1. KAPITEL
In der Stille unmittelbar vor dem ersten Schuss befand sich Lady Sarah Stanton in ihrer Kajüte an Bord der HMS Linx. Gerade machte sie sich für das Abendessen in der Offiziersmesse bereit.
Mit durchgedrücktem Rücken stand sie vor dem einklappbaren Schreibtisch, der ihr auf der langen Reise über den Atlantik als Toilettentisch gedient hatte. Während ihr Dienstmädchen mit den Korsettschnüren beschäftigt war, schaute Sarah durch das Bullauge zum Mond, der an diesem Aprilabend tief am Himmel stand.
Die silbrige Scheibe, von der nach und nach nichts weiter als eine hauchdünne Sichel übriggeblieben war, seit die Linx vor so vielen Wochen Plymouth verlassen hatte, war nun wieder voll und rund. Dicht über der indigoblauen See stehend, verkündete sie das unmittelbar bevorstehende Ende der langen Reise … und das Ende von Sarahs Gnadenfrist.
Schon bald würde die Linx vor den Westindischen Inseln vor Anker gehen. Und so stand in wenigen Tagen Sarahs Heirat mit Captain Sir James Lowell auf dem Plan, einem Veteranen aus dem Krieg mit Napoleon und Herrn über diese Fregatte.
Der verwitwete James hatte das Ehegelübde noch vor der Abreise aus Plymouth ablegen wollen, doch Sarah hielt dagegen, sie wolle erst in ihrem neuen Zuhause und in Anwesenheit seiner jungen Tochter heiraten. Dieser Aufschub war ihr gewährt worden, aber es hatte sich als weitaus schwieriger erwiesen, ihn sich auf der Reise vom Leib zu halten. Sie war gezwungen gewesen, auf jede List zurückzugreifen, die sie sich während ihrer fünfjährigen Regentschaft als die berüchtigte Lady S. angeeignet hatte.
Seufzend zog sie an der kastanienfarbenen Locke, die auf ihre nackte Schulter fiel.
Die berüchtigte Lady S.
Sie war dieses Etiketts so überdrüssig! Zugegeben, sie hatte sich darum mehr als verdient gemacht. Als junges Mädchen war sie für jede Mutprobe zu haben gewesen und hatte sich in jede erdenkliche Klemme gebracht. Als junge Braut eines liebevollen und nachsichtigen Ehemanns, der dreimal so alt war wie sie, hatte sie die Londoner Gesellschaft in Aufruhr versetzt. Und als wohlhabende Witwe war sie zu einer verzweifelten Suche nach sinnlichen Vergnügungen aufgebrochen, was so typisch war für diese Generation, die während des Kriegs mit Napoleon erwachsen wurde.
Rückblickend konnte Sarah es kaum fassen, dass nur fünf Jahre seit ihrer Heirat mit Sir Cedric Stanton vergangen waren und drei Jahre, seit der langweilige, aber steinreiche Ceddie an einer Bauchfellentzündung gestorben war. Und erst letztes Jahr hatten ihr Vater und ihr Bruder es geschafft, jeden Penny ihres Pflichtteils zu verpulvern. Wie lange her ihr das alles vorkam.
Doch die Zeit, die noch vor ihr lag, würde viel, viel länger sein.
Und viel trostloser.
„So.“ Maude zog ein letztes Mal an den Schnüren des Korsetts. „Jetzt sind Sie fertig. Werden Sie zum Abendessen wieder das goldene Seidenkleid tragen?“
Als ihr Dienstmädchen das Kleid erwähnte, drehte sich Sarah der Magen um. Schon früh auf dieser Seereise hatte James betont, wie gut ihm dieses Kleid gefiel, und sie des Öfteren gebeten, es anzuziehen. Es dauerte nicht lange, da wurde ihr klar, dass er selbst sich in keiner Weise für die besondere Farbgebung oder das gewagte Dekolleté interessierte. Vielmehr amüsierten ihn die lüsternen Blicke seiner Offiziere, wenn sie die vollen Brüste seiner Zukünftigen musterten.
Dieses Kleid hatte ihr auch die Augen dafür geöffnet, wie grausam der Captain werden konnte, wenn etwas nicht nach seinen Vorstellungen lief. Mit Schaudern erinnerte sie sich an jenen schrecklichen Abend, als sie das Kleid nicht tragen wollte. Der Kammersteward hatte ihr beim Servieren in der Messe einfach nur zugelächelt. Aber James unterstellte ihm, er sei unverschämt und peitschte ihn brutal aus. Ihr wurde jetzt noch übel, wenn sie daran dachte, welches Vergnügen ihm die Schreie des Stewards bereitet hatten.
Sie musste sich vor Augen halten, dass er der Mann war, der ihren Vater und ihren Bruder vor dem Gefängnis bewahrt hatte. Der tapfere Captain war durch Prisengelder für erbeutete feindliche Schiffe so reich aus dem Krieg zurückgekehrt, dass er mühelos die immensen Spielschulden der beiden begleichen konnte – ebenso wie den Berg an Rechnungen, den Sarah selbst angehäuft hatte. Auf seine hochmütige Art war James ein gut aussehender Mann, und wenn er wollte, konnte er auch charmant sein. Außerdem amüsierte es ihn, wie schnell er dadurch bekannt geworden war, weil er die berüchtigte Lady S. für sich gewonnen hatte.
Wenn der erst im letzten Jahr ausgehandelte Frieden zwischen Großbritannien und Frankreich nicht so bald ins Wanken geraten wäre …
Wenn James nicht den Befehl erhalten hätte, seine mit zweiunddreißig Kanonen bestückte Fregatte zu den Westindischen Inseln zurückzubringen, um sich auf den unmittelbar bevorstehenden Ausbruch von Feindseligkeiten vorzubereiten …
Wenn Sarah doch nur mehr Zeit in der Gesellschaft dieses Mannes verbracht hätte, als er um sie warb, anstatt so schnell seinen Antrag anzunehmen …
Wütend warf sie den Kopf in den Nacken. Wann war aus ihr nur eine so miesepetrige Frau geworden? Sie langweilte ja sogar sich selbst.
„Ich werde das smaragdgrüne Seidenkleid tragen“, erklärte sie trotzig. „Und das Schultertuch mit …“
Sie hielt inne, da ein Schatten auf einmal die Sicht auf den Mond versperrte. Der Schatten huschte an ihrem Bullauge vorbei, und für einen winzigen Augenblick sah sie etwas, das wie die Silhouette eines Bugspriets vor der dunklen See wirkte. Im nächsten Moment zerriss der ohrenbetäubende Lärm einer abgefeuerten Kanone die Stille der Nacht.
Kreischend warf sich Maude auf den Boden, Sarah fluchte und warf sich gleichfalls hin. Mit einem tiefen Atemzug versuchte sie, wieder Herrin ihrer Sinne zu werden.
Woher, in Gottes Namen, war dieses Geisterschiff bloß gekommen, dass es so aus dem Nichts auftauchen konnte? Warum hatte die Wache es nicht gesehen und Alarm geschlagen? War es mit Piraten bemannt? Oder handelte es sich um ein französisches Kriegsschiff, dessen Angriff das Ende des kurzlebigen Friedens von Amiens und den Ausbruch neuer Feindseligkeiten einläutete?
Ihr Herz schlug wild in ihrer Brust. Sarah versuchte, den Ursprung des Lärms zu ergründen, der durch die Kajütentür drang. Außer dem ständigen Knarren der Schiffsplanken und dem Lärm vom Geschützdeck hörte sie deutlich hastige, schwere Schritte. Und jeder schien gleichzeitig etwas zu rufen. Eine laute Stimme war zu vernehmen, die den Befehl erteilte, auf Gefechtsstation zu gehen! Was ihr wie Stunden vorkam, dauerte vermutlich nur ein paar Momente, bis eine tiefe, durch ein Sprachrohr über das Wasser getragene Stimme ertönte.
„Ahoi, Linx. Hier ist die USS Seahawk. Setzen Sie die Segel, und drehen Sie bei, sonst trifft die nächste Kugel Ihre Takelage.“
Sarahs erste Reaktion war Entrüstung. Wie konnte ein amerikanisches Schiff es auch nur wagen, auf eine Fregatte Seiner Majestät zu feuern? Ganz Europa wusste, dass die amerikanische Marine bestenfalls ein zusammengewürfelter Haufen war. Die unerfahrenen Besatzungen und die Schiffe konnten es mit Lord Nelsons kampferprobten Veteranen keinesfalls aufnehmen.
Ihr Puls raste, während sie darauf wartete, dass James auf diese Unverfrorenheit mit einer gewaltigen Breitseite antwortete. Doch als dann abermals Kanonen abgefeuert wurden, waren es erneut die auf dem amerikanischen Schiff. Kanonenkugeln, die sich wie ein Schwarm wütender Hornissen anhörten, surrten durch die Takelage der Linx. Sparren zerbrachen, Seile wurden durchtrennt, und die Segel zerrissen mit einem durchdringenden Geräusch.
Schluchzend vergrub Maude das Gesicht in ihren Armen. „Das ist unser Ende, Mylady!“
„Noch nicht.“ Sarah stand auf. „Du bleibst hier. Ich muss herausfinden, warum wir das Feuer nicht erwidern.“
„Nein!“
Aufgeregt bekam Maude Sarahs Unterhemd zu fassen. Sie hatte sich schon um sie gekümmert, als sie beide noch jung waren, und sie wusste nur zu gut, aus dem zu jedem Streich aufgelegten Mädchen war eine eigensinnige Frau geworden.
„Denken Sie doch daran, was Sir James gesagt hat, als wir in See stachen. Beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten sollen wir in die Kajüte gehen und hier warten!“
Sarah wollte etwas dagegenhalten, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken, als an Bord plötzlich Musketen abgefeuert wurden. Nervös wartete sie ab, bis jemand hastig an die Tür klopfte.
„Lady Stanton!“
Sie befreite ihr Unterhemd aus Maudes Klammergriff, legte sich einen gemusterten seidenen Überwurf um und eilte über die gestrichenen Dielen. Ein Oberfähnrich stand mit schneeweißem Gesicht vor ihr, als sie die Tür aufzog.
„Was ist los, Mr Watkins?“
„Eine Meuterei“, keuchte der junge Offizier.
„Mein Gott!“
„Wir wissen noch keine genaue Zahl, aber einige unserer Leute sind beim Schiffsarzt eingebrochen und haben Schlafmittel in den Suppenkessel geschüttet. Die halbe Mannschaft liegt im Tiefschlaf, darunter auch die komplette Steuerbordwache.“
„Darum hat die Linx das Feuer nicht erwidert?“, rief Sarah erschrocken. „Unsere Männer wurden außer Gefecht gesetzt?“
„Aye, Mylady. Alle, bis auf die Meuterer und die Offiziere, die sich zum Essen hingesetzt hatten. Sir James schickt mich, damit ich Ihnen sage, dass ihm keine andere Wahl bleibt, als die Segel zu setzen und beizudrehen. Sie sollen in Ihrer Kajüte bleiben, bis die Angelegenheit geklärt ist.“
Verblüfft zog sich Sarah in die Kajüte zurück und wandte sich an ihr zusammengekauertes Dienstmädchen.
„Komm schon, Maude. Du musst mir beim Ankleiden helfen. Und zwar schnell“, forderte sie sie auf und musste das Geräusch der knarrenden Seilrollen übertönen. Die Linx war auf der vom Mond beschienenen See gut vorangekommen, doch innerhalb weniger Minuten hatte sie ihre Fahrt so sehr verlangsamt, dass sie nun bewegungslos schien.
Während Maude ihr in das grüne Kleid half, überschlugen sich Sarahs Gedanken. Wenn es stimmte, was Mr Watkins ihr gesagt hatte, dann musste ein Teil der Besatzung mit den amerikanischen Piraten gemeinsame Sache machen. Sie waren nicht nur Meuterer, sondern Verräter!
Verachtung brannte in ihrem Herzen. England hatte fast ein Jahrzehnt lang gegen Frankreich Krieg geführt, und erst im letzten Jahr war ein Frieden ausgehandelt worden, der noch immer auf wackligen Füßen stand. Sarah war in dieser Zeit vom Mädchen zur Frau herangewachsen. Von Kindheit an hatte sie sich das Wehklagen ihres Vaters anhören müssen, weil französische Branntweine mit einem Embargo belegt waren. Als junge Debütantin war sie von jener Mode begeistert gewesen, die glatte Röcke, minimale Puffärmel und nur dünnste Unterwäsche forderte, weil an Wolle und Leinen gespart werden musste, damit die Armee ausgestattet werden konnte. Als junge Braut hatte sie Ceddie bekniet, er möge ihrem Bruder ein Offizierspatent kaufen. Bedauerlicherweise hatte David das von ihrem liebenswürdigen Ehemann zur Verfügung gestellte Geld sogleich am nächsten Pharo-Tisch verspielt.
Erst seit sie Plymouth verlassen hatten, war Sarah bewusst geworden, wie der Krieg auch die Wahl ihres zweiten Ehemanns beeinflusst hatte.