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Das Flüstern der Magnolien

Als Buch hier erhältlich:

Binden will Julia Presley sich aus gutem Grund nicht mehr. In ihrem Leben dreht sich alles um ihre Pension am Ende der Magnolienallee - bis ihr eines Tages ein Fremder seine Hilfe bei den Sanierungsarbeiten anbietet. Dass Eli Donovan ebenso wie sie dunkle Geheimnisse hat, spürt Julia schnell. Doch es braucht erst einen staubigen Stapel alter Liebesbriefe aus der Zeit des Bürgerkriegs, damit sie versteht: Die Zeit der Zärtlichkeit und die Chance auf ein glückliches Familienleben verjähren nie.

"Eine wunderbare, großherzige und unvergessliche Geschichte." RaeAnne Thayne New York Times-Bestsellerautorin

"Zwei Zeitebenen, ein großartiger Plot und ein hochemotionaler Lesegenuss!" Romantic Times Book Reviews


  • Erscheinungstag: 10.05.2016
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959679749
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Linda Goodnight

Das Flüstern der Magnolien

Roman

Aus dem Amerikanischen von Christel Kröning

HarperCollins®

HarperCollins® Bücher

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by HarperCollins

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

The Memory House

Copyright © 2015 by Linda Goodnight

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.ár.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold & partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: büro pecher, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: Getty Images, München / VisionsofAmerica /

Joe Sohm / photo division

ISBN eBook 978-3-95967-974-9

www.harpercollins.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

„Des Mannes Vater ist das Kind.“

William Wordsworth

Nashville, Tennessee

Heute

Freiheit war auf ihre eigene Art ein Gefängnis.

So dachte Eli Donovan, während er sich eingetrockneten Mörtel vom Ellbogen kratzte und zusah, wie der nur allzu vertraute bronzefarbene Buick auf die Baustelle zufuhr. Mit einem Ziehen in der Magengegend ließ er die Maurerkelle zu Boden fallen und straffte die Schultern. Was hatte er jetzt wieder falsch gemacht?

Ein Mann stieg aus dem Buick, rückte sich die blaue Krawatte zurecht und guckte mit zusammengekniffenen Augen zum Rohbau hinüber. Als er Eli entdeckt hatte, erwiderte dieser den Blick nur kurz und sah schnell nach unten. Früher hatte er es mit jedem im Wettstarren aufgenommen, doch harte Zeiten und sein zunehmendes Alter hatten ihn verändert. Er wollte nicht mehr kämpfen. Schon gar nicht mit seinem Bewährungshelfer.

Vorbei an kreuz und quer liegenden Holzlatten und Bauschutt überquerte Eli wortlos den frühlingsgrünen Rasen. Die Arroganz und den Stolz von früher hatte er hinter sich gelassen, doch das nervöse Flattern im Magen plagte ihn dafür umso mehr.

Mr. Clifford sprach als Erster und durchbrach damit das Schweigen. „Eli! Wie läuft’s?“

„Gut.“ Er blieb einen halben Meter vor dem Bewährungshelfer stehen und bemerkte den leichten Schweißfilm auf der Halbglatze des Mittvierzigers. Ängstlich darauf bedacht, sich nicht selbst ein Bein zu stellen, wartete er auf Cliffords Anliegen.

„Ich habe heute Morgen einen Anruf bekommen.“

Eli schwieg weiterhin, da er nicht wusste, was er darauf antworten oder fragen sollte. Wenn ihm etwas Falsches herausrutschte, bekam Clifford womöglich einen schlechten Eindruck oder stellte Fragen, auf die Eli keine Antworten hatte. Immer diese Fragen.

Der Bewährungshelfer zog einen Zettel aus der Tasche und hielt ihn Eli vor die Nase. „Eine Frau namens Opal Kimble hat Sie über die Gefängnisdirektion ausfindig gemacht. Sie will mit Ihnen sprechen. Es wär was Dringendes. Hat den Namen Mindy erwähnt.“

Eli starrte auf das gelbe Post-it, Panik erfasste ihn. Nervös fuhr er sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und schmeckte Mörtel. „Mindy?“

„Gibt es etwas, das ich wissen müsste? Wenn Sie da in irgendwas verwickelt sind …“

Eli unterbrach ihn. „Nein, bin ich nicht. Mindy ist eine alte Freundin. Hat Opal noch etwas gesagt?“

„Nein, sie hat nur diese Nummer hinterlassen und darauf bestanden, dass ich Ihnen sofort Bescheid gebe. Da geht es doch bestimmt um was Wichtiges.“

„Glaub nicht.“ Mindy war eine gute Seele. Sie machte sich wahrscheinlich einfach Sorgen und wollte wissen, ob es ihm gut ging. Er weigerte sich, das Naheliegendste zu vermuten. Ganz sicher war es besser für sie, dass er sich nicht mehr gemeldet hatte.

„Einen Freund könnten Sie gerade gut brauchen.“

Der Kommentar brachte Eli aus dem Konzept. In den ganzen sechs Monaten, die er Pete Clifford nun kannte, hatte dieser ihm nichts als Misstrauen entgegengebracht, so als könne er es gar nicht abwarten, dass der Exknacki endlich wieder aus der Reihe tanzte und in das stinkende Rattenloch zurückmusste.

„Ich komme klar.“

„Haben Sie mittlerweile ein Handy?“

„Nein.“

Clifford nahm seines aus der Gürteltasche und hielt es ihm hin. „Rufen Sie sie an.“

Eli überlegte nur kurz, bevor er es nahm. Brachte ja nichts, den Mann zu verärgern. Rief er halt kurz diese alte Frau an und fand heraus, was sie wollte. Umso eher konnte er wieder an die Arbeit gehen. Er brauchte den Lohn.

Einen Moment lang wog er das schicke Handy in der Handfläche. Viel hatte sich seit früher verändert. Die Technik schreitet voran, so sagte man doch. Und die Eingesperrten kamen nicht hinterher.

Eli wählte die Nummer und war froh, als Clifford sich umwandte und zurück zu seinem Auto ging. „Telefonieren Sie in Ruhe.“

„Danke.“ Das Wort schabte wie Kies auf Elis Zunge, doch er war wirklich dankbar. Freundlichkeit nahm er nicht als selbstverständlich hin.

Am anderen Ende der Leitung ertönte eine weibliche Stimme, die weitaus kräftiger war, als er es von der laut Mindy uralten Tante erwartet hatte.

„Miss Kimble? Hier ist Eli Donovan.“

„Wird auch langsam Zeit, dass Sie anrufen, Jungchen.“

Ihr strenger Tonfall ließ ihn automatisch Haltung annehmen, doch er sagte erst einmal gar nichts. Im Knast hatte er sich angewöhnt, sich in schwierigen Situationen auf etwas anderes zu konzentrieren, also ließ er sie reden und hörte nur mit halbem Ohr zu. Sein Blick fiel auf zwei Hüttensänger, die ganz in der Nähe turtelnd auf und ab flogen. Obwohl es sich steif und ungewohnt anfühlte, musste er ein wenig lächeln. Seit seiner Entlassung war er ganz fasziniert von der Natur. Ein Sonnenaufgang, ein vorbeiflatternder Schmetterling, ein Hund, der am Autoreifen schnupperte. Die Natur brachte Ordnung in seine aufgewühlte Seele, verschaffte ihr Frieden. Tief in Elend und Selbstmitleid versunken, hatte er diese einfachen, einst selbstverständlichen Gaben schon ganz vergessen.

Etwas in Opals Redeschwall ließ ihn aufhorchen und er klinkte sich kurz ein. „Was sagten Sie gerade?“

„Ich sagte, Mindy hat Ihnen hier ein paar Sachen hinterlassen, die Sie abholen sollen.“

Er zog die Brauen zusammen und blickte zum Horizont, wo eine einzelne graue Wolke Ärger zu versprechen schien. „Hinterlassen? Ist sie denn weggegangen?“

Einen Pulsschlag lang herrschte eine Stille am anderen Ende der Leitung, die ihm den Knoten in der Brust noch enger zusammenzog.

Als Opal weitersprach, war ihre Stimme sanfter. „Ich dachte, Sie wüssten es. Mindy ist fort.“

„Fort, wohin?“ Nicht, dass er ihr folgen oder Kontakt aufnehmen würde, aber die Frau verwirrte ihn.

„Fort für immer, Eli“, antwortete Opal mit brüchiger Stimme. „Mindy ist tot.“

2. KAPITEL

Peach Orchard Inn

Heute

Ganz bestimmt hatte sie ihm an jenem letzten Morgen zum Abschied einen Kuss gegeben. Hatte sie doch, oder? Das war schließlich fester Bestandteil der Routine gewesen. Ihm den Rucksack aufsetzen, die Lunchbox in die Hand drücken und ihm noch schnell einen Kuss geben, bevor er zum Bus rannte. Und dann zusehen, wie er einstieg. So hatte sie es immer gemacht, trotzdem stellte sie sich später wieder und wieder die gleichen Fragen: Was, wenn sie ihn selbst zur Schule gefahren oder ihn zu Hause behalten hätte, denn war er nicht noch ganz verschlafen gewesen an jenem letzten wundervollen, schrecklichen Morgen?

Sechs Jahre waren seitdem vergangen, doch das Entsetzen und der Schmerz hielten immer noch an. Es war die Ungewissheit, die Julia Presley langsam, aber sicher in den Wahnsinn trieb. In Momenten, in denen sie einsam war, besonders kurz vor dem Einschlafen oder wie jetzt beim Aufwachen, stürzten die Gedanken mit gnadenloser Wucht auf sie ein und ließen sich unmöglich abwehren. Und das, obwohl sie mittlerweile außerordentlich geübt darin war.

Die meisten Tage überlebte sie irgendwie und manchmal ging es ihr sogar gut. Aber Tage wie heute waren die schlimmsten. Michaels Geburtstag. Er war noch am Leben. Das musste sie einfach glauben. Sich dann allerdings auch fragen zu müssen, bei wem er war und was passiert war oder noch passierte, war kaum zu ertragen. Und doch ertrug sie es, denn was blieb ihr anderes übrig? Irgendwann würde irgendjemand ihn irgendwo in der Menge erkennen oder er würde endlich von seinen Entführern freigelassen und könnte nach Hause kommen. Solche Wunder gab es ja tatsächlich und diese verschwundenen und dann doch wiedergefundenen Kinder gaben Julia Hoffnung.

Heute wurde er vierzehn Jahre alt, war schon lange nicht mehr der kleine Junge mit den großen Augen, der Baden hasste und Matschpfützen liebte. War er jetzt hochgewachsen und drahtig wie sein Vater? Und bräche es ihm nicht das Herz, wenn er wüsste, dass die Beziehung seiner Eltern nicht einmal ein Jahr nach seinem Verschwinden in die Brüche gegangen war? Dass er derjenige gewesen war, der ihre zerrüttete Ehe zusammengehalten hatte, und dass sie einander nicht hatten trösten können? Stattdessen hatten sie eine Schuld bei sich gesucht, wo keine zu finden war. Eine dumme Reaktion auf so ein abscheuliches Verbrechen. Schuldig war schließlich einzig und allein jenes böse Wesen, das einen fröhlichen kleinen Jungen aus einer friedlichen Stadt entführt hatte, in der nie etwas Schlimmes geschah. Und doch fühlte Julia sich verantwortlich. Als Mutter war es ihre wesentliche Pflicht, ihr Kind zu begleiten und zu beschützen, und genau dabei hatte sie versagt.

Sie quälte sich unter ihrer blassblauen Bettdecke hervor und griff als Erstes nach dem iPad auf ihrem Nachttisch. Mit einem Klick rief sie die Facebook-Seite auf, von der ihr Mikeys fröhliches achtjähriges Gesicht entgegenstrahlte, daneben ein computergeneriertes Foto von ihm als Teenager. Sah er inzwischen tatsächlich so aus?

Sie ging die neuesten Kommentare durch, warf einen Blick auf die paar Geburtstagsglückwünsche und schloss seufzend die Seite. Nichts Neues. Niemand hatte ihn gesehen. Wie bisher an jedem Tag, seit sie diese Seite mit der Unterstützung einer Selbsthilfegruppe ins Leben gerufen hatte. Mit anderen Müttern, die darauf warteten, dass ihr Kind nach Hause kam. Julia beteiligte sich fast nie an den müßigen Forumsdiskussionen. Sie deprimierten sie und in diesen dunklen Tunnel konnte sie weiß Gott nicht noch einmal hinuntersteigen.

Sie atmete tief durch und bat inständig um die Kraft für einen weiteren Tag, dann zog sie sich an und verdeckte die dunklen halbmondförmigen Schatten unter ihren Augen mit Make-up. Obwohl es noch nicht einmal dämmerte, musste sie jetzt in die Gänge kommen. Sie hatte Frühstück vorzubereiten, Gäste zu bedienen und unzählige andere Aufgaben zu erledigen. Stete Beschäftigung war wichtig, war ihre Therapie. Kochtherapie – so nannte sie ihr besessenes Treiben in der Küche. Wenn sie tagsüber bis zur Erschöpfung arbeitete, konnte sie nachts schlafen, ohne dass die beklemmenden Albträume sie heimsuchten.

Seit vier Jahren war sie jeden Tag aufs Neue dankbar dafür, dass sie, ohne lange zu überlegen, das Peach Orchard Inn gekauft hatte, eine große alte Kuriosität von einer Südstaatenvilla, die mittlerweile eine Frühstückspension war. Dieses zweistöckige Gebäude, das einen Bürgerkrieg und die nachfolgenden eineinhalb Jahrhunderte überstanden hatte, strahlte etwas Wohlwollendes aus. An dem Tag, als Valery sie hier rausgeschleppt hatte, „nur um mal zu gucken“, hatte das Haus ihr sofort Geborgenheit vermittelt – sie sofort in eine warme Umarmung gehüllt. Obwohl alles von Spinnweben und Staub bedeckt gewesen war, hatte ihr Herz einen Sprung gemacht. Zum ersten Mal seit Monaten – seit Jahren – hatte sie etwas anderes gefühlt als Verzweiflung. Dieses herrliche alte Bed and Breakfast hatte sie buchstäblich gerettet. Sie hatte noch immer nicht ganz verstanden, wie, aber es war so.

An ihrem alten Haus in der Sage Street – Mikeys Zuhause – hatte sie zu lange festgehalten, aus Furcht, ihr Sohn könnte zurückkehren und sie wäre nicht da, doch sie ging dort zugrunde. Sie war deprimiert, morgens kaum in der Lage aufzustehen, und tat es an manchen Tagen auch nicht. Da sie nicht wollte, dass ihr Sohn irgendwann nur noch zu einer toten Mutter würde zurückkehren können, und weil ihre Familie sie gedrängt hatte, hatte Julia das moderne Backsteinhaus verkauft und war in ein Stück Geschichte gezogen, das dringend restauriert werden musste. In dieser Hinsicht glichen sie einander, sie und ihr Haus.

Jeder in Honey Ridge wusste von Mikeys Verschwinden, aber als echte Südstaatler sprachen die meisten darüber nur untereinander, nie mit ihr. Man ließ sie in Ruhe und tat genau wie Julias Familie so, als wäre sie eine ganz normale geschiedene Geschäftsfrau, die eine Pension führte und sehr an der Vergangenheit hing – an ihrer eigenen und an der dieser Vorkriegsvilla.

Sie steckte in der Vergangenheit fest, in der fernen und in der nahen. Sie steckte fest. Seit sechs Jahren Standbild, in Warteposition, unfähig, sich zu bewegen, und nicht bereit, den schwachen Funken Hoffnung aufzugeben, dass sie eines Tages aufwachen und Mikeys Verschwinden nichts als ein Albtraum gewesen sein würde.

Bingo, ihr alternder Australian Shepherd, erhob sich von seinem Platz auf dem Vorleger am Fußende ihres Bettes. Als Julia innehielt und ihm kurz über den schwarzgrau gescheckten Kopf strich, entdeckte sie dort, wo er geschlafen hatte, einen Gegenstand auf dem Boden. Erst dachte sie, es wäre ein Stein, und bückte sich danach, um dann verdutzt festzustellen, dass es sich um ein weiteres der kleinen runden Kinderspielzeuge handelte. Eine Murmel, rötlich braun, aber keine von den normalen modernen. Diese hier war aus Ton, eine handgemachte Antiquität wie die anderen, die sie im Haus gefunden hatte.

„Ist die von dir, Bingo?“ Er brachte ihr immer mal wieder kleine Geschenke mit. „Auf jeden Fall besser als die tote Schlange letztens.“

Nachdenklich rollte sie das kleine Kinderspielzeug auf ihrer Handfläche hin und her. Sie und Valery hatten im Laufe der Restaurierung schon einige interessante historische Gegenstände gefunden, die dem alten Gebäude je eine weitere Schicht Geheimnis und Geschichte hinzufügten. Aber die Murmeln waren etwas anderes. Sie tauchten völlig zufällig auf, fast immer dort, wo sie gerade erst geputzt hatte, und ausschließlich an schlechten Tagen. Sie sprachen zu ihr, trösteten sie, und ihre Mutter bekäme sicher einen Anfall, wenn sie wüsste, dass ihre unausgeglichene Tochter jetzt schon mit Murmeln kommunizierte.

„Du hast ganz schön einen an der Murmel!“ Das würde sie sagen. Und vielleicht stimmte das auch.

Da sie jedes bisschen Trost gebrauchen konnte, steckte Julia die kleine Tonkugel in ihre Tasche und machte sich dann auf den Weg in die Küche.

Bingo trottete neben ihr her, vorbei an der prächtigen breiten Treppe, die zum oberen Stockwerk führte. Vielleicht nicht ganz so prächtig wie die aus Vom Winde verweht, aber Julia war bei ihrem Anblick gleich ganz hin und weg gewesen. Jetzt gerade hatte sie das Bild einer Braut aus dem neunzehnten Jahrhundert vor Augen, die mit einer behandschuhten Hand auf dem glänzenden Eichengeländer über den burgunderroten Teppich auf dieser Treppe hinunterschritt, während ihr Herz dem wahren Geliebten zuflog, der neben dem mächtigen Marmorkamin im Salon auf sie wartete.

Hirngespinste, klar, genau wie die tröstenden Murmeln, aber ein Haus wie dieses gab einem ja quasi den Freifahrtschein dazu. In den Südstaaten aufzuwachsen, brachte unter anderem den Glauben mit sich, dass die Wände Geschichte atmeten und altes Holz von Vergangenem flüsterte. Und wenn Julia schon an so wenig glaubte, das immerhin glaubte sie. Dieses Haus war lebendig, und Julia hatte ihm aufmerksam zugehört, während sie und Valery damit beschäftigt gewesen waren, eine Pension aus ihm zu machen, die den Weg in dieses abgelegene Städtchen im ländlichen Tennessee wert war. Eine Pension, in der die Menschen den Frieden finden konnten, der seiner Besitzerin verwehrt blieb.

Wenn Julia auf der großzügigen umlaufenden Veranda saß, war ihr manchmal, als hörte sie Hufgeklapper und das Knirschen von Kutschenrädern auf dem von Magnolien flankierten Zufahrtsweg. Sie hütete sich, jemandem davon zu erzählen. Oder davon, wie sie einmal nach einem grässlichen Albtraum über Mickey eine kühle, beruhigende Hand auf ihrer Stirn gespürt hatte. Oder von dem kleinen Jungen, den sie manchmal vom Flur der oberen Etage her lachen hörte. Eine Frau, die gerade so ihren Verstand beisammenhalten konnte, musste mit wilden Fantasien vorsichtig sein und etwas anderes steckte ja auch nicht dahinter. Julia glaubte nicht an Gespenster oder Geister, nicht einmal mehr wirklich an Gott.

Einmal hatte sie den Fehler gemacht, eines dieser Vorkommnisse gegenüber ihrer Schwester zu erwähnen, woraufhin jene sofort zur Hausbar gerannt war – eine Reaktion, die Julia auf keinen Fall erneut provozieren wollte. Valery und Alkohol waren eine denkbar schlechte Kombination, besonders seit ihren jüngsten Streitereien mit Jed dem Ekel, dem schlechtesten festen Freund aller Zeiten.

Obwohl Valery und sie einander durchaus nahestanden, hatte Julia gelernt, ihre Gedanken und ihre Trauer für sich zu behalten. Niemand konnte oder wollte sie verstehen. Alle erwarteten von ihr, weiterzumachen und zu vergessen, dass sie einen Sohn gehabt hatte, einen Ehemann, eine Familie, dass sie ein glückliches, ja nahezu perfektes Leben geführt hatte – bis zu jenem schrecklichen Tag im Oktober.

Julia bog um die Ecke und betrat die Küche, die dem Haus nachträglich hinzugefügt worden war. Sie machte das Licht an, kümmerte sich um den Kaffee und stellte die Zeitschaltuhr am Ofen ein. Ein Sternekoch war sie wohl nicht, aber sie liebte es einfach, für andere Essen zu machen.

Ihre Spezialität war Pfirsichtee, den sie komplett selbst herstellte, aber ihr Kaffee war auch gut: aus einer ganz speziellen Bohnenmischung, handgemahlen und in der French-Press-Kanne serviert. Die Leute konnten stundenlang einfach nur dasitzen und Kaffee trinken, also sollte der schon mal als Erstes fertig sein. Bei den Gerichten variierte sie, bot aber immer eines mit Pfirsichen an, meist mit Früchten aus ihrem Obstgarten. Bei einer Pension mit dem Namen Peach Orchard Inn erwarteten die Gäste schließlich Pfirsiche auf dem Teller.

In wenigen Minuten war das Schinken-und-Ei-Strata bereit für den Ofen, der Pfirsichmuffinteig in die Backformen gefüllt und der Kaffee verbreitete sein sirenenhaftes Aroma. Mit einer vollen Tasse in der Hand trat Julia für ihre liebste Zeit des Tages auf die vordere Veranda hinaus. Abgesehen von Bingo war sie ganz allein hier draußen, sie setzte sich in einen der weißen Korbstühle, von wo sie zusah, wie sich die ersten Sonnenstrahlen des Tages über den Rasen streckten und durch den pink blühenden Rhododendron und die wächsern glänzenden Blätter der Magnolien schimmerten. Der Regen der letzten Nacht glitzerte wie Kristall auf dem sattgrünen Gras, wohingegen die guten alten Stars und Stripes schlaff und traurig über dem weißen Verandageländer hingen.

Missbilligend schnalzte Julia mit der Zunge. Valery hatte vergessen, die Flagge hereinzuholen. Ein klarer Verstoß gegen die Etikette, der die Leute aus der Stadt zwangsläufig zum Telefon greifen lassen würde, sollte jemand von ihnen vorbeigefahren sein. Hoffentlich war das nicht der Fall. Hinter dem Peach Orchard Inn begann der Wald, es lag außerhalb der Stadt und war ein gutes Stück von der Hauptstraße entfernt. Der kleine Mickey hätte diesen Ort geliebt. Genug Platz zum Rennen und Erforschen und um in Sicherheit groß zu werden.

Aber Sicherheit war relativ.

Zwischen dem Haus und der Straße standen dicht belaubte Bäume nah beieinander, darunter die prächtigen, rosa blühenden Pfirsichbäume des Obstgartens, der sich rechts der vorderen Rasenfläche in Richtung Norden erstreckte. Ganz selten hörte man mal ein Auto, aber meistens herrschte Ruhe. Diese Kleinstadtfriedlichkeit machte einen Teil der Anziehungskraft ihrer Pension aus.

Julia legte die Füße hoch, blickte sinnend zum Obstgarten und trank bedächtig ihren Kaffee.

„Happy Birthday, mein Schatz“, flüsterte sie und die brennende Leere in ihrer Brust wurde größer. Sie schloss die Augen. Wie bei jener letzten Umarmung hörte sie wieder seine helle Stimme, roch seinen süßen Kinderzahnpasta-Atem und fühlte die Wärme seines kleinen, kräftigen Körpers. Sie bekam einen Kloß im Hals und fing an zu weinen. In diesen Minuten, die sie ganz für sich hatte, trauerte sie. Wie jeden Morgen in den letzten sechs Jahren. Und wie jeden Morgen würde sie gleich die Tränen wegwischen, um wieder die lächelnde Gastgeberin zu sein.

Bingo tapste näher und stupste sie leise winselnd mit der Schnauze an. Der Hund mochte es nicht, wenn jemand weinte, obwohl auch er auf seine Weise um Mickey geweint hatte. Auch er hatte getrauert, war wochenlang verloren umhergestreift und hatte den kleinen Jungen gesucht, den er so mochte und der nicht mehr nach Hause kam.

Julia beugte sich vor und schlang die Arme um den Hals des Hundes, vergrub ihr Gesicht in seinem Fell und schluchzte.

„Ma’am, ist alles in Ordnung?“

Laut polternd sprang Julia auf. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie starrte den Mann an, der da plötzlich am Fuß der Eingangstreppe stand. Sie blickte hinter ihn, sah kein Auto und wunderte sich, wo er so schnell hergekommen war. Gerade eben war sie doch noch allein gewesen. Ihre bisherigen Fantasien von klappernden Hufen, sprechenden Murmeln und nächtlichen Berührungen ließen sie nun zweifeln, ob der Mann echt war. Halluzinierte sie? Obwohl er so wirkte, als hätte er schon zu viel gesehen und viel zu viel durchgemacht, sah er doch gut genug aus, um ein Traum zu sein. Ein dunkeläugiger Freibeuter in abgerissener Jeansjacke und zerknittertem weißen T-Shirt mit zerzausten schwarzen Haaren und einem leichten Bartschatten.

„Wer sind Sie?“, fragte sie barsch und ganz und gar nicht südstaatenladylike.

Er runzelte die Stirn, sodass sich seine mephistophelischen schwarzen Augenbrauen zu einem V zusammenzogen. „Ich wollte Sie nicht erschrecken. Sie haben so geweint.“

Da wurden ihr die Tränen auf ihrem Gesicht bewusst. „Mir geht’s gut.“ Schnell wischte sie sich mit beiden Händen die Wangen ab. „Wie sind Sie überhaupt hergekommen?“

Er wies mit dem Daumen über die Schulter. „Bin die Straße raufgelaufen. Mein Auto hat ’ne Panne. Sie haben nicht zufällig ein Starthilfekabel?“

„Nein, tut mir leid.“

Er sah zum Obstgarten hinüber. Ratlos zog er die Schultern hoch und seufzte.

„Dürfte ich Ihr Telefon benutzen?“ Die Frage klang, als erwarte er ein Nein.

„Haben Sie kein Handy?“

Er spannte den Kiefer an, was sein Gesicht noch härter erscheinen ließ. Sein schneidender Blick traf kurz ihren, doch er sah sofort wieder weg. „Nein.“

Heutzutage hatte doch jeder ein Handy. Wo war dieser Mann denn die letzten Jahre gewesen? Auf dem Mond?

Sie hörte Geräusche aus der Küche, das musste einer der Gäste sein.

„Das Telefon ist in der Küche. Kommen Sie rein.“ Sie drehte sich um und fühlte seinen Blick im Rücken, während sie auf die Fliegengittertür zusteuerte. Mit einer nahezu beunruhigenden Lautlosigkeit kam er hinter ihr her, griff als Erster nach der Tür und hielt sie für sie auf.

Sie hatte keine Angst vor ihm. Aber die hätte sie auch nicht gehabt, wenn er ein Axtmörder gewesen wäre. Wenn man innerlich tot war, hatte man vor gar nichts Angst.

In der Küche war der bebrillte Mittsechziger Bob Oliver, einer ihrer Stammgäste, gerade dabei, sich am Kaffee zu bedienen. Er und seine Frau waren so oft bei ihr, dass sie sich überall im Haus frei bewegen durften und sich zu Julias Freude offensichtlich ganz wie zu Hause fühlten. Genau darum ging es ihr im Peach Orchard Inn.

„Guten Morgen, Bob“, sagte sie. „Du bist ja mit den Hühnern aufgestanden.“

„Ich habe deinen Kaffee gerochen.“

Ihr gelang ein Lächeln. „Ich mach dann auch für Mattie ein Kännchen fertig.“

„Später vielleicht. Sieben Uhr ist zu früh für Mattie. Als sie von der Pensionsfeier mit dem Kollegium zurück war, hat sie gleich als Erstes angekündigt, dass sie sich nie wieder einen Wecker stellen würde. Und so hat sie’s dann auch gemacht.“

„Kann man ihr nicht übel nehmen“, erwiderte Julia und drehte sich dann zu dem Fremden um, der unsicher neben der Tür stehen geblieben war.

Bevor sie ihm das Telefon zeigen konnte, fragte Bob in seiner direkten Art: „Ach, haben Sie jetzt doch eine Aushilfe angestellt?“

Unsicher, ob der Fremde sich beleidigt fühlte, warf Julia ihm einen raschen Blick zu. Doch sein hartes Gesicht zeigte keinerlei Regung.

„Leider ist eine Aushilfe für mich und Valery immer noch Zukunftsmusik. Ihm ist bloß der Wagen liegen geblieben.“

„Wahrscheinlich liegt’s an der Batterie“, ergriff der Neuankömmling das Wort, guckte dann aber sofort auf seine Füße, als sei er für zu lautes Sprechen getadelt worden.

„Ach so? Vielleicht kann ich helfen“, bot Bob an und streckte die Hand aus. „Bob Oliver mein Name.“

Der Fremde zögerte einen Moment zu lange, bevor er den Handschlag erwiderte. „Eli Donovan. Da komm ich gern drauf zurück, Mr. Oliver.“

„Nennen Sie mich Bob. Mr. Oliver klingt nach Physiklehrer, das war ich dreißig Jahre lang. Jetzt bin ich einfach der gute alte Bob.“ Er schmunzelte, griff zu der silberfarbenen Kaffeekanne und drückte den Stempel im Glaszylinder nach unten, sodass sich das Pulver am Boden sammelte. „Unsere Julia hier macht einen richtig guten Kaffee.“

Der Fremde sah kurz zu ihr, sagte aber nichts. Sie sollte ihm wohl etwas anbieten. Das würde ein gastfreundlicher Mensch jetzt tun. „Möchten Sie eine Tasse?“

Er schluckte. Diese einfache Frage schien ihn aus der Fassung zu bringen. „Wenn es Ihnen keine Umstände macht.“

Sie füllte eine weitere Tasse mit dem aromatischen Sud und reichte sie ihm. Seine Hände zitterten leicht, als er sie entgegennahm, doch er schloss sie rasch um den Rand, und Julia tat so, als hätte sie nichts bemerkt.

Was ihr umso mehr auffiel, war die Müdigkeit in seinen Augen, die ganz offensichtliche Erschöpfung des Mannes. Sie erkannte aber auch, dass er eigentlich sehr fit war, kräftig gebaut, und dass seine Hände sauber, aber rau waren, so als würde er sein Geld mit körperlicher Arbeit verdienen. Er trug keinen Schmuck, noch nicht mal einen Ehering, doch das konnte ihr ja nun wirklich egal sein. Gut aussehende Männer waren nicht zwangsläufig anständige Individuen, und wäre er auch der netteste Kerl des Universums, ihr Inneres war doch zu leer, als dass sie Interesse an ihm haben könnte.

„Das Telefon ist da drüben, falls Sie immer noch jemanden anrufen möchten.“

Sie zeigte zum Apparat auf der Arbeitsfläche aus braunem Granit und ging zum Ofen, um nach dem Auflauf zu sehen.

Mr. Oliver winkte ab. „Müssen Sie gar nicht. Ich habe ein Starthilfekabel in meinem Kofferraum. Fahre nie ohne auf Reisen.“

Der unstete Blick des Fremden fiel erst auf sie, dann wieder auf Mr. Oliver, so als wüsste er nicht recht, was er von der Freundlichkeit halten sollte. Er ähnelte einem eingesperrten Raubtier – geheimnisvoll, angespannt und gefährlich.

„Wir fahren jetzt mit meinem Auto dorthin“, sagte Bob. „Dann geb ich Ihnen Starthilfe und schwuppdiwupp sind Sie wieder auf Kurs.“

„Danke.“ Eli Donovan nippte kurz an seinem Kaffee und machte Anstalten, die noch volle Tasse beiseitezustellen.

„Nehmen Sie den Kaffee doch mit“, sagte Julia und wies auch auf Mr. Oliver. „Sie beide.“

Eli zögerte. „Aber Ihre Tasse …“

„Bekomme ich ja wieder.“

„Ach, okay. Danke.“ Das Wort kratzte rau in seiner Kehle, als würde er es nicht oft benutzen. Tatsächlich wirkte alles, was er sagte, so rau, so vorsichtig.

Bob klopfte Eli auf die Schulter, und Julia kam nicht umhin zu bemerken, wie jener sich dabei verspannte. „Heute ist Ihr Glückstag, Eli. Eine hübsche Lady spendiert Ihnen ’nen Kaffee, und Sie treffen genau den Mann, der nie ohne Werkzeuge loszieht. Ich parke hinterm Haus. Bereit, wenn Sie es sind.“

„Bin ich.“

Aus dem Augenwinkel beobachtete Julia, wie die beiden die Küche verließen. Ihre Schritte klangen dumpf auf der hölzernen Veranda. Eli hielt seine Tasse sorgsam fest und nahm einen Schluck im Gehen. Sie hörte noch, wie Mr. Oliver in munterem Lehrertonfall zu plaudern begann, während der andere Mann schwieg.

Anscheinend froh über die Beschäftigung, taperte Bingo auf dem Kiesweg ein Stück hinter den beiden her und ließ sein Frauchen in der duftenden Küche zurück.

Julia wischte sich die Hände an dem mit Pfirsichen bedruckten Geschirrtuch ab und trat an die Tür, Bob Oliver und Eli Donovan bogen gerade um die Ecke der Veranda und verschwanden somit aus ihrem Blickfeld.

Was war das für ein seltsamer Morgen. Erst erschien eine weitere Murmel aus dem Nichts und dann noch dieser lästige Fremde. Und das alles an Mikeys Geburtstag.

Sie holte die Murmel aus der Tasche und fuhr mit dem Zeigefinger über den glatten Ton. Weit entfernt, irgendwo in ihrer Erinnerung, lachte ein kleiner Junge.

3. KAPITEL

„Alle Vergangenheit ist nur ein Prolog.“

William Shakespeare

Peach Orchard Farm

Sommer 1864

Die Erde hätte beben müssen unter den herannahenden Hufschlägen. Doch dieser Trupp der Unionsarmee – Reiter, Fußsoldaten, Verwundete – bewegte sich leise, fast schon ehrfürchtig.

Die Nachricht der unmittelbar bevorstehenden Besetzung ihres neuen Zuhauses hier in Tennessee erreichte Charlotte Reed Portland im Salon, wo sie ihren beiden Schwägerinnen gerade eine komplizierte Sticktechnik beibrachte. Das buttergelbe Sonnenlicht des drückend heißen Tages schien träge durch die Fenster, als plötzlich der aufgeregte Ruf eines Bediensteten die Stille zerriss. Es folgte das Poltern schneller Fußtritte und schließlich stürmte mit wild abstehenden Haaren ihr neunjähriger Sohn ins Zimmer.

„Mama, die Yankees kommen!“

Benjamins atemlos hervorgebrachte Worte ließen Charlotte zusammenfahren und ihre Finger krampften sich um den Stickrahmen.

Sie hatte ja gewusst, dass sie kommen würden, diese Soldaten im Krieg mit Charlottes Wahlheimat auf der Suche nach Pferden und Nahrung zur Stärkung der Union. Dass die Konföderation natürlich das Gleiche brauchte, war ihnen wohl nicht bewusst oder vielmehr egal. Die kleine, abseits gelegene Stadt Honey Ridge war durch die Belastung des Krieges bereits nahezu ausgeblutet.

Also kamen sie jetzt natürlich hierher, zur Peach Orchard Farm, wo mit ihr selbst, ihrem Mann Edgar und ihrem Sohn Benjamin nun schon die dritte Generation Portlands wohnte. Obwohl man das Anwesen kaum als echte Plantage bezeichnen konnte, hatten sie doch ausreichend Mais und Weizen sowie Obst und Vieh und ein paar Sklaven.

Bitte, allmächtiger Gott, lass nicht zu, dass sie uns alles nehmen.

Ihre zwei jüngeren Schwägerinnen sahen mit großen nussbraunen Augen und erschrocken aufgerissenen Mündern von ihren Stickrahmen zu ihr auf. Ihre milchweißen Gesichter waren kreidebleich geworden. Als Herrin des Hauses und im reifen Alter von siebenundzwanzig lastete die Verantwortung für das Wohlergehen der Farmbewohner und ihrer Bediensteten nun auf Charlottes Schultern.

„Miss Charlotte, soll ich Mr. Portland von der Mühle herholen?“ Ihr treuer Vorarbeiter Pierce war hinzugekommen, und das Weiß seiner Augen kontrastierte in diesem Moment besonders stark mit seinem dunklen Gesicht, das vor Schweiß glänzte. Er war ein guter Mann, ein zuverlässiger und loyaler Arbeiter.

Damit sich der Aufruhr in ihrem Innern nicht freie Bahn brechen und somit ihre Angst offenbaren konnte, nickte Charlotte bloß und rang mit tiefen Atemzügen um Fassung.

„Ja, tu das bitte, Pierce“, brachte sie hervor, wobei ihr britischer Akzent, den ihr Mann früher einmal charmant gefunden hatte, vor Aufregung besonders stark hervortrat. „Ich werde die Männer derweil in Empfang nehmen.“

Betont gelassen legte sie den Stickrahmen beiseite, stand auf und wischte sich die feuchten Handflächen am Stoff ihres grünen Kleides ab. Ihr Magen flatterte vor Angst.

Ihr Mann würde über die Störung nicht erfreut sein, egal, ob sie nun ihr oder den verhassten Yankees selbst geschuldet war. Schon heute früh hatten sie die Schüsse gehört. Ob diese nun von einer Schlacht oder nur einem kurzen Gefecht hergerührt hatten, war letztlich unerheblich. So oder so star-ben Menschen. Ihre Gebete, dass ihr Haus verschont bleiben möge, waren nicht erhört worden.

Der Krieg stand direkt vor ihrer Tür.

Charlottes Fähigkeit, ihre Gefühle nach innen zu kehren und somit nach außen hin gelassen zu sein, hatte sich hier im Süden, wo Unterschiede verdächtig und Menschen ein Handelsgut waren und wo ihr Mann mit kalter Miene Befehle gab, schon oft als notwendig erwiesen.

„Josie, Patience“, wandte sie sich an die beiden Jüngeren. „Schließt euch in euren Zimmern ein. Nehmt Benjamin mit. Geht nicht nach draußen und seht auch nicht aus dem Fenster. Macht euch unsichtbar.“

Der vom Reifrock aufgefächerte Saum ihres Kleides raschelte über den Boden, als sie entschlossenen Schrittes unter das säulengetragene Dach der Veranda hinaustrat, wo sie die Hände fest um das weißgetünchte Geländer schloss und wartete. An jedem anderen Tag hätte sie gern hier gestanden, sie mochte den Ausblick auf die den Zufahrtsweg flankierenden Magnolien und die Pfirsichbäume des Obstgartens, der sich von hier weiter in Richtung Norden erstreckte. Heute jedoch zitterten ihr die Knie, und sie sah nichts außer den herannahenden Soldaten, dieser militärisch geordneten, von einigen Reitern durchbrochenen, langgezogenen Silhouette aus Blau und Gold, der die lautlos flatternden Stars und Stripes der Union vorangetragen wurden.

Sie kannte die Schauergeschichten. Armeen aus dem Norden, die alles plünderten und keinen Stein auf dem anderen ließen, aber Gott stehe ihr bei, sie würde alles tun, um ihre Familie und ihr Heim zu beschützen. Von dem Tage an, da sie als scheue Braut von sechzehn Jahren hierhergebracht worden war, hatte sie sich weit mehr in dieses Anwesen verlieben können als in seinen Besitzer, ihren Ehemann Edgar. Ihr Heim und ihr Sohn waren ihr ganzer Lebensinhalt.

Der Schweiß juckte ihr mittlerweile hässlich unterm Kragen, dennoch blieb sie reglos stehen, äußerlich gefasst, und suchte unter den Feinden nach einem Zeichen von Menschlichkeit.

Je näher die Soldaten auf dem gewundenen Zufahrtsweg an das Haus herankamen, desto deutlicher konnte sie die Erschöpfung in den Gesichtern der jungen Männer erkennen, das Blut auf den Uniformen und dass einige der Fußsoldaten Tragen mit Verwundeten schleppten. Von Weitem hatten sie wie eine riesige Armee gewirkt, doch tatsächlich war es nur eine kleinere Kompanie. In den gehetzten Blicken dieser jungen Männer, die fast noch Kinder waren, hielt der Krieg auf der Peach Orchard Farm Einzug, und er brachte die Ahnung mit sich, dass fortan nichts mehr so sein würde wie vorher.

Mit schwerem Herzen, das noch schwerer wurde in dem Wissen, dass Entscheidung oder Schicksal sie zu Feinden gemacht hatte, trat Charlotte von der Veranda hinunter und ging der mittlerweile vorm Haus zum Stillstand gekommenen Kompanie entgegen. Von Hufen aufgewirbelter Staub stieg ihr in die Nase. Kein Hauch bewegte die flimmernde Luft, es schien, als würde das Haus selbst den Atem anhalten.

Eines der Pferde, ein erschöpfter Grauschimmel, trug den offensichtlichen Anführer der Kompanie. Der Mann mit der aufrechten Haltung verbreitete Autorität. Er ritt langsam auf sie zu und sie erwartete ihn mit regloser Miene. So wie anscheinend alle der Männer war auch er noch jung, vielleicht in ihrem Alter. Ob Freund oder Feind, er hatte eine energische Ausstrahlung, die ihr imponierte. Und er sah gut aus in seiner blauen Uniformjacke mit den goldenen Schultertressen und der passenden, ebenfalls blauen Hose mit dem roten Streifen an jeder Seite. Energisch und gut aussehend, jedoch auch staubig und mitgenommen von weiß Gott welchen Strapazen, war er schlank, hatte ein markantes Kinn und seine braunen Haare gingen in einen gepflegten Bart über.

„Ma’am.“ Er nahm den Hut ab, auf dessen marineblauem Grund das goldfarbene Emblem zweier gekreuzter Kanonen prangte. „Ich bin William Gadsen, Captain der United States Army. Ist Ihr Mann zugegen?“

Diese einfache Frage musste gestellt werden, da die meisten Männer Tennessees schon lange in Uniformen der einen oder der anderen Farbe in den Krieg gezogen waren. Dass Edgar ausgemustert worden war, beschämte und verbitterte ihn, Charlotte wusste das.

„Jemand ist schon unterwegs und holt ihn. Warum sind Sie hier? Wir sind bloß einfache Farmbewohner, Frauen, Kinder, ein paar Arbeiter.“ Sie wollte sie nicht Sklaven nennen. Viele gehörten schon fast – und einige vermutlich tatsächlich – zur Familie.

Old Hub, dessen einzige Arbeit mittlerweile darin bestand, sich um die Hühner zu kümmern, kam hinterm Haus hervorgehumpelt und stellte sich an ihre Seite. Ein loyaler, wenn auch gebeugter und greiser Beschützer, dessen treuer Mut den ihren stärkte.

Der Captain wies auf seine Soldaten. „Wir haben Verwundete.“

„Das sehe ich, Sir. Ich bedauere Ihre Verluste.“ Das tat sie wirklich. Dieser Krieg zwischen Amerikanern und Amerikanern war unsinnig und grausam.

Er setzte den Hut wieder auf, und das Leder des Sattels knarzte leise, als er sich zu seinen Soldaten umwandte und die weiß behandschuhte Hand zum Befehl emporhob: „Kompanie, absteigen.“

Der trostlose Versuch, militärische Ordnung zu wahren, misslang, als die kriegsgebeutelten Reiter noch mühsam von ihren Pferden rutschten, während eine Handvoll Fußsoldaten bereits die Formation brach und auf die Veranda zusteuerte.

„Halt!“ Als könnte Charlotte die Bewaffneten damit in die Schranken weisen, streckte sie ihnen zitternd die Handfläche entgegen. „Was wollen Sie? Lebensmittel? Verbandszeug?“

Bevor Captain Gadsen etwas antworten konnte, entstand ein Aufruhr in den Reihen. Mit wachsendem Entsetzen sah Charlotte, wie einer der Soldaten auf die plattgetrampelte Erde fiel und reglos liegen blieb.

„George!“ Im Laufschritt, wobei ihm der Säbel gegen das Bein schlug, eilte Captain Will Gadsen zu ihm. Einer der anderen Soldaten kniete auf dem Weg vor der Peach Orchard Farm neben dem gestürzten Kameraden nieder, hielt ihm prüfend die Finger vor den Mund und horchte an der reglosen Brust. Dann hob er das fast jungenhafte Gesicht und blickte fassungslos zu seinem abwartend dastehenden Offizier. „George ist tot, Sir.“

Die Haltung des Captains fiel in sich zusammen. Er ließ den Kopf hängen und seufzte tief. Mit einer Hand auf der Schulter des knienden Soldaten widmete er dem Gefallenen ein respektvolles Schweigen. Auch der Rest der Kompanie schwieg, nur leises Klimpern von Zaumzeug und das ein oder andere Schnauben durchbrachen die Stille.

Charlotte war gerührt. Der Captain hatte ein gutes, mitfühlendes Herz.

Doch noch während sie das dachte, fuhr William Gadsen auf den Hacken seiner Stiefel entschlossen zu ihr herum. Er blickte stur geradeaus und verkündete in autoritärem Tonfall: „Mit Verlaub, Ma’am, es ist meine Pflicht, Sie davon in Kenntnis zu setzen, dass Ihr Anwesen hiermit von der United States Army beschlagnahmt ist.“ Er hob erneut die Hand zum Befehl. „Vorwärts, Männer!“

Will konnte sehen, wie der Frau das Blut aus dem fein geschnittenen Gesicht wich. Sie sah sehr hübsch aus und ihr hellblondes Haar war mit britischer Strenge hochgesteckt. Hatte er doch ihren englischen Zungenschlag erkannt, der sich von dem hiesigen unterschied. Tiefes Bedauern legte sich schwer auf sein Herz. Eine so vornehme und schöne Frau wie sie, eine Frau wie seine Schwestern oder seine Mutter, sollte mit den Übeln des Krieges nichts zu tun haben müssen. Ach, wie er sein Zuhause vermisste, besonders an einem Tag wie heute, da er nichts als Blut und Tod auf seinem Weg hinterließ.

Erneut nahm er den Hut ab. „Ma’am, Ihr Haus wird uns bis auf Weiteres als Lazarett dienen. Außerdem benötigen wir Ausrüstung, Nahrung und Ruhe. Meine Männer haben die strikte Anweisung, Ihrer Familie und Ihrem Zuhause keinerlei Schaden zuzufügen. Wir nehmen nur das, was wir brauchen.“

Sie streckte das Kinn vor. „Und wie viel soll das sein? Auch wir müssen unsere Leute hier versorgen. Sie können doch nicht einfach so meine Familie berauben. Ich verbiete es Ihnen.“

Sie war nicht in der Position, zu widersprechen oder auch nur zu verhandeln, und doch stand sie da wie eine schlankwüchsige Eiche und bot ihm ruhig und fest entschlossen die Stirn. Will kam nicht umhin, sie dafür zu bewundern. „Ich werde darauf achten, dass genug für Sie und Ihre Leute übrig bleibt. Sie haben mein Wort.“

Sein Wort zu halten, war oft das Einzige, was ihm in diesem brutalen Krieg noch blieb. Sein Wort und seine Würde, so hatte Will sich geschworen, sollten weiterhin ungebrochen sein, wenn er wieder nach Ohio zurückkehrte.

Seine Männer schwärmten bereits auf dem eleganten Anwesen aus, und er fühlte sich in der Pflicht, ein wachsames Auge auf sie zu haben. Es waren zwar hauptsächlich hochanständige Leute, allerdings hatten sie sich schon lange nicht mehr in den einem richtigen Zuhause gebührenden Umgangsformen geübt. Er wollte keinen Ärger und würde ihnen auch auf keinen Fall irgendetwas durchgehen lassen. Einige Offiziere, das wusste er, machten bei so etwas kein Federlesen, doch er für seinen Teil hatte auch so schon genug Skrupel, wenn er anderer Leute Heim beschlagnahmte und dringend benötigte Nahrung und Pferde mitnahm.

Das Gesicht der Frau entspannte sich ein wenig, doch ihre Körperhaltung blieb straff und wachsam. Sie nickte knapp. „Danke.“

Der uralte Sklave, der ums Haus gehumpelt war und nun schief und gebeugt neben ihr stand, fing an zu sprechen. Das tief besorgte schwarze Gesicht glänzte vor Schweiß. „Miss Charlotte, Mr. Portland ist aufm Weg.“

Ihr Blick schnellte kurz in die Richtung, wo die Magnolien standen, und dann zurück zu Will. Es war das erste Mal, dass er ihr so etwas wie Unruhe anmerkte, als würde die Anwesenheit ihres Mannes die Sache nicht besser, sondern nur noch schlimmer machen.

Dass sie sich gleich darauf wieder gefasst hatte, nahm er mit Hochachtung zur Kenntnis. Dann, als würde sie einen Nachbarn zum Tee einladen, wies sie zur Veranda. „Darf ich bitten, mein Mann wird Sie im Salon empfangen. Drinnen ist es auch viel angenehmer als hier draußen in der Sonne. Hub zeigt Ihnen den Weg.“

Als Will etwas erwidern wollte, rief von der Tür zum Haus her der Feldchirurg nach ihm. Der Doc hatte keine Zeit verloren und sofort mit dem Einrichten einer Krankenstation begonnen. Das war auch dringend notwendig angesichts der Schwere und Vielzahl der Verletzungen, die seine Männer heute früh davongetragen hatten.

„Stokes will Sie sprechen, Sir.“

Stokes, ein guter Mann, ihn hatte es besonders schlimm erwischt. Nur mit Gottes Hilfe würde er die kommende Nacht noch überstehen können, da half auch der beste Chirurg nichts mehr.

„Ich muss jetzt als Erstes nach meinen Männern sehen“, sagte Will zu der Frau.

„In Ordnung. Ich gebe dann schon mal meinem Mann Bescheid.“ Mit kleinen, feingliedrigen Händen raffte Mrs. Portland den Stoff ihres grünen Kleides und eilte den Weg zur Straße hinunter.

Will sah ihr nur einen kurzen Moment nach, bevor er auf das Haus zuging, wo die Pflicht auf ihn wartete. Doch das Bild der mutigen und schönen Charlotte Portland hatte sich schon jetzt in sein Gedächtnis eingebrannt.

4. KAPITEL

Honey Ridge, Tennessee

Heute

Eli setzte sich neben Bob Oliver in dessen blauen Honda Accord, der wie frisch aus der Fabrik aussah und ganz bestimmt niemals liegen blieb. Nicht wie diese 500-Dollar-Schrottkarre, die Eli sein Eigen nannte.

Heute sei sein Glückstag, hatte der Mann zu ihm gesagt. Angesichts der Umstände und des Anlasses seiner Reise wollte Eli lieber nicht darauf wetten. Doch diesen hilfsbereiten alten Herrn getroffen zu haben, war tatsächlich ein unerwartetes Glück. Die Frage nach dem Telefon war schließlich ein bloßer Akt der Verzweiflung gewesen. Schön, er hätte einen Mechaniker rufen können, aber wovon dann die Reparatur bezahlen? Vielleicht, so sein Notfallplan, hätte er die Kosten abarbeiten können.

„Mein Auto steht ’ne halbe Meile da die Straße runter.“ Er wies nach Süden, dahin, wo die Karre gegen Mitternacht den Geist aufgegeben hatte. Im Freien zu übernachten, hatte Eli nichts ausgemacht – im Gegenteil, er hatte die Aussicht auf die Sterne und die frische Luft genossen.

„Sind Sie hier aus der Gegend?“ Bob sah kurz zu ihm herüber. Auf seinen schwarz eingefassten Brillengläsern spiegelte sich die Morgensonne.

„Nein.“

„Ich auch nicht. Meine Frau und meine Wenigkeit wollen zwar gern mal irgendwann hier in die Gegend ziehen, aber bis dahin residieren wir weiterhin in Memphis.“

Elis Herz rutschte ihm bis auf die immer noch nicht richtig eingelaufenen Stiefel hinunter. Sieben elende Jahre hatte er in Memphis verbracht. Auch nach sechs Monaten in Freiheit waren die schmerzlichen Erinnerungen an diesen Ort noch sehr lebendig.

Er rang nach höflichen Worten, mit denen er das Gespräch möglichst schnell wieder von diesem Höllenloch weglenken konnte, und brabbelte selten uninspiriert drauflos: „Die Pension da ist echt hübsch.“

„Das Peach Orchard Inn? Ist das Beste überhaupt. Meine Frau und ich fahren, sooft es geht, zu Julia runter. Wenn man nicht gerade ein Bürgerkriegsfan ist, gibt es nicht viel zu tun, außer auf der Veranda zu sitzen, im Obstgarten rumzuspazieren und vielleicht ein bisschen zu fischen, aber genau deswegen kommen wir ja hierher. Ruhe und Frieden. Wunderschöne Landschaft. Und großartiger Kaffee.“ Er lachte und trank den letzten Schluck aus seiner Tasse.

Eli hatte zum Glück noch etwas über von diesem besten Kaffee, den er seit mehr als sieben Jahren getrunken hatte. Er schmeckte genau wie der seiner Mutter. Den hatte sie auch immer in so ’ner schicken Presse aufgebrüht. Ob sie wohl je an ihn dachte? Er selbst dachte so selten wie möglich an sie oder an seinen Vater oder an das Leben, das er noch immer haben könnte, wenn er nur ein besserer Sohn gewesen wäre. Die Erinnerungen daran, die Schuld und die Reue, waren zu schmerzhaft.

Er trank einen weiteren Schluck, war dankbar dafür, dass er etwas in den Magen bekam, und dachte an die Frau von der Pension.

Julia. Ein schöner Name für diese schöne Frau mit dem honigblonden Pferdeschwanz und den traurigen blauen Augen. Warum sie wohl geweint hatte? Nicht an sie denken. Nicht daran denken, wie es wäre, mit einer Frau wie ihr in dieser blitzsauberen Küche beim Frühstück zu sitzen. An Frauen hatte er dieser Tage gefälligst überhaupt nicht zu denken, schon gar nicht an eine so hochanständige.

„Julia ist eine Herzensgute“, sagte Bob, während sie jetzt auf die Straße Richtung Süden abbogen. „Immer wenn wir wieder abreisen, gibt sie uns ein Glas Pfirsichmarmelade aus ihrem Garten mit. Die ist unglaublich lecker.“

Bei dem Gedanken an Marmelade auf Toast lief Eli das Wasser im Mund zusammen. Seit dem Frühstück gestern Morgen, lange bevor er den Job auf der Baustelle beendet, den mickrigen Lohn eingesteckt und Nashville verlassen hatte, war ihm nichts mehr zwischen die Zähne gekommen. Damit sein Magen nicht mehr ganz so leer war, nahm er einen weiteren Schluck von Julias Kaffee. Bob hatte recht. Das war echt gutes Zeug. Lässig und verwegen, so wie Elis altes Ich.

Er starrte nach draußen und sah die frische grüne, blumengesprenkelte Frühlingslandschaft vor dem Fenster vorbeiziehen. Ganz in der Nähe entdeckte er zu seiner Überraschung einige Häuser. Er hätte nicht gedacht, dass sie hier schon so nah an der Stadt waren, andererseits, warum sollte eine Pension mitten im Nirgendwo liegen?

„Ist das da vorne Ihr Auto?“ Bob wies mit dem Kinn auf den vernachlässigten alten Dodge, der schräg am Straßenrand stand.

Eli konnte sich ungefähr vorstellen, was ein gemachter Mann wie Bob beim Anblick der verrosteten Kotflügel und der fehlenden Stoßstange denken musste. Es war dem Mann hoch anzurechnen, dass er keinerlei Reaktion zeigte. Das war freundlich von ihm. Ein guter Mensch. Mit solchen hatte Eli schon seit langer Zeit nicht mehr zu tun gehabt.

Sie stiegen aus und Bob holte das Starterkabel aus dem Kofferraum des Hondas. „Die Werkzeugkiste brauchen wir vielleicht auch.“

Eli nahm die rote Metallbox und ging mit Bob zum Dodge hinüber.

„Was ist passiert, bevor der Motor ausging?“

„Er ist halt einfach ausgegangen. Hat aber schon seit hundert Meilen ungesund gestottert. Vielleicht ist der Benzinfilter verstopft.“

„Das haben Sie aber schon überprüft, nehme ich mal an.“

„Gleich als Erstes heute morgen. Hab ihn so gut sauber gemacht, wie ich konnte. Hat aber nichts geholfen.“

„Ist der Motor überhitzt?“

„Nein, Sir. Ist einfach nur ausgegangen. Die Batterie ist schon ziemlich alt, womöglich kaputt mittlerweile.“

„Na, gucken wir uns das mal an.“

Eli hielt noch immer die Kaffeetasse in der Hand und deponierte sie jetzt im Fußraum des Dodge. Dann machte er die Motorhaube auf und klemmte einen Stock drunter, damit sie offen blieb. Komisch eigentlich, dass ausgerechnet ein Physiklehrer seine Hilfe hierbei angeboten hatte. „Wie kommt es, dass Sie sich mit Autos auskennen?“

„Ist ein Hobby von mir. Meine Familie war ziemlich knapp bei Kasse, als ich jung war. Weil ich aber trotzdem ein eigenes Auto haben wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als ’ne alte Schrottkarre zu übernehmen und die dann selber wieder zum Laufen zu bringen. So war das.“

Eli stieß ein leises Schnauben aus. „Kommt mir irgendwie bekannt vor.“ Jetzt. Früher mal, da hatte er die edelsten Karossen, ein herrliches Zuhause und eine liebende Familie gehabt. Und dann hatte er dumme Entscheidungen getroffen und das alles weggeworfen.

Er nahm einen Schraubenschlüssel aus der Werkzeugkiste und klopfte gegen die verrosteten Batterieanschlüsse. „Völlig hinüber“, sagte er und verzog das Gesicht. Wie sein ganzes Leben. Er steckte das Werkzeug in seine Shirttasche und trennte mühsam die Kabel von der Batterie.

Bob lehnte sich mit prüfendem Blick vor. „Ich glaube, da haben Sie Ihr Problem. Die müssen irgendwann mal richtig sauber gemacht werden, aber wenn Sie sie jetzt gut abwischen und ich Ihnen Starthilfe gebe, sollten Sie erst mal weiterfahren können.“

Eli holte ein T-Shirt aus seiner Reisetasche und schrubbte damit an den Anschlüssen herum. „Viel mehr kann ich jetzt gerade nicht machen.“

Nachdem Bob das Starthilfekabel angeschlossen hatte, setzte Eli sich hinters Lenkrad und drehte den Zündschlüssel. Nach mehreren Versuchen sprang der Motor schließlich an. Der Auspuff spuckte schwarzen Rauch aus, während Bob die Motorhaube zufallen ließ und neben Eli ans Fenster kam.

„Lassen Sie das bei allernächster Gelegenheit mal gescheit reparieren.“

„Sicher.“ Sobald das Geld an Bäumen wuchs. „Was schulde ich Ihnen?“

„Keinen Cent. Tun Sie einfach jemand anderem auch mal ’nen Gefallen. Mehr verlange ich nicht.“

Eli nickte aufrichtig. „Ich danke Ihnen, Sir.“

„Kommen Sie auf der Rückfahrt doch noch mal vorbei, falls es auf dem Weg liegt. Wenn unser Honda hinterm Haus steht, wissen Sie, wir sind da.“

„Das mach ich.“ Eher nicht.

Dann fuhr Eli los, und die kühle Morgenluft wehte ihm durchs Fenster ins Gesicht, als er jetzt seinen Weg fortsetzte, hin zu Opal Kimble, hin zu einem Teil seiner Vergangenheit, den er eigentlich für immer hatte ruhen lassen wollen.

Das kleine Örtchen Honey Ridge erwachte gerade zum Leben, während der alte Dodge keuchend und klappernd über die Hauptstraße fuhr und an einem großen Platz im Stadtkern vorbeikam. Die Farbe des Asphalts war noch immer eine Nuance dunkler vom Regen der letzten Nacht.

Eine Frau, die das Schaufenster von Hallie’s Gifts and Cards putzte, hielt mit dem Wischtuch in der Hand inne und sah ihm hinterher. Ihr Blick kribbelte Eli im Nacken. Er wollte keine Aufmerksamkeit erregen, weder hier noch anderswo.

Am Mast vorm Postamt zog jemand eine in der völligen Windstille schlaff herunterhängende Flagge empor. Viele der Gebäude stammten noch aus einer anderen Zeit, doch alles war sauber und gut in Schuss. So trug eines der Häuser die Jahreszahl 1884 und hatte den prächtigen Anstrich längst vergangener Tage.

Als Eli an einem Doughnut-Laden vorbeifuhr, wehte der intensive Duft des Fettgebäcks durchs offene Autofenster zu ihm herein. Sein Magen knurrte.

Er fischte den Zettel mit Opals Wegbeschreibung aus der Jackentasche. An der zweiten Kreuzung hinter der Ampel bog er in die Rosemary Lane ein und fuhr sie langsam entlang, bis er das Haus mit den blauen Fensterrahmen entdeckte, wo zwischen der abgeblätterten Fassade und dem verwilderten Rasen zwei grüne Metallstühle auf der Veranda standen. Opals Haus.

Rumpelnd kam der Dodge auf dem aufgeplatzten Asphalt der Auffahrt vor der Garage neben einem umgekippten Plastikmotorrad zum Stehen. Elis leerer Magen verkrampfte sich. Seine Hände auf dem Lenkrad wurden feucht vor Schweiß.

Was tat er hier eigentlich? „Kehr um! Hau ab!“, schrie ihm jede Faser seines Körpers zu, doch dieses eine Mal in seinem Leben würde er genau das nicht tun. Konnte es nicht tun. In den sechsunddreißig Jahren seines Lebens hatte er bisher kaum etwas Verantwortungsvolles zustande gebracht, doch hier lagen die Dinge anders. Er konnte die Schreckensnachricht immer noch nicht glauben. Die süße, ausgelassene Mindy, die sich so darin gefallen hatte, in ihn verliebt zu sein, war tot – und sie hinterließ ein Kind.

Die Nervosität fraß ihm schier ein Loch in den Bauch, dennoch stieg er aus, durchquerte den Garten und trat leise auf die Veranda. Es war noch früh. Ohne die Panne wäre er schon gestern Abend angekommen. Er sah kein Licht im Haus. Schlief Opal noch? Vielleicht sollte er später wiederkommen.

„Feigling“, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf.

Er atmete einmal tief durch, wischte seine schwitzigen Handflächen an der Jeans ab und langte nach dem Türklopfer. Doch seine Hand blieb vor dem angelaufenen Messingknauf zitternd in der Luft hängen. Es war, als besäße dieses blöde Stück Metall die Macht, sein ganzes weiteres Leben zu bestimmen. Vielleicht sollte er das hier einfach sein lassen, wieder nach Nashville gehen und weiter versuchen, einen festen Job zu finden. Der Junge musste ihn nie zu Gesicht bekommen. Der Junge. Sein Sohn.

Er wandte sich schwungvoll zum Gehen, hielt dann jedoch noch in der Bewegung inne und rang mit seinem Gewissen.

Doch bevor er der in seinem Kopf tobenden bösen Mächte Herr werden konnte, kratzte hinter ihm die schäbige Haustür über den Boden, wobei sie kurz an der Schwelle hängen blieb, als wäre das Holz durch den Regen aufgequollen. Eine alte Frau mit schlohweißen Locken und faltigem, verkniffenem Gesicht lehnte sich auf ihren Stock und blickte ihn durch den Türspalt hindurch misstrauisch an.

Eli schluckte. „Opal Kimble?“

„Sind Sie Eli?“

„Ja, Ma’am.“

Die Tür wurde aufgerissen. „Wird auch Zeit.“

Er trat ein und roch Essensduft, der sich jedoch nur schwer gegen den Muff des alten Hauses durchsetzen konnte. Alles in dem Haus war alt. Die Möbel waren reif für den Sperrmüll. Halb unter zerfledderten Zeitungen vergraben, thronte ein klobiger Röhrenfernseher auf seinem Rolltisch. An den Wänden hingen verblasste Fotos von Menschen, die einer vergangenen Epoche angehörten. Er musste an die Pension denken, in der er vorhin gewesen war, und kam nicht umhin, die beiden Häuser zu vergleichen. Beide waren alt und geschichtsträchtig, doch Julias Zuhause hatte hell und einladend gewirkt.

„Setzen Sie sich da hin.“

Befehle gewohnt, tat er wie geheißen.

„Wollen Sie Kaffee?“

„Machen Sie sich keine Umstände.“

Die alte Frau ignorierte seine Äußerung, verließ das Zimmer und kam mit zwei Kaffeebechern und einem Teller Rosinenbrot zurück. „Ich nehme mal an, Sie haben so früh am Tag noch kein Frühstück gehabt.“

„Nein, Ma’am.“

„Nehmen Sie sich was.“

„Danke.“ Er musste sich sehr zurückhalten, um nicht gleich alles wie ein ausgehungerter Wolf hinunterzuschlingen. Indem er zwischendurch immer wieder an dem brühend heißen Kaffee nippte, schaffte er es tatsächlich, das Brot ohne große Blamage zu verzehren. Der Kaffee schmeckte bitter, erst recht im Vergleich zu Julias. Egal. Es war immer besser, sich nicht zu beschweren, das hatte er auf die harte Tour gelernt.

„Na los, essen Sie alles auf“, sagte die alte Frau. „Der Junge mag eh keine Rosinen und ich hatte genug.“

Der Junge. Seinetwegen war er hier. Sie wollte Geld, dessen war er sich spätestens jetzt, da er in ihrer schäbigen Hütte saß, sicher.

Er spürte, dass sie ihn beobachtete, also aß er noch eine Scheibe und hörte dann auf. Dabei hätte er eigentlich den ganzen Laib verspeisen können und immer noch Platz für Nachschub gehabt.

Durch die kleine Stärkung war ihm jetzt immerhin ein bisschen besser und er lehnte sich abwartend auf dem klapprigen Stuhl zurück. Sie hatte ihn herbeizitiert, also konnte sie auch das Gespräch einleiten.

Opal hatte sich ihm gegenüber in einen wuchtigen grünen Lehnsessel gesetzt, aus dem sie sich nun vorbeugte und die Finger wie Vogelkrallen um ihren Gehstock krümmte. „Sie wussten von dem Kind?“

„Mindy hat es mir geschrieben.“

„Sie haben nicht darauf reagiert.“

„Ich dachte, es wäre das Beste so.“ In einer hilflosen Geste hob er die Handflächen Richtung Decke. „Angesichts der Umstände.“

„Sie hat gesagt, das Kind sei von Ihnen.“

„Das ist möglich.“ Von Mindys Schwangerschaft hatte er kurz nach seiner Inhaftierung durch einen Brief erfahren, wobei ihn die Nachricht mit der Wucht einer Palette Backsteine getroffen hatte. Da war er sich erst recht wie der letzte Dreckskerl vorgekommen, zu dem er geworden war. Das mit ihm und Mindy war in jenem einen langen, heißen Sommer vor seiner alles verändernden Verurteilung passiert, wenn es denn passiert war, trotz gewisser Vorkehrungen. Aber keine Vorkehrung war idiotensicher.

„Mindy hätte nicht gelogen. Sie war todkrank.“

Eli schloss einen Moment die Augen. Wie konnte die lebensfrohe Mindy so einfach tot sein? „Das habe ich bis gestern nicht gewusst. Sie war doch noch so jung.“

„Krebs schert sich nicht ums Alter, junger Mann.“ Opal nippte an ihrem Kaffee und starrte ihn über den Rand der Tasse hinweg mit Raubvogelaugen an. Nach einigen Sekunden unangenehmer Stille sprach sie weiter. „Als sie spürte, dass sie dem Ende nahe war, hat sie ihn zu mir gebracht, zu ihrer einzigen lebenden Verwandten. Ich liebe das Kind, genau wie ich seine Mutter geliebt habe. Ich will nur das Beste für ihn.“

Eli seufzte erleichtert auf. Sie liebte den Jungen. Sie würde sich gut um ihn kümmern. „Ich schicke Geld, sobald ich kann.“

„Geld?“ Ihr Tonfall war scharf.

„Unterhalt.“

Sie lehnte sich jetzt so weit vor, dass Eli fürchtete, sie könnte gleich aus dem Sessel fallen. „Unterhalt?“

War die Frau schwerhörig? „Ich … verdiene zurzeit kaum Geld.“ Ein schmerzliches Eingeständnis, obwohl er seinen Stolz schon vor langer Zeit eingebüßt hatte. „Aber sobald ich welches habe, schicke ich alles, was ich entbehren kann.“

„Ich will Ihr Geld nicht, Eli Donovan.“

„Haben Sie mich denn nicht deswegen herbestellt, wegen des Unterhaltsanspruchs?“

Energisch kämpfte Opal sich an ihrem Stock in die Senkrechte und kam mit einem gefährlichen Ausdruck in dem faltigen Gesicht auf ihn zugehumpelt. „Sehen Sie mich an. Ich bin vierundachtzig Jahre alt. Meine Pumpe läuft nicht mehr rund und ich habe Diabetes. Ohne den blöden Stock hier käme ich überhaupt nicht mehr von der Stelle.“

Die nackte Angst fraß sich durch Elis Fußsohlen und an seinem Körper hinauf bis in sein Hirn. Wie ein panisches Pferd wollte er nur noch eins: fliehen. Er wusste, was jetzt kam. Wusste es und konnte es nicht verhindern.

„Mindy wollte, dass Sie den Jungen zu sich nehmen.“ Mit ihren knochigen Fingern wies Opal in seine Richtung. „Sie sind sein Vater. Sie werden ihn auch großziehen, wie Mindy es vorgesehen hat.“

Eli sprang vom Stuhl auf. „Sind Sie übergeschnappt? Sie wissen doch, wo ich sein ganzes bisheriges Leben gewesen bin, oder etwa nicht?“

Sie hob den Stock und zielte damit auf seine Brust. „Na, jetzt sind Sie ja wieder draußen. Und Sie haben einen Sohn, um den Sie sich kümmern müssen.“

„Ein Mann wie ich sollte kein Kind großziehen. Das ist bestimmt sogar illegal.“

„Jetzt tun Sie nicht so dumm. Er ist Ihr Fleisch und Blut.“

„Sie verstehen das nicht. Ich kann mich nicht um ein Kind kümmern.“

Plötzlich hatte er Jessicas Gesicht vor Augen, das bleich und aufgedunsen durchs Wasser trieb, während er mit den Kopfhörern seines Walkmans in den Ohren zu Michael Jackson abging.

„Ich habe weder einen festen Wohnsitz noch ein geregeltes Einkommen und einen Exknacki wie mich wird auch in Zukunft niemand einstellen. Ich muss immer auf Abruf bereitstehen für einen Bewährungshelfer, der mich nicht besonders leiden kann.“ Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare und wurde immer panischer. „Ich kann ja nicht mal pinkeln gehen, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen!“

„Hören Sie auf, hier so rumzuschreien. Wollen Sie, dass er Sie hört?“

Sein Herz schlug so schnell, als wäre er derjenige, der zu lange unter Wasser gewesen war. „Opal, bitte, seien Sie vernünftig. Was Sie da verlangen, ist einfach unmöglich. Sie kennen mich doch überhaupt nicht. Ich war im Gefängnis. Aus mir wird kein Vater. Ich weiß auch gar nicht, wie man mit einem Kind umgeht.“

„Glauben Sie denn, andere Eltern wissen das von Anfang an? Sie werden’s eben lernen müssen. Geht allen so.“

„Unmöglich.“ Er könnte für niemanden auf dieser Welt die Verantwortung übernehmen, erst recht nicht für ein kleines Kind. Oh Gott, worin hatte sich diese Frau da bloß verrannt?

„Was, glauben Sie, wird aus dem Jungen, wenn ich tot bin?“

Eli schüttelte den Kopf. „Dann kommt er wohl zu anderen Verwandten.“

„Haben Sie Familie, die ihn nehmen würde? Die ihn lieben würde?“

Der kalte Klumpen in Elis Innerem wuchs sich zu einem Eisberg aus. „Nein.“

„Aha, so sieht’s nämlich aus. Sein einziger anderer Verwandter sind Sie. Und wenn Sie ihn nicht nehmen, dann kümmert sich das Amt um ihn, das Sozialsystem.“ Das letzte spie sie aus wie ein Schimpfwort.

„Überall wird es ihm besser gehen als bei mir. Es gibt viele gute Pflegeeltern da draußen.“

„Mindy hat etwas anderes für ihr Kind gewollt.“

„Es tut mir leid, Opal. Ich kann das nicht.“ Steifen Schrittes ging Eli zur Tür, völlig aufgewühlt, aber ebenso sicher, dass er nie im Leben dazu geeignet war, Vater eines Kindes zu sein. Niemals. „Ich schicke Geld, sobald ich kann.“

„Mindy hat Sie verteidigt. Sie hat gesagt, Sie wären ein guter Mensch.“ Opal kräuselte die dünnen Lippen. „Sie hat sich geirrt.“

„Ja.“ Mit dieser quälenden Wahrheit vor Augen rannte Eli hinaus, überquerte den überwucherten Rasen und rettete sich in den Schutz seines Wagens. Nach Atem ringend und mit schmerzender Brust schmiss er den Motor an und war im nächsten Augenblick ein gutes Stück die Straße runter.

An der Kreuzung hielt Eli vor dem Stoppschild an und legte die Stirn aufs Lenkrad. Selbst an seinem ersten Tag im Gefängnis hatte er nicht derart gezittert.

Er war der denkbar schlechteste Vater für einen kleinen Jungen, hatte nichts zu bieten, keine Zukunft und eine hässliche Vergangenheit.

Die Verantwortung legte eine Schlinge um seinen Hals und zog immer fester zu. Er hatte einen Sohn. Einen Sohn, der ihn brauchte.

Und er hatte noch nicht einmal nach seinem Namen gefragt.

5. KAPITEL

Peach Orchard Farm

1864

„Lizzy, hilf mir“, rief Charlotte über den durch das Farmhaus hallenden unseligen Lärm hinweg ihrer Dienerin zu, während ihr ein scharfer Geruch nach Blut und Schwarzpulver in die Nase stieg.

Das Stöhnen und die Schreie der leidenden Männer riefen schmerzhaftes Mitgefühl in ihr hervor, und die Kinder waren so verängstigt, dass sie sich irgendwo versteckt hatten, was ein Segen war, so dachte Charlotte, denn dann mussten sie dieses Grauen nicht mitansehen.

In dem heillosen Chaos, das nun auf der Peach Orchard Farm herrschte, rief Captain Gadsen immer wieder Befehle, während sich seine Männer mühsam und teilweise gegenseitig ins Haus schleppten.

Immer mehr Verwundete lagen auf den nackten Dielen von Salon und Esszimmer, und Charlotte hatte Laken herbeigeholt, die sie nun in lange Streifen riss. Bestürzt hatte sie feststellen müssen, wie wenig Medizin und Verbandszeug Soldaten im Krieg dabeihatten. Tatsächlich kam das meiste jetzt nicht von der Armee, sondern von der Portland-Familie.

Lizzy nahm eines der Laken und bearbeitete es geschickt mit ihren starken schwarzen Händen. „Kümmer du dich um den da, ich mach hier mit den Laken weiter.“

Dankbar für die fähige Hilfe machte Charlotte eine Schüssel halb voll mit Wasser, das Cook vorher abgekocht hatte, und kniete sich neben einen der vielen Männer auf den nackten Esszimmerboden. Er war nicht der erste, den sie behelfsmäßig versorgte, weil der einzige Chirurg in der Kompanie völlig überlastet war.

„Wie heißen Sie?“, fragte sie, während sie seinen zerfetzten Ärmel aufschnitt.

„Joshua Bates“, antwortete er durch zusammengepresste Zähne. „Muss ich jetzt sterben?“

Beim Anblick der verheerenden Wunde, die bis auf den Knochen ging, hielt Charlottes Hand in der Bewegung inne. Die Verletzung selbst war vielleicht nicht lebensgefährlich, doch eine spätere Infektion stellte den wahren Feind dar, das wusste sie nur zu gut aus der Zeit, da sie mit ihrer Mutter die Kranken in Londons Elendsvierteln besucht hatte.

„Ist doch nur eine Fleischwunde.“ Beim Klang der Männerstimme sah Charlotte zu Captain Gadsen hoch, der sich jetzt neben den verletzten Soldaten kniete. Sie tauschten einen Blick aus, und Charlotte erkannte, dass er ebenso wenig wie sie an seine Worte glaubte. Er legte dem Mann eine Hand auf die schweißglänzende Stirn. „Sie haben heute tapfer gekämpft, Private.“

Bates’ Gesicht war weiß wie frisch gebleichter Musselin, und er sog zischend die Luft ein, als Charlotte behutsam die tief eingerissenen Wundränder säuberte. Ein Schwall Blut trat aus. „Würden Sie ihm bitte etwas von dem Whiskey geben?“

Der Captain zögerte nicht. Er hielt den Kopf des Verletzten und flößte ihm nach und nach das betäubende Getränk ein, während Charlotte eine Rolle Verbandszeug in das Einschussloch drückte und den Arm dann mehrmals mit einem Lakenstreifen umwickelte, den sie abschließend festknotete.

„Das sollte die Blutung stoppen.“ Sie betete, dass sie recht hatte, denn Beten war das Einzige, was sie sonst noch für ihn tun konnte.

„Haben Sie medizinische Erfahrung, Ma’am?“, fragte der Captain, während er die Whiskeyflasche wieder verschloss. Edgar würde über den Verlust seiner Spirituosen und seiner Medizin, die er wegen des verkrüppelten Beins und anderer Leiden einnahm, nicht erfreut sein.

„Meine Mutter hat mit mir zusammen die Kranken besucht. Da habe ich einiges kennengelernt.“ Wenngleich nichts derart Grausiges.

Da sie alles für Bates getan hatte, was in Abwesenheit des Chirurgen in ihrer Macht stand, wusch sie sich die Hände in der Wasserschüssel und ging zum nächsten Soldaten. Der Captain blieb derweil noch kurz neben Bates. Sie vernahm Wortfetzen eines leisen Gesprächs und sah aus dem Augenwinkel, wie er einen Zettel aus dessen Brusttasche zog, ihn las und wieder zurücksteckte. Er murmelte ihm noch etwas zu und ging dann zum Nächsten.

Am anderen Ende des Zimmers schrie jemand markerschütternd auf. Wasser plemperte auf den Boden, als Charlotte erschrocken zusammenfuhr und in die Richtung eilte. Mit drei großen Schritten war auch Captain Gadsen zur Stelle. Gemeinsam mit Lizzy und einem Soldaten mit blutendem Ohr hielten sie den hysterischen Mann fest und brachten ihn dazu, sich wieder hinzulegen.

„Der blutet doch gar nicht“, sagte Lizzy.

Der Kopf des Mannes bewegte sich so wild hin und her, dass sein struppiger rotblonder Bart geräuschvoll über das blaue Hemd kratzte. Er brabbelte Unzusammenhängendes. „Hol den Eimer. Sie kommen. Donald! Donald!“

Dann stimmte er erneut ein schrilles Klagegeheul an.

„Ist er blind?“ Captain Gadsen bewegte die Hand vor den starren Augen des Mannes hin und her. Keine Reaktion.

Charlotte kniete sich voller Mitleid neben dem Hysterischen hin. „Schsch. Ganz ruhig. Sie sind in Sicherheit.“

Der junge Soldat krallte sich in Charlottes Arm und drückte so fest zu, dass es wehtat. Sie zuckte kurz, zog den Arm aber nicht weg.

„Sally? Sally?“

Bestürzt sah Charlotte zum Captain, der ihr gegenüberkniete. Ein Dutzend weiterer Männer in verschiedenen Zuständen der Pein beobachteten die traurige Szene.

„Ist Sally seine Frau?“

„Ja.“

„Er liegt im Fieber, Miss Charlotte“, sagte Lizzy. „Er hat den Verstand verloren.“

„Captain!“, rief jemand von der Tür her. „Kommen Sie schnell, Sir.“

Der arme Offizier schien hin- und hergerissen. So viele, die ihn brauchten. So viele, die nach ihm riefen.

Zu viele Fremde in ihrem Haus.

„Ich werde mich um diesen Mann kümmern, Captain. Lizzy, könntest du ihm etwas zur Beruhigung mischen?“

Wachsam blickten Lizzys tiefbraune Augen von ihr zum Captain und zu den anderen in Hörweite. Ihren Arzneien wurde nicht immer Vertrauen entgegengebracht. „Ich schau mal nach, was ich noch dahabe.“

Gerade als sie hinausgehuscht war, stürmte der Hausherr durch die Tür. Völlig entgeistert sah er sich um, ließ den zornigen Blick dann jedoch schnell auf Charlotte ruhen. „Mrs. Portland!“, befahl er sie mit kalter Stimme zu sich.

Charlotte richtete sich halb auf. „Edgar, bitte. Dieser Mann ist …“

„In mein Arbeitszimmer. Sofort!“ Und mit diesen Worten durchquerte er den Salon, ohne auf die Kranken und Verletzten zu seinen Füßen zu achten.

Charlotte fuhr heftig zusammen, als ihr Mann die Arbeitszimmertür zuknallte. Er stellte sich ihr gegenüber hinter seinen Schreibtisch, stützte die Hände ab und lehnte sich bedrohlich vor. Sein Gesicht war vor Wut rot angelaufen und er presste die Kiefer aufeinander.

„Hast du auch nur das kleinste Fünkchen Anstand?“

Charlotte barg die Hände in den Falten ihres Kleides und schwieg. Sich zu verteidigen, brachte ja doch nichts.

Edgar schlug mit der Faust auf den Tisch. Gegen ihren Willen fuhr Charlotte erneut zusammen.

„Antworte, wenn ich mit dir rede!“

Sie streckte das Kinn vor. „Hier liegen Verletzte in unserem Haus, Edgar, ob wir wollen oder nicht. Und der Anstand befiehlt, dass wir ihnen helfen.“

„Ich will sie nicht hierhaben.“

„Ich auch nicht, aber deswegen werden sie nicht gehen. Ist Kooperieren nicht immer noch besser, als erschossen zu werden?“

„Kooperieren? So nennst du das also, wenn du dich mit einem Yankee auf dem Boden wälzt?“

„Der Mann war von Sinnen. Er wusste nicht, was er tat.“ Sie machte einen Schritt auf Edgar zu und streckte flehend die Hand aus. Wenn sie ihr Anliegen als Bitte formulierte, machte das Edgar immer etwas zugänglicher. „Bitte erlaube mir die gute Tat. Es ist doch meine Christenpflicht, mich um die Kranken zu kümmern.“

Sie sah einige angespannte Sekunden zu, wie es in ihm arbeitete, bevor er sich schließlich fluchend zum schmalen Fenster umdrehte und ihr damit den Rücken zuwandte. „Na dann geh. Geh und verhätschel deine Yankees.“

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