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Zu nah

Als Buch hier erhältlich:

"Intelligenter Plot. Herausragende Charaktere. Alles was man für einen großartigen Thriller braucht." #1 New York Times Bestsellerautorin Lisa Gardner

Die angesehene Wissenschaftlerin Eleanor Costello ist tot. Erhängt in ihrem Schlafzimmer. Frankie Sheehan, Detective im Dubliner Police Department und schwer gezeichnet von ihrem letzten Fall, glaubt nicht an Selbstmord. Jemand war bei Eleanor, als sie starb. Jemand, der sadistische Lust an brutalen Spielchen hat.
Schon bald wird eine zweite Leiche gefunden: eine junge Frau - zu Tode gefoltert. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, und für Frankie geht es erneut um Leben und Tod.

Packend. Überraschend. Nervenaufreibend.

"Eine extrem interessante Newcomerin mit einem furiosen Debut. (…) ´Good job´, Mrs. Kiernan! Freue mich auf Nr. 2."
Krimi-Couch

"Dublin bildet einen fantastischen Hintergrund für das spannungsgeladene Krimi-Debüt »Zu nah« der irischen Autorin Olivia Kiernan. Sie hat mit Detective Frankie Sheehan eine starke, intelligente Heldin mit ungewöhnlichen Ermittlungsmethoden geschaffen."
Washington Post

"Kiernans Beschreibungen von Frankies emotionaler und körperlicher Heilung nach einer Attacke sind meisterhaft in die Handlung eingewoben. Obwohl der Serienkiller ein oft bemühter Bösewicht ist, findet Kiernan doch einen neuen Zugang zu diesem Genre, und der Leser sieht Dublins Straßen und Viertel mit neuen Augen. »Zu nah« zeichnet sich durch seine realistischen Charaktere aus, angefangen von der Protagonistin Frankie, über ihre Kollegen im Police Department bis hin zu dem überraschenden Täter."
Washington Post

"Faszinierend. Olivia Kiernan entfaltet ein komplexes Geflecht aus Mord, Verrat und Geheimnissen, während die Bedrohung für ihre knallharte Ermittlerin immer weiter steigt, bis sich alles in einem furiosen Finale entlädt."
#1 New York Times Bestsellerautorin Lisa Gardner

"Zu nah präsentiert eine aufregende neue Stimme in der Spannungsliteratur. Pointiert und mutig, intelligent und düster. Frankie Sheehan ist eine brillant gezeichnete Polizistin. Olivia Kiernan schickt sie auf eine Spurensuche voller Irrungen und Wirrungen, die den Leser bis zuletzt rätseln lassen."
New York Times Bestsellerautorin Linda Fairstein

"Zu nah ist ein furchtloses und rasantes Debüt, das den Leser in die Welt der Dubliner Polizistin Frankie Sheehan katapultiert. Sheehan ist die perfekte Mischung aus Zerbrechlichkeit, wilder Entschlossenheit und Furchtlosigkeit. Der schwarze Humor und die fesselnde Stadtatmosphäre machen es zu einem Buch, das Liebhaber irischer Krimis nicht verpassen dürfen. Olivia Kiernan ist eine Autorin, die ihren Lesern den Atem stocken lässt."
Jess Kidd, Autorin von Freund der Toten


  • Erscheinungstag: 23.03.2018
  • Aus der Serie: Detective Frankie Sheehan
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677523
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Grace und Matthew

***

Wenn ich an ihn denke, ist er tot. Auf dem Grund eines Flusses. Im Geist sehe ich ihn, tief unten, gegen die Strömung gestemmt, schwarze Haare wehen im Unterwasserwind, die Wangen zu einem Lächeln nach hinten gedrückt, Zähne leuchten in den grünen Tiefen. Ich möchte mit dem Bus in die Stadt fahren und mich auf die Brücke stellen, genau an die Stelle, wo wir ihn fallen ließen. Leute würden vorbeigehen. Lächeln. Ohne zu ahnen, was wir getan haben. Ich würde zurücklächeln. Ein Lächeln kann viele Geheimnisse verbergen.

Du begrüßt mich mit einem harten Kuss, als ich die Tür öffne, trittst sofort ein, raus aus der kühlen Seeluftnacht, Augen schwarz wie der Teufel. Ich halte deinen dunklen Blick fest und versuche, mich daran zu erinnern, wann das Böse dem Guten den Rang abgelaufen hat. Du hältst einen Strick in der Hand. Braun, faserig und grob. Schon jetzt kann ich sein Kratzen an der duftenden Haut meiner Kehle spüren. Ein erregender Schauer flüstert am Rand meines Atems.

***

KAPITEL 1

Kein Abschiedsbrief. Das Opfer schweigt eisern, bleibt eiskalt und stumm; die beste und schlechteste Zeugin ihres Endes. Ein Abschiedsbrief wäre für die Hinterbliebenen etwas, woran sie sich festhalten können. Um Schuld zuzuweisen. Wütend auf den Wortlaut zu reagieren. Den Scheißwisch in Stücke zu reißen, wenn ihnen danach wäre. Ohne gibt es gar nichts. Trauer ist ein einsamer Kampf. Dennoch bilde ich mir ein, den Hauch eines Lächelns in den Winkeln ihres geschwollenen Mundes zu sehen, ein Lächeln, das Geheimnisse andeutet. Geheimnisse, die sie mit ins Grab nehmen wird.

Die schmalgesichtige Rechtsmedizinerin beginnt mit der Obduktion. Sie geht am Körper des Opfers vorbei, spricht ihre Befunde in einem knappen, klinischen Tonfall in ein Mikro.

»Todeszeitpunkt: gegen zwanzig Uhr am 19. Oktober 2011. Todesursache: mutmaßlich Strangulation durch Erhängen. Todesart: noch ungeklärt. Opfer: neununddreißig Jahre alt. Weiblich. Obduzentin: Dr. Abigail James. Außerdem anwesend: Detective Chief Superintendent Frankie Sheehan und Associate Commissioner Jack Clancy.«

Wir sind in Whitehall. Das supermoderne Gebäude, in dem Dublins Rechtsmedizin untergebracht ist. Der Beobachtungsbereich läuft unter dem liebevollen Spitznamen »Wartesaal«, eine lakonische Anspielung darauf, dass durchaus die Möglichkeit besteht, irgendwann mal selbst auf der Schlachtbank eines Rechtsmediziners zu landen.

Ich schaue zu Dr. James hinunter, die gerade mit einer Stiftlampe in den Mund des Opfers leuchtet. Auch sie ist ein neues Gesicht. Erfordert eine weitere Umstellung. Obwohl Veränderungen zu erwarten sind, wenn man monatelang weg war, fühle ich mich doch irgendwie hintergangen.

»Sie ist neu.«

Jack Clancy blickt weiter nach unten auf das Opfer. Er schiebt die Hände in die Hosentaschen, wippt auf den Fußballen. »Dir entgeht aber auch gar nichts, genau wie früher. Hoffentlich sind deine Fähigkeiten als Detective nicht so diabolisch wie deine Beobachtungsgabe, Sheehan.«

»Guck mal.« Ich zeige lächelnd auf einen halb vollen Becher Kaffee. »Noch nicht ausgetrunken. Bitte keine Frechheiten, bevor der leer ist. Was ist mit ihrem Vorgänger?«

»Nach Australien abgehauen, wie fast alle in diesem Scheißland«, sagt er.

»Detective Harwood?«

»Wieder bei uns.«

»Ich dachte, der wäre zur Sondereinheit gewechselt.«

»Ballistik.«

»Was ist passiert? War die Sehnsucht zu groß?« Ich grinse ihn an.

Die Sorge steht Clancy ins Gesicht geschrieben: Seine Augenbrauen schnellen hoch und runter, seine Lippen werden schmal, gepresst, und die Haut an seiner Kieferpartie bebt.

»Wir mussten einiges an Personal hin und her schieben, Frankie. Deine Leute, eingeschüchtert wie eh und je, sind dir treu ergeben wie geprügelte Hunde, aber wir haben keinen anderen Detective auf deiner Stufe, der mit dir zusammenarbeiten kann.«

»Ich arbeite sowieso lieber allein«, erwidere ich.

Der Rest meines Kaffees ist eine kalte Brühe aus halb aufgelöstem Zucker, ungefähr so einladend, wie der Tag angefangen hat, und so vorhersehbar, wie er weitergehen wird.

Ich bringe das Gespräch zurück auf sicheren Boden. »Also, was machen wir eigentlich hier? Für einen glasklaren Selbstmord sind wir zwei ein bisschen überqualifiziert, oder?«

Sein Gesichtsausdruck besagt, dass er mich im Moment noch nicht mal qualifiziert für irgendetwas hält. Ich nehme Haltung an. Sehe ihm in die Augen.

»Der Coroner hatte ein ungutes Gefühl«, sagt er. Bei den Worten »ungutes Gefühl« zieht er eine Augenbraue hoch. »Der Commissioner ist nervös.«

»Nervös?«

Er antwortet nicht.

»Meinetwegen?«

Schweigen. Ich schmecke Galle hinten auf der Zunge.

»Scheiß auf die da oben.« Ich schiele zu ihm rüber, hoffe, eine gewisse Zustimmung in seinem Gesicht zu entdecken, aber sein Mund bleibt eine harte Linie, der Blick starr geradeaus.

Nach einer Weile sagt er: »Also, was denkst du?«

»Über das Opfer?«

Er seufzt. »Über das ›ungute Gefühl‹?«

»Tja, die Frage ist schon fast philosophisch.« Ein verkrampftes Grinsen. »Du glaubst offensichtlich nicht an den guten alten Ich-verpiss-mich-jetzt-aus-dieser-Dreckswelt-Abgang?«

Seine Schultern heben sich unter dem Jackett. »Die Möglichkeit besteht immer.«

Ich wende mich ab. Die Rechtsmedizinerin, Abigail, erzählt die Geschichte der Frau:

»Der Schädel ist intakt, keine Anzeichen einer Fraktur. Leichte Rechtsverschiebung des Hinterhauptes auf C1, die auf eine erhebliche Dislokation der oberen Halswirbelsäule durch Erhängen zurückzuführen ist. Die seitliche Röntgenaufnahme der Halswirbelsäule zeigt eine beidseitige Fraktur der Pars interarticularis, was darauf schließen lässt, dass der Fall des Körpers ruckartig vom Seil gestoppt wurde.«

»Scheint heutzutage ein besonders beliebter Tod zu sein«, sagt Clancy über meine Schulter.

Mir ist bewusst, dass meine Hand irgendwann während Abigails Obduktion zu meinem Hals gewandert ist. Mund verkrampft, trocken, mein Atem still und klein in der Brust.

Ich schlucke, und die Wände meiner Kehle kleben aneinander. »Trotzdem ist es eigentlich eine ungewöhnliche Wahl für eine Frau. Eher ein Männertod.«

Clancy steht unter Spannung. Ich spüre sie wie in Wellen von ihm abstrahlen.

Ich huste, versuche, so zu klingen, als hätte ich mich voll im Griff: »Wenn Frauen sich umbringen, greifen sie üblicherweise zu weniger unmittelbaren Methoden, also eher zu Tabletten oder Rasierklingen. Erhängen kommt zwar auch vor, ist aber nicht ihr Abgang erster Wahl.« Ich werfe ihm sicherheitshalber noch ein Lächeln zu.

Clancy tritt näher ans Fenster, starrt das Opfer an, das in dem Raum unterhalb von uns liegt.

»Vielleicht war es ja nicht ihre erste Wahl«, sagt er.

»Vielleicht.« Ich drücke den Knopf der Sprechanlage. »Dr. James? Was ist das da an ihrem linken Arm?«

Abigail blickt genervt zu unserem Fenster hoch.

Ich stoße einen leisen Pfiff aus. »Da lässt sich aber jemand nicht gern unterbrechen.«

Clancy erteilt ihr mit einem knappen Nicken die Genehmigung, und sie geht mit steifen Schultern an dem Körper entlang und spricht weiter ihre Befunde ins Mikro.

»Am linken Unterarm knapp distal zur Ellbogenbeuge befindet sich ein linearer Schnitt durch die Haut, anscheinend mit einem sehr scharfen Gegenstand wie beispielsweise einer Rasierklinge verursacht. Die Hautränder sind dunkel verfärbt. Vielleicht eine alte Tätowierung oder Farbrückstände an der verwendeten Klinge oder anderem Schneidwerkzeug.«

Sie hält kurz inne, nimmt ein Probenröhrchen und macht einen Abstrich. Datiert und beschriftet das Röhrchen, dann fährt sie fort:

»Die Wundöffnung ist zwei Zentimeter lang, aber es wurden keine größeren Blutgefäße verletzt.«

»Na bitte«, sage ich leise, halb zu mir selbst, halb zum Opfer. »Die Pulsadern aufschneiden hat nicht geklappt, also hat sie sich aufgehängt.«

Das genügt. Genügt für die Hoffnung, dass sich die Sache damit erledigt hat. Kleine Schritte. Ich nehme die Fallakte, bewege mich Richtung Tür. »Sehen wir uns später im Büro?«

»Sheehan«, seufzt er. »Du solltest –«

Ich muss die Leichtigkeit in meine Stimme zwingen, in meinen Körper. Ich drehe mich um, knicke eine Hüfte ein, lasse die Hand von der Klinke gleiten. »Komm schon, Jack. Wir wissen beide, dass ich das schaffe. Ich klär den Fall. Vertrau mir. Keine offenen Fragen.«

Er studiert mein Gesicht eine gefühlte Minute lang, Zunge gegen die Wange gedrückt, mit angehaltenem Atem. Ich weiß, dass er mehr sieht als die weiße Stehkragenbluse, den neuen Haarschnitt, kinnlang und heller gefärbt. Ich weiß, dass er die Spuren sieht. In meinem Gesicht. Unter den Augen. Die Akte in verkrampften Fingern. Die rosa Narbe, die sich vom Haaransatz bis zur linken Schläfe zieht.

Endlich lässt er die Schultern sinken, atmet lange aus, und das Grübchen in seiner rechten Wange vertieft sich. Er sieht aus, als wäre er in dem Moment ein ganzes Jahr gealtert.

»Also gut. Aber falls es zu viel wird …«

Ich bin schon halb aus der Tür. »Ich weiß, ich weiß. Dann ruf ich dich an oder so.«

Sobald ich aus Whitehall raus bin, biege ich nach links und gehe ein kurzes Stück den Bürgersteig entlang, bevor ich in eine Seitenstraße abtauche. Eigentlich ist es eher eine Art Zufahrt, die zu einer Sportanlage führt. Die Bänke sind leer und nach den Spielen am Wochenende mit Abfall übersät. Die Plätze dahinter sind an beiden Enden braun vernarbt, aber ich sehe nirgendwo parkende Autos. Auf halber Höhe der Zufahrt, Atem in der Brust angehalten, Hände um die Akte geklammert, als wäre sie eine Rettungsleine, bleibe ich stehen, beuge mich vor und kotze in den Rinnstein.

Es dauert eine Weile, bis das Würgen nachlässt, und als ich mich mit laufender Nase und schweißnasser Stirn wieder aufrichte, lehne ich mich mit dem Rücken gegen die Wand, stecke mir eine Zigarette an und warte, bis meine Hände aufhören zu zittern. Ich schaue zur Mündung der Zufahrt und sehe Fußgänger vorbeigehen, Autos sind vorbeizischende dunkle Schemen, und irgendwo dahinter, draußen in den Straßen Dublins, werden noch mehr Leichen gefunden. Noch mehr unwillkommene Tode, die ich aufklären muss.

»Scheiße.« Die Zigarette fällt mir aus der Hand, ich trete den glimmenden Stummel aus und gehe wieder zurück zur Straße. Ich schaue mich vorsichtig um, ob Clancy irgendwo in Sicht ist, und haste dann zu meinem parkenden Wagen. Im »Wartesaal« gibt Clancy jetzt wahrscheinlich die toxikologische Untersuchung in Auftrag, an die ich hätte denken sollen. Er ist sauer. Auf sich selbst. Enttäuscht von mir. Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie er sich mit seiner breiten Hand durch das grau melierte Haar streicht.

»Ich bin zu alt für so einen Scheiß«, wird er sagen. Und wenn er mich später sieht, wird er mir die Antworten auf all die Fragen nachreichen müssen, die zu stellen ich nicht verkraftet hätte.

Spitze Partyhütchen wirken, ganz gleich wie keck sie auf dem Kopf sitzen, überhaupt nicht mehr komisch, wenn sie von jemandem zur Kenntnis genommen werden, der Small Talk hasst und es gerade mit einer frischen Leiche zu tun bekommen hat.

Mein Arm ist noch ausgestreckt, hält die Tür auf. Ich hatte vor, unauffällig in mein Büro zu gehen, dem ein oder anderen Kollegen zuzunicken und mich dann schnurstracks in meine Ecke des Hauses zu begeben, die Tür zu schließen, den Staub von meinem Schreibtisch zu wischen und einen Einsatzplan für den Selbstmordfall aufzustellen.

Helen, die einzige andere Frau im Team, tritt vor und zieht mich in eine Umarmung. Eine Handlung, die das widerspiegelt, was in diesem Moment zweifellos alle rund zwanzig Personen im Raum für mich empfinden: Mitleid. Ich habe eine vierjährige Ausbildung zur Kriminaltechnikerin und Profilerin gemacht, habe mich fünfzehn Jahre lang in der Gardaí die Karriereleiter bis zum Detective hochgearbeitet, dann zum Detective Super und schließlich, vor zwei Jahren, zum Detective Chief Super, und in der ganzen Zeit habe ich kein einziges Mal gesehen, dass jemand von uns einen Kollegen umarmt hat. Es gab jede Menge Schulterklopfen, Oberarmboxen, Knöchelstupsen und verständnisvolle Blicke, aber niemals eine Umarmung.

Ich unterdrücke Entsetzen und Wut gleichermaßen und entwinde mich Helens Klammergriff. Sie ist untersetzt, ihr Kopf reicht mir nur bis zur Schulter, ein unbeweglicher Wall aus Fett und Muskeln. Sie weicht zurück, meidet es tunlichst, auf meine Schläfe zu schauen. Die Neonlampen im Büro werfen einen glänzenden Lichtkreis auf ihre Stirn, und in ihrem straff zurückgebundenen Haar kann ich sehen, wo die Zähne ihres Kamms über den Schädel geschabt haben.

»Wir wollten Ihnen zeigen, wie sehr wir uns alle freuen, dass Sie wieder da sind«, kräht sie, dreht sich dann um und macht eine ausladende Armbewegung, die alle einbezieht.

Ich kann den Mund nicht schnell genug aufbekommen.

»Danke, Leute. Es ist schön, wieder hier zu sein.« Abwehr liegt in meiner Stimme und ein quengeliger trotziger Ton. Ich schlucke mein Unbehagen herunter. Sie warten. »Das ist ganz reizend von euch allen. Aber ich dachte, Spaß und Nettigkeiten sind hier verboten?« Ein bellendes Lachen, das niemand erwidert.

Mitleidige Augen starren mich aus allen Ecken des Büros an, einige nicken verständnisvoll. Herrgott! Wie lange muss ich hier noch rumstehen? Neben dem Kaffeeautomaten wartet ein großer Schokoladenkuchen. Pappbecher, Teller, alles, was dazugehört. Das beantwortet meine Frage.

Hat Clancy davon gewusst? Ich kann es mir nicht vorstellen. Ich ignoriere den Kuchen. Der Wunsch, mir wieder Geltung zu verschaffen, steigt in mir auf.

»Nun gut, den peinlichen Teil haben wir jetzt hinter uns, also fangen wir an zu arbeiten. Wir müssen einen Selbstmord untersuchen und sollten ihn möglichst bald abhaken, auch wenn das ein bisschen makaber klingt. Der Kuchen kann bis Feierabend warten.«

Helen schüttelt den Kopf. »Aber –«

»Inspector, Sie sollten mich allmählich besser kennen. Ich dulde keine Mitleidspartys für meine Mitarbeiter und erst recht nicht für mich selbst. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Helen ist noch relativ neu im Team. Seit rund einem Jahr, und in diesem Job ist das neu. Anerkennung verdient man sich nur durch Schufterei, wenn man sich unermüdlich durch seine Fälle geackert hat, ohne zwischendurch länger Pause zu machen als für eine Zigarette und einen Kaffee. Sie wird mal eine fantastische Ermittlerin abgeben, aber im Moment ist ihr Übereifer nervig. Sie muss erst noch lernen, welche Feuer gelöscht werden sollten und in welche Flammen man Öl gießen muss, und deshalb stürzt sie sich auf jede Kleinigkeit.

Sie zückt einen kleinen Spiralblock aus einer Tasche an ihrem Knie, schlägt ein frisches Blatt auf.

»Jawohl, Chief«, murmelt sie und macht sich eine Notiz.

Ich wende mich an den gesamten Raum, hebe die Stimme.

»Also wirklich, wenn ihr dem Schokoladenkuchen beim besten Willen nicht widerstehen könnt, schaufelt eure Partyhütchen voll und haut rein, aber dann an die Arbeit, verdammt noch mal. Wer bearbeitet den Fall hier im Büro?«

»Steve und ich«, sagt Helen. »Die anderen sind draußen unterwegs.«

»Haben sie am Tatort Handys sichergestellt?«

»Nein.«

»Wir müssen das Handy des Opfers finden.«

»Die Techniker sind noch vor Ort. Ich ruf sie an.«

»Hat jemand die Aufnahmen der Überwachungskameras gesichtet?«

Helen schüttelt den Kopf. Sie wirkt leicht verwirrt, und ich kann’s ihr nachfühlen. »Ich hab das nicht für nötig gehalten.«

»Die Todesart ist noch nicht eindeutig geklärt, Inspector.«

»Sorry. Ja. Ich fang sofort mit den Videokameras auf der Straße an.« Gesenkten Hauptes huscht sie an ihren Schreibtisch.

Ich wende mich Steve zu, einem dünnen, detailbesessenen Computerfreak. Steve hat schon bei seiner Geburt auf einen Laptop gestarrt. Man sieht es ihm am Gesicht an: blasser Teint, lila Schatten unter den Augen. Am Kinn, so spitz, dass man eine Dose damit aufmachen könnte, prangt ein rötlicher Ziegenbart. Immer in Reichweite: ein Energy-Drink, um ihn durch den Tag zu bringen. Steve braucht keinen starken rechten Haken, um einen Verbrecher zu erledigen. Er macht das alles mit seinen tippenden Fingern auf der Tastatur.

»Steve, eine Liste der Angehörigen, bitte. Und alles, was Sie über den Ehemann rausfinden können.«

Er nickt, und ich schaue in die Runde. Nehme feste Entschlossenheit und vereinzelt erboste kalte Blicke in meine Richtung wahr. Schon besser.

»Ziemlich viel Aufwand für einen Selbstmord«, murmelt jemand.

Ich überhöre das und gehe in mein Büro.

Es ist als Lagerraum genutzt worden. Kisten mit Akten in einer Ecke gestapelt, gelöste kleinere oder schwere Straftaten, jede ein verschmierter Fingerabdruck auf dem Leben anderer. Meine Augen verharren bei der Akte, die zuoberst liegt. Name: Tracy Ward. Fallnummer: 301. Niemand hat sich die Mühe gemacht, sie wegzupacken. Seltsamerweise kränkt mich das. Ich schiebe das Gefühl beiseite.

Ich schalte meinen Computer an und warte, dass er summend zum Leben erwacht. Meine Mitarbeiter haben recht. Es ist wirklich viel Aufwand für einen Selbstmord. Aber ich darf nichts übersehen. Wenn die da oben in dem Fall wirklich so nervös sind, wie Clancy mich glauben machen will, dann kann ich mir keine Selbstgefälligkeit leisten. Obwohl Selbstgefälligkeit eigentlich noch nie mein Problem war.

Ehrlich gesagt, schon in dem Moment, als heute Morgen die Plastikplane von dieser Frau gezogen wurde, habe ich begonnen, mir eine Vorstellung von ihrer Persönlichkeit zu machen. Klassische elegante Kurzhaarfrisur; der Duft ihres allmorgendlichen Haarsprays vom Fransenpony aufsteigend, als wäre sie gerade vorbeigegangen.

Ich sehe ihre erhobene Hand, die sich über dem Kopf hin und her bewegt, den Finger auf dem Zerstäuber, klebriger Dunst trübt die Luft, ehe er wie schimmernder Tau auf ihrem aschblonden Haar landet. Eine kurze Pause, damit das Haarspray trocknen kann, dann noch einmal rasch mit der Bürste hindurch, um die Wirkung um die Kinnpartie herum abzuschwächen.

Schmuck fehlte, war vor der Obduktion entfernt worden, um die Röntgenaufnahmen nicht zu verfälschen. Aber in dem weichen Polster beider bläulich angelaufenen Ohrläppchen waren Einstiche, wo zweifellos noch wenige Stunden zuvor ein geschmackvolles Paar Ohrringe gesteckt hatte. Ich vermute mal Ohrstecker. Perlen. Hell glänzend, passend zu ihrem blassen Teint. Mittelgroß, nichts Protziges.

Eine schlankfingrige Hand mit gepflegter französischer Maniküre schiebt den Flügelverschluss auf den vergoldeten Stift. Ein Blick in den Spiegel, um zu prüfen, wie sie aussehen. Die Perlen reflektieren das leuchtende Weiß der Bluse.

Die Fallakte bestätigt mir, dass ich richtigliege. In dem Stoß Fotos, Position vier: zwei Perlohrringe mit vergoldeten Verschlüssen.

Ich lasse mich in meinen Schreibtischsessel nieder, ziehe den Laptop näher und fange an, mir ein Bild von Eleanor Costello zu machen. Das nächste Foto zeigt den Tatort, aufgenommen heute um sechzehn Uhr.

Ein Nachbar hatte sich Sorgen gemacht, als das Opfer nicht wie jeden Morgen zur Arbeit ging. Fiel dem Mann auf, wenn sie nicht pünktlich das Haus verließ? Ja, allerdings. Er hatte ein festes Ritual. Frühstück am Fenster. Punkt acht Uhr ging das Opfer stets bei ihm vorbei. Um den Morgenzug zu nehmen. So sicher wie das Amen in der Kirche. Natürlich hatte er das bemerkt. Aber nein, am Abend zuvor war ihm nichts Ungewöhnliches aufgefallen, er war erst spät nach Hause gekommen. Sie waren seit sieben Jahren Nachbarn. Sie hatten Schlüssel ausgetauscht, weil er sich selbst öfter mal aussperrte. Hatten nicht alle Nachbarn Zweitschlüssel voneinander? Nein. Er hatte keine Kenntnis davon, dass Mrs. Costello an Depressionen litt. Falls sie an Depressionen litt. Aber, mal ganz unter uns, er würde nicht unbedingt sagen, dass die Ehe immer besonders glücklich war, wenn ich verstand, was er meinte. Tat ich nicht. Aber er war keiner, der andere in die Pfanne haute.

Der Mann hieß Neil Doyle: ledig, aufdringlich und genau der Typ Mensch, bei dem ich auf die andere Straßenseite wechseln würde, um ihm aus dem Weg zu gehen. Alles an ihm war schwach und weich, von den zarten Knochen der Ellbogen, die so eben aus seinen Ärmeln ragten, bis zu der kleinen Wampe, die sich rundlich unter seinem T-Shirt abzeichnete. Er arbeitete von zu Hause aus. Als Berater, was immer das heißen mochte.

Der Ehemann, Peter Costello, ist unerreichbar. Aber der hilfreiche Nachbar hat uns so viel über den Mann erzählt, dass wir in seinem Namen ein Bankkonto eröffnen und eine Hypothek aufnehmen könnten. Obwohl die Hypothek wahrscheinlich abgelehnt werden würde. Peter Costello ist arbeitslos, und das schon ziemlich lange.

Das nächste Foto zeigt die Hände des Opfers: die Finger wie lange Blütenblätter in die Handfläche eingerollt, die Spitzen blau, als würde sich dunkle Tinte unter den Halbmonden des Nagelbetts sammeln, die linke Hand, dann die rechte. Abgesehen von einem kleinen Detail auf der Haut sehen sie fast gleich aus.

Auf dem Zeigefinger der rechten Hand ist über dem mittleren Knöchel eine Reihe von lila-braunen Punkten. Petechien, verursacht von kleinen Blutgefäßen, die unter der Haut geplatzt sind. Das Seil ruckt nach oben, packt ihren Hals. Jäh, hart und entsetzlich. Sie würgt. Ihr Körper strampelt, um Luft zu bekommen, aber das Seil quetscht ihren Hals zu. Sie kämpft, fasst mit der rechten Hand nach dem Seil, zwängt den Finger darunter. Aber es zieht sich immer fester zu, und etwas reißt ihren Arm weg. Oder jemand.

Mir stockt der Atem, mir wird eng in der Brust, wie die Faust über einer Fliege. Mein Kopf, die Narbe an meiner Schläfe, fühlt sich an wie frisch geöffnet, strahlt Schmerz aus, so stechend, dass mir die Augen tränen. Angst pumpt durch meine Adern, trommelt gegen die Unterseite meines Magens, treibt mir Schweiß in die Augen und den Rücken hinunter. Ich kann spüren, wie die Furcht in mir wabert. Ich habe es heute Morgen schon gespürt. Mein Unterbewusstsein, das mich schneller als mein Bewusstsein auf die bevorstehende Aufgabe vorbereitete. Nicht die Untersuchung eines Selbstmords, sondern die Ermittlungen in einem Mordfall.

KAPITEL 2

Wenn man das Profil eines Mörders erstellt, gewinnt man eine beunruhigende Erkenntnis. Nämlich: wie unglaublich ähnlich alle Menschen sind. Wie bedrückend gleichartig unsere Wünsche, unsere Triebe, unsere Ängste. Natürlich ist die Skala gleitend, aber es ist immer wieder alarmierend, dass ein Teil von mir sogar noch an jedem Ende des Spektrums den Standpunkt des Bösen nachvollziehbar findet. Selbst wenn sich mir bei diesem Eingeständnis der Magen umdreht.

Das so häufig übersehene Opfer ist dagegen wichtiger. Das Opfer, ein Nebenprodukt der Obsession oder des Neides oder der Wut des Täters, wird auf Beweise oder Spuren untersucht und verliert sich dann im Schatten des Mörders. Die Frage ist jedoch nicht, wer das Verbrechen begangen hat, sondern welche Art Mensch ihm zum Opfer fällt.

Das Team wird sich diesem Gedanken widersetzen. Keiner will einen neuen Mordfall, ich am allerwenigsten, aber der Stein steckt im Schuh, und wir holen ihn entweder heraus oder erdulden das ständige Scheuern.

Eleanor Costellos Finger füllen den großen Bildschirm im Soko-Raum. Ich bewege den Laserstrahl über ihren Zeigefinger.

»Hier. Diese petechiale Blutung deutet darauf hin, dass sie vor ihrem Tod, als sie schon am Seil hing, versucht hat, sich zu befreien, nicht wahr?«

»Instinkt? Aber letztendlich ergibt sie sich ihrem Todeswunsch?«, schlägt Helen vor. Nach dem Fehlgriff mit der Party heute Nachmittag möchte sie was wiedergutmachen.

Ich nicke. »Überlebenswille? Vielleicht.«

Der Flashback kommt überfallartig. Die Augen schließen sich, fest gegen die Erinnerung zusammengepresst, aber sie läuft trotzdem ab. Ein harter Schlag seitlich gegen meinen Kopf. Ich will losrennen, obwohl ich schon auf die Knie falle. Plötzlicher Druck im Unterleib, Sterne, weißglühende Blitze zucken durch mein Gesichtsfeld, dann Dunkelheit und Schmerz.

Ich blicke meine Zuhörer an. »Ja. Überlebensinstinkt. Sie hat ihren Finger unter das Seil gezwängt. Es zieht sich durch ihr Körpergewicht immer fester zusammen. Aber als sie gefunden wurde, hingen beide Arme herab.«

Das Team reagiert verständnislos, wie zu erwarten. Scheiße, wir sind so ein Klischee. Dann hebt sich weiter hinten eine Hand, die Stimme ist tief und kratzig, und ich erkenne sie sofort.

»Es war jemand dabei.«

Ich lasse den Blick suchend über die Köpfe gleiten. Entdecke ihn. Ein schlanker, schmächtiger Mann, der es irgendwie trotz Anzug und Krawatte schafft, ständig derangiert auszusehen.

»Was ist denn aus der Sondereinheit geworden, Detective Harwood?«

Baz kommt nach vorne. Ein Verbündeter, ein Sparringspartner und abgesehen von Jack der einzige Mensch, den ich als Freund bezeichnen kann. Was ich ihm natürlich niemals sagen würde. Es fällt ihm ohnehin schon schwer genug, sein übergroßes Ego durch die Gegend zu schieben.

»Ballistik hat eine Weile Spaß gemacht, ist aber doch nicht so mein Ding«, sagt er. »Wäre ja auch traurig, wenn ich das alles hier verpassen würde.«

Ich lächele. »Früher warst du ziemlich gut darin, es zu verpassen.«

»Zwei Tage Fehlzeit. Zwei mickrige Tage. Vergisst du das denn nie? Ich hatte die Grippe.«

»Männergrippe.«

»Die gefährlichste überhaupt.«

Ich unterdrücke ein weiteres Lächeln und schüttele den Kopf. »Ob du die unbeschadet überstanden hast, frage ich mich manchmal, um ehrlich zu sein.« Ich wende mich dem Team zu. »Beide Hände hingen herab. Das bedeutet, es war jemand dabei, wie Detective Harwood bereits gesagt hat.«

Helen meldet sich zu Wort. »Sie könnte den Finger doch einfach rausgezogen haben«, erklärt sie.

Die Bemerkung löst Gelächter im Raum aus. »Schön wär’s«, spöttelt jemand.

Ich lege mich auf den Boden. Sofort wird es still im Raum. Alle denken, ich drehe durch.

»Helen, wollen Sie das vielleicht mal versuchen? Steve, schätzen Sie bitte mal ungefähr mein Gewicht und meine Größe. Aber werden Sie nicht unverschämt. Ich bin immer noch Ihre Vorgesetzte.«

Er blickt zu mir herunter. Grinst die anderen an, bittet um Unterstützung. »Etwa ein Meter fünfundsiebzig und rund fünfundsechzig Kilo?«

Ich reiße die Augen auf. Er hebt beide Hände. Weicht zurück. »Das ist nicht fair, Chief. Die Frage kann kein Schwein richtig beantworten.«

»Klappe, Inspector. Eins achtzig und dreiundsechzig Kilo. Helen?« Sie kommt näher. »Versuchen Sie doch mal, mich hochzuheben.«

Meine Größe und mein Gewicht entsprechen so ungefähr dem des Opfers. Ich möchte demonstrieren, dass Eleanor Costello ihr gesamtes Körpergewicht hätte anheben müssen, um ihren Zeigefinger aus der Schlinge zu befreien.

Helen zieht die Mundwinkel runter. Sie geht in die Hocke, und ihre Hosenbeine rutschen hoch, geben den Blick auf dunkle Socken in robusten, praktischen Schuhen frei. Sie will die Hände unter meinen Rücken schieben. Ich schüttele den Kopf. »Nein. Nur mit den Fingerspitzen.«

In ihren Augen keimt Verstehen auf. Ich rappele mich hoch und sehe das Team an.

»Mrs. Costellos volles Körpergewicht hat auf diesen Finger gedrückt. Die Beine strampeln wie wild, der Kiefer ist blockiert, der Mund aufgerissen, die Zunge versucht verzweifelt, Sauerstoff in die Lunge zu schaufeln. Bei jedem Muskelzucken zieht sich die Schlinge enger, presst ihr Gewicht noch fester auf den Finger, auf ihre Kehle, tötet sie. Das ist die Kraft, die diese Hautblutung verursacht hat. Aber beim Auffinden der Leiche steckte der Finger nicht mehr unter dem Seil. Beide Hände hingen herab. Jemand hat den Finger unter dem Seil weggezogen. Es wäre ihr unmöglich gewesen, ihn selbst zu befreien.«

Und das war’s. Der Fall ist aufgegangen wie eine alte Farbdose, hat sich durch ein paar bläuliche Blutergüsse von Selbstmord in Mord verwandelt.

Das Team drängt sich um die Bilder. Macht Notizen, Anrufe, beginnt mit den Ermittlungen. Jemand schreibt »OPFER: Mrs. Eleanor Costello, neununddreißig Jahre, acht Jahre verheiratet, keine Kinder, Mikrobiologin« ans Whiteboard und pinnt das Foto des Fingers unter die Überschrift.

Baz ist bei mir. »Clancy hat vorgeschlagen, dass wir zusammenarbeiten.«

»Prima.«

»Ehrlich?«

»Ist in Ordnung.« Ich lächele ihn schwach an.

Er seufzt. »Er hat’s dir nicht gesagt.«

»Er ist drum rumgeeiert«, sage ich achselzuckend, nehme meine Tasche und meinen Mantel. »Clancy hat Bedenken. In seinen Augen bin ich angeschlagen, ein potenzielles Risiko. Ich würde wahrscheinlich dasselbe denken. Er glaubt, ich brauche einen Aufpasser. Ich denke das nicht.«

»Ich bin aber nicht hier, um auf dich aufzupassen. Ich bin hier, um zu arbeiten. Scheißegal, was Clancy denkt.«

»Na bitte, da wären wir uns ja schon mal in einem Punkt einig. Hätte nichts gegen jemanden mit mehr Erfahrung im Außendienst gehabt, aber«, ich schaue mich im Raum um, »in der Not frisst der Teufel Fliegen.«

»Sehr lustig. Dann lass mich Zeugenvernehmungen machen.« Er zupft an seinen Jackettärmeln, streicht seinen Anzug glatt.

Ich lächele, verschränke die Arme. »Ich hab deine Vernehmungsversuche gesehen. Ein Anfänger ist gut dagegen.«

»Manche halten mich für fortgeschritten. Clancy findet jedoch, dass der Papst besser lügt als ich.«

»Der Papst lügt besser als jeder. Hast du in letzter Zeit mal Gott gesehen?«

Er lacht, und etwas nicht Unwesentliches löst sich in meiner Brust, etwas, das mich nach innen ziehen wollte, hat seinen Griff gelockert, und die Erleichterung ist gewaltig.

»Chief?«, unterbricht uns Helen. »Die Rechtsmedizinerin hat angerufen, erste Erkenntnisse und ein möglicher Fremdkörper. Sie meint, es könnte wichtig sein. Erstens, starke Erosion des Zahnschmelzes an den hinteren Schneide- und Backenzähnen, möglicherweise aufgrund von Bulimie. Zweitens«, sie schaut in ihre Notizen, »wurde eine Art Farbstoff oder so an den Rändern des Schnitts am linken Arm gefunden.«

»Ja. Ich erinnere mich.«

»Sie sagt, die toxikologische Untersuchung hat ergeben, dass es sich um einen speziellen Blauton handelt. Eisenhexacyanoferrat oder, einfacher ausgedrückt, Preußischblau. Wird schon lange von Künstlern verwendet.«

»Eine Farbe?«

»Ja«, sagt Helen lächelnd. »Sie hat gesagt, die Art, wie die Farbe an den Wundrändern verteilt war, wirkte gezielt und legt die Vermutung nahe, dass sie postmortal aufgetragen wurde. Außerdem wurde ein winziges synthetisches Haar in der Wunde gefunden, das noch analysiert wird, aber auf den ersten Blick von einem Malerpinsel stammen könnte.«

»Danke, Helen. Geben Sie das ans Team weiter.«

Ich gehe zur Tür, drehe mich aber noch einmal um.

»Was ist?«, sage ich zu Baz. »Nun komm schon.«

Costellos Haus liegt am Ende einer Sackgasse in Bray. Die Art Straße, die Immobilienspekulanten mit den Zähnen knirschen lässt. Toplage, nur einen Steinwurf vom Strand und den entsprechenden Freizeiteinrichtungen entfernt, aber gesäumt von biederen Einfamilienhäusern mit langweiligen, rechteckigen Vorgärten und kastenförmigen Garagen. In den Siebzigern gebaut und überwiegend von der Generation sechzig plus bewohnt.

Das Häuschen in diesem stillen Vorort gehört den Costellos, nicht geerbt, nicht gemietet, nicht gepachtet. 2004 ausgesucht, gekauft und seitdem bewohnt. Das Wohnzimmer ist sauber und aufgeräumt, bis auf ein paar unordentlich gestapelte Kunstbücher unter dem Couchtisch.

Ich höre Keith Hickeys Stimme, bevor ich ihn sehe.

»Detectives. So schnell schon wieder da?«, sagt er.

Er kommt aus der Küche zu uns ins Wohnzimmer, bewegt sich auf den Zehenspitzen, alles, um sich ein paar Zentimeter größer zu machen.

»Keith«, sagt Baz. »Wie läuft’s?«

Er bleibt vor uns stehen, das Kinn gereckt. »Wir sind schon ziemlich weit mit dem Markieren und Bearbeiten«, sagt er. »Dublin hat uns vier Spurensicherer geschickt. Superjungs. In zwei Tagen müssten wir durch sein. Spätestens.«

»Schon irgendwelche Handys gefunden?«, frage ich.

»Nee. Aber einen Laptop. Könnt ihr eurem Spezialisten bringen.«

»Dürfen wir uns ein bisschen umschauen?«

»Klar.« Er hebt beide Hände. »Aber ihr kennt das ja, nichts mit bloßen Fingern anfassen.«

Ich halte ihm ein Paar Plastikhandschuhe vor die Nase. »Natürlich«, sage ich.

»Ich bin im Schlafzimmer, falls ihr mich braucht.« Er zwinkert uns zu und geht aus dem Raum.

Ich drehe mich um, lasse das Haus der Costellos auf mich wirken. Die Spurensicherer sind emsig bei der Arbeit, streifen durchs Haus wie Bergleute in weißen Overalls. Dann und wann klickt eine Kamera oder ein Beweismittelbeutel knistert und raschelt. Die Haustür steht offen zur Dunkelheit des Herbstabends; das Geschrei von Möwen durchschneidet die kalte Luft.

Ich bleibe am Couchtisch stehen, ziehe die Handschuhe an, bücke mich und ziehe eines der Kunstbücher hervor. Chagall. Das Umschlagfoto ist eindrucksvoll: ein hohes Buntglasfenster, Sonnenlicht, das durch leuchtende Rot- und Orangeflächen strahlt. Es ist intensiv. Ich schlage das Buch auf. Am Rand sind Notizen, Ausdrücke wie Perspektive, Medium und Eitempera.

Baz schaut mir über die Schulter. »Der Farbstoff oder Fleck, der an der Leiche gefunden wurde? Bedeutsam? Ich hätte nicht gedacht, dass sie besonders künstlerisch interessiert ist.«

»Nicht unkonventionell genug für dich? Können Wissenschaftler keinen Sinn für Kunst haben?«

»Schon gut, schon gut. Ich mein ja nur, sie kam mir einfach nicht vor wie der kreative Typ. Sie hat eher einen spießigen Eindruck gemacht. Irgendwie steif, verstehst du?«

Ich hebe eine Augenbraue. »Sie war tot.«

»Stimmt auch wieder.«

Er deutet mit dem Kinn auf das Bild auf der ersten Seite: eine Frau und eine Geige spielende Ziege. »Ein Druck davon hängt unten auf dem Klo. Sieht ziemlich teuer aus. Einer von den Jungs meinte, es wäre von so einem schicken Edelladen in Blackrock gerahmt worden. Mindestens ein paar Hundert.«

»Dann war sie also doch der künstlerische Typ.«

»Vielleicht ja auch ihr Mann.«

»Vielleicht können wir ihn fragen, wenn wir ihn finden.«

Er schüttelt den Kopf, verzieht amüsiert einen Mundwinkel. »Aber irgendeine Verbindung gibt’s da. Oder?«

Ich zucke die Achseln. »Das Pigment eines Malers am Körper und ein mögliches Interesse an Kunst? Klar. Das ist immerhin etwas.«

Ich gehe durch den Raum. Ihr Mörder hat das Schlafzimmer gewählt. Wahrscheinlich wegen der alten Eichenbalken an der Decke. Sie waren baulich nicht erforderlich, sondern eher dekorativ, um dem maritimen Stil Rechnung zu tragen. Die Balken wirken wie aus Treibholz, und an manchen Stellen sind Lücken zwischen ihnen und der weißen Decke.

Drei Spurensicherer sind dabei, sich systematisch durch den Raum zu arbeiten. Sie sind fast fertig, bereit, die gesammelten Beweise zu sortieren, zu einem Gesamtbild zusammenzutragen. Jetzt kann die eigentliche Arbeit beginnen. Wände, Fensterbänke und Türgriffe sind mit schwarzem Staub bedeckt. Die Laken und Kissenbezüge sind sorgfältig abgezogen worden und stecken in Plastikbeuteln. Ich bücke mich, schaue unters Bett, obwohl ich weiß, dass auch dieser Bereich kontrolliert worden ist.

Einer der Spurensicherer, der das Kopfteil des Betts mit Fingerabdruckpulver bepinselt, blickt von seiner Arbeit auf. »Im Arbeitszimmer ist ein Laptop. Wir sind damit durch. Wenn ihr wollt, kann euer Computertyp ihn sich anschauen.«

»Danke«, murmele ich, den Blick an die Decke gerichtet. Ich kann sie dort hängen sehen. Wie sie gefunden wurde, steif und kalt.

Baz tritt zu mir. »Ich hab sie auch den Chagall auf dem Klo untersuchen lassen.«

»Fingerabdrücke?«

»Ein paar. Ist nur so ein Bauchgefühl. Keine Ahnung, ob’s was bringt.«

»Manchmal braucht man so ein Bauchgefühl.« Ich blicke zu den Balken hoch. »Was meinst du, wie sie da hochgekommen ist?«

Er stemmt die Hände auf die Hüften, schiebt dabei sein Jackett nach hinten. Er schaut sich um, lässt den großzügigen Raum auf sich wirken. Er ist hell, luftig. Ausgeschlossen, dass eine Frau von Eleanors Statur ohne Stuhl oder Hocker an einen der Balken gekommen wäre.

»Das Fenster ist zu weit weg. Das Bett auch. Die Kommode hätte verschoben werden müssen. Wahrscheinlich ist der Coroner deshalb misstrauisch geworden«, murmelt Baz.

Etwas in mir gerät ins Schwanken, aber ich reiße mich zusammen. Ich sehe den Spurensicherer beim Bett an.

»Irgendwelche Spuren vom Ehemann?«

Er schüttelt den Kopf. »Kaum.«

Meine Zähne klacken aufeinander, mein Magen krampft sich frustriert zusammen.

»Das Arbeitszimmer ist den Flur runter. Der kleine Raum rechts«, sagt er.

Das Arbeitszimmer ist grau, eng, trist. Der Schreibtisch besteht aus irgendeinem merkwürdigen Plastik, das wie Stahl aussehen soll. Die Regale sind aus Aluminium und Glas. Ich schalte eine Lampe an.

»Mann, ist die hell«, ruft Baz. Er blinzelt.

»Tageslichtlampe«, murmele ich. Ich knipse sie wieder aus und schalte das Deckenlicht an. »Die soll gegen Wintermelancholie oder jahreszeitlich bedingte Depressionen helfen. Die Dunkelheit, der graue Himmel, so was kann manche Leute richtig fertigmachen.«

»So sehr, dass sie behandelt werden müssen? Ich dachte, hier bei uns sind wir dran gewöhnt, dass alles grau in grau ist«, sagt er lachend.

»Sollte man meinen, aber manche entwickeln wirklich eine klinische Depression. Mit schwerwiegenden Auswirkungen auf das Leben dieser Menschen.«

»Okay, wir erleben also gerade einen der düstersten und nassesten Oktober der letzten fünf Jahre, Mr. Costello ist nicht ganz er selbst, und jetzt ermitteln wir in einem mutmaßlichen Mordfall.«

Ich habe bereits begonnen, die Schubladen zu durchsuchen. Irgendwie bin ich einigermaßen verwundert, als ich ihn finde. Seinen Pass.

»Ich hab ehrlich gedacht, er wäre abgehauen.«

Ich blättere die steifen Seiten durch. Keine Stempel. Er hat Europa nie verlassen. Erstaunt sehe ich, dass er italienischer Abstammung ist. Geboren in Neapel. Dunkle Haare, markantes Gesicht, aber mit weichen runden braunen Augen. Er sieht gut aus. Selbst auf dem körnigen Passfoto wirkt er kraftvoll. Wie wird ein Mann wie er wohl Arbeitslosigkeit verkraften? Wahrscheinlich wird er enorm darunter gelitten haben, finanziell von seiner Frau abhängig zu sein.

Es ist spät. Nach Mitternacht. Auf der anderen Seite des taufeuchten Fensters sind die Straßenlampen orangefarbene Kugeln. Die Zeit schleicht dahin, frisst sich durch die Sekunden, seit Eleanor aufgefunden wurde. Jede Minute entfernt den Fall weiter von einer raschen Auflösung. Jede Minute ist gleichbedeutend mit dem Verlust von Beweisen, mit dem Staub der Zeit, der sich über die Erinnerungen von Zeugen legt.

Peter Costello wird nicht nach Hause kommen. Das spüre ich. Das Haus erwartet niemanden. Es ist aufgemacht und ausgenommen worden, befreit von den Geheimnissen, die es barg. Es ist für dieses Paar kein Zuhause mehr. Für sie ist es zum Grab geworden, für ihn zum Fangnetz.

Auf dem Schreibtisch steht der Laptop. Er verlangt Aufmerksamkeit. Fordert mich heraus.

»Haben die schon versucht reinzukommen?«

Baz schüttelt den Kopf. »Keith sagt Nein. Wir schicken ihn ins Büro. Dann kann Steve ihn sich ansehen.«

»Das Passwort steht da.« Ich muss nur zur Wand hinüberschauen, und er sieht es. An einem Kalender, bei dem noch der Mai aufgeschlagen ist, klebt eins von diesen kleinen Post-its. Und darauf steht der Name des Künstlers: Chagall.

Baz zieht einen Handschuh aus der Tasche und nimmt den Laptop behutsam vom Schreibtisch.

Ich folge ihm aus dem Arbeitszimmer den Flur hinunter und zur Haustür hinaus. Der Meerwind weht mir die Haare aus der Stirn, rauscht mir in die Nase. Seine salzige Würze reizt die wunde Müdigkeit in meinen Augen. Baz reicht einem der Beamten den Laptop, gibt ihm Anweisungen, die der Mann mit einem Nicken quittiert. Der Computer wird vorsichtig in eine Kiste gepackt und in die Dunkelheit davongefahren.

Ich hole meine Taschenlampe hervor und inspiziere die Haustür. Nichts deutet darauf hin, dass jemand sich am Schloss zu schaffen gemacht hat, um ins Haus zu gelangen. Entweder der Mörder hatte einen Schlüssel, ist irgendwo anders eingestiegen, oder Eleanor kannte ihn und hat ihn hereingelassen. Ich lasse den Lichtkegel über das Haus wandern: Die Fenster sind gegen das spätherbstliche Wetter fest verschlossen. In der Ferne schießen Feuerwerkskörper durch die schwarze Nacht, vorzeitige Halloween-Feiern.

Ich trete von der Veranda hinunter, weg von dem Gewusel der Ermittlungen, und leuchte hinauf zum Dachvorsprung, dann die Regenrinne entlang ums Haus herum und schließlich in den Garten dahinter. In dem begrenzten Licht sieht es so aus, als wäre der Garten nicht viel genutzt worden. Ein schlichter Rasen verliert sich in wuchernden, verwilderten Sträuchern. Ich schwenke den Lichtstrahl wieder aufs Haus. Ein Eimer unter einem Fallrohr, ein von Laub verstopfter Abfluss. Ich schiebe die Blätter mit dem Fuß beiseite, klemme mir die Taschenlampe zwischen die Zähne und bücke mich, um das Abflussgitter anzuheben. Das runde Auge eines Terrakottaabflusses blickt zu mir hoch, und ich sehe nichts, was dort versteckt oder hineingefallen sein könnte.

»Irgendwas gefunden?« Baz’ Stimme lässt mich zusammenfahren.

Die Taschenlampe rutscht mir aus dem Mund in den Abfluss. »Scheiße.«

»Sorry«, sagt er.

Ich fische die Taschenlampe wieder heraus und richte mich auf. »Nix. Ich hoffe, die Überwachungskameras liefern uns was. Allerdings glaube ich kaum, dass es hier viele gibt.« Ich blicke zur Straße.

Er schüttelt den Kopf. »Gar keine. Helen hat das schon abgeklärt. Keine Kamera in der ganzen Gegend. Die nächste ist an einem Geldautomaten auf der Quinsborough Road. Unsere beste Chance wäre ein Aufruf über Social Media, ob vielleicht jemand drüben auf der Hauptstraße irgendwas gesehen hat.« Er zeigt auf die Mündung der Sackgasse, wo eine Straße parallel zum Strand verläuft.

»Wir sind in einem schwarzen Loch«, sage ich.

»Das kannst du laut sagen.«

Als wir aufbrechen, ertönt schon frühmorgendliches Vogelgezwitscher über der Küste von Bray, obwohl der Himmel noch tiefschwarz ist. Die Temperatur ist abgesackt, und unser Atem bildet weiße Wölkchen vor unseren Gesichtern. Ich trage eine Kiste mit Eleanor Costellos Sachen zu meinem Wagen, öffne die Tür und stelle sie auf den Boden vor dem Beifahrersitz. Baz lehnt sich gegen den Kofferraum.

»Willst du wirklich nicht, dass ich dir dabei helfe, das Zeug durchzusehen?« Er deutet auf den Stapel Rechnungen, Junkmails und Unterlagen, die ich aus verschiedenen Bereichen des Hauses zusammengetragen habe.

»Gott, nein, ich bin ganz wild auf diese sterbenslangweilige Plackerei.« Ich gehe zur Fahrerseite. »Ich muss zurück ins Büro. Ruf mich an, wenn sich irgendwas Neues ergibt.«

»Mach ich, Detective«, sagt er.

Ich fahre an, trete zu schnell und zu fest aufs Gas. Mit durchdrehenden Rädern brause ich davon, und Sekunden später hat die Oktoberdunkelheit das Haus und Baz verschluckt.

Auf dem Beifahrersitz neben mir liegt eine Empfehlung von meiner Ärztin – die Psychologin, die mir endlich die Erlaubnis erteilt hat, wieder an meinen Arbeitsplatz zurückzukehren. In die Normalität zurückzukehren. Oder in die Normalität, wie ich sie kenne. Sie haben ein schweres Trauma erlebt, gab sie zu bedenken. Sie sollten Ihrer Psyche Zeit lassen, sich davon zu erholen. Meine Hände fassen das Lenkrad fester. Panik steigt in mir auf, zermürbende, unablässige Panikwellen. Panik, die mir die Luft aus den Lungen presst.

Ich schalte in einen niedrigeren Gang und lasse das Fenster herunter. Die Meeresluft peitscht mir Farbe ins Gesicht, wühlt eisige Schneisen durch mein Haar. Der Geruch des Todes klebt an meinen Nasenwänden. Mein Mund füllt sich mit Speichel. Ich würge, stoppe den Wagen knapp vor der Promenade an der Strand Street. Es dauert ein paar Minuten, bis sich mein Magen wieder beruhigt hat, bis der Schweiß auf meiner Stirn ausgebrochen und abgekühlt und getrocknet ist.

Mein Blick landet auf dem Beifahrersitz. Ein neues Hobby. Ein Bonsaibaum. Das Barometer meines Wohlbefindens. Eine andere Verarbeitungsmethode. Irgendwie scheint es reizvoll, das Wachstum eines anderen Lebewesens zu kontrollieren. Ich puste langsam Luft aus und fahre aus Bray hinaus, zurück zum Büro.

KAPITEL 3

Im Soko-Raum herrscht angespannte Hektik: Es wird telefoniert, Faxgeräte surren. Jeder, der glaubt, der nicht schlafende, nicht essende und sich nur von Koffein ernährende Detective sei ein fiktionales Klischee, hat noch nie das Fieber einer Mordermittlung durchlebt. Besonders in den ersten vierundzwanzig Stunden nach Auffinden des Opfers. Es gibt nicht ein Gesicht, das nicht konzentriert verkniffen ist. Die Notwendigkeit, der Druck, den Fall möglichst schnell zu lösen, flirrt in der Wärme des Raumes.

Als ich hereinkomme, springt Helen auf mich zu wie ein Windhund nach dem Startschuss.

»Chief, wir haben was von den Kameras. Ich denke, das sollten Sie sich anschauen.«

Ich gehe zu ihrem Schreibtisch.

»Wie ich Baz schon sagte, sind keine Überwachungskameras in der Nähe des Hauses«, sagt sie. »Aber ich hab was vom University College Dublin bekommen, wo sie gearbeitet hat. Die haben da eine digitale Kamera über dem Eingang, die rund um die Uhr läuft. Der Nachtportier war so nett, uns die letzten Aufnahmen per Kurier zu schicken. Sind erst vor einer halben Stunde reingekommen, aber … wir haben das Opfer, wie es das UCD verlässt.«

Sie drückt eine Taste an ihrem Computer, und auf dem Monitor erscheint ein klares Bild von Eleanor Costello mitten im Schritt erstarrt, wie sie gerade das Uni-Gelände verlässt. Die Datumsanzeige oben rechts gibt Mittwoch, den 19. Oktober 2011 an. Ich beuge mich näher. Ihre Kleidung ist dieselbe. Sie lacht, eine Hand am Ohr hält aschblondes Haar zurück. Der weiße Kragen ihrer Bluse lugt unter einem blassrosa Schal hervor. Ihr Mantel, schwarz und knielang, wird von einem stetigen Wind nach hinten geweht.

Ein Mann ist bei ihr. Sein Lächeln passt zu dem seiner Begleiterin. Er wirkt noch jung, aber irgendwas in seiner Haltung vermittelt ein stilles Selbstvertrauen.

»Wir wissen noch nicht, wer der Mann ist«, erklärt Helen und zeigt mit ihrem Stift auf den Bildschirm.

Ich setze mich an den nächstbesten Computer, öffne ein neues Fenster und gehe auf die Website des UCD. Dort klicke ich die Mitarbeiterprofile an. Eine Liste der Dozenten, Professoren und Studentenvertreter. Ich scrolle durch die des naturwissenschaftlichen Instituts und stoppe beim Gesicht eines Mannes, vergleiche es mit dem Bild auf Helens Monitor und mache einen Screenshot.

»Lorcan Murphy. Eleanors Doktorand und Lehrassistent in Mikrobiologie.« Ich stehe auf, biete Helen den Stuhl an. »Gute Arbeit. Ich brauche eine Hintergrundüberprüfung, Vorstrafenregister, das Übliche, und überhaupt alles, was Sie in den nächsten paar Stunden finden können. Ich vermute, er wird Eleanors Lehrveranstaltung übernehmen, also statte ich ihm heute Morgen mal einen Besuch ab.«

»Ja, Chief.«

Ich gehe ans Kopfende des Raumes, ans Whiteboard, und als hätte ich dem gesamten Team ein Signal gegeben, unterbrechen alle ihre Arbeit und drehen ihre Stühle in meine Richtung.

Die Frage ist immer dieselbe.

»Was haben wir bis jetzt?«, will ich wissen.

Die Antworten kommen nacheinander, Erkenntnisse werden sortiert und eingeordnet, Informationen aktualisiert, neue Zeilen definiert.

Gemeinsam setzt mein Team Eleanors Tagesablauf bis zu ihrem Tod zusammen. Sie hat gestern bis ungefähr sechzehn Uhr gearbeitet. Bis dreizehn Uhr hielt sie eine Vorlesung über die Teilung von Mastzellen. Laut Aussage von drei Zeugen wirkte sie wie immer. Dann war sie bis fünfzehn Uhr im Labor, wo sie für die Experimente ihrer Studenten zwanzig Petrischalen mit Agar-Gel vorbereitete. Anschließend arbeitete sie an einem Aufsatz für eine wissenschaftliche Zeitschrift namens Dublin Biochemist Partner. Aufgrund der Überwachungsaufnahmen und der Identifizierung ihres Lehrassistenten Lorcan Murphy gehen wir davon aus, dass sie sich danach noch mit ihm traf, um seine Doktorarbeit zu besprechen.

Es wird still im Raum. Schließlich meldet sich von ganz hinten eine Stimme, Paul Brady, ein rundgesichtiger Officer, dessen Hemd immer zu eng sitzt.

»Danach wird die Spur leider ziemlich kalt«, sagt er. »Wir wissen, dass sie manchmal oder meistens mit der Linie 3 ins Stadtzentrum fuhr und von dort den Zug nach Bray nahm, aber wir haben sämtliche Aufnahmen rund um die Haltestellen und im Zug gesichtet und können sie nicht lokalisieren.«

»Mr. Murphy könnte sie nach Hause gefahren haben«, spekuliere ich. »Helen, stellen Sie bitte fest, ob er ein Auto hat. Dann nehmen Sie sich weitere Überwachungsaufnahmen vor.«

»Ja, Chief.«

»Was hat die Handyortung ergeben? Irgendwas zu Peter Costello, wo er sich aufgehalten hat, sein Handy?«

»Letzte Nacht wurden ein paar Telefonrechnungen im Haus sichergestellt, aber kein Telefon. Die Rechnung läuft auf den Namen des Opfers. Wir haben die Telefongesellschaft kontaktiert, der Vertrag läuft auf sie beide, ein Handy für Eleanor, eins für ihren Mann. Cell Sight hat Eleanors Handy kurz vor sechs Uhr am Abend ihrer Ermordung über einen Sendemast in Bray geortet.«

»Also angenommen, sie hatte ihr Handy bei sich, dann ist sie von der Universität direkt nach Hause gefahren.« Ich schreibe das ans Whiteboard. »Wir müssen unbedingt Eleanor Costellos Handy finden. Es könnte in der Nähe des Tatorts weggeworfen worden sein. Überprüft die Mülleimer auf der Straße, den Strand. Weitet die Suche aus. Startet außerdem einen Aufruf über Social Media, dass Peter Costello sich bitte zwecks Befragung melden soll. Und ich rede mit Lorcan Murphy, mal sehen, was er zu erzählen hat.«

Ich suche das Team nach Steve ab, der schon zu reden beginnt, ehe ich ihn entdecke.

»Der Laptop hat ein paar Details ergeben, die relevant sein könnten. Es ist nicht viel drauf, bloß der Anfang eines Romans, der mir ziemlich schauderhaft vorkommt, ein veraltetes Game namens Crusader Knights und interessanterweise der Tor-Browser.«

»Irgendwelche Hinweise darauf, wer von den Costellos den Computer am meisten benutzt hat?«

»Die erste Analyse hat Fingerabdrücke von beiden ergeben. Letztes Log-in war gestern am frühen Nachmittag, und dabei ging der Benutzer über Tor ins Darknet.«

Ich wende mich an alle. »Tor ist ein Browser, mit dem man in gesicherte Netzwerke kommt, die größtenteils nicht zurückverfolgt werden können. Einfacher ausgedrückt: Er wird benutzt, um ins Darknet zu gehen.«

Helen meldet sich zu Wort. »Der letzte Benutzer muss ja dann ihr Mann gewesen sein, oder? Um die Zeit hat Eleanor noch gearbeitet.«

Steve zuckt mit den Achseln. »Sie könnte ihn auch mit in die Uni genommen haben. Auf den Aufnahmen, die sie auf dem Nachhauseweg zeigen, trägt sie eine Tasche, die groß genug wäre. Außerdem kann bei dem Laptop der Bildschirm abgenommen und als Tablet benutzt werden. Leicht transportierbar.«

Meine Finger möchten den Stift in meiner Hand durchbrechen. »Meinen Sie, Sie finden noch mehr darauf?«

Steve schüttelt den Kopf. »Ich versuch’s weiter, aber das Darknet ist meistens Endstation.«

»Okay, also: Peter Costello. Findet ihn. Findet Eleanors Handy. Sie trug noch immer die Kleidung, die sie auch zur Arbeit anhatte, als sie gefunden wurde. Wer war da? Wer hat ihr das Seil um den Hals gelegt?«

Ich trete vom Whiteboard weg, und alle kehren an ihre Schreibtische zurück, konzentriert und gierig auf eine Spur, einen Verdächtigen, einen Namen. Ich drucke das Bild von Eleanor und ihrem Kollegen aus und pinne es ans Whiteboard. Einen Moment studiere ich ihre Gesichter. Sie sehen glücklich aus, als wäre ihr Lachen Ausdruck eines gemeinsamen Geheimnisses.

Nach einer ausgelassenen Nacht sieht die Grafton Street am Freitagmorgen recht mitgenommen aus. Ein paar Zecher torkeln noch über die Bürgersteige. Trunkenes Lachen und vereinzelte Rufe steigen in den dunklen Morgen hinauf. Oben im vierten Stock genieße ich das Rumoren der Stadt, aber mit einem angenehm gedämpften Geräuschpegel, der sich anfühlt wie ein ferner tröstlicher Freund. Die Sofakissen sind in den Ecken zusammengeknautscht. Ich massiere meine Nackenmuskeln, und mir fällt ein, dass ich mal wieder auf der Couch aufgewacht bin.

Ich mache mir eine große Tasse Kaffee und öffne das Fenster einen Spalt. Als ich eine Zigarette anzünde, überlege ich kurz und stelle fest, dass ich in den letzten vierundzwanzig Stunden rein gar nichts gegessen habe. Ich schaue in die Schränke, finde eine Packung Fertig-Porridge, gebe Wasser hinein und stelle sie in die Mikrowelle.

Auf dem Couchtisch steht die Kiste, die ich aus Eleanor Costellos Haus mitgenommen habe, und daneben liegen Kopien von allem, was das Team bislang zusammengetragen hat, ein ziemlich dicker Packen aus Faxen und losen Blättern. Ich lasse mich im Schneidersitz vor dem Tisch nieder, schiebe die Kiste beiseite und stelle die Tasse ab. Unter dem Tisch, versteckt zwischen dem New Scientist von letztem Monat und der aktuellen Ausgabe von Hello!, steckt eine cremefarbene Mappe. Die Akte ist eine Kopie, das Original wartet in meinem Büro darauf, endlich geschlossen zu werden.

Der Fall Tracy Ward wurde innerhalb eines Monats gelöst. Der Prozess müsste eine klare Sache werden. Dass ich um ein Haar zusammen mit ihr getötet worden wäre, hatte immerhin den Vorteil, dass wir den Verdächtigen in Haft halten konnten, bis wir genug Beweise gesammelt hatten.

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