskameras wahr, sah aber nicht hin. Solchen Überwachungen konnte niemand mehr entgehen.

Die einzigen Kameras, die ihr gefährlich werden konnten, waren die auf Flughäfen, Bahnhöfen und an sonstigen Brennpunkten, die mit Computern verbunden waren, auf denen in Echtzeit hochmoderne Software zur Gesichtserkennung lief. Fliegen konnte sie deshalb nicht mehr. Sie fuhr mit dem Auto überallhin.

Als dies alles begonnen hatte, trug sie ihr naturblondes Haar lang. Jetzt war sie eine kurzhaarige Brünette. Veränderungen dieser Art konnten jedoch nicht verhindern, dass man erkannt wurde, wenn nach einem gefahndet wurde. Wenn sie sich nicht fingerdick mit Make-up zuspachteln wollte, was ebenfalls unerwünschte Aufmerksamkeit erregen würde, konnte sie nicht viel tun, um ihre individuellen Gesichtszüge so zu verändern, dass die automatische Gesichtserkennung nicht mehr funktionierte.

DREI

Ein Käseomelett aus drei Eiern, eine doppelte Portion Bacon, Würstchen, zusätzliche Butter zum Toast, keine Bratkartoffeln, Kaffee statt Orangensaft. Sie lebte von Proteinen, aber zu viele Kohlenhydrate bewirkten, dass sie sich körperlich und geistig träge fühlte.

Die Bedienung kam, um ihr Kaffee nachzuschenken. Sie war ungefähr dreißig, auf verwelkende Weise hübsch, zu blass und zu mager, als zehre und bleiche das Leben sie von Tag zu Tag mehr aus. »Haben Sie von Philadelphia gehört?«

»Was denn?«

»Irgendwelche Verrückten haben einen Privatjet auf einen vierspurigen Expressway während der Rushhour abstürzen lassen. Im Fernsehen heißt’s, die Maschine war vollgetankt. Der Highway brennt fast eine Meile weit, eine Brücke ist eingestürzt, Menschen sind in brennenden Autos und Lastwagen eingeschlossen. Grauenvoll. Wir haben in der Küche einen Fernseher. Kaum auszuhalten. Sie sagen, dass sie’s für Gott tun, aber sie haben den Teufel im Leib. Was sollen wir bloß gegen sie unternehmen?«

»Keine Ahnung«, sagte Jane.

»Ich glaube nicht, dass das irgendjemand weiß.«

»Das denke ich auch.«

Die Bedienung ging in die Küche zurück, und Jane aß ihr Frühstück auf. Ließ man sich von den Nachrichten den Appetit verderben, konnte man bald gar nicht mehr essen.

VIER

Der schwarze Ford Escape schien die Detroiter Standardausführung zu sein, aber er hatte einige Überraschungen unter der Motorhaube und konnte jeden Streifenwagen mit der Aufschrift DIENEN UND BESCHÜTZEN abhängen.

Den Escape hatte Jane vor zwei Wochen in Nogales, Arizona, direkt gegenüber von Nogales, Mexiko, gegen Barzahlung gekauft. Das in den USA gestohlene Fahrzeug hatte in Mexiko eine neue Fahrgestellnummer und mehr Pferdestärken bekommen und war zum Verkauf in die Staaten zurückgebracht worden. Die Ausstellungsräume des Händlers bestanden aus mehreren Scheunen einer ehemaligen Ranch; er machte keine Werbung, stellte keine Rechnungen aus und zahlte auch keine Steuern. Auf Wunsch lieferte er kanadische Kennzeichen und garantiert echte Papiere der Zulassungsstelle von British Columbia.

Als der Tag anbrach, war sie noch immer in Arizona, raste auf der Interstate 8 nach Westen. Die Nacht wich zögernd dem Tag. Als die Sonne hinter dem Ford langsam über den Horizont aufstieg, wurden die hohen Zirruswolken vor ihr rosa, bevor sie sich korallenrot verfärbten, während der Himmel allmählich immer intensiver blau wurde.

Manchmal hörte sie auf langen Autofahrten gern Musik: Bach, Beethoven, Brahms, Mozart, Chopin, Liszt. An diesem Morgen zog sie Stille vor. In ihrer gegenwärtigen Stimmung hätte selbst die beste Musik misstönend geklungen.

Vierzig Meilen nach dem Sonnenaufgang überquerte Jane die südliche Staatsgrenze Kaliforniens. In der folgenden Stunde verdichteten sich die weißen Schleierwolken, sanken ab und bildeten dann eine geschlossene graue Wolkendecke. Wieder eine Stunde später waren die Wolken düster, dunkelgrau, bedrohlich geworden.

Kurz vor dem Westrand des Cleveland National Forest verließ sie die Interstate bei der Kleinstadt Alpine, in der General Gordon Lambert mit seiner Frau gewohnt hatte. Am Vorabend hatte Jane eine ihrer alten, aber noch immer nützlichen Landkarten konsultiert. Sie wusste, dass sie imstande sein würde, das Haus zu finden.

Bei der Modifizierung des Ford Escape in Mexiko war auch das Navigationssystem ausgebaut worden – einschließlich des Transponders, der sonst eine ständige Satellitenortung des Fahrzeugs ermöglicht hätte. Es hatte keinen Zweck, vom Radar zu verschwinden, wenn der Wagen, den man fuhr, ständig über Wi-Fi seine Position meldete.

Obwohl Regen so natürlich war wie Sonnenschein, obwohl die Natur absichtslos funktionierte, erschien Jane der aufziehende Sturm bedrohlich. In letzter Zeit war ihre Liebe zur Natur mehrfach durch den vielleicht irrationalen, aber tief sitzenden Verdacht auf die Probe gestellt worden, Mutter Natur arbeite bei bösen und destruktiven Unternehmen mit der Menschheit zusammen.

FÜNF

Alpine hatte vierzehntausend Einwohner, von denen ein gewisser Prozentsatz an die Macht des Schicksals glaubte. Weniger als dreihundert von ihnen gehörten dem Stamm Viejas der Kumeyaay-Indianer an, die das Viejas-Spielkasino betrieben. Jane hatte kein Interesse an Glücksspiel. Jede Minute ihres Lebens glich einem Würfelspiel, und damit war ihr Bedarf reichlich gedeckt.

Das mit Pinien und Lebenseichen bestandene Geschäftsviertel von Alpine hatte den malerischen Charme einer Siedlung im Grenzland. Manche Gebäude stammten tatsächlich aus der Zeit des Wilden Westens, aber andere, neuere Bauten imitierten diesen Stil mit unterschiedlichem Erfolg. Die vielen Antiquitätengeschäfte, Galerien, Souvenirläden und Restaurants ließen auf einen saisonunabhängigen Tourismus schließen, der älter als das Spielkasino war.

San Diego, die achtgrößte Stadt der USA, war keine dreißig Meilen entfernt und lag gut fünfhundert Meter tiefer. Überall, wo mindestens eine Million Menschen dicht gedrängt lebten, musste an jedem beliebigen Tag ein beachtlicher Prozentsatz das Bedürfnis haben, aus dem Bienenstock an einen weniger geschäftigen Ort zu flüchten.

Am Ortsrand von Alpine stand auf etwa tausend Quadratmetern Grund das weiße Holzhaus der Lamberts mit seinen schwarzen Jalousien von einem Lattenzaun umgeben und mit Korbstühlen auf der Veranda. An einem Fahnenmast in der Nordostecke des Grundstücks waren die Stars and Stripes gehisst, deren rot-weiße Streifen träge in der Brise flatterten, während das Feld mit den fünfzig Sternen sich klar sichtbar von den düster dräuenden Wolken abhob.

Weil die Geschwindigkeit hier auf fünfundzwanzig Meilen begrenzt war, konnte sie langsam daran vorbeirollen, ohne den Anschein zu erwecken, sich auffällig für das Haus zu interessieren. Sie konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Aber wenn sie vermuteten, Jane könnte herkommen, weil ein gemeinsames Schicksal sie mit Gwyneth Lambert verband, würden sie fast bis zur Unsichtbarkeit vorsichtig sein.

Sie kam an vier weiteren Villen vorbei, bevor die schmale Straße als Sackgasse endete. Dort wendete sie und parkte den Escape so, dass sie schnell losfahren konnte.

Die fünf Häuser standen auf einem Hügelrücken mit Blick auf den El-Capitan-See. Jane folgte einem leicht abfallenden Fußweg durch lichten Baumbestand und über eine mit jungem Gras bestandene freie Fläche, die im Hochsommer weizengelb leuchten würde. Am Ufer ging sie nach Süden weiter und blickte über den See hinaus, der friedlich und aufgewühlt zugleich wirkte, weil die dräuenden Wolken sich in seinem Wasser spiegelten. Zwischendurch achtete sie auch auf die Häuser links von sich und sah zu ihnen auf, als bewundere sie jedes einzelne. Ihre Zäune ließen erkennen, dass die Grundstücke knapp unterhalb des Hügelrückens endeten. Nur der weiße Lattenzaun der Lamberts setzte sich zum See hinunter fort.

Sie ging an zwei weiteren Villen vorbei, bevor sie umkehrte und den Hang zu dem weißen Holzhaus hinaufstieg. Die Hintertür im Gartenzaun öffnete sich, als Jane die Klinke herabdrückte.

Sie schloss die Tür hinter sich und sah zu den Fenstern auf, die mit hochgezogenen Jalousien und geöffneten Vorhängen anscheinend möglichst viel von dem grauen Tageslicht einlassen sollten. Sie konnte niemanden erkennen, der über den See hinausblickte oder sie zu beobachten schien.

Umkehren kam nicht mehr infrage, also ging sie den Zaun entlang zur Vorderseite des Hauses. Während die Wolken noch tiefer herabsanken und die Flagge in einer Brise rauschte, die schwach nach dem bevorstehenden Regen oder dem Wasser des Sees roch, stieg sie die Stufen zur Veranda hinauf und klingelte an der Haustür.

Im nächsten Augenblick öffnete ihr eine schlanke, attraktive Frau, die Jane auf Mitte fünfzig schätzte. Zu Jeans trug sie einen Pullover und eine mit Erdbeeren bestickte knielange weiße Schürze.

»Mrs. Lambert?«, fragte Jane.

»Ja?«

»Uns verbindet etwas, worauf ich hoffentlich zurückgreifen kann.«

Gwyneth Lambert zog leicht die Augenbrauen hoch, lächelte schwach.

Jane sagte: »Wir haben beide einen Marine geheiratet.«

»Das verbindet uns allerdings. Was kann ich für Sie tun?«

»Wir sind beide verwitwet. Und ich glaube, dass dieselben Leute die Schuld daran tragen.«

SECHS

In der Küche roch es nach Orangen. Gwyn Lambert war mit solcher Energie dabei, große Mengen von Orangen-Schokolade-Muffins zu backen, dass man zwangsläufig vermuten konnte, auf diese Weise wehre sie die Trauer ab, die sie nicht an sich heranlassen wollte.

Auf den Arbeitsflächen standen neun Backbleche mit jeweils einem halben Dutzend abgekühlter Muffins, die in Frischhaltefolie darauf warteten, an Freunde und Nachbarn verteilt zu werden. Ein zehntes Blech mit noch warmen Muffins stand auf dem Tisch in der Essnische, während im Backofen sechs weitere Muffins perfekt aufgingen.

Gwyn gehörte zu den imponierenden Meisterköchinnen, die kulinarische Wunder ohne sichtbare Nachwirkungen produzieren. Keine Schüsseln mit Teigresten oder sonstiges Geschirr im Ausguss. Keine Mehlspuren auf den Arbeitsflächen. Keine Krümel auf dem Fußboden.

Jane lehnte einen Muffin dankend ab, nahm aber gern einen starken schwarzen Kaffee. Dann saßen ihre Gastgeberin und sie sich am Küchentisch gegenüber, während aus ihren Bechern träge aromatischer Dampf aufstieg.

»Habe ich richtig verstanden, dass Ihr Nick Lieutenant Colonel war?«, fragte Gwyn.

Jane hatte ihren echten Namen genannt. Das Band zwischen Gwyn und ihr garantierte, dass ihr Besuch geheim blieb. Wenn sie unter diesen Umständen einer Frau, die mit einem Marine verheiratet gewesen war, nicht trauen konnte, durfte sie niemandem trauen.

»Colonel«, stellte Jane richtig. »Er hat den Silver Eagle getragen.«

»Mit zweiunddreißig? Dann waren die Sterne schon zum Greifen nahe.«

Gordon Lambert, Gwyns Ehemann, war Lieutenant General gewesen: drei Sterne, nur einen Dienstgrad unter den ranghöchsten Offizieren des Marine Corps.

Jane sagte: »Nick hatte das Navy Cross, die DDS und eine ganze Brust voll weiterer Orden.« Das Navy Cross rangierte nur eine Stufe unter der Medal of Honor. Nick, der übermäßig bescheiden war, hatte nie über seine Auszeichnungen gesprochen, aber Jane hatte manchmal das Bedürfnis, ein bisschen mit ihm anzugeben, um sich zu vergewissern, dass er gelebt und durch seine Existenz die Welt sicherer gemacht hatte. »Ich habe ihn vor vier Monaten verloren. Wir waren sechs Jahre verheiratet.«

»Schätzchen«, sagte Gwyn, »da müssen Sie blutjung geheiratet haben.«

»Keineswegs. Mit einundzwanzig. Wir haben eine Woche nach meiner Versetzung aus Quantico ins Bureau geheiratet.«

Gwyn wirkte überrascht. »Sie sind beim FBI?«

»Falls ich jemals wieder zurückgehe. Im Augenblick bin ich beurlaubt. Wir haben uns kennengelernt, als Nick zum Combat Development Command in Quantico abkommandiert war. Er hat sich nicht um mich bemüht. Ich musste um ihn werben. Bei mir war’s Liebe auf den ersten Blick, und ich kann verdammt stur sein, wenn ich etwas haben will.« Sie war überrascht, als ihr Herz sich verkrampfte und ihre Stimme stockte. »Diese vier Monate kommen mir manchmal wie vier Jahre vor … und dann wieder wie vier Stunden.« Sie bedauerte ihre Gedankenlosigkeit sofort. »Verdammt, das tut mir leid. Ihr Verlust ist frischer als meiner.«

Gwyn winkte ab, obwohl sie Tränen in den Augen hatte. »Ein Jahr nach unserer Hochzeit – das war 1983 – war Gordie in Beirut, als Terroristen einen Anschlag auf die Kaserne der Marines verübt haben, bei dem es zweihundertzwanzig Tote gegeben hat. Er war so oft an irgendwelchen Brennpunkten, dass ich ihn mir tausendmal tot vorgestellt habe. Ich dachte, das würde mich auf den Tag vorbereiten, an dem jemand bei mir anklopfen würde, um mir mitzuteilen, Gordie sei im Einsatz gefallen. Aber ich war nicht darauf vorbereitet, wie … wie’s dann passiert ist.«

Medienberichten nach war Gordon Lambert an einem Samstagmorgen vor gut zwei Wochen, während seine Frau im Supermarkt war, an den See hinuntergegangen. Mitgenommen hatte er eine Pumpgun mit kurzem Lauf. Er hatte sich ins Gras gesetzt mit dem Rücken zum Ufer. Wegen des kurzen Laufs hatte er den Abzug der Schrotflinte mühelos erreichen können. Bei Gwyns Rückkehr hatten sich auf der Straße Streifenwagen gedrängt, die Haustür hatte offen gestanden, und ihr Leben war für immer verändert gewesen.

Jane sagte: »Darf ich Sie etwas fragen?«

»Ich leide, aber ich bin nicht gebrochen. Nur zu!«

»Könnte es sein, dass er nicht allein an den See gegangen ist?«

»Nein, garantiert nicht. Eine Nachbarin hat ihn gesehen. Er hat etwas getragen, was sie leider nicht als Schrotflinte erkannt hat.«

»Diese Leute auf dem Wasser, die Augenzeugen waren … steht fest, dass sie nichts damit zu tun hatten?«

Gwyn wirkte verständnislos. »Wie meinen Sie das?«

»Vielleicht wollte Ihr Mann sich mit jemandem treffen. Vielleicht hat er die Waffe zu seinem Schutz mitgenommen.«

»Und ist ermordet worden? Ausgeschlossen! In der Nähe waren vier Boote unterwegs. Mindestens ein halbes Dutzend Leute haben alles gesehen.«

Die nächste Frage widerstrebte Jane besonders, weil sie andeutete, mit der Ehe der Lamberts könnte es nicht zum Besten gestanden haben. »War Ihr Mann … war Gordon in letzter Zeit deprimiert?«

»Niemals. Manche Menschen geben die Hoffnung auf. Gordie war lebenslänglich an sie gefesselt, ein unverbesserlicher Optimist.«

»Genau wie Nick«, sagte Jane. »Für ihn war jedes Problem nur eine Herausforderung. Er hat Widrigkeiten geliebt.«

»Wie ist’s passiert, Schätzchen? Wie haben Sie ihn verloren?«

»Ich war dabei, das Abendessen zu machen. Nick ist auf die Toilette gegangen. Als er nicht zurückgekommen ist, habe ich ihn vollständig bekleidet in der Badewanne sitzend aufgefunden. Er hatte sich mit seinem Kampfmesser, einem Ka-Bar, die linke Halsschlagader durchgeschnitten.«

SIEBEN

Dies war ein nasser El-Niño-Winter gewesen, der zweite in einem halben Jahrzehnt, während es sonst normal geregnet hatte – eine Klima-Anomalie, die eine lange Dürreperiode beendet hatte. Jetzt wurde es draußen finster, als sinke die Abenddämmerung herab. Der zuvor spiegelglatte See war auf einmal mit weißen Schaumkronen bedeckt, während die Brise wie der Vorbote des nahenden Sturms auffrischte.

Während Gwyn die letzten Muffins aus dem Backofen holte und zum Abkühlen auf den Herd stellte, schien das Ticken der Wanduhr lauter zu werden. In den vergangenen Wochen war Jane von allen möglichen Uhren gepeinigt worden. Manchmal hatte sie sich eingebildet, sie könne ihre Armbanduhr ticken hören; das war so lästig geworden, dass sie die Uhr abgenommen und ins Handschuhfach des Fords oder in Motels unters nächste Kissen gelegt hatte, bis sie sie wieder brauchte. Falls es so war, dass ihre Zeit ablief, wollte sie nicht auch noch hartnäckig an diese Tatsache erinnert werden.

Als Gwyn ihnen Kaffee nachschenkte, fragte Jane: »Hat Gordon einen Abschiedsbrief hinterlassen?«

»Keine Zeile, keine SMS, nichts auf der Mailbox. Ich wusste nicht, ob ich traurig oder froh darüber sein sollte.« Sie stellte die Kanne wieder in die Kaffeemaschine und kehrte an ihren Platz zurück.

Jane versuchte, die Küchenuhr zu ignorieren, die bestimmt nur in ihrer Einbildung lauter tickte. »In meinem Nachttisch habe ich immer einen Block mit Stift. Nick hat darauf eine Abschiedsnotiz hinterlassen, wenn man es so nennen will.« Die unheimlichen vier Sätze ließen jedes Mal ihr Herz erstarren, wenn sie an sie dachte. Sie zitierte sie: »Mit mir ist irgendetwas nicht in Ordnung. Ich muss. Ich muss unbedingt. Ich muss unbedingt tot sein.«

Gwyn stellte ihren Becher ab, ohne daraus getrunken zu haben. »Klingt verdammt merkwürdig, nicht wahr?«

»Und wie! Polizei und Gerichtsmediziner dachten das auch. Der erste Satz war sauber und ordentlich geschrieben, aber dann ist seine Schrift immer schlechter geworden. Als hätte er zu kämpfen, um seine Hand unter Kontrolle behalten zu können.«

Sie starrten in den dunkler werdenden Tag hinaus, schwiegen einige Zeit, bis Gwyn sagte: »Wie schrecklich für Sie, dass Sie ihn gefunden haben.«

Diese Bemerkung erforderte keine Antwort.

Jane starrte in ihren Kaffee, als versuche sie, im reflektierten Licht der Deckenlampe ihre Zukunft zu lesen, und sagte: »Die Selbstmordrate hierzulande ist im vergangenen Jahrhundert auf ungefähr zehneinhalb pro hunderttausend Einwohner zurückgegangen. Aber in den beiden letzten Jahrzehnten wurde der historische Durchschnitt von zwölfeinhalb wieder erreicht. Bis April letzten Jahres, als die Rate zu steigen begann, sodass sie am Jahresende vierzehn pro hunderttausend betrug. Im Normalfall wären das über achtunddreißigtausend Selbstmörder, zu denen nun weitere viereinhalbtausend kamen. Und meines Wissens liegt sie dieses Jahr bei fünfzehneinhalb – bis Dezember wären das fast achteinhalbtausend über der historischen Selbstmordrate.«

Während sie Gwyn diese Zahlen nannte, rätselte sie wieder über sie nach, ohne sich auch nur andeutungsweise erklären zu können, was sie bedeuteten oder weshalb sie mit Nicks Tod in Verbindung zu stehen schienen. Als Jane wieder aufsah, stellte sie fest, dass Gwyn sie aufmerksamer als bisher musterte.

»Schätzchen, soll das heißen, dass Sie wegen dieser Sache recherchieren? Ja, das tun Sie, verdammt noch mal. Es steckt also noch mehr dahinter, als Sie bisher erzählt haben, nicht wahr?«

Sogar sehr viel mehr, aber Jane wollte und durfte nicht zu viel sagen, um die Witwe Lambert nicht in Gefahr zu bringen.

Gwyn ließ nicht locker. »Erzählen Sie mir nicht, dass wir uns wieder in einem Kalten Krieg mit all seinen schmutzigen Tricks befinden. Sind unter den zusätzlichen Selbstmördern viele Soldaten?«

»Ziemlich viele, aber nicht überproportional viele. Betroffen sind alle möglichen Berufe: Ärzte, Polizeibeamte, Anwälte, Lehrer, Journalisten … Aber diese Selbstmorde sind ungewöhnlich. Erfolgreiche Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, ohne Depressionen, Lebenskrisen oder finanzielle Probleme. Sie passen einfach nicht ins übliche Schema von potenziellen Selbstmördern.«

Eine stürmische Bö traf das Haus und ließ die Hintertür erzittern, als rüttele jemand an der Klinke, um zu sehen, ob abgeschlossen war.

Neue Hoffnung verlieh Gwyns Gesicht einen rosigen Schimmer, und ihr Blick wirkte lebhafter als zuvor. »Soll das heißen, dass Gordie vielleicht … was? Dass er unter Drogen gestanden hat? Dass er nicht wusste, was er tat, als er mit seiner Schrotflinte an den See gegangen ist? Ist das denkbar …?«

»Tut mir leid, das weiß ich nicht, Gwyn. Ich habe bisher nur kleinste Puzzleteilchen gefunden und kann noch nicht sehen, was sie bedeuten – wenn sie überhaupt etwas bedeuten.« Sie wollte einen Schluck Kaffee trinken, aber ihr Becher war leer. »Hat Gordon sich in letzter Zeit nicht wohlgefühlt?«

»Na ja, er war mal erkältet. Und er hatte eine schmerzhafte Zahnwurzelentzündung.«

»Schwindelanfälle? Verwirrtheit? Kopfschmerzen?«

»Gordie war kein Mann für Kopfschmerzen. Oder für irgendwas anderes, was ihn hätte bremsen können.«

»Diese Sache wäre in Erinnerung geblieben: eine schlimme Migräne mit Lichtblitzen, die das Sehvermögen beeinträchtigen.« Jane sah, dass die Witwe Lambert wusste, was sie meinte. »Wann war das, Gwyn?«

»Auf der WIC, der ›What If Conference‹, letzten September in Vegas.«

»Was ist die WIC?«

»Das Gernsback Institute lädt Zukunftsforscher und Science-Fiction-Autoren zu einer viertägigen Konferenz mit Podiumsdiskussionen ein. Es ermutigt sie, außerhalb der engen Grenzen nationaler Verteidigungsinteressen zu denken. Welche Gefahren übersehen wir bisher, was könnte in einem Jahr, in zwanzig Jahren weit wichtiger sein, als wir bisher vermuten?«

Sie legte zwei Finger an die Lippen und runzelte kurz die Stirn.

»Irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte Jane.

Gwyn zuckte mit den Schultern. »Nein. Ich habe mich nur gefragt, ob ich darüber reden sollte. Aber die WIC ist kein großes Geheimnis oder sonst was. In den letzten Jahren haben die Medien viel darüber berichtet. Wissen Sie, das Institut lädt zu den Podiumsdiskussionen vierhundert Experten ein – Offiziere aller Teilstreitkräfte, Zukunftsforscher und Ingenieure wichtiger Rüstungskonzerne –, die auch Fragen stellen dürfen. Eine großartige Veranstaltung, bei der auch die Ehefrauen willkommen sind. Für uns gibt es ein Damenprogramm, aber die Diskussionen bleiben geheim. Und glauben Sie mir, die WIC ist keine verdeckte Bestechung.«

»Das habe ich auch nicht vermutet.«

»Das Institut ist politisch neutral und will keine Gewinne erzielen. Es hat auch keinerlei Verbindungen zur Rüstungsindustrie. Wer eingeladen wird, muss Flug und Hotel selbst bezahlen. Gordie hat mich zu drei Konferenzen mitgenommen. Er war ganz begeistert.«

»Aber letztes Jahr hatte er dort einen schlimmen Migräneanfall?«

»Den einzigen seines Lebens. Am dritten Tag hat er den ganzen Vormittag im Bett gelegen und gelitten. Ich habe ihm zugesetzt, er solle die Rezeption bitten, ihm einen Arzt zu schicken. Aber Gordie war der Überzeugung, was nicht gerade eine Schusswunde sei, vergehe irgendwann von selbst. Sie wissen ja, wie Männer immer das Bedürfnis haben, sich selbst irgendwas zu beweisen.«

Jane nickte zustimmend. »Nick hat etwas gezimmert und sich die Hand verletzt, als sein Stechbeitel abgerutscht ist. Eigentlich hätte er vier oder fünf Stiche gebraucht. Aber er hat die Wunde selbst gesäubert, Neosporin aufgetragen und sich einen dicken Verband gemacht. Ich hatte Angst, er könnte eine Blutvergiftung bekommen oder die Hand verlieren, und er hat meine Besorgnis rührend gefunden. Rührend! Dafür hätte ich ihm am liebsten eine geknallt. Tatsächlich habe ich ihm eine geknallt.«

Gwyn lächelte. »Das kann ich nachfühlen. Jedenfalls war die Migräne mittags wieder weg, und Gordie hatte nur eine einzige Diskussion versäumt. Als ich ihn nicht dazu überreden konnte, zu einem Arzt zu gehen, war ich im Spa und habe mir eine sündhaft teure Massage gegönnt. Aber woher wussten Sie das mit der Migräne?«

»Einer der Leute, mit denen ich gesprochen habe, ein Witwer in Chicago, hat mir erzählt, seine Frau – die sich in ihrer Garage erhängt hat – habe zwei Monate zuvor die erste und einzige Migräne ihres Lebens gehabt.«

»War sie auf einer What If Conference?«

»Nein. Ich wollte, die Sache wäre so einfach. Bisher gibt es kaum derartige Verbindungen zwischen den Opfern. Nur zarte Fäden, dürftige Hinweise. Diese Frau war Vorsitzende einer Organisation für Behindertenarbeit. Allem Anschein nach war sie glücklich, erfolgreich und sehr beliebt.«

»Hatte Ihr Nick auch einen Anfall?«

»Erwähnt hat er keinen. Die verdächtigen Selbstmörder, die mich interessieren … in den Monaten vor ihrem Tod haben manche über kurze Schwindelanfälle geklagt. Oder seltsame, sehr intensive Träume. Oder starkes Zittern der Lippen und der linken Hand, das nach ein bis zwei Wochen wieder verschwand. Und manche hatten tagelang einen bitteren Geschmack im Mund. Aber bei Nick sind keine ungewöhnlichen Symptome aufgetreten. Absolut keine.«

»Sie haben die Angehörigen dieser Leute befragt?«

»Ja.«

»Wie viele?«

»Mit Ihnen bisher zweiundzwanzig.« Jane deutete Gwyns Gesichtsausdruck richtig und fügte hinzu: »Yeah, ich weiß, das ist eine fixe Idee. Vielleicht jage ich nur einem Phantom nach.«

»Dafür sind Sie nicht der Typ, Schätzchen. Manchmal ist’s verdammt schwer … trotz allem weiterzumachen. Wohin sind Sie als Nächstes unterwegs?«

»In der Nähe von San Diego lebt jemand, mit dem ich reden möchte.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Aber die Konferenz in Vegas interessiert mich. Sie haben nichts darüber aufbewahrt, vielleicht eine Broschüre oder ein Programm für diese vier Tage?«

»Vielleicht liegt oben in Gordons Arbeitszimmer etwas. Ich sehe gleich mal nach. Noch etwas Kaffee?«

»Nein danke. Ich habe heute schon zu viel getrunken. Aber ich müsste auf die Toilette.«

»Die ist gleich neben der Haustür. Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen.«

Als Jane sich einige Minuten später auf dem blitzsauberen, spinnenlosen Gäste-WC die Hände wusch, betrachtete sie nachdenklich ihr Spiegelbild. Und fragte sich nicht zum ersten Mal, seit sie vor zwei Monaten zu diesem Kreuzzug aufgebrochen war, ob sie damit den schlimmsten aller möglichen Fehler gemacht hatte.

Sie hatte so viel zu verlieren, nicht nur ihr Leben. Am wenigsten ihr Leben.

Durchs Abzugsrohr der Toilette, das den ersten Stock durchzog, erhob der zunehmende Wind seine Stimme im Erdgeschoss wie ein Troll, der aus seinem Schlupfwinkel unter einer alten Brücke in ein Haus mit Aussicht umgezogen ist.

Als sie aus dem WC kam, hallte von oben ein Schuss.

ACHT

Jane zog ihre Pistole, hielt sie mit beiden Händen, ließ sie aber auf den Fußboden gerichtet. Dies war nicht ihre FBI-Dienstwaffe, die sie nicht tragen durfte, solange sie beurlaubt war. Aber diese gefiel ihr ebenso gut, vielleicht sogar noch besser: eine MK23 Combat Competition von Heckler & Koch, Kaliber .45 ACP.

Der Knall war ein Schuss gewesen. Unverkennbar. Kein Schrei zuvor, kein Schrei danach, keine Schritte.

Sie wusste, dass ihr niemand gefolgt war auf der Fahrt von Arizona hierher. Hätte jemand schon hier auf sie gewartet, hätte er sie erledigt, als sie ahnungslos am Küchentisch sitzend von Witwe zu Witwe gesprochen hatte.

Vielleicht hielt der Kerl Gwyn fest und hatte den Schuss abgegeben, um Jane nach oben zu locken. Das war nicht sehr logisch, aber andererseits ließen die meisten Verbrecher sich von Gefühlen leiten und wiesen in Bezug auf Logik und Vernunft Defizite auf.

Ihr fiel eine weitere Möglichkeit ein, mit der sie sich aber noch nicht befassen wollte.

Falls es im Haus eine Hintertreppe gab, waren sie vermutlich in der Küche. Jane waren zwei geschlossene Türen aufgefallen. Hinter einer lag die Speisekammer, wie sie jetzt erkannte. Die andere führte vielleicht in die Garage hinaus. Oder in einen Hauswirtschaftsraum. Okay, die Vordertreppe war also der einzige Weg nach oben.

Die Treppe gefiel ihr nicht. Wenig Platz, um seitlich auszuweichen. Keine Rückzugsmöglichkeit, weil man dabei dem Schützen den Rücken zukehren würde. War man erst mal unterwegs, musste man die schmale Treppe mit dem Absatz in der Mitte, auf der man sich wie in einer Schießbude vorkam, ganz hinauf.

Auf dem Treppenabsatz blieb Jane tief gebückt, schlüpfte rasch um den Pfosten. Über ihr war niemand. Ihr Herz hämmerte fast hörbar laut. Sie verbiss sich ihre Angst. Was sie zu tun hatte, wusste sie. Sie hatte es schon früher getan. Einer ihrer Ausbilder hatte von einem Ballett ohne Strumpfhose und Tutu gesprochen: Man brauchte nur die Schritte zu kennen und genau zu wissen, wann sie zu machen waren, damit einem nach der Vorstellung metaphorisch gesprochen Blumenbuketts zugeworfen wurden.

Die letzten Stufen. Ein Profi hätte versucht, sie hier zu erledigen. Schräg nach unten ließ sich mit der Pistole knapp unterhalb der Sichtlinie präziser zielen als schräg nach oben, da Janes Pistole einen Teil der Treppe verdeckte.

Oben an der Treppe … und weiterhin am Leben.

In geduckter Haltung dicht an der Wand bleiben. Die Hände an der Pistole. Arme leicht gebeugt ausgestreckt. Stehen bleiben und horchen. Niemand auf dem Flur.

Nun ging es darum, Türen zu passieren, was kaum besser als die Treppe war. Während sie eine Schwelle überschritt, konnte sie ohne Weiteres durchsiebt werden.

Gwyneth Lambert, deren Kopf nach links gesunken war, saß im Schlafzimmer in einem Sessel. Ihre rechte Hand, deren Finger noch locker die Pistole hielten, lag in ihrem Schoß. Das Geschoss war in die rechte Schläfe eingedrungen, hatte das Gehirn durchbohrt, war an der linken Schläfe ausgetreten und hatte den Teppich mit Knochensplittern, Haarbüscheln, Blut und Gehirnmasse überzogen.

NEUN

Die Szene wirkte nicht gestellt. Dies war ein echter Selbstmord. Kein Schrei vor dem Schuss, keine Schritte oder sonstige Geräusche danach. Nur die Bewegung und die Ausführung – und Entsetzen oder Erleichterung oder Bedauern in dem Augenblick dazwischen. Die aufgezogene Nachttischschublade verriet, wo die zur Selbstverteidigung gedachte Waffe gelegen haben musste.

Obwohl sie Gwyn nicht lange genug gekannt hatte, um aufrichtig um sie zu trauern, empfand Jane dumpfe, aber schmerzhafte Traurigkeit und hellen Zorn – Letzteren deshalb, weil dies kein gewöhnlicher Selbstmord, keine Folge von Verzweiflung oder Schwermut war. Für eine Frau, die erst vor zwei Wochen ihren Mann verloren hatte, hatte Gwyn sich vorbildlich gehalten. Sie hatte Muffins für Freunde und Angehörige gebacken, die ihr in den dunklen Stunden beigestanden hatten, und sich bemüht, nach vorn zu blicken. Außerdem glaubte Jane, auch nach kurzer Bekanntschaft zu wissen, dass es Gwyneth niemals eingefallen wäre, eine trauernde Witwe dadurch zu quälen, dass sie ihr zumutete, einen weiteren Selbstmord zu entdecken.

Ein plötzliches lautes Piepsen ließ sie herumfahren und ihre Pistole hochreißen. Niemand. Das Geräusch kam von nebenan. Jane näherte sich vorsichtig der Verbindungstür, bis sie das Piepsen als das Signal erkannte, mit der die Telefongesellschaft ihre Kunden darauf aufmerksam machte, dass sie vergessen hatten, den Hörer aufzulegen.

Sie trat über die Schwelle in Gordon Lamberts Arbeitszimmer. An den Wänden hingen gerahmte Fotos, die ihn als jungen Mann im Kampfanzug oder mit anderen Marines an exotischen Orten zeigten. Gordon in Ausgehuniform, hochgewachsen und gut aussehend, beim Händedruck mit dem Präsidenten. Eine gerahmte Flagge, die ein Feuergefecht erlebt hatte.

Der Telefonhörer baumelte an seinem Spiralkabel dicht über dem Teppich. Jane zog ein Taschentuch heraus, das sie nur eingesteckt hatte, um Fingerabdrücke zu vermeiden, legte den Hörer auf und fragte sich dabei, mit wem Gwyn gesprochen haben mochte, bevor sie ihren tödlichen Entschluss gefasst hatte. Sie nahm den Hörer wieder ab und versuchte erfolglos den automatischen Rückruf.

Gwyn war eigentlich nach oben gegangen, um eine Broschüre oder ein Programm einer What If Conference zu finden. Jane trat an den Schreibtisch, zog eine Schublade auf.

Das Telefon klingelte. Das überraschte sie nicht. Die Nummer des Anrufers war unterdrückt.

Sie nahm den Hörer ab, sagte aber nichts. Die Person am anderen Ende der Leitung war jedoch ebenso diskret. Im Hintergrund war Musik zu hören – ein alter Song von America, vor Janes Geburt aufgenommen: A Horse With No Name.

Sie legte auf. Wegen der großen Abstände zwischen den Häusern war es unwahrscheinlich, dass der Schuss gehört worden war. Aber sie hatte keine Zeit zu verlieren.

ZEHN

Vielleicht würde jemand kommen. Oder vielleicht hatten sie in dieser Gegend keinen Agenten, aber das Vorsichtsprinzip erforderte, dass sie mit feindlichen Besuchern rechnete. Ihr blieb keine Zeit, das Arbeitszimmer des Generals zu durchsuchen.

Im Erdgeschoss wischte sie alles ab, was sie vielleicht berührt hatte. Dann spülte sie die Kaffeebecher und – löffel ab und räumte sie weg. Obwohl niemand sie hören konnte, arbeitete sie flink und leise. Sie war von Woche zu Woche in allen Dingen leiser geworden, als bereite sie sich darauf vor, ein Gespenst zu werden.

Auf der Toilette fesselte ihr Spiegelbild kurz ihre Aufmerksamkeit. Die Aufgabe, die sie sich vorgenommen hatte, war so fantastisch, und die Entdeckungen, die sie machte, waren so seltsam, dass das Unmögliche manchmal fast möglich erschien – in diesem Fall, dass ihr Spiegelbild sichtbar bleiben würde, um sie zu belasten, wenn sie den Raum verließ.

Als Jane das Haus durch die Vordertür verließ, konnte sie nicht anders, als sich wie der Engel des Todes zu fühlen. Sie kam, eine Frau starb, sie ging. In der Offenbarung heißt es, der Tod wird nicht mehr sein. Hatte die Bibel recht, konnte auch der Tod sterben.

Auf dem Weg an den Nachbarhäusern vorbei sah sie niemanden am Fenster stehen, niemanden auf der Veranda, kein trotz des aufziehenden Sturms im Freien spielendes Kind. Die einzigen Geräusche erzeugte der böige Wind, der durch Bäume und um Häuser pfiff, als habe die ausgerottete Menschheit ihre Behausungen intakt zurückgelassen, damit Wind und Wetter sie allmählich zerstören konnten.

Jane fuhr noch ein Stück geradeaus, bog dann nach einer halben Meile rechts und gleich wieder links ab, während sie die Straße hinter sich im Rückspiegel beobachtete. Als sie bestimmt wusste, dass sie nicht beschattet wurde, fuhr sie zur Interstate weiter und war bald nach Westen Richtung San Diego unterwegs.

Irgendwann würde der Tag kommen, an dem die Erde ständig so präzise überwacht wurde, dass auch Autos ohne Transponder geortet werden konnten. In dieser zukünftigen Welt hätte Jane es nicht mal geschafft, das Haus der Lamberts zu erreichen.

ELF

An einem Novemberabend, sechs Tage vor Nicks Tod, als sie im Bett auf ihn gewartet hatte, während er sich die Zähne putzte, hatten die Fernsehnachrichten eine Meldung gebracht, die Jane fasziniert hatte und an die sie in letzter Zeit immer wieder denken musste, als hänge sie irgendwie mit dem zusammen, was sie gegenwärtig durchmachte.

Die Meldung hatte von Wissenschaftlern gehandelt, die mithilfe lichtempfindlicher Proteine und Lichtwellenleitern Gehirnimplantate entwickelten. Ihrer Darstellung nach kommunizieren wir ständig mit unserem Gehirn: Unsere Sinne liefern ihm Informationen, die es interpretiert und in Befehle umsetzt. Implantate sollten dazu dienen, solche Befehle weiterzuleiten, wenn die Kommunikation wegen eines Schlaganfalls oder einer Querschnittslähmung unterbrochen war. Beispielsweise sollte ein Gelähmter Prothesen bewegen können, indem er lediglich daran dachte, sie zu bewegen. Mit Implantaten sollten Menschen, die wegen der Motoneuron-Krankheit in ihren Körpern eingesperrt waren und nicht einmal sprechen konnten, ihren Beitrag zum Gespräch denken können. Ihre von lichtempfindlichen Proteinen in Lichtimpulse umgewandelten Gedanken würden von einem Rechner verarbeitet und als Sprache ausgegeben werden.

Damals hatte Jane darüber gestaunt, wie schnell sich alles wandelte, sodass sie vielleicht schon bald in einer Welt aus Wundern und Zauberei leben würden.

Jetzt war sie in einer Welt aus Horror und Gewalt gefangen, in der diese alte Fernsehmeldung keine Bedeutung zu haben schien. Und trotzdem erinnerte sie sich immer wieder daran, als sei sie ungeheuer wichtig.

Dass sie sich an den Bericht erinnerte, lag vielleicht nicht an seinem Inhalt, sondern an etwas, was Nick kurz darauf zu ihr gesagt hatte. Als er ins Bett gekommen war, waren Jane und er nach einem anstrengenden Tag zu erschöpft gewesen, um sich zu lieben, aber sie hatten es genossen, noch eine Zeit lang miteinander zu plaudern. Kurz bevor sie eingeschlafen war, hatte er ihr die Hand geküsst und gesagt: »Du rockst mich.« Seine Worte folgten ihr in wundervolle Träume, in denen sie in allen möglichen seltsamen Situationen gesprochen wurden, stets sehr zärtlich und liebevoll.

ZWÖLF

Im Benny’s at the Beach fesselte der Anschlag auf den Berufsverkehr in Philadelphia die Besucher, wie es sonst nur die Übertragung des Stanley Cups vermochte. In der an sieben Tagen in der Woche ununterbrochen geöffneten Bar gab es genügend Sportübertragungen, um jeden Fan zufriedenzustellen, aber an diesem Tag liefen mittags auf den beiden Fernsehern hinter der Theke die Nachrichten und statt vergangener Siege und Spielerstatistiken vermeldete der Liveticker Opferzahlen und Statements von aufgebrachten Politikern.

In Wirklichkeit lag das Benny’s nicht am Strand, sondern war zwei Blocks von der Brandung entfernt, und wenn es wirklich seit fünfzig Jahren beliebt war, wie ein Schild verkündete, gehörte es bestimmt nicht mehr Benny – falls es ihn je gegeben hatte. Seine Gäste schienen der Mittelschicht anzugehören, die im vergangenen Jahrzehnt dramatisch geschrumpft war. Um diese Tageszeit hatte noch niemand so viel getrunken, um angesichts der Horrorbilder zu krakeelen, aber Jane konnte den Zorn, die Angst und das Bedürfnis nach Nähe und Gemeinschaft, das sie alle hergeführt hatte, fast körperlich spüren.

Sie aß in der hintersten Sitznische, die schmaler als die anderen war und nur zwei statt vier Plätze aufwies. Die beschichtete Granit-Tischplatte war bestimmt aus Resopal gewesen, als dies noch Bennys Reich gewesen war. Die Tische, die Muster der Kissen- und Barhockerbezüge und der Marmorboden mit Schachbrettmuster erhoben Anspruch auf Wohlstand und Status, der sich nie ganz erfüllt hatte, aber so amerikanisch war, dass Jane ihn unerwartet rührend fand.

Zu den Gästen gehörte der Kolumnist eines Lokalblatts, der hier eigentlich nur lunchen und ein, zwei Biere hatte trinken wollen, aber seinen journalistischen Instinkt nicht ganz unterdrücken konnte. Sie beobachtete, wie er sich mit Notizblock, Stift und einer Flasche Heineken bewaffnet durch den länglichen Raum bewegte, seine Visitenkarte verteilte und sich die Kommentare von Gästen zum jüngsten Terroranschlag notierte.

Er war ungefähr vierzig mit sorgfältig gestylter Frisur, für die er bestimmt viel Geld ausgab. Weil er stolz auf seinen knackigen Hintern war, trug er Jeans, die eine Idee zu eng waren. Um seine kräftigen Unterarme zu zeigen, trug er die Hemdärmel aufgekrempelt, obwohl es dafür eigentlich nicht warm genug war.

Zu ihrer Sitznische kam er als Reporter und als Mann mit Berechnung im Blick, die manche Frauen – nicht jedoch Jane – anstößig gefunden hätten. Er war kein Prolet und konnte nicht wissen, dass sie freiwillig aus dem Spiel ausgeschieden war. Sie wusste recht gut, dass Männer stets Notiz von ihr nahmen, und war sich bewusst, dass er sich umso lebhafter an sie erinnern würde, wenn sie ein dreiminütiges Interview höflich oder spöttisch ausschlug.

Er hieß Kelsey, und sie sagte, sie heiße Mary, und er nahm auf ihre Aufforderung hin ihr gegenüber Platz. »Schrecklicher Tag.«

»Kann man wohl sagen«

»Haben Sie Freunde oder Angehörige in Philadelphia?«

»Nur Mitbürger.«

»Yeah. Aber es schmerzt trotzdem, nicht wahr?«

»Das ist nur angemessen.«

»Was sollten wir Ihrer Meinung nach dagegen tun?«

»Sie und ich?«

»Wir alle.«

»Erkennen, dass es Teil eines größeren Problems ist.«

»Und das wäre?«

»Ideen sollten nicht mehr gelten als Menschen.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Interessant! Können Sie das ein bisschen erläutern?«

Ihre Erklärung bestand daraus, dass sie zwei Wörter umstellte und einen Widerspruch eliminierte: »Menschen sollten mehr gelten als Ideen.«

Kelsey wartete darauf, dass sie weitersprach. Als sie stattdessen den vorletzten Bissen von ihrem Hamburger nahm, sagte er: »Meine Kolumne ist nicht politisch, sondern bringt Human-Interest-Storys. Was würden Sie sagen, wenn Sie sich ein politisches Etikett ankleben sollten?«

»Angewidert.«

Er lachte, notierte sich etwas. »Das könnte die größte Partei von allen sein. Woher kommen Sie?«

»Miami«, log sie. »Wissen Sie, für welche Story Sie sich mal interessieren sollten?«

»Nämlich?«

»Die zunehmende Selbstmordrate.«

»Nimmt sie denn zu?«

»Das können Sie googeln.«

Er beobachtete sie weiter, selbst als er einen Schluck aus seiner Bierflasche nahm. »Wieso interessiert ein Mädchen wie Sie sich für so morbide Dinge?«

»Ich bin Soziologin«, behauptete sie. »Hatten Sie schon mal den Verdacht, solcher Scheiß wie der Anschlag in Philadelphia könnte anderen Zwecken dienen?«

Obwohl er Human-Interest-Storys schrieb, hatte er den scharf sezierenden Blick eines Kriminalreporters, der Schicht für Schicht bloßlegte. »Welchen anderen Zwecken?«

Sie zeigte auf den Fernsehschirm. »Ich meine diese Story, über die jede Stunde etwa eine Minute lang berichtet wird.«

Ein ehemaliger Gouverneur von Georgia hatte seine Frau, einen Großspender für seine Wahlkämpfe und dann sich selbst erschossen.

»Sie meinen die Gräueltat in Atlanta«, sagte Kelsey und zitierte damit eine Schlagzeile der Boulevardpresse. »Scheußliche Sache.«

»Wäre sie gestern passiert, wäre das eine große Story gewesen. Aber weil sie gleichzeitig mit Philly passiert ist, wird sich nächste Woche keiner mehr an sie erinnern.«

Er schien nicht zu verstehen, was sie andeuten wollte. »Seine Frau und der Spender sollen eine Affäre gehabt haben, heißt es.«

Jane, die mit dem Hamburger fertig war, benutzte ihre Serviette. »Da haben Sie eines der größten Mysterien unserer Zeit.«

»Nämlich?«

»Wer zum Teufel sind diese anonymen Quellen, aus denen unsere Informationen stammen?«

Er lächelte, deutete auf ihre leere Flasche. »Darf ich Sie zu einem Dos Equis einladen?«

»Danke, aber eines ist mein Limit. Wissen Sie, dass auch die Mordrate nach oben gegangen ist?«

»Klar, darüber haben wir berichtet.«

Die Bedienung kam, und Jane verlangte die Rechnung. Dann beugte sie sich über den Tisch zu Kelsey hinüber und flüsterte: »Raten Sie mal, welche Zahl als Nächstes nach oben gehen wird.«

Er brachte seinen Kopf dichter an ihren heran und fragte: »Welche denn?«

»Mord mit anschließendem Selbstmord. Der Gouverneur war vielleicht nur ein Vorbote. Gewissermaßen die nächste Phase.«

»Die nächste Phase wovon?«

Nachdem sie bis dahin aufrichtig gewesen war, verzog sie keine Miene, als sie jetzt zu der Fantasie überleitete, die ihn abschrecken würde. »Von dem, was in Roswell angefangen hat.«

Er war ein zu erfahrener Journalist, um sein Lächeln gefrieren oder seinen Blick trüb werden zu lassen. »Roswell, New Mexico?«

»Dort sind sie zuerst gelandet. Sie sind hoffentlich kein UFO-Leugner?«

»Natürlich nicht«, sagte er. »Das Universum ist unendlich. Kein intelligenter Mensch kann glauben, dass wir darin allein sind.«

Bis die Bedienung mit der Rechnung kam, hatte Kelsey sich jedoch geweigert, anzubeißen, als Jane ihn fragte, ob er an Entführungen durch Außerirdische glaube. Er hatte sich bei Mary aus Miami für ihre Antworten bedankt und war zum nächsten Interview weitergegangen.

Als sie sich durch die mittags voll besetzte Bar schlängelte, nachdem sie bar gezahlt hatte, sah sie sich – vielleicht intuitiv – um und stellte fest, dass der Kolumnist ihr nachstarrte. Als er wegsah, hob er sein Handy ans Ohr.

Er war bloß ein Kerl, der sich für sie interessiert hatte, ein Kerl, den sie ziemlich clever abgewimmelt hatte, nur ein Kerl, dem noch immer gefiel, was er sah. Das Handy war ein Zufall; es hatte nichts mit ihr zu tun.

Trotzdem eilte sie rasch davon, sobald sie draußen war.

DREIZEHN

Weiße Drachensegel flitzten vor dräuend grauen Sturmwolken durch die Brandung; Möwen kamen vom Meer herein und suchten sich misstönend schreiend sichere Plätze in Hausgiebeln und den Wedeln von Phönixpalmen.

Jane hätte auf dem Parkplatz der Sportsbar parken können. Das hatte sie nicht getan. Stattdessen hatte sie den Ford zwei Blocks weit entfernt an einer Parkuhr abgestellt.

Sie näherte sich dem Escape auf der anderen Straßenseite und schien sich gar nicht für ihn zu interessieren, während sie die nähere Umgebung absuchte, um festzustellen, ob der Wagen observiert wurde.

Nicht zum ersten Mal sagte sie sich, so zitterten Menschen, die an schlimmem Verfolgungswahn litten, sich durchs Leben, aber sie hielt sich trotzdem noch für normal.

Auch als sie keine Überwacher sah, ging sie noch einen Block weiter, bevor sie die Straße überquerte und sich dem Escape von hinten näherte.

Der Journalist hatte sich für ihre Antworten bedankt, und Jane war tatsächlich immer auskunftsfreudig gewesen, was ihre Gefühle, Hoffnungen, Absichten und Überzeugungen betraf. Schon aus diesem Grund erwies sich ihre jetzige Isolation als schwer zu ertragen. Weil Freundschaft Vertrautheit voraussetzte, musste sie vorläufig alte Freunde meiden und durfte keine neuen Bindungen eingehen. Sich jemandem anzuvertrauen konnte ihren Tod oder den ihrer Vertrauten bedeuten.

Als sie das Haus verkauft, als sie alles, was sie besaß, zu Geld gemacht hatte, um es an einem Ort zu verstecken, wo es nicht leicht zu finden war, hatte sie angenommen, diese erzwungene Einsamkeit könnte ein halbes Jahr dauern. Jetzt, nach zwei Monaten und fast dreitausend Meilen auf der Straße, traute sie sich nicht mehr, die Dauer ihres Unternehmens abzuschätzen.

Jane fuhr an, ordnete sich in den Verkehrsfluss ein. Anders als ihr Wagen sendete fast jedes Auto, jedes SUV, jeder Lkw und jeder Bus ständig seine Position zugunsten kommerzieller Sammler von Metadaten, Polizeidienststellen … und wem auch immer die Zukunft gehörte.

VIERZEHN

Die neue Zentralbibliothek von San Diego – je nach Standpunkt des Betrachters ein postmoderner Triumph oder ein bedauerlicher Stilmischmasch – hatte neun Geschosse mit fast vierzehntausend Quadratmetern und war für Janes Zwecke zu groß. Ihre Ebenen wurden unangenehm gründlich überwacht und waren im Notfall nicht leicht ungesehen zu verlassen. Sie machte sich auf die Suche nach einer Zweigstelle.

Ihren Laptop hatte sie schon vor Wochen entsorgt. Heutzutage dienten PCs ebenso als Standortmelder wie die Navis von Kraftfahrzeugen. Am liebsten arbeitete sie an Computern in öffentlichen Bibliotheken. Je nach den Informationen, die sie brauchte und online lesen musste, blieb sie selbst dann nie lange am selben Ort.

Sie fand eine Zweigstelle im Stil einer spanischen Mission: abgekupferte, aber ehrliche Architektur mit Klosterdachziegeln, blassgelbem Verputz und Sprossenfenstern mit Bronzerahmen. Wie sie’s sich angewöhnt hatte, fuhr sie zunächst an ihrem Ziel vorbei und parkte eineinhalb Blocks weiter in einer Seitenstraße. Sie nahm nur ein kleines Notizbuch, einen Stift und ihre Geldbörse mit und versteckte ihre Umhängetasche unter dem Fahrersitz, bevor sie ausstieg und den Wagen absperrte.

In der Bücherei gab es viele Gänge und wenige Computer. Jane entschied sich für einen, der möglichst weit von dem entfernt war, an dem ein mürrisch wirkender Mann saß, dessen bloße Erscheinung andere Besucher aufzufordern schien, seine Nähe tunlichst zu meiden.

Der hünenhafte Kerl mit wilder schwarzer Lockenmähne und dem mit grauen Strähnen durchwobenen Prophetenbart eines Straßenpredigers, der derbe Schnürstiefel, eine Tarnhose, ein grünes Flanellhemd und eine voluminöse schwarze Daunenjacke trug, verstand es anscheinend, von der Bibliothek gesperrte Seiten aufzurufen, und sah sich Pornografie ohne Ton an.

Er würdigte Jane keines Blickes und berührte sich nicht etwa selbst. Er saß mit beiden Händen auf dem Tisch da und schien die Action auf dem Bildschirm mit einer Mischung aus Langeweile und Verständnislosigkeit zu verfolgen. Es gab Drogen wie Ecstasy, die nach langem, schwerem Missbrauch das Gehirn daran hinderten, Endorphine zu produzieren, sodass man ohne chemische Unterstützung keine Begeisterung, keine Freude und kein Wohlbefinden mehr spüren konnte. Vielleicht war das bei ihm der Fall, denn sein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht blieb ausdruckslos, während er einer Statue gleich auf den Monitor starrte.

Jane rief die Seite des Gernsback Institute auf, das neben weiteren Events die jährliche What If Conference veranstaltete. Sie verfolgte den Zweck, »die Fantasie führender Persönlichkeiten in Handel und Industrie, Wissenschaft, Ministerien und den schönen Künsten auf der Suche nach ungewöhnlichen Lösungen für die großen Probleme, vor denen die Menschheit steht, zu auf Fakten basierenden Spekulationen anzuregen.«

Gutmenschen. Für Leute mit bösen Absichten gab es keine bessere Tarnung als eine Non-Profit-Organisation mit dem Ziel, die Lage der Menschheit zu verbessern. Die meisten Mitarbeiter des Instituts waren vermutlich gutwillig und taten auch Gutes, aber das bedeutete noch längst nicht, dass sie die verdeckten Absichten seiner Gründer oder ihren eigentlichen Auftrag begriffen.

In ihrem Notizbuch hielt sie die Informationen fest, die sie voraussichtlich für ihre Ermittlungen brauchen würde. Dazu benutzte sie selbst entwickelte Buchstaben- und Zahlencodes, damit niemand anders ihre Notizen lesen konnte. Im Augenblick trug sie die verschlüsselten Namen der neun Mitglieder des Verwaltungsrats des Instituts ein, von denen sie nur einen – David James Michael – erkannte.

David James Michael. Der Mann mit den drei Vornamen. In ihrer Sammlung von Namen, Daten und Orten kam er auch anderswo vor. Sie würde später ihr Notizbuch durchblättern, um ihn zu finden.

Der Obdachlose hatte die Pornoseite verlassen und sah sich jetzt Hundefilme auf YouTube an – wieder ohne Ton, mit beiden Händen auf der Tischplatte, sein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht ausdruckslos starr.

Nachdem Jane sich abgemeldet und Notizbuch und Stift eingesteckt hatte, stand sie auf, ging zu dem Kerl hinüber und legte zwei Zwanzigdollarscheine neben seine Tastatur. »Danke für Ihren Dienst für unser Land.«

Er sah zu ihr auf, als habe sie ihn in einer ihm unbekannten Sprache angesprochen. Seine Augen waren nicht blutunterlaufen, auch nicht trüb vom Saufen, sondern grau und klar und scharf beobachtend.

Als er nichts sagte, deutete Jane auf die Tätowierung auf seinem rechten Handrücken: eine blaue Speerspitze als Hintergrund, darin ein erhobenes Schwert in Gold, das von drei goldenen Blitzstrahlen geteilt wurde. Das Abzeichen der Army Special Forces Airborne, darunter die Buchstaben DDT. »Kann kein leichter Dienst gewesen sein.«

Sein Nicken galt den vierzig Dollar, als er sagte: »Es gibt welche, die dringender Geld bräuchten als ich.« Er hatte die heisere Stimme eines Bären mit Halsentzündung.

»Aber ich kenne sie nicht«, sagte sie. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie’s ihnen von mir geben würden.«

»Das kann ich machen.« Er griff nicht nach den Scheinen, sondern wandte sich wieder den Hundevideos zu. »Hier in der Nähe gibt’s eine Suppenküche, die immer Spenden brauchen kann.«

Jane wusste nicht, ob sie das Richtige getan hatte, aber sie hatte nicht anders handeln können.

Sie sah sich um, als sie die Nische verließ, in der die Computer aufgereiht waren, aber er sah ihr nicht nach.

FÜNFZEHN

Der Sturm war noch immer nicht losgebrochen. Der Mittagshimmel über San Diego war bedrohlich grau, als seien all die Wassermassen und potenziellen Blitze, die sich über dem fernen Alpine angesammelt hatten, unbemerkt in Richtung Großstadt gezogen, um die bevorstehende Sintflut zu verstärken. Manchmal entwickelten das Wetter und die Geschichte sich viel zu langsam für Ungeduldige, die gespannt darauf warteten, wie es weitergehen würde.

Als Jane in dem Park, an dem die Bibliothek lag, auf einem der gewundenen Fußwege unterwegs war, entdeckte sie einen kleinen Springbrunnen. Sie setzte sich auf eine der Parkbänke mit Blick aufs Wasser, das in vielen dünnen Strahlen aufstieg und von einer leichten Brise in silberne Tropfen aufgelöst ins Becken herabfiel.

Um diese Tageszeit war im Park nicht viel los. Sie sah nur ein halbes Dutzend Leute, von denen zwei mit ihren Hunden unterwegs waren – bestimmt etwas rascher als bei heiterem Wetter.

Jane zog das Notizbuch aus einer Innentasche ihres Blazers, blätterte in der länger werdenden Namensliste und fand eine frühere Eintragung für David James Michael. Wie ihre Recherche in der Bibliothek ergeben hatte, saß er im Verwaltungsrat des Gernsback Institute, das die What If Conferences organisierte, an denen Gordon und Gwyneth Lambert, die nun beide Selbstmord verübt hatten, auf Einladung teilgenommen hatten.

Ein Vermerk hinter dem Namen Michael verwies auf den Selbstmord von T. Quinn Eubanks in Traverse City, Michigan. Eubanks, der nicht nur reich geerbt, sondern auch persönlich viel geleistet hatte, hatte im Verwaltungsrat von drei Wohltätigkeitsorganisationen gesessen, darunter dem Seedling Fund, in dem David James Michael einer seiner Kollegen gewesen war.

Wie sie weiterermitteln musste, war damit klar – wenigstens so klar, wie irgendwas in diesen Fällen wurde.

Als Erstes musste sie jedoch in Chicago anrufen.

Wie immer hatte sie ein Wegwerfhandy mit Prepaidkarte in der Tasche. Ihres Wissens war es nicht möglich, solche Handys zu orten. Auch wenn die Gefahr bestand, dass diese Billigmodelle heutzutage ihren Standort meldeten, bezahlte Jane sie immer bar und brauchte anschließend keinen Ausweis, um sie zu aktivieren.

Eine Schar Mädchen in Schuluniform hastete von einer Nonne in Alltagskleidung wie von einer Glucke, die zu fürchten schien, der Sturm könnte jeden Augenblick losbrechen, zur Eile gedrängt vorbei.

Aber die Luft war noch zu still. Eine kühle Luftmasse und wärmere Luft würden wie tektonische Platten zusammenprallen, sodass plötzlich Wind aufkam, bevor wenige Minuten später ein Platzregen einsetzte.

Weil sie auf ihr Wettergefühl vertraute – und nicht im Auto telefonieren wollte, in dem sie unter Umständen festsaß, falls ihr Handy doch geortet werden konnte –, holte sie ihr billiges Mobiltelefon hervor und tippte Sidney Roots Nummer ein.

Sidneys Frau Eileen war die in Chicago lebende Vorkämpferin für die Rechte behinderter Menschen gewesen, von der Jane Gwyn Lambert erzählt hatte. Eileen Root hatte den ersten und einzigen Migräneanfall ihres Lebens während eines auswärtigen Seminars erlitten und sich drei Wochen später in der Garage ihres Hauses erhängt.

Wie Janes Mann hatte Sidneys Frau eine Nachricht hinterlassen, die noch beunruhigender und rätselhafter als Nicks Mitteilung war. Sweet Sayso sagt, dass er all diese Jahre einsam war; warum hat Leenie aufgehört, ihn zu brauchen, er war immer für Leenie da, jetzt muss ich für ihn da sein.

Weder Sidney noch die drei bereits erwachsenen Kinder, die er mit Eileen – Leenie – hatte, hatten jemals von einem Mann namens Sayso gehört.

Kurz nach der Beurlaubung durchs FBI war Jane zu Beginn ihrer inoffiziellen Ermittlungen nach Chicago gereist und mit Sidney Root zusammengetroffen, bevor sie entdeckt hatte, dass sie wegen ihrer Nachforschungen ins Visier einer geheimnisvollen Verschwörung geraten war, die so wenig greifbar war wie eine Gespensterbande. Weil sie damals noch ihren richtigen Namen benutzt hatte, nannte sie ihn auch jetzt, als Sidney sich nach dem dritten Klingeln meldete.

»Oh ja, ich habe vor ein paar Tagen versucht, Sie anzurufen«, sagte er, »aber die Nummer, die Sie mir gegeben hatten, war abgemeldet.«

»Ich bin umgezogen, bei mir hat sich viel verändert.« Das war alles, was er als Erklärung von ihr zu erwarten hatte. »Aber ich bin weiter an dieser Sache dran, suche weiter eine Erklärung und hoffe, dass Sie ein paar Minuten Zeit für mich haben.«

»Klar. Ich mache nur rasch meine Tür zu.« Root arbeitete als Architekt in einem großen Büro mit vier Partnern zusammen. Sekunden später meldete er sich wieder. »Okay, was kann ich für Sie tun?«

»Ich weiß, dass die Welt der Wohltätigkeitsorganisationen unendlich groß ist und Ihrer Frau vertrauter war als Ihnen, aber können Sie sich daran erinnern, dass Eileen von einem Gernsback Institute gesprochen hat?«

Er überlegte kurz, antwortete dann: »Sagt mir nichts.«

»Wie steht’s mit dem Seedling Fund?«

»Auch unbekannt.«

»Nun zu ein paar Namen. David James Michael?«

»Hmmm … sorry, nein.«

»Quinn Eubanks?«

»Mit Namen konnte ich nie viel anfangen.«

»Das Seminar in Boston, bei dem Eileen die Migräne hatte – Sie haben gesagt, es sei eine Veranstaltung der Universität Harvard gewesen.«

»Ja, das können Sie nachschlagen.«

»Das habe ich bereits getan. Aber ich frage mich, ob Eileen unmittelbar davor oder danach an einer anderen Veranstaltung teilgenommen hat.«

»Eileen hat ihre Arbeit sehr ernst genommen. Sie hatte einen vollen Terminkalender. Auswendig weiß ich das nicht, aber ich könnte nachsehen.«

»Dafür wäre ich Ihnen dankbar, Sidney. Sagen wir … bis morgen um diese Zeit?«

»Sie lassen also noch immer nicht locker!«

»Denken Sie an die Selbstmordstatistiken, die ich Ihnen gegeben habe.«

»Ja, ich weiß. Aber wie Sie damals gesagt haben: Sehen Sie sich an, wie verrückt es auf der Welt zugeht, wie Hass und Gewalt regieren, dann brauchen Sie keine weitere Erklärung dafür, weshalb immer mehr Leute depressiv sind.«

»Nur war Eileen nicht depressiv.«

»Nein, das war sie nicht. Aber …«

»Und Nick auch nicht.«

»Sie war nicht depressiv«, sagte Sidney, »aber deswegen wollte ich Sie neulich anrufen. Sie erinnern sich an die Mitteilung, die sie hinterlassen hat?«

Jane zitierte den Anfang aus dem Gedächtnis: »Sweet Sayso sagt, dass er all diese Jahre einsam war …«

»Anfangs haben wir das ziemlich für uns behalten«, sagte Sidney, »weil … nun, weil dieser merkwürdige Text so gar nicht nach Eileen geklungen hat. Wir wollten nicht, dass die Leute sie für … nicht ganz richtig im Kopf hielten. Aber vor Kurzem hat ihre Tante Faye das Rätsel gelöst. Gewissermaßen. Als kleines Mädchen von vier oder fünf Jahren hatte Eileen einen imaginären Freund namens Sayso. Mit ihm hat sie geredet, über ihn hat sie Geschichten erzählt. Irgendwann hat sich das wieder gegeben. Wer weiß, wieso sie zuletzt wieder auf ihn zurückgekommen ist?«

Jane lief bei der Vorstellung, ein längst vergessener imaginärer Freund fordere eine Fünfzigerin auf, mit ihm in den Tod zu gehen, ein kalter Schauder über den Rücken. Hätte sie ihre Reaktion jedoch erklären sollen, wäre sie in Verlegenheit geraten.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Sidney plötzlich.

»Einigermaßen. Aber ich schlafe nicht gut.«

»Ich auch nicht. Wenn ich aufwache, weil ich schnarche, entschuldige ich mich bei ihr für den Lärm. Ich vergesse, dass sie nicht mehr da ist.«

»Ich reise viel, übernachte in Motels«, sagte Jane, »aber ich kann in keinem Doppelbett schlafen. Nick war ein großer Kerl. Also muss es ein breites französisches Bett sein. Sonst gestehe ich quasi ein, dass er nicht mehr da ist, und schlafe überhaupt nicht.«

»Sind Sie vom FBI noch immer beurlaubt?«

»Yeah.«

»Hören Sie auf meinen Rat, gehen Sie wieder zum Dienst. Arbeiten Sie, statt eine Erklärung für etwas zu suchen, was sich niemals ganz wird erklären lassen.«

»Vielleicht tue ich’s«, log sie.

»Ich will Ihnen nichts einreden, aber mir hat meine Arbeit geholfen.«

»Vielleicht tue ich’s«, log sie noch mal.

»Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, damit ich anrufen kann, sobald ich weiß, ob Eileen damals auf einer weiteren Veranstaltung war.«

»Ich rufe Sie morgen an«, sagte sie hastig. »Danke, Sidney. Sie sind ein Schatz.«

Als Jane das Gespräch beendete, schien sie im Park allein zu sein. Die Fußwege und Rasenflächen waren verlassen, so weit ihr Auge reichte. Nirgends eine stolzierende Taube. Nirgends ein vorbeihuschendes Eichhörnchen.

Zur falschen Zeit am falschen Ort konnte eine Großstadt so einsam wie die Arktis sein.

Auf den im Norden und Süden vorbeiführenden Straßen brauste der Verkehr mit Motorenlärm, dem Zischen von Druckluftbremsen, gelegentlichem Hupen und dem Scheppern eines losen Gullydeckels. Auch als sie sich von dem plätschernden Springbrunnen wegbewegte, wirkte der Verkehrslärm seltsam gedämpft, als liege der Park hinter Schallschutzfenstern.

Die unter Druck stehende Luft blieb still, der Himmel war voller dunkelgrauer Wolkenberge, aus denen bald eine Sintflut über die Stadt hereinbrechen würde, die Fenster aller Gebäude in der City leuchteten hell, und die mit Licht fahrenden Autos glitten durch die falsche Dämmerung wie Tauchboote, die Unterwasserrouten folgten.

Jane war erst wenige Schritte von dem Springbrunnen entfernt, als sie auf ein Summen wie von einem Wespenschwarm aufmerksam wurde. Sie hörte es erst über, dann hinter sich, aber als sie sich um die eigene Achse drehte, bis sie wieder den Palmenhain vor sich hatte, sah sie die Quelle dieses Geräuschs sieben Meter von sich entfernt schweben: eine Drohne.

SECHZEHN

Der hochwertige Quadrocopter in Zivilausführung, sehr viel kleiner als jede Militärdrohne, erinnerte an einen unbemannten Mondlander en miniature. Er hatte Ähnlichkeit mit dem DJI Inspire 1 Pro, war aber etwas größer: ein Fluggerät für ungefähr siebentausend Dollar. Immobilienmakler ließen solche Geräte Videos von ihren Objekten machen, und die Zahl der kommerziellen Anwendungen stieg von Tag zu Tag. Beliebt waren sie auch bei wohlhabenden Hobbypiloten, die von echten Drohnenbegeisterten bis zu »Spannern« mit Hightech-Equipment reichten.

Das in kaum drei Metern Höhe im Schatten unter den üppigen Wedeln der Phönixpalmen schwebende Gerät verkörperte den gefürchteten Maschinengott aus tausend Filmen und Storys: ein fast zerbrechlich wirkendes Ding, dessen Anblick sie wie ein Keulenschlag traf, während Angst sie durchzuckte. Dabei verstieß das Fluggerät gegen alle Vorschriften für zivile Drohnen, zumindest soweit Jane sie kannte.

Sie glaubte keine Sekunde lang, das Auftauchen einer Drohne hier im Park könnte bloßer Zufall sein. Die Kamera in dreiachsiger Kardanaufhängung blieb unbeirrbar auf sie gerichtet.

Irgendwie hatte sie ihren Standort verraten. Wann sie einen Fehler gemacht hatte, war jetzt unwichtig; eine genaue Analyse hatte Zeit bis später.

Erreichte die Drohne mit einem zusätzlichen Akku die doppelte Flugdauer einer Inspire 1 Pro, konnte sie dreißig bis vierzig Minuten in der Luft bleiben. Das bedeutete, dass sie in der näheren Umgebung gestartet worden sein musste – vermutlich von einem Überwachungswagen aus.

Der Drohnenoperator würde sie nicht mehr aus den Augen lassen, bis genügend Polizeibeamte eintrafen, um sie zu verhaften. Oder vielleicht steckte dahinter kein legitimes Exekutivorgan. Dann würde sie einfach … überwältigt und entführt werden. Sie waren hinter ihr her. Die allgewaltigen, fast mystischen sie. Aber Jane hatte keine Ahnung, wer sie sein könnten.

Jedenfalls waren sie bereits in der Nähe.

Der Park wirkte noch immer menschenleer. Bestimmt nicht mehr lange.

Jane versuchte nicht, sofort zu flüchten, sondern bewegte sich stattdessen auf die Drohne zu, als ihr etwas an dem Gerät auffiel, was genaueres Hinsehen erforderte. Dank ihres Muts entdeckte sie frühzeitig, dass dies entweder keine Zivilausführung oder ein radikal modifiziertes Gerät war. Vielleicht täuschten die Schatten und die schlechten Lichtverhältnisse ihr etwas vor, auch wenn das unwahrscheinlich war, oder vielleicht ließ ihr Verfolgungswahn sie einen Schalldämpfer sehen, der den dünneren Lauf einer Waffe umgab, aber sie wusste genau, dass Verfolgungswahn nichts damit zu tun hatte.

Die Drohne war bewaffnet worden.

Als das Gerät auf sie zuschwebte, wich sie hinter den dicken Stamm einer Phönixpalme aus. Hätte sie wegzulaufen versucht, wäre sie von hinten erschossen worden.

In diesem verzweifelt kurzen Augenblick in sicherer Deckung zog sie die Heckler & Koch aus dem Schulterhalfter.

Ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren, um das ganze Ausmaß der Gefahr zu erfassen. Das Gewicht sprach dagegen, dass in eine zivile Drohne eine Waffe mit großem Magazin eingebaut worden war. Unbewaffnet wog eine normale Drohne mit Kamera und Batterie ungefähr dreieinhalb Kilo. Das zusätzliche Gewicht einer Waffe mit Munition musste Stabilität und Flugdauer ungünstig beeinflussen. Also würde es eine wenig zielsichere Kleinkaliberwaffe mit ein paar Schuss Munition sein.

Aber natürlich brauchte sie nur einmal zu treffen.

Jane erwartete, dass die ferngesteuerte Mordwaffe von links anfliegen würde. Dann hörte sie, wie die Drohne die massive alte Palme rechts umflog.

Bevor die Kamera sie erfassen konnte, wich sie nach links aus. Mit dem Rücken zu dem dicken Stamm der riesigen Palme blieb sie im Kielwasser der Drohne, die weiter um den Baum kreiste.

Der Schießmechanismus würde keine vollwertige Handfeuerwaffe sein. Kein Pistolengriff, kein Standardmagazin. Nur das Notwendigste. Eine Waffe Kaliber .22 mit drei oder vier Schuss gegurteter Munition.

Sie hatte den Vorteil, hören zu können. Die Drohne hatte ein Auge, aber kein Ohr. Ihr Operateur war praktisch taub.

Aber Kupfermantelgeschosse mit Hohlspitzen konnten selbst als Kaliber .22 aus naher Entfernung tödlich sein.

Jane beendete das Versteckspiel. Sie trat von dem Baumstamm weg, näherte sich der Drohne entschlossen von hinten.

Das Blickfeld des Operateurs umfasste nur ungefähr siebzig Grad. Er schien eine Gefahr im toten Winkel zu ahnen. Mit zornigem Hornissensummen begann die Drohne plötzlich, sich im Schwebeflug um die Hochachse zu drehen.

Mit ihrer Pistole in beiden Händen gab Jane aus Kernschussweite drei, vier, fünf Schüsse ab, deren Explosionen wie Flipperkugeln von den Stämmen des Palmenhains abzuprallen schienen. Das verdammte Gerät bestand vor allem aus Fahrwerk und Luftschrauben, einem schmalen Rumpf und der Kamera in Kardanaufhängung – kein sehr großes Ziel, sodass sie sich wünschte, ihre Pistole wäre eine Schrotflinte. Andererseits war diese Großmutter des Terminators nicht gepanzert oder sonst wie gegen feindliches Feuer geschützt. Von einem oder mehreren Schüssen getroffen, verlor sie ein großes Bauteil, kippte seitlich ab, prallte gegen eine andere Palme und schlitterte durchs Gras, bis sie zum Stillstand kam. Viele Tausend Dollar wurden binnen Sekunden zu Schrott.

Sie konnte nicht ahnen, dass es eine zweite Drohne gab, bis sie vom Springbrunnen her auf Jane zugerast kam.

SIEBZEHN

Zwei Drohnen, ein Überwachungswagen, von dem aus sie gesteuert wurden, und bestimmt ein halbes Dutzend oder mehr Kerle zu Fuß, die bald wie aus dem Nichts auftauchen würden: Sie verfügten über Ressourcen, und sie hatten es auf Jane abgesehen – vielleicht erbitterter, als sie bisher geglaubt hatte.

Als sie sich herumwarf, um vor der zweiten Drohne zu flüchten, blockierte ihr die massive alte Phönixpalme den Weg. Bevor sie um den Stamm herumlaufen konnte, stanzte ein Dutzend schlanker Stahlnadeln, die sie nur um Zentimeter verfehlten, eine senkrechte Linie ins Holz.

Das hätte sie sich denken können. Eine kaum fünf Kilo schwere Drohne konnte nicht einmal den Rückstoß einer Schusswaffe mit Kaliber .22 kompensieren und dabei zielsicher bleiben. Diese fast rückstoßfreie Waffe verschoss mit Druckluft Stahlpfeile. Nein, keine Pfeile, denn die Befiederung fehlte – eigentlich waren es Armbrustbolzen. Gift? Betäubungsmittel? Vermutlich Letzteres. Sie würden sie vernehmen wollen, daher wäre aus Janes Blickwinkel Gift vorzuziehen gewesen.

Außer Sichtweite der Straße schlängelte sie sich von dem surrenden Fluggerät verfolgt zwischen Palmen hindurch, aus denen empört kreischende Vögel aufflogen, die lautstark dagegen protestierten, dass sie aus den Palmwedeln vertrieben und in den aufziehenden Sturm hinausgejagt wurden. Wegen ihrer weit ausladenden Kronen waren die Abstände zwischen den Palmen größer, als Jane sich gewünscht hätte, weil sie so weite Strecken ohne Deckung zurücklegen musste. Während sie Haken schlagend unterwegs war, wurde ihr klar, dass die Drohne bei Windstille ungefähr zwanzig Meter in der Sekunde zurücklegen konnte – also viel schneller war, als sie rennen konnte. Sie würde ihr nicht mehr lange ausweichen können. Und sie durfte nicht hoffen, sie wie die erste Drohne austricksen zu können. Das Gerät mochte dumm sein, aber der Drohnenoperateur war es nicht.

Die Schießerei würde die Polizei auf den Plan rufen, aber das war nicht unbedingt gut. Vor zwei Monaten, als diese Sache angefangen hatte, hatte Jane die Erfahrung gemacht, dass nicht alle Cops auf der Seite der Gerechten standen. In diesen gefährlichen Zeiten, in denen Schatten ihrerseits Schatten warfen und Dunkelheit oft als Licht galt, waren Gerechte und Ungerechte schwer zu unterscheiden.

Während sie auf ihrem Hindernismarathon, den sie nur verlieren konnte, Haken schlagend von einer Phönixpalme zur nächsten lief, aus denen sie sich nicht wie ein Vogel Phönix erheben würde, wenn sie ermordet wurde, spürte sie ein Zupfen am rechten Ärmel. Als sie an sich herabsah, entdeckte sie drei der dünnen Stahlbolzen, die den Jackenärmel durchbohrt und ihren Arm nur um Haaresbreite verfehlt hatten.

In der frühen Dämmerung dieses düster bewölkten Nachmittags zuckte jähe Helligkeit apokalyptisch über den Park, als wolle sie alles entzünden, was sie berührte, und eine unmittelbar bevorstehende Welt voller Asche ankündigen. Zugleich wichen alle Schatten in die Objekte zurück, von denen sie geworfen wurden, oder griffen zitternd über die Fußwege und Rasenflächen aus wie heimatlos gewordene Gespenster auf der Suche nach einer neuen Bleibe. Dass ein Blitz vom Himmel herabgezuckt war und in der Nähe eingeschlagen hatte, wurde Jane erst eine halbe Sekunde nach dem Aufleuchten bewusst, als ein schmetternder Donnerschlag den Boden unter ihren Füßen erzittern ließ.

Zu den vielen Dingen, die sie in Quantico gelernt hatte, gehörte, dass man beherzigte, was einem in der Ausbildung eingebläut worden war, und das tat, was sich für Tausende Gesetzeshüter in Tausenden Fällen bewährt hatte – aber zu erkennen imstande war, wann Dienst nach Vorschrift zu einem Nachruf und einer Post-mortem – Belobigung führen würde, und dann auf seine Intuition vertraute, die verlässlicher als alles Angelernte war. Nach dem blendend hellen Blitzstrahl fluteten die vertriebenen Schatten zurück, als folgten sie dem Ruf des Donnergrollens. Als der Tag sich um Jane herum verfinsterte, warf sie sich zu Boden, wälzte sich auf den Rücken und glich so einem Menschenopfer auf einem Aztekenaltar, während der fliegende Terminator über ihr schwebte, wie um das Blut seines Opfers einzufordern. Sobald sie sah, dass die Drohne im Schwebeflug ihre Waffe ausrichtete, riss sie die Pistole hoch und jagte die restlichen fünf Schuss hinaus.

Glitzernde Stahlbolzen flogen an Janes Gesicht vorbei und bohrten sich ins Erdreich, als die nächste Salve sie verfehlte. Die getroffene Drohne wich schwankend zurück, als versuche sie, Höhe zu gewinnen. Weil sie einen Rotor verloren hatte, taumelte sie stattdessen heftig, kippte seitlich ab, als sie eine Kurve zu fliegen versuchte, und beschleunigte auf eine Lücke zwischen den Bäumen zu. Dann krachte sie mit mindestens zehn Metern in der Sekunde gegen einen Palmenstamm, an dem sie wie eine überreife Frucht zerplatzte.

Jane war wieder auf den Beinen, ohne zu wissen, wie sie sich aufgerappelt hatte. Sie zog das leere Magazin heraus, steckte es ein, rammte ein Magazin mit zehn Schuss in die Heckler & Koch, schob sie ins Holster und rannte los.

ACHTZEHN

Am Rand des Palmenhains, auf der freien Fläche in der Nähe des Springbrunnens, sah Jane sie endlich kommen. Vom Parkplatz der Bibliothek aus, der westlich von ihr lag, rannten zwei Kerle in ihre Richtung, und drei weitere kamen von der nördlich verlaufenden Straße in den Park gespurtet. Auch wenn keiner von ihnen Uniform trug, waren sie bestimmt keine harmlosen Bürger, die hier joggten, um fit zu bleiben.

Der Ford Escape stand einen Straßenblock weiter südlich an einer Parkuhr, aber Jane wollte sie nicht zu ihrem Auto führen, das sie vielleicht noch nicht kannten.

Sie flüchtete über die größte Rasenfläche des Parks nach Osten und war froh, dass sie Kohlenhydrate mied, jeden Abend Gymnastik machte und regelmäßig joggte.

Selbst aus der Ferne war zu erkennen, dass ihre fünf Verfolger groß genug waren, um sich als NFL-Abwehrspieler zu qualifizieren: riesige Kerle mit gewaltigen Muskelpaketen und enormen Kräften. Aber Jane wog zweiundfünfzig Kilo und jeder ihrer Verfolger mindestens das Doppelte, sodass der Energieverbrauch der Männer beim Laufen weit höher war. Sie dagegen war schlank und fit, und ihre Motivation – Überleben – befeuerte sie weit wirkungsvoller als alles, was diese Kerle antreiben mochte.

Sie sah sich nicht um. Dabei wäre sie nur langsamer geworden. Sie würde eingeholt werden – oder auch nicht, denn solche Rennen wurden oft von dem gewonnen, der das meiste Vertrauen in sein Durchhaltevermögen besaß.

Ein zweiter Blitz zuckte herab, heller als der erste, und schlug in den höchsten Baum in weitem Umkreis ein: eine Lebenseiche, von deren Stamm ein Regen aus brennenden Holzsplittern und glühender Rinde niederging. Ein abbrechender riesiger Ast trug ein Gewirr aus Zweigen, das an eine fantastische Mikrowellenantenne erinnerte, die Signale unzähliger ferner Welten auffing.

Obwohl die herabkrachende Masse sie nicht erreichte, hob Jane einen Arm vors Gesicht und schützte ihre Augen vor den aufstiebenden brennenden Holzsplittern, Rindenstücken und ovalen braunen Blättern, die sie sekundenlang wie ein Hornissenschwarm umgaben.

Als die letzten Splitter herabregneten und der Donner durch die City davonrollte, als Jane den Ostrand des Parks erreichte, öffnete der dunkle Himmel plötzlich seine Schleusen, und es begann in Strömen zu gießen: dicke, harte Tropfen, die durch Laub und Gras zischten, auf den Asphalt klatschten, die Metalldeckel von Mülltonnen leise scheppern ließen und als Folge der Blitzschläge einen Hauch von beißendem Ozongeruch mitbrachten.

Die silbrigen Regenfluten waren plötzlich von roten Fäden durchzogen, als aufleuchtende Bremslichter zeigten, dass Autofahrer auf die plötzliche Sichtverschlechterung reagierten. Ohne eine Sekunde zu zögern, sprang Jane vom Gehsteig auf den schwarz glänzenden Asphalt und schlängelte sich von wildem Hupen und Reifenquietschen begleitet zwischen zwei Ampeln über die Straße. Polternd arbeitende Scheibenwischer zeigten ihr viele verblüffte und einige wütende Gesichter, bevor sie hinter neuen Sturzbächen auf den Frontscheiben verschwammen.

Auf der anderen Straßenseite wandte sie sich nach Süden, rannte in vollem Tempo weiter und wich den wenigen Fußgängern aus, die vielleicht irritiert, aber nicht überrascht waren, eine junge Frau ohne Schirm zu sehen, die es eilig hatte, Schutz zu finden. An der ersten Ecke bog sie nach Westen ab und spurtete einen halben Block weit, bevor sie die Straße gegen eine schmale Gasse eintauschte und schon nach wenigen Metern in einem nur für Fußgänger geeigneten engen Durchgang verschwand.

Auf halber Strecke in dieser Passage zwischen hohen Häusern riskierte sie endlich einen Blick nach hinten. Sie sah keinen der fünf Kerle aus dem Park, aber sie wusste, dass sie nicht alle abgeschüttelt haben konnte. Sie waren irgendwo in der Nähe, und sie musste darauf gefasst sein, ihnen überraschend zu begegnen.

Sie machte nur lange genug halt, um ihr Handy in den nächsten Gully zu werfen. Trotz des Regens hörte sie es ins dunkle Wasser jenseits der Gitterstäbe klatschen, bevor sie sich aufrichtete und weiterrannte.

NEUNZEHN

Der enge Durchgang mündete in eine große Straße. Jane wollte sie eben überqueren, als ihr auf der gegenüberliegenden Seite und fünfzig Meter links von ihr ein dunkel gekleideter großer Mann auffiel, der klatschnass wie sie auf dem Gehsteig stand, ohne auf die vorbeihastenden Fußgänger zu achten. Er konnte irgendwer sein, der nach jemandem Ausschau hielt, aber sie wich intuitiv in die Gasse zurück, aus der sie gekommen war.

Autor