1. KAPITEL
„Nun …“ Natasha Kirby schaute in die Runde. „Sagt mir endlich jemand, was los ist? Was soll ich hier?“
Nach einem Moment des Schweigens lehnte Andonis sich lächelnd über den Tisch. „Dein letzter Besuch ist schon viel zu lange her, Schwesterherz. Muss denn unbedingt etwas vor sich gehen, nur weil wir dich zu einer Familienzusammenkunft einladen?“
„Nein.“ Natasha blieb sachlich. „Normalerweise komme ich im Frühjahr und Herbst her, um eure Mutter zu besuchen. Eine so kurzfristige und vor allem so dringende Einladung ist, gelinde gesagt, ungewöhnlich. Und falls das hier ein Familientreffen sein soll … ich kann keine Anzeichen für eine Feier entdecken.“
Im Gegenteil, die Atmosphäre im Haus erinnerte eher an eine Beerdigung, das hatte sie gleich bei der Ankunft bemerkt. Selbst Irini, jüngstes der drei Kinder des verstorbenen Vasili Papadimos, hatte sich bisher mit ihrer sonst immer offen zur Schau getragenen Feindseligkeit gegenüber der englischen Adoptivschwester zurückgehalten.
Natasha entging der Blick nicht, den Andonis seinem älteren Bruder mit einem resignierten Schulterzucken zuwarf. Sie seufzte. Es gab also Probleme, sie hatte es ja gewusst!
Sie kannte sie alle hier viel zu gut – um genau zu sein, seit ihrer Kindheit. Seit Vasili, der Freund ihres Vaters, sie nach Stephen Kirbys unerwartetem Tod in jenen traumatischen Tagen in die palastartige Villa außerhalb von Athen geholt hatte.
„Ich bin ihr Pate“, hatte der Bär von einem Mann geknurrt. „Für einen Griechen bedeutet das lebenslange Verantwortung. Stephen wusste immer, ich würde seine Tochter wie meine eigene aufziehen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“
Und wenn der Besitzer der millionenschweren „Arianna Shipping“ mit solcher Endgültigkeit sprach, war es generell besser, sich ihm nicht zu widersetzen.
Kyria Papadimos hatte Natasha mitfühlend und gütig willkommen geheißen und gesagt, sie solle sie Thia Theodosia – Tante Theodosia – nennen. Stavros und Andonis, die Söhne des Hauses, waren begeistert gewesen, hatten sie doch jetzt neben Irini, der jüngeren Schwester, ein weiteres Opfer, das sie ärgern konnten. Gemeinsames Ziel für die Streiche der Jungen zu sein, hatte jedoch kein Band zwischen Irini und Natasha geknüpft. Irini hatte sich nie dazu überwinden können, Natasha mit der berühmten griechischen Gastfreundschaft zu begegnen, im Gegenteil.
Selbst in ihrer Trauer hatte Natasha bemerkt, dass Irini ihr nichts als Feindseligkeit entgegenbrachte, seit sie den Fuß über die Schwelle ins Haus der Papadimos-Familie gesetzt hatte. Für das andere Mädchen war Natasha der Eindringling, den der Vater ihnen allen aufgezwungen hatte.
Unglücklicherweise half Vasilis Verhalten in der Situation keineswegs. Obwohl noch sehr jung, erkannte Natasha deutlich, dass der Vater seine Söhne anders behandelte als seine Tochter und Irini somit zwang, um seine Aufmerksamkeit zu kämpfen. Sicher, er wurde Irini gegenüber nie laut, aber er blieb distanziert. Selbst für Natasha zeigte er mehr Zuneigung.
Ob Irini nun brav wie ein Engel war oder sich wie ein bösartiger kleiner Teufel verhielt − eine Wandlung, die sie innerhalb von Sekunden vollziehen konnte −, nichts führte eine sichtbare Änderung herbei.
„Sich vorzustellen, dass ihr Name ‚Frieden‘ bedeutet“, hatte Stavros eines Tages missmutig bemerkt. „Sie sollte besser Hekate heißen, Hekate mit den drei Köpfen. Sie jault wie ein Hund, verspritzt Gift wie eine Schlange und sieht aus wie ein Pferd.“
Für seinen boshaften Kommentar war er bestraft worden, dennoch blieb der Spitzname an Irini haften. Und Irinis Lippen waren mit der Zeit immer schmaler geworden, in ihren dunklen Augen standen stets Misstrauen und Verachtung für die ganze Welt.
Natasha hatte sich oft gefragt, warum Thia Theodosia nicht eingriff. Vermutlich hatte die sanfte Frau eigene Schlachten zu schlagen. Theodosia Papadimos war grazil und verletzlich, wirkte wie ein Schatten neben ihrem stämmigen, energiegeladenen Ehemann. In den zwei Jahren nach dem tödlichen Herzinfarkt ihres Mannes hatte sie sich mehr und mehr zurückgezogen und schien damit zufrieden, still und abgeschieden in einem eigenen Flügel der Villa zu leben, betreut von Hara, Krankenschwester und Freundin.
Thia Theodosia hatte auch nicht an dem heutigen Dinner teilgenommen – was eindeutig ein schlechtes Zeichen war. Natasha wusste, Stavros und Andonis besprachen Geschäftliches nur in Abwesenheit ihrer Mutter. Wäre dieses Dinner ein reiner Familienanlass, säße auch Thia Theodosia mit am Tisch.
Die Ehefrauen von Stavros und Andonis jedoch waren dabei, und es war offensichtlich, wie nervös Maria und Christina waren. Ihr Lächeln wirkte gezwungen, das Lachen viel zu schrill.
Sieht aus, als müsste ich den Stein ins Rollen bringen, dachte Natasha mit einem stillen Seufzer, sonst sitzen wir noch ewig hier. Sie musste wieder nach London, zurück in ihr richtiges Leben.
Sie blickte von einem zum anderen. „Lassen wir die Nettigkeiten und kommen zum Wesentlichen. Ich nehme an, ich wurde herbeizitiert, um die kürzlich bekannt gewordenen Probleme bei ‚Arianna‘ zu besprechen.“
„Es gibt nichts mehr zu besprechen.“ Irini hatte bisher nicht viel gesagt, aber jetzt landete der vertraute Dolchblick auf Natasha. „Die Entscheidung ist gefällt, du musst nur noch auf der gestrichelten Linie unterschreiben.“
Natasha unterdrückte ein gereiztes Stöhnen. Der Grund für Irinis Feindseligkeit war offensichtlich: In seinem Testament hatte Vasili verfügt, dass sie, das Pflegekind, einen Platz im Vorstand, volles Stimmrecht und zudem das gleiche Gehalt wie der Rest der Familie erhielt.
Auf das Gehalt hatte sie verzichtet, an den Vorstandssitzungen nur selten teilgenommen. Angesichts der Presseberichte der letzten Monate war das wohl ein Fehler gewesen, denn die Schifffahrtslinie hatte einen Schlag nach dem anderen einstecken müssen. Auf der „Arianna Queen“ waren zwei Drittel der Passagiere an einer Lebensmittelvergiftung erkrankt. Die „Princess“, hatte vor Malta festgelegen, nachdem die Beschäftigten in einen Streik traten, weil die Gehälter nur schleppend gezahlt wurden. Zwei der kleineren Schiffe waren mit Motorschaden ausgefallen, und über die „Empress“, das neue Flaggschiff der Linie, war nach der Jungfernfahrt eine Flutwelle von Beschwerden eingegangen.
Und das waren nur die Passagierschiffe. Die „Leander“-Frachtlinie hatte ebenfalls für Negativschlagzeilen gesorgt. Ein Öltanker war auf Grund gelaufen und hatte eine Umweltkatastrophe verursacht, auf einem anderen Frachter war ein Brand ausgebrochen.
Natasha hatte die Berichte entsetzt mitverfolgt. Zu Vasilis Lebzeiten wäre das nie passiert. Er hatte bereits die Generalüberholung seiner Flotte angeordnet, doch nach seinem Tod war dieser Plan schlicht aufgegeben worden. Dabei wäre es ökonomisch sinnvoll gewesen, ja dringend notwendig. Natasha hatte man bei der Entscheidung übergangen, sonst hätte sie dafür gesorgt, dass Vasilis Pläne umgesetzt würden.
Nicht, dass Andonis und Stavros gern Ratschläge annahmen, schon gar nicht von Frauen und erst recht nicht von ihr – sie, die nach England zurückgekehrt war, um sich ein eigenes Leben aufzubauen, anstatt sich von ihrer Adoptivfamilie in eine arrangierte Ehe drängen zu lassen.
Jetzt wandte sie den Blick von Irini ab. „Ich verstehe. Darf ich fragen, wozu genau ich mit meiner Unterschrift auf der gestrichelten Linie meine Zustimmung gebe?“
Stavros wollte ihr Weinglas nachfüllen. „Nur eine kleine Verzögerungstaktik, mehr nicht.“
Natasha zog ihr Glas außer Reichweite. „So? Warum hast du die Papiere dann nicht einfach an meinen Anwalt geschickt, wie wir es bisher immer gehalten haben?“ Sie hielt inne. „Ich habe mein eigenes Geschäft zu führen, wie ihr wisst.“
Von Irini kam ein verächtliches Schnauben, Andonis und Stavros erklärten im gleichen Atemzug, dass es sich um eine Familienangelegenheit handle, in die Anwälte nicht mit hineingezogen werden sollten. Christina kaute stumm auf ihrer Unterlippe, Maria nestelte schweigend an den schweren Goldketten, die um ihren stämmigen Hals lagen, und Natasha dachte nur: oh Gott, so schlimm also.
Dann fingen die beiden Brüder an zu reden, immer abwechselnd, wie bei einer griechischen Tragödie. Die Worte zeichneten ein Bild von Missmanagement, Gier und Dummheit. Vasilis einst so gewaltiges Reich stand am Abgrund.
„Wir unternehmen bereits die notwendigen Schritte, um die Situation wieder ins Lot zu bringen“, sagte Stavros. „Zuerst einmal werden wir alle Schiffe der Passagierlinie überholen lassen“, verkündete er, als wäre es seine Idee.
„Nun, das ist … gut.“ Besser spät als nie, dachte Natasha gereizt.
„Allerdings ist die Finanzierung schwieriger als gedacht“, fügte Andonis hinzu.
Was war aus Vasilis üppigen Rücklagen geworden? Wahrscheinlich war es besser, nicht danach zu fragen. Falls sie auf einen Kredit von Natasha hofften, musste sie sie enttäuschen. „Helping Out“, das kleine Unternehmen, das Natasha mit dem Erbe ihres Vaters aufgebaut hatte, lief inzwischen so gut, dass sie sich eine Partnerin in die Firma geholt hatte und an einen weiteren Ausbau dachte.
Im Leben der Menschen gab es immer Notlagen, große und kleine: angefangen vom Ausführen von Hunden, Abholen der Kinder von der Schule bis hin zum Haussitten oder der Betreuung älterer Menschen. Im schlimmsten Fall wurde bei Krankheit jemand benötigt, der Pflichten übernahm, für die sonst niemand zur Verfügung stand.
„Helping Out“ hatte sich inzwischen einen Ruf für Zuverlässigkeit und Kompetenz erworben. Mundpropaganda zufriedener Kunden sorgte dafür, dass sich der Kundenstamm stetig vergrößerte. Wenn die Leute auch meist überrascht reagierten, dass Natasha und ihre Geschäftspartnerin Molly Blake gerade erst einundzwanzig Jahre alt waren. Das Geschäft sicherte beiden einen soliden Lebensunterhalt. Die Preise bewegten sich im Mittelfeld, dafür arbeiteten auch nur wirklich fähige und zuverlässige Leute für das kleine Unternehmen, die zudem so gut bezahlt wurden, dass sie gern einsprangen, wenn Not am Mann war.
Aber liquide Mittel waren einfach nicht verfügbar.
„Natürlich verfolgen wir jede Möglichkeit“, fuhr Stavros fort. „Wir gehen davon aus, dass uns der benötigte Kredit bald bewilligt wird. Nur haben wir bis dahin mit einem anderen Problem zu kämpfen.“
Das Schweigen am Tisch wurde drückend, bis Andonis übernahm. „Wenn Blut ins Wasser tropft, kommen die Haie. Gerüchte verdichten sich, dass eine feindliche Übernahme geplant ist.“
„Vor zwei Wochen wurde ein Angebot unterbreitet, die Hälfte der Aktien aufzukaufen“, ergänzte Andonis.
„Und das ist ein Problem?“, fragte Natasha vorsichtig. „Ihr betrachtet das nicht als mögliche Lösung?“
Andonis schlug mit der Faust auf den Tisch. „Es ist eine Beleidigung!“
„Sie bieten zu wenig?“
„Nein“, kam es von Stavros. „Das Angebot ist sogar durchaus fair.“
„Aber wir können es unmöglich annehmen“, mischte Andonis sich wieder ein. „Nicht, wenn es aus dieser Ecke kommt.“
Plötzlich verstand Natasha. Oh nein, nicht schon wieder das! Nicht schon wieder diese Familienfehde! „Mit anderen Worten, es stammt von der ‚Mandrakis Corporation‘.“ Alle am Tisch zuckten zusammen, als hätte sie eine Obszönität von sich gegeben. Sie versuchte es mit Vernunft. „Die Fehde kann doch sicherlich beigelegt werden, jetzt, nachdem Thio Vasili nicht mehr lebt und Petros Mandrakis sich aus dem Geschäft zurückgezogen hat?“
„Du bist eine Närrin, wenn du so denkst“, meinte Irini verächtlich. „Sein Sohn Alexandros sitzt jetzt auf Petros’ Stuhl.“
„Alex Mandrakis? Der berüchtigtste Playboy der westlichen Hemisphäre und Liebling der Regenbogenpresse?“ Natasha schnaubte abfällig. „Der Mann ist wohl eher an seinem Vergnügen als an einer Firmenübernahme interessiert. Wahrscheinlich hält er die Arianna-Linie für eine neue Rasse von Polopferden.“
Andonis verzog den Mund. „Früher vielleicht. Doch inzwischen ist er der Kopf der ‚Mandrakis Corporation‘ und lässt es jeden spüren.“
Natasha schüttelte den Kopf. „So schnell ändern Menschen sich nicht. Schon bald wird ihn die Rolle des Tycoons langweilen, und er nimmt sein altes Leben wieder auf.“
„Ich wünschte, wir könnten das ebenso sehen“, sagte Andonis. „Aber unseren Informationen zufolge ist er wahrhaftig der Sohn seines Vaters – ein Machtfaktor, den man nicht ignorieren darf.“
Der Sohn seines Vaters … Ich wünschte, das könnte man von euch beiden behaupten. „Sagtest du nicht gerade, er hat einen fairen Preis geboten?“, wandte Natasha sich an Stavros.
„Weil er weiß, dass wir nicht annehmen werden. Aber“, meinte Stavros triumphierend, „wir haben bei der Bank durchblicken lassen, dass er interessiert ist und wir es ernsthaft in Betracht ziehen.“
Sie runzelte die Stirn. „Wieso?“
„Weil Alex Mandrakis als Geschäftspartner bei jeder Bank als exzellenter Bürge für ein Darlehen gilt. Sozusagen die Lizenz zum Gelddrucken. Sobald wir der Bank unsere Bedingungen erklärt hatten – Bedingungen, die wir auch Alex Mandrakis unterbreitet haben –, schlug die Stimmung um.“
Ein selbstzufriedenes Grinsen legte sich um Stavros’’ Lippen. „Das ist die Verzögerungstaktik, die ich erwähnte, kleine Schwester. Natürlich wird Mandrakis auf diese Bedingungen nicht eingehen. Darauf setzen wir. Im Moment ist er eindeutig interessiert und hat sogar gewisse … Zusicherungen verlangt. Die wir ihm auch geben werden, nur eben nicht sofort.“
„Wir werden ihn hinhalten“, übernahm Andonis wieder. „Er soll glauben, wir wären bereit, die Vergangenheit ruhen zu lassen.“ Seine Augen sprühten plötzlich Funken. „Aber das sind wir nicht, Natasha mou, und bis er das merkt, haben wir längst das Darlehen in der Tasche und brauchen ihn nicht mehr.“
„Ich will ja nicht querschießen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es so simpel sein soll. Wird die Bank nicht seine Unterschrift auf dem Darlehensvertrag verlangen?“
„Unwahrscheinlich“, erklärte Stavros. „Das Ganze ist eine höchst delikate Angelegenheit. Die Bank wird sich hüten, Druck auf eine der beiden Parteien auszuüben.“
„Ich kenne keine Bank, die bei solchen Summen ‚delikat‘ vorginge. Die ‚Mandrakis Corporation‘ mag ja als Garant gelten, aber Papadimos hatte in den letzten Jahren keineswegs einen so guten Ruf.“ Natasha ignorierte Irinis erstickten Aufschrei. „Sie würden sich auf ein großes Risiko einlassen.“
„So werden sie es aber nicht sehen“, meinte Stavros überzeugt. „Nicht, wenn sie glauben, unsere Familien gehen mehr als nur eine Geschäftspartnerschaft ein.“
Verständnislos sah Natasha ihn an. „Ich begreife nicht ganz.“
„Wir haben durchblicken lassen, dass es eine eheliche Verbindung zwischen unseren Familien geben wird.“ Andonis lächelte triumphierend. „Mandrakis denkt im Moment noch darüber nach.“
Natasha blickte zu Irini. Kein Wunder, dass Irini noch übler gelaunt war als sonst! Sie konnte einem leidtun! Einem Mann wie Alexandros Mandrakis angeboten zu werden, wenn man von vornherein wusste, dass das Angebot abgelehnt werden würde. Obwohl … schlimmer wäre es, wenn er auf das Angebot einginge. Denn wer wollte schon als Teil eines Businessdeals mit einem Mann verheiratet werden, dem die Bedeutung des Wortes „Treue“ völlig fremd war und der seine Frauen ebenso häufig wechselte wie seine Hemden?
Zugegeben, den Großteil ihres Wissens bezog Natasha aus der Regenbogenpresse und den Hochglanzmagazinen, die regelmäßig über Alexandros Mandrakis berichteten. Einmal hatte sie den Mann allerdings persönlich getroffen, auf einem Botschaftsempfang in Athen, zusammen mit ihrer Freundin Lindsay, deren Vater bei der Botschaft angestellt war.
„Wow“, hatte Lindsay damals ehrfürchtig geflüstert. „Sieh jetzt nicht hin, aber Mr Umwerfend ist gerade hereingekommen, in Begleitung des üblichen Topmodels. Oh, warum nur habe ich die Diät nicht durchgehalten!“
„Wovon redest du überhaupt?“, hatte Natasha verdattert nachgefragt.
„Von Alex Mandrakis“, hatte Lin hingerissen geseufzt. „Sexappeal auf zwei Beinen!“
Mandrakis. Der Name reichte aus, um den gesamten Papadimos-Haushalt in helle Aufregung zu versetzen. Hätte Vasili gewusst, dass der Sohn seines Erzfeindes ebenfalls anwesend sein würde, hätte er Natasha nie auf diesen Empfang gehen lassen!
Dennoch riskierte sie einen Blick, schließlich würde sie Alex Mandrakis nie wieder über den Weg laufen. Natasha erkannte ihn sofort. Allein durch seine Größe stach er aus der Menge heraus. Und sein Gesicht würde sie so leicht nicht vergessen. Sie schnappte leise nach Luft. Eine schlanke Statur im eleganten Smoking, mit markanten Zügen, einem Grübchen im Kinn und einem Mund, der einfach nur als sündhaft sinnlich bezeichnet werden konnte.
Sie hatte nicht vorgehabt, ihn anzustarren, aber sie war auch nicht die Einzige. Dennoch erregte sie wohl irgendwie seine Aufmerksamkeit, denn er wandte plötzlich den Kopf in ihre Richtung. Ihre Blicke trafen sich, seine Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, und seine dunklen Augen funkelten, als er sie unverhohlen musterte. Vor Verlegenheit wäre Natasha damals am liebsten im Boden versunken.
Die Erinnerung war ihr im Gedächtnis geblieben, und so sagte sie jetzt scharf: „Wenn er sich plötzlich zum Tycoon gemausert hat, wird ihm auch klar sein, dass das Ganze nur ein Bluff ist. Irini hat schließlich nie mit ihrer Meinung über die Mandrakis-Familie zurückgehalten, erst recht nicht über Alex Mandrakis.“
Spannung hing plötzlich in der Luft. Wieder tauschten die beiden Brüder vielsagende Blicke, dann lächelten sie beide gleichzeitig.
Wie früher dachte Natasha, wenn ich vor dem Zubettgehen besser nachschaute, ob nicht eine Eidechse unter den Decken versteckt war.
„Wieso Irini?“ Stavros genoss den Moment ganz offensichtlich. „Selbst wenn sie mitmachen würde … so dumm sind wir auch nicht. Nein, kleine Schwester, du bist als Alex Mandrakis’ zukünftige Braut auserkoren worden. Nun, was hältst du davon? Ist das nicht clever?“
„Clever?“ Natashas Stimme klang schrill. „Das ist das Lächerlichste, was ich je gehört habe. Ihr beide seid wohl nicht ganz bei Trost!“
Andonis lehnte sich vor. „Natasha, wir bitten dich doch nur um einen kleinen Gefallen. Du brauchst bloß den Brief zu unterschreiben, den wir für Mandrakis aufgesetzt haben. Damit erklärst du dich mit einer Heirat einverstanden, als Bestandteil unserer Vereinbarung. Ich versichere dir, er wird nicht darauf eingehen. Mandrakis hat nicht vor zu heiraten.“
Er zuckte mit den Achseln. „Warum sollte er auch, wenn so viele schöne Frauen willig das Bett mit ihm teilen? Jetzt ist er wie alt? Dreißig? In zehn, fünfzehn Jahren heiratet er vielleicht, weil er einen Erben braucht, vorher nicht.“
„Keine Bange“, mischte Irini sich abfällig ein. „Von dir will er ganz bestimmt nichts – du mit deinem farblosen Haar und deiner blassen Haut.“ Sie lachte verächtlich. „Welcher Mann will schon ein Wesen, das aussieht, als würde kein einziger Blutstropfen in seinen Adern fließen? Vor ihm bist du sicher.“
Wieder drängten sich Natasha die Bilder aus der Erinnerung auf – der amüsierte Blick, mit dem Mandrakis sie damals gemustert hatte. Ihr fielen auch scharfzüngige Antworten für Irini ein, einschließlich der Information, dass sie sich in London mit einem Mann traf, der sie keineswegs für reizlos hielt, aber sie beherrschte sich. Zumindest war ihr jetzt klar, warum Thia Theodosia nicht mit am Tisch saß. „Ob ich vor ihm sicher bin oder nicht, darum geht es hier nicht. Ich weigere mich schlicht, an einem so verrückten Plan teilzuhaben.“
Schweigen senkte sich über die Runde, bis Stavros erklärte: „Du enttäuschst mich. Fehlt es dir denn an jeglicher Dankbarkeit für die Familie, die dich aufgezogen hat? Dieser Brief ist nicht mehr als eine Formalität. Ist das etwa zu viel verlangt? Die Zukunft des Unternehmens hängt davon ab.“
„Ich dachte, ihr wollt es noch hinausschieben?“
„Das haben wir ja bereits. Jetzt erwartet er eine Reaktion von uns. Und wir liefern ihm einen kleinen Anreiz, um sein Interesse wachzuhalten.“ Andonis lachte listig. „Und ihn friedlich zu stimmen.“
„Friedlich und Alex Mandrakis in einem Atemzug?“ Unruhig schob Natasha ihren Stuhl zurück und stand auf. Sie ging zu den großen Glastüren, die in den Garten hinausführten. „Ihr hättet mich nicht da hineinziehen dürfen. Dazu hattet ihr kein Recht.“
„Es schadet dir doch nicht. Es wird keine Heirat geben, ganz sicher nicht. Eine Frau, die er noch nie gesehen hat, bietet sich ihm als Ehefrau an – das wird seinem Ego schmeicheln und ihn für eine kleine Weile nachdenken lassen … Und genau diese Zeit brauchen wir, um das Fortbestehen des Vermögens der Papadimos-Familie zu sichern. Einer Familie, zu der du übrigens auch gehörst, Natasha mou. Vielleicht solltest du dich daran erinnern, dass unser Vater dich wie ein eigenes Kind aufgezogen hat. Vielleicht ist die Zeit gekommen, um ihm diese Großzügigkeit mit einer großzügigen Geste deinerseits zu vergelten.“
„Euer Vater hätte die Finger von einem solchen Deal gelassen“, konterte sie kalt. „Das wisst ihr. Er hasste die Mandrakis-Familie.“ Und Alex Mandrakis hat mich gesehen, auch wenn er sich bestimmt nicht daran erinnert …
„Genau. Stell dir nur vor, was für eine Genugtuung es sein wird, wenn Alex Mandrakis sich zum Narren macht. Dann haben wir bewiesen, dass er keineswegs der gewiefte Tycoon ist, und er verliert vor allen sein Gesicht. Unser Vater hätte eine solche Gelegenheit niemals ungenutzt verstreichen lassen.“
Auch das stimmte. Waren Andonis und Stavros wirklich überzeugt, dass ihr Plan funktionieren würde? War den beiden nie in den Sinn gekommen, dass Mandrakis einen eigenen Plan haben könnte? Falls ja, dann konnten sie sich alle warm anziehen!
„Na schön, ich mach’s“, gab sie resigniert nach. „Dennoch halte ich es für eine blödsinnige Idee. Ich kann nur hoffen, hinterher folgt nicht das große Heulen und Zähneklappern.“
In dieser Nacht fand Natasha keinen Schlaf. Das Gefühl, einen verhängnisvollen Fehler gemacht zu haben, ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Das arme Kopfkissen erhielt mehr als nur einen frustrierten Knuff von ihr. Nur der Gedanke, dass sie endlich ihre Schuld bei der Papadimos-Familie beglichen hatte, war ihr ein Trost.
Vermutlich würde alles nicht mehr so schlimm aussehen, wenn sie erst wieder in London war – zurück in der realen Welt, in dem Apartment, das sie sich mit Molly teilte, solange deren Verlobter noch in Übersee war, zurück in der Firma, die sie gemeinsam weiter ausbauten, und natürlich zurück bei Neil.
Vor sechs Wochen hatten sie und Neil sich kennengelernt. Neil war Chef einer PR-Agentur, sah blendend aus und besaß enormen Charme.