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Between the Lines: Wie du mich liebst

Emma hängt ihre Hollywood-Karriere vorerst an den Nagel, um das normale Leben zu führen, von dem sie immer geträumt hat. Bei der Suche nach einem College begegnet sie zufällig ihrem Co-Star Graham in New York wieder. Fernab der Glitzerwelt gewährt er Emma Einblicke in die Tiefen seiner Seele. Und endlich gelingt es den beiden, sich zu ihren Gefühlen zu bekennen. Doch ihre gemeinsame Zeit ist begrenzt, denn Emma muss noch die Werbetour für ihren Kinofilm erfüllen - und zwar mit Bad Boy Reid Alexander! Obwohl Emma ihn damals zurückgewiesen hat, versucht er mit allen Mitteln, einen Keil zwischen sie und Graham zu treiben …

Teil 1 - Between the Lines: Wilde Gefühle
Teil 2 - Between the Lines: Wie du mich liebst
Teil 3 - Between the Lines: Weil du mich hältst
Teil 4 - Between the Lines: Weil du alles für mich bist

"Man hat das Gefühl, es gibt Reid und Emma wirklich. Und in Graham habe ich mich

Hals über Kopf verliebt."

The Secret Life of an Avid Reader

"Eine großartige Coming-of-Age-Love-Story mit wunderbar gezeichneten Figuren."

Book Vacatons

"Tammara Webber hat das Talent, liebenswerte und doch komplexe Figuren zu

erschaffen, von denen man immer noch mehr wissen will."

For What It’s Worth


  • Erscheinungstag: 10.05.2016
  • Aus der Serie: Between The Lines
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956495588
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Tammara Webber

Between the Lines: Wie du mich liebst

Roman

Aus dem Amerikanischen von Anke Brockmeyer

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Where You Are

Copyright © 2011 by Tammara Webber

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: büro pecher, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Dreamstime/Undrey

ISBN eBook 978-3-95649-558-8

www.harpercollins.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

PROLOG

Graham

„Wie wär’s damit als Anfang …?“, fragte ich, wobei ich mit meinen Fingern über ihren wunderschönen Mund streichelte. Ich konnte es nicht lassen, ihre Lippen zu berühren. Eigentlich sehnte ich mich danach, sie zu küssen, doch das habe ich schon mal getan, und ganz offensichtlich hatte sie damals nicht richtig verstanden, was ich ihr damit sagen wollte. Emma verlangte nach Worten. Erklärungen. Wir waren uns ähnlicher, als ich ursprünglich zu hoffen gewagt hätte. Darauf vertraute ich mittlerweile und gab ihr die Fakten, die sie brauchte. „Seit dem Abend, als wir uns zum ersten Mal getroffen haben, wollte ich keine andere als dich. Und sosehr ich unsere Freundschaft auch wertschätze … Freunde zu sein ist nicht das, was ich im Hinterkopf habe.“

Atemlos sah sie mich mit großen Augen an, während ich mit dem Finger über die weiche Haut ihrer Wange strich und dann ihr Kinn mit meiner Hand umschloss. Als ich meinen Kopf an ihren lehnte, schloss sie die Augen, und ihre Lider flatterten. Und in diesem unbedeutend scheinenden Moment spürte ich ihre Hingabe und Zustimmung. Das war der Wendepunkt. In diesem Bruchteil einer Sekunde wusste ich es.

Ich zwang mich, nichts zu überstürzen, ihre Gefühlsreaktion ebenso entschieden in mich aufzunehmen wie ihren süßen Atem. Behutsam ließ ich meine Zunge über ihre Unterlippe gleiten und kostete sanft von ihr. Gleichzeitig rief ich mir immer wieder ins Gedächtnis, dass ich sie nicht einfach in die Ecke der Sitzbank pressen und endlich dem aufgestauten Verlangen freien Lauf lassen konnte, das ich in den letzten Monaten hatte unterdrücken müssen.

Meine Zurückhaltung hatte nur entfernt damit zu tun, dass wir uns in der Öffentlichkeit befanden. Um ehrlich zu sein, hat mich diese Tatsache noch nie weniger interessiert.

Der Kuss gestern Abend in ihrem Hotelzimmer hat mich fast um den Verstand gebracht, doch ich bin geübt darin, mir Dinge zu versagen, von denen ich denke, dass ich sie nicht haben kann. Sie aber war heute Morgen nicht annähernd so vorsichtig wie ich. Sie krallte die Hände in mein T-Shirt, und kaum dass sie ihre Lippen öffnete, zerbarst meine Selbstbeherrschung wie Glas unter einem Hammerschlag. Voller Leidenschaft küsste ich sie, mein Körper spielte verrückt und ich weigerte mich, meinem Verstand auch nur irgendeinen Einspruch zu erlauben. Emma kuschelte sich so dicht an mich – keine Ahnung, wie sie das machte –, dass wir plötzlich ineinander verschlungen waren. Die Knie hatte sie angezogen und an meine Seiten gedrückt, ich hatte die Arme um sie gelegt, eine Hand in ihrem Nacken, die andere an ihrer Wirbelsäule, als könnte ich sie so noch enger an mich pressen.

Ein unmögliches Unterfangen.

Mein einziger Gedanke war mehr eine Emotion: Sie gehört mir. Mir. Mir.

Irgendwann beendeten wir den Kuss, um wieder Luft zu holen, und ich hasste es, überhaupt atmen zu müssen. Es war so viel schöner, ihren Mund zu erforschen, als zu atmen. Ich lehnte meine Stirn an ihre, und wir keuchten beide, wie wir es voneinander kannten, wenn wir einen Hügel hinaufgelaufen waren. Vor gefühlt einem halben Leben waren wir beinah täglich in Austin zusammen gejoggt – in jenen Wochen, als ich glaubte, sie gehörte zu Reid Alexander oder würde zumindest bald mit ihm zusammen sein. Meine Angst und Unsicherheit füllte den Raum zwischen uns, während ich sie dabei beobachtete, wie sie die Augen wieder öffnete und langsam den Blick erneut auf mich richtete. Und dann fragte ich mich, ob ich es würde aushalten können, falls sie sich wieder von mir zurückzöge. Ob ich es überleben würde, sie noch einmal zu verlieren.

„Oh“, sagte sie und blinzelte mit ihren graugrünen Augen. Fast hätte ich laut gelacht, so erleichtert war ich. Dieses Unwort war ein Code, den ich mittlerweile problemlos entschlüsseln konnte, und dass sie es gerade in diesem Moment unbedacht äußerte, war ein geheimer Hinweis. Ich wusste, wie ich darauf reagieren musste. Und genau das tat ich.

„Weißt du, ich glaube, mir würde es gefallen, wenn du diese Angewohnheit trotz allem beibehalten würdest“, meinte ich, ehe ich sie fest an mich drückte und noch einmal küsste.

1. KAPITEL

Graham

Ich war sicher, nie wieder jemanden so sehr zu lieben, wie ich Zoe geliebt hatte.

Irgendetwas hat die erste Liebe an sich, dass sie einmalig ist und sich nicht wiederholen lässt. Vorher ist dein Herz rein. Unbeschrieben. Danach sind, bildlich gesprochen, die Wände bekritzelt und voller Graffiti. Auch mit größter Mühe lassen sich die verewigten Liebesschwüre und Zeichnungen nicht mehr auslöschen. Doch früher oder später erkennt man, dass zwischen den Sprüchen und an den Rändern noch Platz genug ist für jemand anders.

Vor einiger Zeit habe ich begriffen, dass dieser Jemand für mich meine Tochter Cara ist. Damals schien diese Schlussfolgerung logisch zu sein. Sie war das Einzige, was aus dieser turbulenten Beziehung geblieben war, und sie war alles, was mir letztendlich von Zoe geblieben ist.

Am Tag, nachdem Zoe sich von mir getrennt hatte, rief ich sie an, um die Gründe zu erfahren. Ich wollte wissen, was ich getan hätte und ob ich irgendetwas machen könnte, damit sie zu mir zurückkäme. Immerhin hatte ich geglaubt, wir würden uns lieben – und ich wollte begreifen, warum sie mich verlassen hatte. Damals hat keiner von uns geahnt, dass sie schwanger war.

„Wieso willst du, dass ich mich schlecht fühle?“, fragte sie. „Für mich ist es auch so schon schwer genug.“

Ich atmete ruhig ein. „Scheint mir aber nicht so.“ Noch am Morgen hatte ich sie im Schulflur gesehen, wo sie, an ihr Schließfach gelehnt, mit ein paar Klassenkameraden flirtete, die über die Sommerferien zu Männern herangewachsen waren. Von mir konnte man das nicht behaupten. Obwohl Zoe und ich beide im letzten Schuljahr waren, war sie über ein Jahr älter als ich. In der Grundschule hatte ich eine Klasse übersprungen, und da ich im Sommer Geburtstag habe, war ich gerade mal seit vier Monaten sechzehn. Erst ein paar Wochen nach dem Abschluss würde ich siebzehn werden.

Übertrieben laut stöhnte sie auf. „Himmel, Graham – ich bin seit vier Jahren in der Theatergruppe, das weißt du. Ich kann allen vorspielen, dass es mir gut geht, auch wenn das nicht stimmt.“

Auf keinen Fall war es gespielt, wie sie kicherte und mit den Wimpern klimperte, als Ross Stewart, der Held des Wrestling-Highschool-Teams, sie mit irgendetwas neckte und sie ihm ihre schmale Hand auf den fleischigen Unterarm legte. Und das weniger als vierundzwanzig Stunden nach unserer Trennung. Ich war heiser, weil ich die halbe Nacht geweint hatte, und sie lachte und flirtete, während ihre Augen so klar und blau waren wie immer.

„Was kann ich tun, Zoe? Habe ich was falsch gemacht? Rede mit mir, sag mir, was ich für dich tun soll …“

„Graham, es gibt nichts, was du tun könntest. Ich bin einfach nicht mehr verliebt in dich, verstehst du? Bei dieser Entscheidung geht es um mich und meine Gefühle. Nicht um dich.“

„Ich bin nicht mehr in dich verliebt“ klang für mich durchaus so, dass es um mich ging. Es kam mir so vor, als hätte sie mir durch das Telefon einen Tritt versetzt. Zoe war für mich das erste Mädchen gewesen, das mir alles bedeutete, auch wenn es umgekehrt nicht so war – eine Tatsache, die mich bis dahin nicht gestört hatte. Ich war ihr folgsamer Schüler und glaubte, von ihr lernen zu können, und unabhängig von unseren Streitigkeiten und Missverständnissen dachte ich, wir wären ein gutes Team. Genau bis zu dem Moment, in dem sie mir das Herz brach.

„Gibt es einen anderen?“ Keine Ahnung, was ich für eine Antwort erwartete. Vielleicht, dass sie es sofort abstreiten würde. Doch die Stille am anderen Ende war zu lang. Ich konnte förmlich hören, wie sie nachdachte. „Scheiße, Zoe“, flüsterte ich, und meine Stimme zitterte, nachdem ich fast die ganze Nacht geheult hatte.

„Tut mir leid, Graham. Aber ich möchte nicht mehr mit dir darüber reden. Schließlich kann ich nichts dafür, was ich fühle oder nicht fühle. Du wirst damit leben müssen.“

Danach habe ich ein paar Wochen nicht mehr mit ihr gesprochen, auch wenn ich sie in der Schule gesehen habe. Während das Ende unserer Beziehung für mich unfassbar und schmerzhaft war, empfand sie es als befreiend, wenn auch unangenehm. Von der Unbehaglichkeit wusste ich nur, weil ihre Freundinnen Mia und Taylor mir erzählten, dass sie ihre Wege zwischen den Klassenräumen geändert habe und mittags nicht mehr auf dem Schulgelände esse, weil sie es nicht ertragen könnte zu sehen, wie ich Trübsal bliese.

„Ich blase nicht Trübsal, ich bin niedergeschlagen. Das hatte ich nicht erwartet. Und jetzt kann es mir nicht über Nacht gleichgültig sein.“

Mia verdrehte die Augen. „Es sind fast zwei Wochen.“

Taylor zuckte eine ihrer schmalen Schultern und verzog ihren Mund zu diesem Das-ist-doch-keine-große-Sache-Grinsen, das sie so gern an den Tag legte. „Du musst wirklich endlich darüber hinwegkommen, Graham. Zoe hat es schon geschafft.“

Verblüfft starrte ich sie an. „Sie hat sich ja auch von mir getrennt. Vielleicht war sie ja schon drüber hinweg, ehe sie Schluss gemacht hat. Ich hatte noch nicht die Zeit, mich daran zu gewöhnen, so austauschbar zu sein. Und jetzt kann ich es nicht einfach abhaken, als ob das vergangene Jahr nichts bedeutet hätte.“

Auch wenn Zoe genau das locker geschafft hatte.

„Graham und seine intellektuelle Ausdrucksweise“, murmelte Mia, gerade laut genug, dass ich es hören konnte, während sie gingen.

„Stimmt“, erwiderte Taylor.

Als Emma mich gestern Abend küsste, bevor ich ihr Zimmer verließ, spürte ich diese Sehnsucht wieder in mir, die während unserer Zeit in Austin mein ständiger Begleiter gewesen war. Ich hatte geglaubt, sie bezwungen zu haben, weil Emma unerreichbar war – aus so vielen Gründen.

Erstens ist sie sehr jung – gerade achtzehn. Bei unserer ersten Begegnung war sie sogar erst siebzehn. Allerdings ist sie sehr reif für ihr Alter, und nachdem ich sie besser kennengelernt hatte, wusste ich auch, woher das kam. Ihre Mutter ist gestorben, ihr Vater führt sein eigenes Leben, und so war sie jahrelang auf sich selbst gestellt gewesen. Doch ich konnte nicht vergessen, dass sich hinter der Maske des Erwachsenseins ein Mädchen verbarg, das sich in Reid Alexander verliebt hatte, den König der Hollywood-Arschlöcher. Also steckte ich sie in die Schublade „Gute Freundin“ und behielt sie mit Gewalt dort drinnen. Ich konnte mich nicht in jemanden verlieben, dessen Herz Reid Alexander gehörte – das war Grund Nummer zwei.

Der dritte Grund: Sie lebt an der Westküste, ich an der Ostküste – eine Tatsache, die ich unbewusst (okay, zugegeben, bei vollem Bewusstsein) mit allen Mitteln zu ändern versuchte. Nachdem wir uns über Colleges und ihren Wunsch unterhalten hatten, auf der Bühne zu stehen statt vor der Kamera, lag es nahe, ihr Universitäten und Schauspielschulen in New York zu empfehlen. Das zumindest habe ich mir selbst eingeredet, während der Gedanke, sie die ganze Zeit in meiner Nähe zu wissen, fieberhaft in meinem Kopf hämmerte.

Und nun der vierte Grund. Cara ist ein Geheimnis, das ich nur mit meiner Familie und einigen sehr engen Freunden teile. Der Rest der Welt ahnt nichts von ihrer Existenz, allerdings wird das nicht mehr lange so sein. Nachdem Emma uns gestern zufällig in einem Coffeeshop getroffen und sich mit Cara unterhalten hat, hat mein Schutzwall schon einige Risse bekommen.

Und unser Kuss gestern Abend hat den Rest weggesprengt.

„Lass uns hier verschwinden“, sage ich jetzt, blicke kurz auf meine Uhr, lege ein paar Scheine auf den Tisch und greife Emma an der Hand. „Wann geht dein Flug?“

Nicht einen Moment wendet sie den Blick von mir ab, während ich sie von der Bank ziehe. „Um zwölf.“ Ich erwidere den Druck ihrer Finger und führe Emma durchs Café auf den Ausgang zu. In meinem Kopf wirbeln Unmengen an Gedanken durcheinander. Ihr Dad und sie müssen gleich schon zum Flughafen aufbrechen, damit sie ihre Maschine nach Sacramento erwischen. Und plötzlich erscheint mir Ende August unerträglich weit entfernt.

Vor fast acht Monaten habe ich Emma zum ersten Mal gesehen. Damals kam ich gerade aus meinem Hotelzimmer, um Brooke zu beschwichtigen. Sie war komplett durchgedreht, nachdem sie Reid zum ersten Mal seit Jahren wieder gegenübergestanden hatte. Und in diesem Moment entdeckte ich Emma, die sich auf dem Flur aufhielt und ihre Schlüsselkarte in den Türöffner schob. Klein und schlank, umgeben von Gepäck, schaute sie auf, nachdem sie bemerkt hatte, dass ich sie anstarrte. Sie blinzelte ein paarmal, und ich schaute in ihre wunderschönen graugrünen Augen. Ich lächelte und wollte sofort herausfinden, wer sie war. Doch ich war gerade auf einer Brooke-Rettungs-Mission, deshalb konnte ich nicht einfach anhalten und ein Gespräch mit schönen fremden Mädchen anfangen.

„Hey“, sagte ich nur und fühlte mich wie ein Idiot. Welcher Typ kommt schon in einer Pyjamahose aus seinem Hotelzimmer und sagt hey zu einem Mädchen, dem er zufällig im Korridor begegnet, während er auf dem Weg zur Suite einer anderen ist?

Zwei Abende später lernten wir uns schließlich bei der ersten Partynacht des Casts kennen. Sie fiel mir im Club sofort auf, als sie sich mit MiShaun unterhielt und mit einem unserer Schauspielerkollegen tanzte. Allerdings nahm Brooke mich so lange in Beschlag, bis deutlich wurde, dass Reid sich entschieden hatte, sie komplett zu ignorieren. Während ich draußen stand, um eine zu rauchen, entdeckte ich Emma, die auf ein Taxi zum Hotel wartete. Und kurz entschlossen schlug ich vor, uns den Wagen zu teilen. Brooke war sauer, dass ich sie einfach allein zurückgelassen hatte, doch mir tat es nicht wirklich leid.

In jener Nacht lag ich in meinem Bett und ließ mir ihren Namen auf der Zunge zergehen – Emma.

Wir begannen, in der Früh zusammen zu joggen, und verbrachten viel Zeit miteinander. In unseren Gesprächen versuchte ich herauszufinden, inwieweit da was zwischen ihr und Reid lief. Ich war geduldig und vorsichtig, bis zu dem Morgen, als ich neben ihr auf einem überdachten Picknicktisch saß. Klitschnass warteten wir darauf, dass der Regen nachließe und wir weiterjoggen könnten. Währenddessen saßen wir da und unterhielten uns, doch zwischen den Zeilen fand ein ganz anderes Gespräch statt.

Aus ihrem Pferdeschwanz tropfte das Wasser auf ihren Rücken, das T-Shirt klebte ihr an der Haut, und sie duftete unglaublich. Eine Strähne hatte sich gelöst, schlängelte sich an ihrer Wange entlang und hing an ihrem Mundwinkel. Wahrscheinlich habe ich fast aufgehört zu atmen und sie nur noch angestarrt. Schließlich streckte ich die Hand aus, um die Strähne zurückzustreichen, und dachte nur: Nein, nein, nein, du darfst sie nicht küssen. Gefolgt von: Küss sie, küss sie, du Blödmann.

Ich war stolz auf mich, das Erste befolgt und das Letzte ignoriert zu haben.

Am Abend desselben Tages verließ ich gerade Brookes Zimmer (eine erneute Reid-Panikattacke) und sah gerade noch, wie Emma von meiner Tür zurück in ihr Zimmer sprintete. Es schien, als wollte sie auf keinen Fall, dass ich sie entdeckte. Ich hatte zwei Möglichkeiten: in mein Zimmer zu gehen und meinen Kopf gegen die Wand zu schlagen oder an ihre Tür zu klopfen und den Schaden möglichst klein zu halten, den es verursacht haben mochte, dass sie mich dabei beobachtet hatte, wie ich spätabends von Brooke kam.

Mir war klar, dass ich Emma am besten auf Abstand halten konnte, indem ich sie glauben ließ, Brooke und ich wären zusammen. Halb vermutete sie es sowieso schon, deshalb musste ich eigentlich gar nichts mehr tun. In diesem Moment tauchte das Bild von ihrem gen Himmel gestreckten Gesicht vor meinem inneren Auge auf, und meine Erinnerung beschwor den Duft des Regens auf ihrer Haut und in ihrem Haar herauf. Ich dachte darüber nach, wie harmonisch unser Verhältnis war und wie gut ich mich in ihrer Nähe fühlte. Einer spontanen Eingebung folgend, stand ich vor ihrer Tür und lud mich gewissermaßen selbst ein. Bevor ich wieder aufbrach, hatte ich sie in meinen Armen gehalten und sie geküsst. Und danach war ich so hart auf dem Boden der Tatsachen gelandet, dass ich förmlich in tausend Stücke zerbrochen war.

Vierundzwanzig Stunden später. Die ganze Welt sah zu, wie Emma und Reid sich küssten. Ein Kuss nach jener Nacht, in der meine Tochter in die Notaufnahme eingeliefert wurde, weil sie keine Luft mehr kriegte. Nach jener Nacht, in der ich den gepfefferten Vortrag meiner Mom über meinen Zigarettenkonsum und Caras Asthma über mich ergehen ließ. Das Timing war unglaublich – gerade hatte Emma mir angeboten, mich dabei zu unterstützen, mit dem Rauchen aufzuhören. In jener Nacht war ich voller Sorge um meine Tochter gewesen, und gleichzeitig habe ich eine unbändige Vorfreude verspürt, zu dem ersten Mädchen zurückzukehren, in das ich mich seit Zoe verliebt hatte.

Und dann schickte Brooke mir das Foto von diesem Konzert – das gleiche Foto, das am nächsten Tag auf unzähligen Gossip- und Celebrity-Seiten im Internet auftauchte, obwohl Brooke schwor, es nur an „ein paar vertrauenswürdige Freunde“ versendet zu haben. Ich machte ihr keine Vorwürfe, auch wenn ich enttäuscht war über ihre Unachtsamkeit. Zu ihrer Verteidigung brachte sie hervor, dass Reid und Emma sich schließlich in aller Öffentlichkeit geküsst hätten und jeder dieses Bild hätte aufnehmen können.

„Aber es hat nicht jeder gemacht, sondern nur du“, erwiderte ich.

Sie zuckte mit den Schultern. „Entscheidend ist doch nicht das Foto, sondern der Kuss.“

Da hatte sie recht. Für mich zählte nur der Kuss.

Jetzt bleiben uns nur noch wenige Stunden zusammen. Als wir auf die Straße treten, wird mir zu spät bewusst, wie entsetzlich kalt es ist. Noch dazu war ich heute Morgen so aufgeregt, dass ich vergessen habe, eine Jacke mitzunehmen, während ich das Haus verlassen habe. Ich sehe auf Emma hinunter, die sich zitternd in ihr dünnes Sweatshirt kauert. Ich ziehe sie an mich und zeige auf einen U-Bahn-Eingang. „Ich schätze, da unten ist es wärmer.“ Wir gehen die Stufen hinunter und springen in den Zug. Beim Blick auf Brooklyn von der Brücke aus kann man sich in New York verlieben, wenn man es nicht längst getan hat.

Nachdem wir uns in dem nur spärlich besetzten Zug einen Platz gesucht haben, lehnt Emma ihren Kopf an meine Schulter. Wir haben die Arme miteinander verschränkt, unsere Hände liegen ineinander verschlungen auf meinem Knie. Ich denke, wir werden uns nicht mal voneinander trennen, um wieder durch das Drehkreuz zu kommen. „Lass uns Wahrheit oder Pflicht spielen“, schlage ich vor. „Aber ohne die Pflicht.“

Sie hebt die Augenbrauen. „Ich dachte, du wärst nicht der Typ für solche Spiele?“

Ich lächle sie an. „Das habe ich mal behauptet, nicht wahr?“ Sie nickt. „Okay, dann lass es uns nicht Spiel nennen. Wir bezeichnen es als die unangenehmen Fragen aus dem Weg räumen. Denn ich weiß, dass wir sie beide haben. Du kannst anfangen. Leg los.“

Sie kaut auf ihrer Unterlippe und schaut in meine Augen. „Okay. Warum hast du mich in Austin geküsst?“

Sowie ich leise lache, runzelt sie die Stirn. „Entschuldige, doch das ist zu einfach.“ Mein Blick wandert zu ihren Mund und wieder zurück. „Schon seit Quinton vorgeschlagen hatte, Flaschendrehen zu spielen, wollte ich dich küssen. Und an jenem Abend in deinem Zimmer fehlte mir schlicht die Willensstärke, dagegen anzukämpfen.“

„Warum warst du …“

Kopfschüttelnd lege ich meine Hand auf ihre Lippen. „Nein, nein. Jetzt bin ich dran.“ Als ich meine Fingerspitzen über ihre Lippen gleiten lasse, öffnet sie den Mund. Am liebsten möchte ich sie küssen, aber ich befürchte, wenn ich das jetzt tue, höre ich nicht mehr auf. Und wir müssen unbedingt reden. Ich verbringe lieber den nächsten Monat damit, davon zu träumen, sie zu küssen, anstatt darüber zu grübeln, welche unbeantworteten Fragen zwischen uns stehen.

„Wieso hast du Reid geküsst nach unserem Kuss?“ Ich kämpfe mit harten Bandagen. Dies ist die heikelste Frage, die ich stellen werde, und ich will sie hinter mich bringen.

Sie atmet tief durch und sieht auf unsere erneut ineinander verschlungenen Hände. Eine komplette Minute verstreicht, ehe sie antwortet. „Als ich nach Austin kam, glaubte ich, er wäre genau das, was ich wollte.“ Erwartungsvoll guckt sie, wie ich reagiere, und mit einem leichten Nicken bedeute ich ihr fortzufahren. „Aber ich habe mich geirrt. Doch in dem Moment wusste ich es noch nicht.“ Ihre Augen füllen sich mit Tränen, und ihre Stimme zittert. „Mir ist klar, dass diese Erklärung nicht ausreichend ist.“

Ich umfasse ihr Kinn und hebe ihren Kopf an, damit ich ihr in die Augen schauen kann. „Es ist die Wahrheit, und deshalb reicht es durchaus. Hast du ihn geliebt?“

Schniefend schüttelt sie den Kopf und drückt sanft einen Finger auf meine Lippen. „Nein, nein, jetzt bin ich dran“, wiederholt sie meine Worte. Da ich jetzt die Stirn runzle, lacht sie, und aus ihrem Augenwinkel kullert eine Träne. Sie wischt sie mit dem Handrücken weg. „Nein, ich habe ihn nicht geliebt.“

Ich bezwinge den Drang, mir auf die Brust zu schlagen wie ein Neandertaler. Dafür ziehe ich sie an mich und atme ihren Duft ein, der mir selbst nach all der Zeit so vertraut ist „Darf ich dich jetzt küssen?“ Meine Stimme bricht.

Plötzlich grinst sie mich an. „Graham, das ist die dritte Frage nacheinander. Allmählich denke ich, dass dir nicht klar ist, was abwechselnd bedeutet.“

Zur Hölle mit den Fragen. Wir können auch telefonieren. Aber küssen kann ich sie nicht, wenn wir meilenweit voneinander entfernt sind. „Gleich bist du wieder dran, Emma.“ Ich überwinde die winzige Distanz zwischen uns, wandere mit meiner Hand zu ihrem Nacken und berühre ihren Mund mit meinem. Sie schmiegt sich dichter an mich – ihre Lippen sind warm, ihr Atem süß, und ich spüre ihre Fingerspitzen, die sanft über meine Wange streichen, während wir uns küssen.

Bis zu diesem Augenblick haben wir die wenigen Leute, die ein- und ausgestiegen sind, gar nicht wahrgenommen. Wir sind einfach weitergefahren und haben die Haltepunkte ignoriert. Nun allerdings kommt der Zug erneut quietschend zum Stehen, und gut dreißig laute Mittelstufenschüler in den gleichen T-Shirts, gefolgt von ihren gestressten Begleitpersonen, bevölkern unseren Waggon. Ein kleine Gruppe von Mädchen starrt Emma und mich unverfroren an, als wären wir auf einem Bildschirm zu sehen und nicht live. Mit großen Augen flüstern sie hinter vorgehaltener Hand, ihre Aufmerksamkeit schwingt zwischen uns und den Jungs hin und her, die sich auf die Nachbarsitze fallen lassen und in einem sonderbaren und beeindruckenden Einsatz ihrer Körperteile Pupsgeräusche von sich geben.

So viel zu diesem Kuss.

Emma

Seit wir in New York angekommen sind, habe ich ständig an Graham gedacht und mich selbst ausgeschimpft, wenn ich wieder einen großen, dunkelhaarigen Typen angestarrt habe, der mit den Händen in den Hosentaschen vor einem Feinkostgeschäft stand, hastig eine Kreuzung überquerte oder sich rauchend in einem Hinterhof aufhielt.

Schließlich hat Graham schon vor Monaten mit dem Rauchen aufgehört.

Und außerdem – wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, in einer Stadt dieser Größe ausgerechnet Graham über den Weg zu laufen? Ich muss verrückt gewesen sein, diese Möglichkeit überhaupt in Betracht zu ziehen. Und dann war er plötzlich da. Er saß in einem Coffeeshop mitten in der Macdougal Street. Zusammen mit seiner Tochter.

„Cara ist also vier?“, erkundige ich mich. Jetzt bin ich wieder an der Reihe.

„Genau gesagt, wird sie in zwei Monaten vier“, antwortet Graham. Als er sich vorbeugt, spüre ich seinen Atem warm an meinem Ohr. „Kurz nach meinem Geburtstag.“

„Landon ist so unreif“, erklärt gerade eines der Mädchen den anderen über den Gang hinweg. Ihre Freundinnen nicken und bedenken den Jungen, der für die meisten der unappetitlichen Geräusche verantwortlich ist, mit einem verächtlichen Blick.

„Was habe ich denn getan?“, fragt er und hebt unschuldig die Hände hoch. „Was?“

„Mädchen, Alter“, beschwichtigt ihn einer der anderen Jungen, und sie recken die Fäuste und schlagen sie im Einverständnis aneinander. Daraufhin brechen sie alle in Gelächter aus, während die Mädchen sich verärgert abwenden und von nun an vermeiden, die Jungs offen anzuschauen.

Vor Lachen treten uns die Tränen in die Augen. Die Lippen zusammengekniffen, blicken Graham und ich uns an und versuchen, total desinteressiert zu wirken. „Ich wäre bereit zu schwören, dass ich nie ein vorpubertärer Junge war“, beteuert er und verdreht die Augen.

„Klingt, als wolltest du es leugnen.“

„Tja, was soll ich machen, das ist meine Geschichte.“ Er grinst. „Nächste Frage: Bist du im Moment mit jemandem zusammen?“

Emily hat in den letzten Monaten für mich Dates mit mehreren Typen arrangiert – Dinner, Kino, Ballett, Bowling. Jeder von ihnen war unglaublich nett, doch ich fühlte mich zu keinem hingezogen. Während der Proben für die Theatervorstellung von Ist das Leben nicht schön? habe ich dann Marcus kennengelernt. Er hatte schon eine Zusage von der Pace, einer Privatuni in New York, und war ganz begeistert von der Aussicht, dass wir beide im Herbst anfangen würden, in New York zu studieren. Seit Dezember waren wir mehrmals zusammen aus. Auch letztes Wochenende hatte ich ihn gesehen. Eigentlich hatten wir vor, heute Abend noch was zusammen zu unternehmen, wenn ich wieder zurück sein würde. Außerdem hatte ich zugesagt, mit ihm auf den Abschlussball seiner Privatschule nächstes Wochenende zu gehen.

„Hmm. Dein Nein kommt nicht ganz so schnell, wie ich gehofft habe“, bemerkt Graham und malt mit seinem Daumen hypnotisierende Kreise auf meinem Handrücken. „Sollte ich in Erwägung ziehen, dir nach Hause zu folgen und irgendeinen Typen zum Duell zu fordern?“ In seinem Blick erkenne ich die Ernsthaftigkeit hinter dem neckenden Tonfall. „Ich bin nie einer von diesen besitzergreifenden Kerlen gewesen, Emma. Und ich weiß, dass das hier für uns beide ganz plötzlich und unvorhersehbar gekommen ist. Aber dich zusammen mit Reid zu sehen war fast mehr, als ich ertragen konnte. Ich glaube nicht, dass mein Herz es aushält, dich noch einmal teilen zu müssen. Natürlich ist es deine freie Entscheidung. Allerdings werde ich dann auch meine treffen müssen.“

Ich hasse die Vorstellung, Marcus verletzen zu müssen. Er ist geduldig und hat mich nie wegen meiner allseits bekannten missglückten Liaison mit Reid Alexander in die Mangel genommen. Als ich von unserem School Pride-Fotoshooting letzten Monat nach Hause zurückgekehrt bin, war Marcus so fröhlich wie immer. Ich dagegen hatte mich von einer verspäteten Depression wegen der ganzen Sache mit Reid herunterziehen lassen. Endlich hatte ich mich auch mit der Tatsache auseinandergesetzt, dass ich immer noch etwas für Graham empfinde, auch wenn das, was zwischen uns in Austin gewesen ist, längst vorbei war.

Bis jetzt zumindest. Auf einmal ist es doch nicht vorbei. Und nun sitzt Graham neben mir und wartet darauf, dass ich ihm gestehe, wie viel er mir bedeutet.

„Ich habe mich mit jemandem verabredet, aber nicht so.“ Ich schlucke und hoffe, dass er mir Zeit lassen wird, die Sache mit Marcus behutsam zu regeln. „Sobald ich zu Hause bin, werde ich es beenden.“ Erst als er ausatmet, wird mir klar, dass er die Luft angehalten hatte. „Aber ich habe ihm versprochen, ihn nächstes Wochenende auf seinen Abschlussball zu begleiten.“

Graham verzieht den Mund und mustert mich intensiv. „Muss ich mir Sorgen machen?“

Ganz leicht schüttle ich den Kopf. „Nein.“

Er hebt unsere ineinander verschränkten Hände an, um den Arm zu drehen und meinen Handrücken zu küssen. „Dann gibt es wohl keinen Grund, einem armen Kerl seinen Abschlussball zu verderben, schätze ich.“

Die Gruppe der Mädchen uns gegenüber seufzt laut auf, und ich vermute, dass eins von ihnen mit dem Handy ein Foto von uns geschossen hat. Es ist möglich, dass sie wissen, wer wir sind. School Pride kommt zwar erst nächsten Monat in die Kinos, der Medienrummel allerdings hat schon angefangen. Vielleicht aber sind sie auch einfach nur Teenager, und wir zwei, förmlich ineinander versunken, entsprechen der klassischen New-York-City-Romanze – was mich an Emily denken lässt. Ich habe ihr eine Menge zu erzählen, sobald ich zurück bin.

„Und du, ich meine, bist du mit jemandem zusammen?“

Er schüttelt den Kopf, und obwohl ein kleines Lächeln seine Mundwinkle umspielt, sind seine Augen tiefdunkel. „Das mit dem Festbindenwollen habe ich schon vor Ewigkeiten hinter mir gelassen. Wenn ich nicht ganz extrem an einem Mädchen interessiert bin, bemühe ich mich nicht.“

Ich presse meine Lippen zusammen, dennoch kann ich nicht verhindern, dass sie sich an einer Seite leicht nach oben neigen. Es ist nicht wirklich fair, glücklich zu sein, dass ich keine Konkurrenz fürchten muss, während er mir vertraut und mich nach Hause fliegen lässt, wo ich mit einem Jungen, den er nicht kennt, zum Abschlussball gehen werde, ehe ich ihm den Laufpass gebe.

Die vorpubertären Teens erreichen ihre Haltestelle, und der Lärm schwillt so sehr an, dass es an einen Viehtrieb erinnert. Die Begleitpersonen scheuchen sie raus, um sicherzustellen, dass alle draußen sind, ehe die Bahn weiterfährt. Nachdem sie den Waggon verlassen haben, ist es so still, dass ich meine eigenen Atemzüge hören kann.

Graham kuschelt sich dichter an mich. „Wie kann es sein, dass ich es überlebt habe, dich in den letzten fünf Monaten nur einmal zu sehen, und mich der Gedanke, jetzt noch einmal vier Monate von dir getrennt zu sein, krank macht?“

Ich drücke meine Wange an seine Schulter und verliere mich in seinem durchdringenden Blick. „Nächsten Monat ist die Filmpremiere. Mein Agent hat gemeint, dass es schon im Vorfeld Interwiews im Fernsehen und im Radio geben wird. Vielleicht beginnen sie sogar schon nächste Woche.“

Er verzieht das Gesicht. „Emma, nicht ich bin der Star von School Pride, das seid ihr – Reid und du. Klar, ich werde auf der Premiere sein, doch die anderen Auftritte werdet ihr beide vorwiegend allein absolvieren.“

Aus irgendeinem Grund hatte ich an diese Möglichkeit gar nicht gedacht. „Oh“, sage ich, und Graham lacht leise.

2. KAPITEL

Graham

Es ist eigentlich nicht gelogen, dass ich ihr erzählt habe, ich sei kein besitzergreifender Typ. Aber es ist auch nicht ganz die Wahrheit, insbesondere wenn es um Reid Alexander geht. Nachdem ich letzten Herbst miterlebt habe, wie er es geschafft hat, Emmas Vertrauen zu gewinnen – auch wenn er es kurz darauf vergeigt hat –, zolle ich ihm widerwillig Respekt dafür, wie sehr er seinen Charme spielen lassen kann. Die Wahrheit ist, er ist charmant. Dieser Teil seiner Persönlichkeit ist echt. Allerdings ist er zu egozentrisch und unreif, um sich um die Opfer zu kümmern, die in seinen Sog geraten sind. Buchstäblich.

Ich bin mir zu neunundneunzig Prozent sicher, dass Emma nicht noch einmal auf ihn hereinfallen wird, doch das eine Prozent Unsicherheit bohrt sich in meinem Kopf fest und nagt an mir. Ich bin von einer Feministin erzogen worden und habe früh gelernt, dem Drang zu widerstehen, ein Alpha-Mann zu sein. Doch nachdem ich Brooke zuliebe Reid seit Jahren verachte, gefolgt von dem Wunsch, die Scheiße aus ihm herauszuprügeln dafür, dass er Emma verletzt hat, spüre ich plötzlich ein für mich völlig untypisches Verlangen: Ich will sie für mich beanspruchen und beschützen. Und das zeigt mir, dass ich hier meinen Mann stehen muss.

„Graham?“

Ich schaue in ihr besorgtes Gesicht, und ihre Miene lässt mich unweigerlich ebenfalls finster dreinblicken. „Ich hasse die Vorstellung, dass du Zeit mit ihm verbringst.“ Verdammt. Wenn meine Mom oder meine Schwestern das mitgekriegt hätten, dann hätte ich diesen Satz nicht mal zu Ende sprechen können.

Erstaunt sieht Emma mich an, schließlich richtet sie sich auf und grinst mich schief an. „Du musst auf Reid nicht eifersüchtig sein, das weißt du.“

Mit einer Grimasse erwidere ich ihr Lächeln. „Na ja, so genau weiß ich das nicht.“

Sie blickt auf unsere verschränkten Hände, danach streicht sie mit den Fingerspitzen über meinen Unterarm, und sofort wünsche ich mir, wir wären irgendwo allein. „Nach dem Fototermin vergangenen Monat hat er mit mir geredet. Er hat mir erklärt, er wolle eine zweite Chance. Ich habe keine Ahnung, wie ernst es ihm damit war – ich meine, immerhin ist es Reid, da kann man das nie so sagen … Doch er wirkte ehrlicher als je zuvor.“

An jenem letzten Abend hatten sie sich im Hotel unter vier Augen unterhalten, in seinem Zimmer. Er hatte nach ihrer Hand gegriffen und Emma zurückgehalten, als wir anderen schon auf dem Weg nach draußen waren. Ein paar Minuten später hatte ich durch meine angelehnte Tür gesehen, wie sie sein Zimmer wieder verlassen hatte. Während sie ihre Zimmertür aufschloss, war sie in Tränen aufgelöst. Ich war hin und her gerissen. Einerseits wollte ich nicht, dass sie unglücklich war, andererseits war ich erleichtert, dass was auch immer sie besprochen hatten offensichtlich nicht zu einer Versöhnung welcher Art auch immer geführt hatte.

Soweit ich weiß, war Reid Alexander noch nie gut für irgendjemanden.

„Letztendlich war es egal, was er mir zu erzählen hatte“, fährt sie fort und schaut mich an. „Denn inzwischen hatte ich erkannt, welchen Mann ich haben wollte – auch wenn ich mir sicher war, dass ich ihn sowieso nicht hätte haben können.“

Kopfschüttelnd küsse ich ihre Nasenspitze und lache leise. „Das habe ich nicht geahnt. Du würdest eine fantastische Pokerspielerin sein, Emma. Du gibst nichts preis.“

Genau in diesem Augenblick fährt die Bahn aus dem Tunnel unterhalb des East Rivers und hält auf die Manhattan Bridge zu, eine der vielen Brücken, die nach Brooklyn führen. Die Sonne taucht alles in ein gleißendes Licht, und im ersten Moment sind wir geblendet. Dann erkennen wir, dass einzelne Sonnenstrahlen zwischen den Häusern am anderen Ufer hindurchbrechen und von den Wolkenkratzern hinter uns wellenförmig reflektiert werden. Sie lassen die Wasseroberfläche glitzern. Es ist ein zauberhafter Anblick. Nur wenige Menschen könnten sich dem entziehen. „Oh“, sagt Emma und blinzelt. Damit habe ich den ersten Teil meines Plans, sie davon abzubringen, New York jemals wieder verlassen zu wollen, in die Tat umgesetzt.

Meine ältere Schwester Cassie ist eine Frühaufsteherin. Wenn wir an der Haltestelle DeKalb Avenue aussteigen, sind wir in ein paar Minuten bei ihr zu Hause. Schnell hole ich mein Handy heraus und platziere Emmas Hand auf meinem Bein. Ich liebe es, wenn sie dort liegt.

„Lass uns meine Schwester besuchen.“

Sofort verspannt sich Emma. „Was – jetzt?“, meint sie und schaut mich mit großen Augen an.

Ich muss lachen, weil Cassie genauso reagiert hat. „Sie wohnt hier gleich hinter der Brücke. Ich möchte, dass du sie kennenlernst. Du wirst sie mögen.“ Damit schiebe ich das Telefon zurück in meine Hosentasche und ziehe ihre Hand, die sie gegen ihre Brust gedrückt hält, in meinen Schoß. So impulsiv bin ich seit Jahren nicht gewesen, und das ist verdammt tragisch angesichts der Tatsache, dass ich noch nicht mal einundzwanzig bin. Es ist für mich nichts Neues, mich älter zu fühlen, als ich bin. Und dass ich so früh Vater geworden bin, hat sein Übriges dazu beitragen.

Den Rest des Weges legen wir schweigend zurück, jeder von uns hängt eigenen Gedanken nach. Ich weiß, es ist engstirnig anzunehmen, dass es für Emma schwierig sein könnte, dass ich ein Kind habe. Aber genau aus diesem Grund verabrede ich mich nicht mit Mädchen und tue mich schwer damit, mich auf romantische Beziehungen einzulassen. Damit will ich nicht sagen, dass ich völlig enthaltsam lebe, auch wenn ich Emma vielleicht genau diesen Eindruck vermittelt habe. Und ich habe noch nicht den blassesten Schimmer, wie ich dieses Bild wieder geraderücken kann, ohne ein sehr peinliches Gespräch anzufangen – das kann auf jeden Fall warten.

Meine Schwestern haben mich immer wieder gedrängt, auszugehen und ein möglichst normales Leben zu führen, insbesondere Cassie. Obwohl Brynn mir vom Alter her nähersteht – sie ist nur vier Jahre älter als ich –, fühle ich mich Cassie trotz der sechs Jahre, die zwischen uns liegen, mehr verbunden. An sie habe ich mich immer gewandt, wenn es Konflikte mit anderen Schülern gab, was oft passierte. Ich war ziemlich ehrgeizig und gleichzeitig jünger als alle meine Klassenkameraden – eine Kombination, die schon explosiv genug war und noch dadurch verschärft wurde, dass ich ein Klugscheißer war und entsprechend wenige Freunde hatte. Cassie mit ihrer künstlerischen Ader hat besser verstanden, was in mir vorging, als unsere Eltern mit ihrer Professorendenkweise.

Nachdem ich mit knapp siebzehn Vater wurde, waren meine Schwestern in den Zwanzigern und haben mich nicht gerade um meine Rolle beneidet. Doch Cassie hat Cara einmal pro Woche über Nacht mit zu sich nach Hause genommen, damit ich wie ein normaler Teenager ausgehen konnte. Und sowie ich regelmäßig Filmangebote kriegte, hat sie abwechselnd mit meinen Eltern auf Cara aufgepasst.

Da der Alltag an der Columbia University viel unpersönlicher war als an meiner kleinen Highschool, konnte ich plötzlich ganz einfach einer von vielen Studenten sein. Und weil ich eben bei meinen Eltern wohnte und nicht auf dem Campus, hat es sich nie ergeben, jemand über Nacht mit zu mir zu nehmen. Wenn Cassie sich um Cara kümmerte, blieb ich bei Kommilitonen im Wohnheim oder in der Wohnung von Freunden, die meistens wenig von mir wussten. Oder ich verbrachte die Nacht mit Mädchen, die nie mehr von mir kannten als meinen Namen und meinen Studiengang und manchmal nicht mal das.

„Worüber denkst du nach?“, fragt Emma. Vielleicht hat sie ein bisschen Angst davor, meine Schwester zu treffen, während ich darüber nachgrübele, ob sie damit klarkommen wird, dass ich ein Kind habe. Dabei ist es für diese Überlegung noch viel zu früh.

„Hmm? Ach, nichts Besonderes.“ Ich lasse ihre Hand los, lege meinen Arm um ihre Schulter und ziehe Emma an mich. „Nur zu deiner Info, Cassie mag dich jetzt schon.“ Ihr Gesichtsausdruck wird noch ängstlicher statt entspannter. Oh, oh. „Äh, während der Dreharbeiten habe ich ihr mal von dir erzählt.“ Es ist besser, nicht zu erwähnen, dass es häufiger als einmal war, schätze ich.

„Und warum mag sie mich dann? Müsste sie nicht eigentlich dir zuliebe sauer auf mich sein?“

Ich lache. Wenn sie Cassie kennenlernt, wird sie es verstehen. „Nein. Für neunzig Prozent dessen, was letztendlich passiert ist, hat sie mich verantwortlich gemacht, und für die letzten zehn Prozent Reid.“

„Oh“, erwidert Emma, und ich muss sie einfach küssen.

„Wir sind da“, erkläre ich, nachdem ich mich bedauernd von ihren Lippen gelöst und es geschafft habe, sie ein paar Minuten abzulenken. Es gibt Gründe dafür, dass ich normalerweise nicht so impulsiv bin, und einer davon ist, dass es mir einfach nicht liegt. Das Einzige, was ich im Kopf hatte, während wir in die U-Bahn gestiegen sind, waren die Wärme und die wundervolle Aussicht, die nur noch vom Ausblick auf der Rückfahrt geschlagen werden kann. Die Idee, Cassie zu besuchen, war völlig spontan. Jetzt, wenn ich noch einmal darüber nachdenke, erscheint es mir weniger spontan als vielmehr komplett verrückt, knapp zwei Stunden nachdem Emma und ich geklärt haben, wie wir zueinander stehen, bei meiner Schwester aufzutauchen. Mist.

Emma

Ich kann es nicht fassen, dass Graham mich so früh an einem Samstagmorgen zu seiner Schwester mitnimmt. Ein paar Minuten nachdem wir aus dem Zug gestiegen sind, sind wir vor ihrem Haus. Zumindest hatte auch meine Angst nicht genug Zeit, groß genug zu werden, dass sie mich umhauen könnte.

Graham drückt einen Knopf auf der Gegensprechanlage, und sofort ist eine Frauenstimme zu hören. „Wer, zur Hölle, klingelt mich um sieben Uhr morgens raus?“, scherzt sie.

„Hey, Cas“, erwidert Graham lächelnd.

„Graham, du bist schon immer eine Nervensäge gewesen. Das weißt du, oder?“ Die Sprechanlage summt, als Cassie die Tür für uns aufmacht.

„Das erzählst du mir seit ungefähr zwanzig Jahren“, entgegnet er, zieht die schwere Metalltür auf und lässt mich in einen kleinen Eingangsbereich eintreten. Auf der einen Seite hängen unzählige Briefkästen, auf der anderen befindet sich ein Lift. Nachdem Graham den Knopf bedient hat, öffnet sich die Tür so träge, als müsste sich jemand abmühen, sie mit der Hand aufzuschieben. „Sie wohnt im zweiten Stock.“

Der Ausdruck seiner dunklen Augen verrät mir, dass er für die Fahrt nach oben etwas ganz Bestimmtes im Sinn hat. Doch während die Tür sich schließt, greift er nur nach meiner Hand und starrt mal auf das Karomuster des alten Fußbodenbelags, mal auf die extrem langsam wechselnde Stockwerksanzeige. Als der klaustrophobisch enge Kasten endlich hält, drückt er meine Hand und gibt mir einen hastigen Kuss.

Wir treten in einen kleinen Vorflur, und Graham klopft leise an eine der beiden Wohnungstüren. Unzählige Riegel werden aufgeschoben, und mir wird ganz flau. Doch da wird die Tür von einer lächelnden, weiblichen Version von Graham aufgemacht. Sie hat eine Jogginghose an und hält ein Baby im Arm. „Nimm mal“, meint sie zu Graham und gibt ihm wie selbstverständlich das Kind. Dann streckt sie die Hand aus. „Ich bin Cassie. Du musst Emma sein.“ Als ich ihre Hand ergreife, führt sie mich freundlich hinter Graham in das geräumige Apartment. Er ist inzwischen auf dem Weg ins Wohnzimmer und redet währenddessen in einem ganz normalen Ton mit dem Baby, als wenn es ein sehr kleiner Mensch wäre und kein Säugling.

„Ja“, schaffe ich herauszubringen.

„Graham, ich weiß, dass du einen Kaffee möchtest“, sagt Cassie und durchquert den Raum, um zur offenen Küche am anderen Ende zu gelangen. „Emma? Kaffee?“

„Gern“, erwidere ich und folge ihr, nachdem ich einen kurzen Blick mit Graham gewechselt habe. Er lächelt mir zu und sieht mich ebenso eindringlich an wie ich ihn. Dieses Gefühl, dass wir tatsächlich jetzt zusammengehören, ist surreal. Nichts an ihm stellt noch eine Art verbotene Zone für mich dar – von seinen vollen Lippen über die breiten Schultern bis zu den Fingern, mit denen er das Baby in der Armbeuge leicht kitzelt.

Plötzlich geht mir das alles zu schnell, doch bevor ich in Panik ausbrechen kann, vibriert mein Handy in der vorderen Hosentasche. Als ich kurz aufschreie und herumkrame, blickt Cassie sich um und zieht eine Augenbraue hoch. Endlich habe ich es herausgeholt, und ich schaue in das lächelnde Gesicht meines Vaters auf dem Display.

„Hi, Dad.“ Ich hatte ihm eine Nachricht hinterlassen, dass ich mich mit Graham im Café unten in der Lobby treffen wollte.

„Emma, wo bist du?“ Er ist nicht außer sich, aber auch nicht gerade ruhig.

„Hast du meine Nachricht nicht gefunden? Unter deiner Brille?“

„Doch. Und ich bin im Café – wo du, ganz nebenbei, nicht bist.“

Oh. „Hm, Graham und ich hatten beschlossen, ein bisschen spazieren zu gehen, und dann sind wir in die U-Bahn gestiegen, weil es draußen so kalt war. Und jetzt sind wir in Brooklyn.“

„Brooklyn?“, schreit er mit durchdringender Stimme. Graham und Cassie schauen beide auf mein Handy und tauschen dann quer durch den Raum einen Blick.

„Wir sind im Apartment seiner Schwester“, erkläre ich und schenke Cassie ein Lächeln, das, wie ich hoffe, beruhigend wirkt. „Auf einen Kaffee.“

Mein Dad bemüht sich, weniger harsch zu klingen. „Emma, unser Flug geht um zwölf …“

„Ich weiß, Dad.“

„Aber …“ Er seufzt, und ich stelle mir vor, dass er mit der Hand über sein Gesicht streicht, wie er es immer tut, wenn er genervt ist. In den vergangenen sechs Monaten sind wir uns nähergekommen, aber er hat in den letzten Jahren seine Chance verpasst, ein überfürsorglicher Vater zu sein, und das ist ihm auch vollends klar. „Wann kommst du zurück?“

„Wann willst du denn zum Flughafen aufbrechen?“, erkundige ich mich.

„Um halb zehn?“

Gestern Abend und letzten Monat und vergangenen Herbst habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als dass Graham mir sagen würde, wie sehr er mich will. Jetzt hat er es getan. Plötzlich wird mir bewusst, dass wir uns in weniger als zwei Stunden trennen müssen, und die ganze Sache wirkt auf einmal verworren und kompliziert.

„Emma?“

„Ja, Dad, entschuldige. Ich bin gleich da und packe meine Sachen.“ Als mir bewusst wird, dass es vielleicht über vier Wochen dauern könnte, bis ich Graham wiedersehe, ist meine Kehle wie zugeschnürt.

„Ist alles in Ordnung?“

„Mmm-hmm.“

Erneut seufzt er. „Lass uns später reden, Süße. Ich habe verstanden, dass du jetzt nicht sprechen kannst.“

„Danke, Dad. Ich komme bald.“

Cassie ist Cellistin bei den New York Symphonikern. Im Moment allerdings setzt sie aus, um sich ganz um ihr Kind kümmern zu können. „Schließlich konnte ich nicht zulassen, vor meinem Bruder eine schlechte Figur als Mutter zu machen“, erklärt sie grinsend und beobachtet Graham dabei, wie er Grimassen für das Baby schneidet. Es heißt Caleb, weiß ich mittlerweile.

Sie deutet auf einen Barhocker und geht auf die andere Seite des mit einer Marmorplatte ausgestatteten Küchentresens. Ich schaue mich in der Wohnung um. Holzschnitzereien, Metallskulpturen, Gemälde, Kunstdrucke und Lautsprecherboxen hängen neben zwei Fahrrädern an den unverputzten Wänden. Die Seiten der durchgehenden Fensterfront werden flankiert von einem Bass und einem Cello, und in den deckenhohen Regalen stehen unzählige Bücher und Fotos. Die gesamte Einrichtung strahlt eine lockere und gemütliche Atmosphäre aus.

Meine Stiefmutter Chloe würde die Wohnung hassen. Ich liebe sie.

„Was führt dich nach New York, Emma?“, erkundigt sich Cassie, während sie Kaffee in drei Becher füllt.

„Ich gucke mir gerade mit meinem Dad Colleges an.“

Sie lässt den Blick durch den Raum wandern, dann sieht sie mich an und lächelt. „Tatsächlich? Dann ziehst du im Herbst hierher?“ Als ich nicke, wird ihr Lächeln noch breiter. „Ich bin sicher, dass mein Bruder darüber ziemlich glücklich ist.“

Ich frage mich, was genau Graham seiner Schwester über mich erzählt hat. Als hätte ich meinen Gedanken laut ausgesprochen, stützt sie sich auf die Ellbogen, beugt sich vor und senkt ihre Stimme. „Er mag dich sehr, weißt du.“ Meine Wangen fangen an zu glühen, doch sie scheint es nicht zu bemerken. „Ich will mich nicht einmischen, aber er ist so verdammt zurückhaltend, und wenn nicht wenigstens einer von euch etwas mutig ist, dann könnte das Ganze sich zu einer riesigen verpassten Chance entwickeln.“

Ich räuspere mich. „Wir haben, ähm, uns heute Morgen schon über ein paar Sachen unterhalten“, erkläre ich.

Grinsend schlägt sie mit der Hand auf den Küchentisch. „Gott sei Dank. Das wurde auch Zeit.“

„Was wurde Zeit?“, fragt Graham direkt hinter mir, bevor er sich neben mich auf den Hocker setzt.

Cassie zieht die Augenbrauen hoch und bedenkt ihn mit einem amüsierten Blick. „Wenn wir dich in das Gespräch hätten einbeziehen wollen, dann hätten wir lauter gesprochen.“

Er lacht, und Caleb fällt mit einem gurrenden Geräusch ein. „Na gut. Ich werde es später schon aus Emma herauskriegen.“

3. KAPITEL

Graham

Auf der Rückfahrt ist Emma sehr schweigsam. Eigentlich wir beide. Nach all dem Hin und Her dreht sich in meinem Kopf jetzt alles nur noch um eins: die 2.500 Meilen, die in den kommenden Monaten zwischen uns liegen werden. Bis zu meinem Abschluss habe ich noch drei Wochen Vorlesungen. Und in der Woche darauf ist die Premiere von School Pride in L. A. mit all dem Wirbel um den roten Teppich, Partys mit den Schauspielern – der übliche Hollywoodzirkus. Im Hochsommer fange ich mit den Dreharbeiten zu meinem nächsten Film hier in New York an. Es ist ein Independent-Streifen, der nicht viel kosten darf. Das bedeutet eine schnelle und billige Produktion mit langen Drehtagen, die keine Zeit lassen für einen Wochenendflug nach L. A.

Cassie hat uns Hoodies geliehen, sodass wir uns nicht mehr aneinanderkuscheln müssen, um uns zu wärmen. Doch ich halte Emmas Hand, verschränke meine Finger mit ihren, und sie presst ihren Schenkel an meinen und legt den Kopf auf meine Schulter. Seufzend genießt sie den Blick auf die Manhattan Bridge, der mich stets davon abgehalten hat, irgendwo anders leben zu wollen als in New York. Auf die Entfernung wirken die Fenster der Hochhäuser wie Tausende winzige Spiegel. Die Silhouette wird von der Sonne angestrahlt und sieht aus wie ein Wasserfall, in dessen Tropfen sich das Licht bricht. Ich wünschte, ich könnte einfach auf die Wiederholungstaste drücken und diese fünf Minuten noch einmal erleben. Das könnte reichen, um mir über einen gewissen Zeitraum hinwegzuhelfen. Doch schon erreichen wir die andere Seite und fahren unterirdisch weiter, und die Neonbeleuchtung taucht alles in einen kränklichen grünen Schimmer.

Es ist nicht mehr ganz so früh, und außerdem haben wir die Kapuzenpullis, deshalb wird uns jetzt nicht mehr so kalt sein, wenn wir draußen herumlaufen. Selbst morgens gibt es in SoHo unglaublich viel zu sehen. Wir bummeln an Galerien mit großen Schaufenstern und an kleinen Läden vorbei, bahnen uns den Weg um die Straßenhändler herum, die ihre Waren für den Tag aufbauen und die Ränder der Gehwege bevölkern, auf denen in ein oder zwei Stunden Massen an Passanten vorbeilaufen werden. Emma und ich gehen ohne einen Blick vorbei, als wohnten wir hier und wollten uns nur gerade etwas zum Frühstück besorgen. Und mir wird erschreckend bewusst, dass ich genau das am liebsten schon mit ihr tun würde. Ich möchte mit ihr zusammen sein, dass sie Teil meines Lebens ist, ebenso wie ich zu ihrem gehören will.

Plötzlich muss ich an ein Gespräch mit Cassie denken. Damals hatten Zoe und ich uns gerade getrennt. „Ich weiß nicht, was Mädchen wollen“, hatte ich zu Cassie gesagt. Meine Erfahrung war: Sie benahmen sich so, als wollten sie unbedingt, dass man ihnen die unsterbliche Liebe versprach, und sobald sie dieses Versprechen hatten, verhielten sie sich so, als wäre es selbstverständlich. Oder sie warfen dir vor, du seist zu anhänglich, zu wenig unabhängig, zu unsicher – alles Worte, die Zoe mir in der Woche an den Kopf geworfen hatte, ehe sie mit mir Schluss gemacht hatte.

„Mädchen erwarten, dass man sie für immer und ewig liebt, und sie beteuern, dass sie das Gleiche empfinden. Was sie damit meinen, ist allerdings: nur, bis ich von dir gelangweilt bin.“ Ich war auf dem besten Wege, ein verbitterter sechzehnjähriger Junge zu werden.

Cassie war zweiundzwanzig und hatte schon ihre Erfahrungen mit Beziehungen gesammelt. Zu dieser Zeit kannte sie Doug noch nicht, und es würde auch noch drei Jahre dauern und eine weitere missglückte Partnerschaft. Wir saßen am Küchentisch des Apartments, das sie sich mit zwei Mitbewohnerinnen teilte. Vom Fenster aus schaute man in einen Innenhof mit verdorrtem Gras und Schotter. Außerdem hatte man einen Ausblick auf das Nachbarhaus, das ähnlich baufällig war. Vom Himmel war nicht das winzigste Stück zu sehen.

„Graham, nicht alle Mädchen sind so“, beteuerte Cassie.

„Hmm“, erwiderte ich nur, hin- und hergerissen zwischen Zweifel und Hoffnung, und trank einen Schluck aus der Limodose, die sie mir gereicht hatte, nachdem ich mich hingesetzt hatte. Sie griff nach meiner Hand. Ich weiß, dass sie das Bedürfnis hatte, die Dinge für mich zu regeln. Doch sie war ebenso wenig in der Lage wie ich, das, was passiert war, ungeschehen zu machen. Die Kombination von ihrem Mitleid und dem Gedanken an Zoe brannte in meiner Kehle. Ich riss meine Hand los und starrte aus dem Fenster auf den trostlosen Hof. Ich wollte nicht wieder anfangen, wegen Zoe zu weinen. Lieber wollte ich wütend sein. Es war so viel einfacher, mit Zorn klarzukommen als mit Trauer.

Cassie seufzte. „Irgendwann wirst du ein Mädchen kennenlernen, das mit deiner bedingungslosen Art zu lieben umgehen kann. Eines, das sich davon nicht einschüchtern lässt – denn genau das ist es. Zoe kann nicht so tief für irgendjemanden oder irgendetwas empfinden. Sie ist oberflächlich und egozentrisch. Und sie hat die Chance, einen wundervollen Mann zu lieben, in den Wind geschlagen.“

Natürlich hatte ich ihr nicht geglaubt, ein solches Mädchen zu finden – überhaupt jemand anders als Zoe zu finden.

Selbst gestern Abend, als Emma mich geküsst hat und ich alles, was ich mir mit ihr erträumt hatte, deutlich vor mir sah, habe ich es noch nicht wirklich geglaubt.

Jetzt stelle ich mir vor, wie wir – allein oder mit Cara zwischen uns – diese Straßen zusammen entlangschlendern. Vor meinem geistigen Auge entsteht das Bild, wie Emma in meinem Bett schläft. Oder wie sie mich in der vorlesungsfreien Zeit zu den Dreharbeiten begleitet. Und auf einmal beschleunigt sich der Film in meinem Kopf, und ich beobachte sie, wie sie auf einer Bühne steht und ihr Diplom entgegennimmt. Mich selbst, wie ich ihr einen Ring an den Finger stecke, ihr verspreche, sie für immer zu lieben, und einen Schleier hochhebe, um sie zu küssen.

Wenn sie mir nicht gestern Nacht um zwei diese Nachricht geschickt hätte, dann hätte ich sie wahrscheinlich gehen lassen. Möglicherweise hätte ich mir nie meine Gefühle für sie eingestanden. Ich hatte solche Furcht davor, zu viel zu erwarten, dass ich ihr nie genug vertraut habe, um wirklich zu denken, ich könnte es bekommen. Nie wieder will ich so ängstlich sein.

Wir haben beide die jeweils freie Hand in die Tasche unserer Hoodies gesteckt. In meiner rechten halte ich Emmas linke Hand, tief in meiner Tasche geborgen. Schließlich landen wir auf einer Bank vor ihrem Hotel. Die Minuten verfliegen, und es gibt nichts mehr zu tun, als sie verstreichen zu lassen, bis Emma fort ist.

„Was passiert jetzt?“, erkundigt sie sich, während ich gerade von ihr wissen will, ob es in Ordnung gewesen ist, dass ich sie zu Cassie mitgenommen habe. Zu viel? Zu schnell?

Hastig schlucke ich meine Frage hinunter und beantworte ihre. „Nun, wir werden unsere freien Gesprächsminuten ganz schnell abtelefoniert haben, uns Nachrichten schreiben und skypen. In knapp fünf Wochen bin ich dann in L. A. Genauso wie du.“ Dann wird mir klar, dass ich gar nicht weiß, ob sie jetzt, in dieser Sekunde, meint oder jetzt, an diesem Punkt unserer gerade begonnenen Beziehung. Unschlüssig nagt sie an ihrer Unterlippe. „Falls du nur meintest ‚Was tun wir in der nächsten halben Stunde?‘, stell es bitte nicht richtig, denn dann fühle ich mich wie ein Idiot“, werfe ich ein.

Sie lacht. „Nein, dein Plan für die nächsten fünf Wochen gefällt mir.“

Wie wäre es mit einem Fünfjahresplan? schießt es mir durch den Kopf. Doch statt es laut auszusprechen, umfasse ich ihr Gesicht mit beiden Händen und küsse sie.

Emma

Dad schläft während des Fluges. Ich versuche zu lesen, doch ich kann mich nicht konzentrieren. Deshalb höre ich auf, denselben Abschnitt so oft zu lesen, dass es schon lächerlich ist. Stattdessen starre ich gedankenverloren in den blauen Himmel. Die Wattewölkchen unter uns ziehen in immer wieder neuen Formationen vorbei. Die Lücken dazwischen geben den Blick frei auf unendliche Meilen unbewohnter Landschaft, kleine Orte und größere Städte, die auftauchen und wieder verschwinden, bevor ich überhaupt anfangen kann zu überlegen, wo wir gerade sein mögen.

Jede Meile bringt mich weiter fort von Graham.

Und mit jeder weiteren Meile zweifle ich mehr, dass das, was zwischen uns geschehen ist, Realität ist. Es erscheint mir alles wie ein Traum. Alles. Ich habe versucht, Dad zu erklären, was geschehen ist – eine elterntaugliche Version, versteht sich. Dass Graham gestern Abend ins Hotel gekommen ist, habe ich nicht erzählt. Ebenso wenig, dass ich ihm um zwei Uhr nachts noch eine Nachricht geschickt habe. Aber er weiß, dass irgendwas vor sich geht und mehr dahintersteckt als ein Frühstückstreffen mit einem Freund. Er hat mir eine ganze Reihe von Seitenblicken zugeworfen, auch wenn ich das vielleicht nicht bemerken sollte. Er hat erkannt, wie wichtig Graham plötzlich für mich ist. Dabei weiß ich ja nicht mal, wie ich mir das selbst erklären soll. Meiner Gefühle bin ich mir sicher. Doch ich habe keine Ahnung, wie ich das jemand anderem so vermitteln kann, dass es sich für ihn genauso vernünftig anhört, wie ich es empfinde.

Immer und immer wieder denke ich darüber nach. Keiner von uns hat die Worte ausgesprochen, aber sie hingen über uns wie diese Gedankenblasen in einem Comic: Ich liebe dich. Es verwirrt mich, dass mir dieser Satz viel zu früh scheint und gleichzeitig längst überfällig.

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