1. KAPITEL
Er hatte sich hoffnungslos
übernommen.
Und nicht nur das, er konnte keiner seiner
Aufgaben mehr gerecht werden. Das war schneller geschehen, als ihm
lieb war.
Jake Castro, Polizist in New Orleans, strich
sich mit einer Hand durch seine zerstrubbelten Haare – als ob
ihm das irgendwie helfen würde, auch seine Gedanken in Ordnung zu
bringen, den Nebel daraus zu vertreiben, der sich seit einigen
Wochen in seinem Kopf festgesetzt hatte. Seit den fürchterlichen
Ereignissen, die sein Leben so grundlegend verändert hatten.
Mit einem tiefen Seufzer blickte er auf die Uhr
auf seinem Nachttisch.
Fünf Minuten. Mehr hatte er nicht bekommen.
Fünf Minuten.
Fünf Minuten Schlaf, bevor Marlie angefangen
hatte zu schreien, laut genug, um Tote aufzuwecken. Oder zumindest
ihn.
Immer noch im Halbschlaf, erhob er sich und
stolperte zur Wiege hinüber, die seit Kurzem in seinem
Junggesellenschlafzimmer stand. Übernächtigt starrte er die kleine
Gestalt darin an.
„Ich kaufe dir ein Auto, wenn du mich noch
fünfundzwanzig Minuten länger schlafen lässt.“
Sein Bestechungsversuch traf auf taube Ohren.
Wenn Marlie überhaupt eine Reaktion zeigte, dann schrie sie jetzt
noch lauter.
So viel also zum Thema
Bestechung.
Mit einem weiteren resignierten Seufzer griff
Jake in die Wiege und hob seine sieben Monate alte Tochter
hoch.
Sie beruhigte sich sofort, und normalerweise
wäre er darauf stolz gewesen, hätte es als Zeichen gesehen, dass
das Baby eine Beziehung zu ihm aufbaute. Aber er war viel zu
fertig, um sich davon trösten zu lassen.
Er ging auf dem Zahnfleisch, und das seit
Tagen.
„Ich kann so nicht weitermachen, verstehst
du?“, fragte er, während er zum Schaukelstuhl ging, der ebenso neu
war wie sein Status als alleinerziehender Vater.
Marlie mochte es am liebsten, wenn sie
herumgetragen wurde, aber Jake war zu müde, um mit ihr auf und ab
zu gehen. Er hatte eine lange, kraftzehrende Schicht hinter sich
und war später als üblich nach Hause gekommen, worüber
Mrs Rutherford, die Frau, die gegen Bezahlung auf Marlie
aufpasste, gar nicht glücklich gewesen war.
Kaum drei Wochen jonglierte er jetzt mit all
seinen Aufgaben und musste zu seinem Verdruss feststellen, dass er
nicht tagsüber Officer Castro, der Super-Cop, sein konnte, um sich
dann des Nachts in Super-Dad zu verwandeln. Irgendwann zwischendrin
brauchte er – dringend – Schlaf, wenn er nicht völlig
zusammenbrechen wollte.
„Ist alles mein Fehler“, sagte er zu dem
kleinen menschlichen Wesen in seinen Armen.
Doch Marlie blieb von den Worten ihres Vaters
gänzlich unbeeindruckt. Stattdessen steckte sie sich einen Daumen
in den Mund und nuckelte daran, als könnte der irgendeine Art von
Nahrung abgeben, wenn sie nur heftig genug saugte. „Ich hätte nur
Nein sagen müssen. ‚Nein, Maggie, ich werde das nicht tun‘, und
nichts hiervon wäre passiert. Verdammt … tut mir leid.“
Jake hörte abrupt auf, sich Vorwürfe zu machen.
Keine Flucherei mehr im Haus, wenigstens nicht, wenn Marlie ihn
hören konnte. Diese Regel hatte er selbst aufgestellt, aber es fiel
ihm schwer, sich daran zu halten, besonders wenn er sich so
zerschlagen fühlte.
„Himmel“, lenkte er ein, „wem will ich hier
etwas vormachen? Deine Mutter war so stur, sie hätte jemand anderes
gefunden, in kürzester Zeit.“ Einen anderen, der den männlichen
Part beigetragen hätte, um dieses winzige Naturwunder zu
erschaffen, das Wunder mit den kräftigen Lungen, das er hier in den
Armen hielt.
Außerdem war er schon halb verliebt gewesen in
Maggie O’Shea, als sie zum ersten Mal in die Wache spaziert war und
Lieutenant Franco ihm eröffnet hatte, diese Erscheinung in blauer
Uniform sei seine neue Partnerin. Maggie war scharfsinnig und
witzig und so verdammt umwerfend mit ihren roten Haaren, dass es
ihn vor Verlangen schmerzte, wenn er sie nur ansah.
Ihre Beziehung war gut, sowohl im Job als auch
sonst. Irgendwann einmal sprachen sie über ihre
Zukunftsvorstellungen, ihre Ziele und Wünsche. So erfuhr er, dass
sie alles sein wollte – eine überragende Polizistin und eine
perfekte Mutter.
Sie war dabei, ihr erstes Ziel zu erreichen,
als ihre biologische Uhr zu ticken begann. Das zerrte an Maggies
Nerven, und Maggie wiederum begann, sachte an ihm zu zerren,
bearbeitete ihn Tag um Tag, immer erbarmungsloser, bis er
schließlich nachgab.
Einen flüchtigen Moment lang glaubte er, sie
würden die Sache auf die altmodische Art angehen. Aber Maggie
vertrat ihre Absichten ihm gegenüber klar und deutlich. Sie wollte
keinerlei romantische Verwicklungen und definitiv keinen
Körperkontakt mit ihm.
„Ich fühle mich durchaus zu dir hingezogen,
Castro“, hatte sie gesagt. „Aber ich mag keine Komplikationen.
Mochte ich noch nie.“
Das war die reinste Ironie, wenn man all die
Komplikationen bedachte, mit denen er sich jetzt konfrontiert
sah.
Ihren Plan hatte sie ihm genau erklärt. Alles
würde klinisch und höchst professionell ablaufen. Und sobald der
Eingriff geglückt wäre, würde es ihm freistehen weiterzuziehen, wie
Maggie erklärte. Sie würde nichts weiter von ihm verlangen.
Bis sie alles von ihm verlangte.
Irgendwann zwischen seiner Zustimmung zu dieser
künstlichen Befruchtung und dem Beistand, den er ihr während der
Geburt leistete, weil sonst niemand aus ihrer Familie erreichbar
war, erkannte Jake, dass er sich in Maggie verliebt hatte.
Sehr.
Auch sie erkannte es.
Sah es in seinen Augen, hörte es in seiner
Stimme. So deutlich, dass es sie verschreckte und dazu brachte,
einen neuen Partner zu verlangen, sobald sie wieder im Dienst
war.
Das war auch so ein Streitpunkt zwischen ihnen.
Seiner Meinung nach war sie viel zu früh in den Dienst
zurückgekehrt. Er wollte nicht, dass sie Marlie so bald schon
verließ, und sorgte sich insgeheim – oder vielleicht nicht so
geheim – wegen den Risiken, die sie jeden Tag, an dem sie ihre
Marke an der Brust trug, einging.
Aber er konnte sie nicht davon abhalten. Je
mehr er auf sie einredete, desto weniger hörte sie ihm zu. Das Ende
vom Lied war, dass Maggie drei Monate nach der Geburt in den Dienst
zurückkehrte.
Und weitere drei Monate später war sie tot.
Er wusste noch genau, wie er sich gefühlt
hatte, als er die Nachricht über Funk gehört hatte. Als hätte ihm
jemand ein Messer in den Bauch gerammt und es langsam umgedreht.
Der Tacho war auf über hundertsechzig geklettert, während er zum
Krankenhaus gerast war, in das sie Maggie gebracht hatten.
Sie hatte noch gelebt, als er angekommen
war. Lange genug, um ihm das Versprechen abzunehmen, sich um ihr
kleines Mädchen zu kümmern – als ob er erlaubt hätte, dass
jemand anderes das Baby bekäme. Marlie war alles, was ihm von
Maggie blieb.
Maggie starb, sobald er Ja gesagt hatte. Starb
mit einem Lächeln auf den Lippen.
Starb, obwohl er ihre Hand so festhielt, als
könnte er sie zurückholen ins Reich der Lebenden.
Natürlich war es unmöglich. Er konnte Maggie
nicht retten. Sie war vor seinen Augen gestorben, hatte ihn mit
gewaltigen Schuldgefühlen zurückgelassen. Schuldgefühle, die von
seiner Überzeugung herrührten, dass er, Partner oder nicht, für sie
hätte da sein, sie schützen müssen. Sie beschützen.
Aber er hatte sie nicht beschützen können.
Jetzt war sie fort, und er war hier, versuchte weiterhin der zu
sein, der er gewesen war, bevor seine Welt einen Riss bekommen
hatte und in ihren Grundfesten erschüttert worden war. Versuchte,
er selbst zu sein und auch etwas Neues. Ein Vater.
Im Moment versagte er, seiner Ansicht nach
elend, an beiden Fronten.
Marlie begann wieder zu jammern, brachte ihre
Unzufriedenheit immer lauter zum Ausdruck. Jake kannte diesen Ton.
Sie hatte Hunger. Wurde er besser in der Interpretation ihrer Laute
oder hatte er einfach Glück beim Raten?
Er wusste es nicht.
Er drückte die Kleine an seine Brust und stand
auf, um in die Küche zu gehen.
Dort hatte er bereits einen kleinen Topf mit
Wasser vorbereitet, das nur noch auf dem Herd erhitzt werden
musste. Zielstrebig öffnete er den Kühlschrank.
In Reih und Glied standen die Flaschen mit
Muttermilchersatz im obersten Fach. Gleich neben ebenso großen
Bierflaschen. Sie klirrten leise, als er einige zur Seite drückte,
um an die Milch zu kommen.
„Das war die Lieblingsmarke deiner Mom“,
erzählte er Marlie und hielt inne, damit sie hineinsehen konnte.
„Deine Mom hat es geliebt, sich am Ende eines Tages ein oder zwei
davon zu gönnen, um sich zu entspannen – natürlich bevor sie
mit dir schwanger wurde“, schränkte er ein.
Jake kickte die Tür mit seiner Hüfte zu und
lehnte sich kurz dagegen, versuchte, sich zusammenzunehmen.
Er musste aufhören, sich das anzutun. Er durfte
nicht länger alles und jedes mit Maggie in Verbindung bringen. Sie
mit jeder einzelnen Sekunde seines Lebens zu verweben, würde nichts
ändern.
Würde sie nicht zurückbringen.
Jake schaltete auf Autopilot, er wusste wie im
Schlaf, was zu tun war. Dann stand er da und starrte auf die
Flasche, die er in den Topf gestellt hatte, wartete, dass sie warm
wurde.
Drei Minuten später nahm er das Fläschen heraus
und testete dessen Wärme an seinem Handgelenk. Es war eiskalt.
„Warum …?“ Der Rest seiner Frage löste sich in
Luft auf, als er zum Herd blickte. Kein Wunder, dass die Milch
nicht warm geworden war. Er hatte den Herd nicht eingeschaltet.
Er brauchte Hilfe.
Jake legte die Flasche zurück in den
Topf und schaltete den Herd ein. Dann griff er nach dem schnurlosen
Telefon an der Wand und rief seine Schwester an.
Es klingelte fünfmal. Jake wollte schon
auflegen und neu wählen, als er eine schläfrige Stimme hörte.
„Hallo?“
Selbst flüsternd erkannte er Erins Stimme.
„Ich gebe auf“, sagte er. „Du hast recht. Ich
brauche Hilfe. Ich bin gnadenlos überfordert.“
„Jake?“ Seine Schwester klang immer noch
verwirrt, aber sie flüsterte nicht mehr.
Im Hintergrund hörte er eine tiefe, männliche
Stimme. „Wer ist das, Erin?“
Jetzt klang es, als würde Erin den Hörer mit
der Hand zudecken, um jemandem im Hintergrund etwas zu sagen. „Ich
glaub, es ist Jake.“
„Ja, ich bin’s“, bestätigte Jake. „Wie viele
andere überforderte Männer kennst du?“
„Keine, die um zwei Uhr morgens hier anrufen
würden“, antwortete sie. „Ich habe gerade friedlich geschlafen, ehe
mich das Klingeln geweckt hat.“
„Verdammt … Himmel“, korrigierte Jake sich
erneut mit Rücksicht auf das Kind in seinen Armen. Aufs Fluchen zu
verzichten, stellte sich als schwieriger heraus, als er gedacht
hatte.
„Ich habe den Zeitunterschied vergessen“, gab
er zu. Er rief von New Orleans aus an. Seine Schwester lebte in
Thunder Canyon in Montana. „Tut mir leid, dass ich dich geweckt
hab. Ich rufe morgen früh wieder an.“
„Nein, nein“, sagte Erin sofort, ihre Stimme
klang schon viel klarer. „Leg nicht auf.“
Es war halb Bitte, halb Befehl. Erin kannte
ihren großen Bruder. Sie wusste nur zu gut, dass er nicht noch
einmal anrufen würde. Jake würde sich lieber die Zunge abbeißen,
als ein zweites Mal um Hilfe zu bitten. Aber solange er so
verzweifelt war wie im Moment, konnte sie es zu ihrem – und,
noch wichtiger, zu seinem – Vorteil nutzen.
Jake konnte unglaublich stur sein. Es war nie
leicht, ihn zur Einsicht zu bringen. Sie konnte nicht riskieren,
sich diese Gelegenheit entgehen zu lassen.
„Mein Hilfsangebot steht, Jake. Du kannst mit
dem Baby so lange bei Corey und mir bleiben wie nötig“, sagte sie
und bezog so ihren frisch angetrauten Ehemann mit ein. Wie die
ganze restliche Familie war Jake zur Hochzeit da gewesen und dann
nach New Orleans zurückgekehrt. „Wir haben wirklich mehr als genug
Platz.“
Jake lachte kurz auf. Er wusste das Angebot zu
schätzen, aber er war nicht so egozentrisch oder verzweifelt, dass
er sich nicht in die Lage seines neuen Schwagers versetzen
konnte.
„Das würde mich bei Corey sicher sehr beliebt
machen“, sagte er zu seiner Schwester. „Nichts geht über eine
dritte – und eine vierte – Person im Haus, während man
versucht, als frisch verheiratetes Paar einen gemeinsamen Alltag zu
leben.“
Erin musste zugeben, dass ihr Bruder da nicht
ganz unrecht hatte. „Okay, aber wir haben ein großes Haus“, stellte
sie klar. „Du könntest wochenlang hier sein, ohne dass wir es
bemerken. Außerdem könnte ich mich um meine neue Nichte
kümmern.“
Jake seufzte. In seiner Verzweiflung war er
selbstsüchtig gewesen, und das wusste er auch. „Du hast dein
eigenes Leben, Erin.“ Er konnte sich nicht aufdrängen, nur weil er
vollkommen überfordert war.
Das hätte ich wissen müssen, dachte
Erin. Selbst wenn ihr Bruder eigentlich ihrer Meinung war, konnte
er eine Sache ganz schön verkomplizieren. Aber sie würde Jake nicht
erlauben, Gründe zu finden, nicht nach Thunder Canyon zu kommen.
Jake brauchte Hilfe, das hatte er zugegeben, wenn auch nur
flüchtig.
„Die Familie steht an erster Stelle“, erinnerte
Erin ihn. An dieses Prinzip glaubte sie aus vollem Herzen, ebenso
wie Corey. „Außerdem kenne ich eine Babysitterin, die einspringen
kann, wenn du eine Pause brauchst und ich nicht verfügbar bin.“
„Eine Babysitterin?“ Er legte einiges an
Verachtung in das Wort. „Soll ich einem Teenager eine Stange Geld
hinblättern, damit sie die ganze Nacht an ihrem Handy hängt,
rumzwitschert …“
„Twittert“, korrigierte Erin geduldig. Auch
wenn sie die Erste war, die zugab, wie klug und kompetent Jake
war – wenn es um etwas Elektronisches ging, war er immer noch
hilflos wie ein Säugling.
„Wie auch immer“, sagte er ungeduldig. „Oder
einer alten Frau, die nach Katzen riecht und einschläft, sobald ich
die Tür zumache?“, fuhr er fort. „Nein danke.“
„Calista Clifton ist kein Teenager“, klärte
Erin ihn über die junge Frau auf, an die sie dachte. „Und sie
riecht nicht nach Katzen. Sie ist intelligent und fröhlich und
kommt aus einer großen Familie, also ist sie vertraut mit
spuckenden Babys und vollen Windeln. Du wirst sie mögen.“ Erin
verzichtete vorerst darauf, die anderen Vorzüge der jungen Frau zu
erwähnen.
Vom anderen Ende der Leitung kam keine Antwort.
„Hallo? Hallo! Jake, bist du noch da?“
Jake zuckte zusammen und riss die Augen
auf, als die Stimme seiner Schwester endlich wieder in sein
Bewusstsein drang. Unglaublich, er musste im Stehen eingeschlafen
sein. Das Telefon lag auf dem Tresen, es musste ihm aus der Hand
geglitten sein.
Im selben Moment bemerkte er, dass das Wasser
im Topf fast völlig verkocht war.
Er nahm das Telefon und presste es wieder ans
Ohr. Mit einer Erklärung oder gar einer Entschuldigung hielt er
sich erst gar nicht auf. Damit würde Erin nur noch mehr die
Oberhand gewinnen. „Ja, ich bin dran“, antwortete er.
Dann klemmte er den Hörer zwischen Ohr und
Schulter und schob den Topf auf eine andere Herdplatte.
Jake unterdrückte einen Aufschrei, als er sich
die Hand am Metallgriff des Topfes verbrannte.
Er holte tief Luft und bemühte sich, den
Schmerz zu ignorieren. „Okay, du hast mich überredet. Ich kündige
meinen Job und komme zu euch. Du kannst dieser Callous Bescheid
geben …“
„Calista“, korrigierte Erin.
„Ja, genau der“, stimmte er zu. Und dann kam
der Polizist in ihm durch, als er hinzufügte: „Aber ich will sie
befragen, bevor sie auf Marlie aufpassen darf.“
Seine Schwester lachte. Der warme Klang war
beruhigend. „Anders würde ich es gar nicht haben wollen, großer
Bruder.“
Sie brauchte das Geld eigentlich nicht.
Mit dem Sommerpraktikum bei ihrem Cousin
Bo, der zufällig der Bürgermeister von Thunder Canyon war, und
ihrem Halbzeitjob im Tattered Saddle, dem örtlichen
Antiquitätenladen, hatte sie zwar nicht gerade Geld im Überfluss,
aber es reichte. Und schon mit zwei Jobs blieb Calista Clifton kaum
Freizeit.
Aber Fakt war, dass sie Kinder mochte,
insbesondere Babys. Und sie gern anderen Menschen einen Gefallen
tat. Also konnte sie kaum ablehnen, als Erin Traub ihr die
Situation mit ihrem älteren Bruder erklärte, denn hier spielte
beides eine Rolle: ein Baby und
Hilfe.
Aber ausschlaggebend für ihre Entscheidung war
Jake Castro selbst gewesen. Sie hatte zugestimmt, ihn zu treffen,
und saß in Erins großem, sonnendurchflutetem Wohnzimmer, als Jake
das Zimmer betrat, seine sieben Monate alte Tochter auf dem
Arm.
Wenn sie ehrlich war, musste Calista zugeben,
dass sie das Baby erst auf den zweiten Blick bemerkt hatte. Denn
Jake Castro war womöglich der attraktivste Mann, der jemals ihren
Weg gekreuzt hatte.
Als sie ihn sah, fingen in ihrem Bauch sofort
einige Schmetterlinge an, aufgeregt zu flattern, und ihre
Handflächen wurden feucht. Letzteres war ihr nicht mehr passiert,
seit sie mit sechzehn in den Kapitän des Footballteams verliebt
gewesen war. Leider hatte der sich als ebenso dumm und seelenlos
wie attraktiv herausgestellt.
Jake wirkte nicht, als wäre er dumm oder
seelenlos. So, wie er das Baby hielt, konnte er das gar nicht
sein.
„Es wäre nicht so oft“, sagte er, nachdem Erin
sie einander vorgestellt und dann das Zimmer verlassen hatte.
„Höchstens ein-, vielleicht zweimal die Woche, aber …“
Nicht nötig, mich zu überreden, dachte Calista.
Sie war in der Sekunde überzeugt gewesen, als er hereingekommen
war. Schon bevor er das erste Wort gesagt und sie diese
Baritonstimme gehört hatte.
„Ja“, unterbrach sie ihn begeistert.
Jake hielt inne und strich Marlie beruhigend
über den Rücken. Es war verblüffend, wie die Kleine immer den
ungünstigsten Moment fand, um zu jammern.
Er blickte die junge Frau an, die seine
Schwester ausgesucht hatte. „Was?“
„Ja“, wiederholte Calista mit derselben
lächelnden, sonnigen Begeisterung.
„Ja?“ Erleichtert stellte er fest, dass er
seine besten Verkaufsargumente noch nicht einmal hatte nennen
müssen. Er mochte es nicht, um Hilfe zu bitten, auch wenn er dafür
bezahlen würde. Aber dieses kleine Fünfkilobündel in seinen Armen
schien sein persönliches Waterloo zu werden.
Calista lächelte. „Ja, ich kann ein- oder
zweimal die Woche babysitten. Oder auch öfter, wenn nötig.“ Ihr
Kalender war übervoll, aber sie würde das schon schaffen. Dazu war
sie fest entschlossen.
Calista biss sich auf die Unterlippe, als sie
einen Fleck auf seinem Hemd bemerkte. Irgendwie fühlte sie sich in
Jakes Gegenwart unsicher. Sollte sie ihm sagen, dass ihm seine
Tochter auf die Schulter gespuckt hatte? Sie an seiner Stelle wäre
dankbar für den Hinweis.
Sie gab sich einen Ruck. „Ähm, das Baby –
Marlie, richtig?“
„Stimmt, Marlie“, bestätigte er. Der Name war
nicht gerade sein Favorit gewesen. Wenn es nach ihm gegangen wäre,
hätte sie einen weniger ausgefallenen bekommen, aber Maggie hatte
ihn in die Namenswahl nicht einbezogen. Maggie hatte immer sehr
genau deutlich gemacht, was sie von ihm gewollt hatte – und
was nicht.
„Marlie hat dir gerade auf die Schulter
gespuckt“, sagte Calista.
„Was?“ Das klang eher peinlich berührt als
verärgert.
„Warte, ich nehme sie dir ab“, bot Calista an.
Im nächsten Moment schloss sie das Baby in ihre Arme und trat einen
Schritt zurück.
Jake verrenkte sich den Hals, um den Schaden zu
begutachten: Ein Viertel ihrer letzten Mahlzeit hatte seine Tochter
auf seinem Hemd verteilt. Jetzt hatte er nur noch ein Hemd, das
nicht mit Babynahrung oder Milch getauft worden war.
Er unterdrückte den Fluch, der ihm automatisch
auf der Zunge lag. Was das anging, befand er sich immer noch in der
Trainingsphase. Aber er wurde besser.
Jakes Schwester hatte nur kurz
angedeutet, in welcher Lage ihr Bruder sich befand – ein Kind
mit einer Frau, mit der er nicht verheiratet gewesen war.
Eigentlich ein Junggeselle also, und Calista musste keine
Hellseherin sein, um zu wissen, was er gerade dachte. „Wenn du mir
das Hemd gibst, kann ich dir zeigen, wie du es behandeln musst“,
sagte sie.
Verwirrt sah er sie an. Er wirkte etwas
begriffsstutzig. „Wie behandeln?“
„Ich kann dir zeigen, wie du diesen
Fleck rausbekommst“, erklärte sie. „Vor allem, wenn du es mir
gibst, bevor er Zeit hat einzutrocknen. Das Timing ist bei solchen
Flecken entscheidend.“
An seinem Gesichtsausdruck konnte sie erkennen,
dass er sich fühlte, als steuerte er ein Schiff durch unbekannte
Gewässer. Die meisten Männer kannten sich mit den Alltagsdingen des
Lebens nicht aus, das wusste Calista von ihren Brüdern. Saubere
Kleidung war für sie eine Selbstverständlichkeit und nichts, worum
man sich bemühen musste.
Dann sah sie, wie Jake begann sein Hemd
aufzuknöpfen.
Sie starrte ihn an, benommen von dem Anblick,
der sich ihr bot, während jeder geöffnete Knopf ein Stück mehr
nackte Haut freigab. Ihr Mund wurde trocken. „Was machst du
da?“
Verwirrt zog er die Augenbrauen zusammen. „Ich
mache, was du mir gesagt hast. Du wolltest das Hemd doch lieber
früher als später, stimmt’s?“
„Stimmt“, murmelte Calista, die Stimme kaum
lauter als ein Wispern. Ihre Augen weiteten sich. Sie konnte den
Blick nicht von Jakes Haut abwenden.
Der Mann hatte muskulöse Arme, und seine
Bauchmuskeln wirkten, als hätte sie ein geradezu göttlich begabter
Künstler geschaffen. Einen ähnlich perfekten Oberkörper hatte sie
mal in einem Katalog eines New Yorker Museums gesehen.
Jake streckte ihr das Hemd hin, tauschte es
gegen seine Tochter. Während er Marlie gegen seine Brust drückte,
betrachtete er die benommen wirkende junge Frau, die vor ihm stand
und ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Schokoladenbraunen
Augen.
„Stimmt was nicht?“
Calista blinzelte, dann senkte sie den Blick.
Idiotin, schalt sie sich selbst.
„Nein, alles in Ordnung“, antwortete sie etwas
zu schnell. „Ich bin nur froh, dass Marlie nicht auf deine Jeans
gespuckt hat.“
„Oh.“ Hätte er ihr das Hemd nicht gleich geben
sollen? „Ich habe gedacht, du meintest, man müsste so einen Fleck
bearbeiten, bevor er eingetrocknet ist, was immer das
bedeutet.“
Was man bei Wäsche alles beachten musste, hatte
ihn noch nie interessiert. Er schmiss einfach alles zusammen in die
Maschine und hoffte das Beste. Bisher hatte das auch funktioniert.
Bis Marlie in sein Leben gekommen war.
Als Calista merkte, dass sie ihn schon wieder
anstarrte, riss sie sich verärgert von seinem Anblick los.