1. KAPITEL
Mit zitternden Fingern rieb Tessa sich über die Stirn und strich die blonden Locken aus dem Gesicht. Ihre grünen Augen glänzten verdächtig, doch verbissen blinzelte sie die Tränen fort. Nein, sie würde nicht weinen. Sie war längst nicht mehr das verstörte kleine Mädchen von damals, das sich vergeblich nach Trost und Zuneigung sehnte. Traurig strich sie über eine dunkelrote Hibiskusblüte. Dann schloss sie die Augen und atmete tief ein. Wie wundervoll diese Luft schmeckte: gesättigt vom Aroma wilder Kräuter und Orangen- und Mandelbäumen, von schweren Düften der unzähligen farbenprächtigen Blüten, erfüllt vom Wohlgeruch süßer Trauben und vom Salz des Ozeans. Obwohl das Meer einige Kilometer entfernt war, schien es Tessa, als bringe die stete Brise die azurblaue Weite mitten in die Weinberge.
Wenn sie etwas an Andalusien vermisst hatte, dann diesen unglaublichen Duft, dieses Gefühl der Wärme, das er in ihrem Innern auslöste. Damals vor elf Jahren, in den ersten Wochen in England, als sie sich jede Nacht im Internat vor Trauer und Einsamkeit in den Schlaf weinte, war sie stets bemüht gewesen, sich diesen Duft in Erinnerung zu rufen. Und wann immer es ihr gelang, hatte sie ein wenig Trost gefunden. In diesen kurzen Momenten konnte sie sich vorgaukeln, sie hätte nicht alles verloren, was ihr bis zu diesem Tag etwas bedeutet hatte.
Auch jetzt fühlte sie sich mit einem Mal auf seltsame Weise getröstet. Sie öffnete die Augen und betrachtete das malerische, halb von wildem Wein überwachsene Cortijo, das einmal ihr Zuhause gewesen war. Die weiß getünchten Wände reflektierten das Sonnenlicht. Angesichts der gleißenden Helligkeit musste Tessa ein paarmal blinzeln und wandte sich ab. Costa de la Luz – kein Wunder, dass die Menschen diesem dem südlichsten Zipfel Europas vorgelagerten Küstenabschnitt diesen Namen gegeben hatten. Schon beinahe verschwenderisch beschenkte die Sonne das Land hier mit Licht und Wärme und verlieh gemeinsam mit den Winden und der andalusischen Erde den Trauben ihre Einzigartigkeit.
Mit beiden Armen auf die steinerne Balustrade gestützt, ließ Tessa ihren Blick über die sanften Hügel schweifen. So weit das Auge reichte, zogen sich die Rebenstöcke in unzähligen Reihen darüber hinweg. Ihr – je nach Hanglage und Traubensorte unterschiedliches – Grün vermischte sich im Auge des Betrachters mit den Rot- und Gelbtönen des Bodens zu einem farbenprächtigen Muster.
Ob sie wohl die Herbstlese noch immer auf traditionelle Weise feierten? Bilder aus der Vergangenheit zogen ihr durch den Kopf: Gelächter und der Duft von süßem, klebrigem Traubensaft erfüllten die vor Hitze flimmernde Luft.
Ausgelassene Menschen stampften zum Takt lauter Musik in den großen Holzbottichen. Und mitten unter ihnen tanzte Tessa, das kleine blonde Mädchen, an der Hand der schönen dunkelhaarigen Frau. Zum ersten Mal seit langer Zeit erinnerte sie sich wieder deutlich an den Klang von Juanas Stimme. An das mitreißende, lebensfrohe Lachen ihrer Mutter, das für sie Glück bedeutet hatte und … Zuhause.
Ärgerlich auf sich selbst schüttelte sie den Kopf und biss die Zähne zusammen. Es waren nur Erinnerungen. Sie durfte sich nicht darin verlieren. Sonst würde unweigerlich auch der Schmerz wieder erwachen.
Das Geräusch von energischen Schritten auf dem gefliesten Terrassenboden ließ sie aus ihren Gedanken hochfahren, und sie stöhnte gequält. Warum konnte ihre Großmutter ihr nicht wenigsten ein paar Minuten Zeit lassen, um ihre Fassung wiederzugewinnen?
Nur widerwillig drehte sich Tessa nach der zierlichen Frau um und suchte ihren Blick. Für einen winzigen Moment ließ der Ausdruck in den dunklen Augen sie frösteln, dann jedoch zwang sie sich dazu, ein sarkastisches Lächeln aufzusetzen, während sie Rosa musterte. Klein und zart gebaut, das von grauen Strähnen durchwirkte schwarze, glänzende Haar zu einem Knoten gebändigt, die feinen Gesichtszüge, die Augen wie dunkler Samt … Wer sie nicht näher kannte, konnte Rosa für das Sinnbild einer abuelita – einer warmherzigen spanischen Großmutter – halten. Aber Tessa wusste es besser: Rosa Valez war eine herrschsüchtige Eiskönigin, die erwartete, dass sich jeder ihren Wünschen fügte. Diesmal war sie jedoch zu weit gegangen. Und das werde ich ihr nicht durchgehen lassen, schwor sich Tessa. Schließlich war sie mittlerweile eine dreiundzwanzigjährige, erwachsene Frau. Automatisch straffte sie ihre Schultern. Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme vor unterdrückten Emotionen zitterte.
„Ein Tag! Du hättest mir nur einen einzigen Tag länger Zeit geben müssen.“
Frustriert betrachtete sie die versteinerte Miene ihrer Großmutter. Rosa Valez hatte sich vollkommen unter Kontrolle. Nur ihr Blick wurde, sofern das überhaupt möglich war, noch um eine Spur kühler.
„Du benimmst dich wie ein albernes Mädchen, Teresa. Anthony ist vor sechs Tagen gestorben. Und ich habe dir noch am selben Tag ein Telegramm geschickt, in der Hoffnung, dass du den nächsten Flug von London hierher nimmst. Wir konnten mit der Beerdigung nicht länger warten.“
Ohne es zu wollen, fühlte Tessa sich mit einem Mal schuldig und widerstand nur mit Mühe dem Impuls, sich zu rechtfertigen. Natürlich hatte sie nach dem lapidaren Telegramm verzweifelt versucht, so schnell wie möglich nach Cadíz zu kommen. Doch ihr Konto war hoffnungslos überzogen. Das Geld, das sie neben dem Studium beim Kellnern verdiente, reichte nie ganz, und Anthonys sporadische Zuschüsse waren seit einiger Zeit ausgeblieben. Wenn sie es doch nur über sich gebracht hätte, Anthony von ihrer misslichen finanziellen Lage zu erzählen! Oder wenn er wenigstens eine Andeutung über die Schwere seiner Krankheit gemacht hätte! Doch all diese Chancen waren vertan. Ihr letztes, frustrierend steif verlaufenes Treffen lag ein halbes Jahr zurück, ihr letztes Telefonat etwa einen Monat. Und zu allem Überfluss habe ich es jetzt noch nicht einmal fertiggebracht, Großmutter um Geld zu bitten, damit ich mir einen der teureren, früheren Flüge leisten konnte, dachte Tessa. Ihr vermaledeiter Stolz war also unbestreitbar mit schuld daran, dass sie zu spät gekommen war. Sie biss sich auf die Lippe, was Rosas wachsamem Blick nicht entging.
„Es freut mich, dass du offensichtlich langsam selbst einsiehst, dass dein Gefühlsausbruch vorhin im Salon völlig überzogen war. Ich habe nur getan, was nötig war. Können wir uns nun über die wichtigen Dingen unterhalten, wo du wieder bei Verstand bist?“
Die leise Verachtung in der Stimme ihrer Großmutter erweckte Tessas Kampfgeist erneut zum Leben.
„Was sollte es da groß zu besprechen geben? Anthony ist tot, seine Beerdigung habe ich offensichtlich verpasst. Das Gut ist – wenn ich dich vorhin trotz meines Gefühlsausbruches richtig verstanden habe – vollkommen ruiniert und wird demnächst von einer der großen Bodegas übernommen. Es gibt hier nichts, was meine Anwesenheit erfordert. Ich brauche nicht einmal meine Koffer auszupacken, sondern kann nach einem Besuch am Friedhof gleich nach London zurückkehren.“
Tessa wollte sich nach diesen schnippischen Worten an Rosa vorbeischieben, um ins Haus zu gelangen, doch diese trat ihr in den Weg. Ihre Stimme klang ungewohnt versöhnlich.
„Ich bitte dich, zumindest bis morgen zu bleiben. Bis zur Testamentseröffnung.“
Tessa starrte überrascht in das fein geschnittene Gesicht ihrer Großmutter, aus dem auf einmal alle Strenge gewichen war. Für einen kurzen Moment wirkte Rosa verletzlich und erinnerte sie auf verstörende Weise an ihre Mutter. Warum war ihr früher nie aufgefallen, wie groß die äußerliche Ähnlichkeit zwischen den beiden Frauen war? Vielleicht, weil um Juanas Lippen stets ein Lachen und in ihren dunklen Augen ein warmer Schimmer gelegen hatte.
Ohne nachzudenken, flüsterte Tessa: „Abuelita … sag mir endlich, wie es damals zu dem Unfall gekommen ist. Sag mir, warum du mich nach Mutters Tod Hals über Kopf nach England verbannt hast. Was hat sie nur getan, dass du uns beide so sehr hasst?“
Die Lippen ihrer Großmutter zitterten kaum merklich, ein gequälter Ausdruck huschte über ihr Gesicht, und Tessa legte spontan ihre Hand auf den Arm der alten Frau. Mit einer ruckartigen Bewegung trat Rosa einen Schritt zurück und machte eine abwehrende Geste.
„Lass die Vergangenheit ruhen, Teresa! Einer der Arbeiter kann dich zum Friedhof fahren, nachdem du ausgepackt hast. Und morgen nach der Testamentseröffnung sehen wir weiter.“
Verzweifelt suchte Tessa nach Worten, mit denen sie den kurzen, unerwarteten Moment der Vertrautheit festhalten könnte, doch ein Blick auf Rosas nun wieder versteinerte Miene erstickte jeden weiteren Gedanken daran. Enttäuscht wandte sie sich ab und starrte mit brennenden Augen in die Ferne, wo die Hügel den azurblauen Himmel zu berühren schienen. Hatte ihr törichtes Herz nach all den Jahren denn noch immer nicht begriffen, dass sie keine Familie hatte?
„Was soll ich bei dieser Testamentseröffnung, wenn dort doch nur offiziell verkündet wird, dass das Gut und alles andere ohnehin schon diesem …“, vergeblich versuchte Tessa sich an den Namen zu erinnern, den ihre Großmutter im Salon erwähnt hatte, „… diesem Weinbaron gehören?“
Im Gegensatz zu Tessas gereiztem Tonfall klang Rosas Stimme völlig emotionslos.
„Deine Anwesenheit ist erforderlich, damit das Testament ohne Verzögerungen in Kraft treten kann.“
„Das kann doch sicherlich auch über einen Notar in England abgewickelt werden.“
„Je länger es dauert, bis Rodrigo Ariaz La Viña Bonita übernimmt, desto mehr Schaden wird entstehen. Schon jetzt können wichtige Arbeiten nicht mehr finanziert werden. Ein großer Teil der diesjährigen Ernte ist gefährdet.“
Tessa lachte freudlos.
„Anthony hat mich vor elf Jahren auf dein Betreiben hin aus eurem Paradies verstoßen. Was sollte mich das Gut also heute noch kümmern? Oder erwartest du etwa, dass ich mich verpflichtet fühle, ausgerechnet dir einen Gefallen zu tun?“
„Nicht mir, sondern Anthony. Auch wenn ihr beide euch nicht sonderlich nahegestanden habt, war er dennoch dein Vater. Es war sein größter Wunsch, das Gut möglichst ohne weiteren Schaden durch die rasche Übergabe zu erhalten. Kannst du es tatsächlich mit deinem Gewissen vereinbaren, ihm diese letzte Bitte zu verweigern?“
Tessa stöhnte und warf den Kopf in den Nacken. Eine einzelne Träne löste sich von ihren Wimpern.
2. KAPITEL
„Gut, da nun alle anwesend sind, werde ich mit der Verlesung des Testaments beginnen, sofern niemand Einwände erhebt.“
Als der Blick des grauhaarigen, distinguierten Anwalts fragend über die vier Personen im Raum glitt, setzte Tessa automatisch ein zustimmendes Lächeln auf. Natürlich hatte sie nichts dagegen, dass Anthonys Rechtsbeistand endlich anfing. Je schneller das hier vorbei war, umso rascher konnte sie wieder in ihr normales Leben zurückkehren.
Unwillig blickte sie sich um. Alles in der noblen Anwaltskanzlei, vom weichen safrangelben Teppich über die dunklen Holzmöbel, die übergroßen Ölgemälde bis hin zu den antiken Leuchten, wirkte kühl, sachlich, ehrwürdig und teuer. Angesichts dieser Umgebung fühlte sie sich in ihren ausgebleichten Jeans, den abgewetzten Turnschuhen und ihrem grünen Lieblings-T-Shirt, das auch schon bessere Zeiten gesehen hatte, mittlerweile ziemlich unwohl. Sie bereute, dem kindischen Impuls nachgegeben zu haben, Rosa durch ihr betont nachlässiges Äußeres zu ärgern. Nun musste sie damit zurechtkommen, dass sie sich vollkommen deplatziert vorkam neben ihrer eleganten Großmutter, den beiden vornehmen spanischen Advokaten und …
Möglichst unauffällig rückte Tessa ihren Stuhl zurecht, sodass sie einen besseren Blick auf den hochgewachsenen Spanier hatte, der eben flankiert von seinem Rechtsbeistand auf einem der beiden Stühle links vor dem massiven Mahagonischreibtisch Platz genommen hatte.
Während Señor Caliera sie alle auf Spanisch noch einmal offiziell begrüßte und umständlich die Testamentseröffnung einleitete, musste Tessa sich sehr beherrschen, den Neuankömmling nicht allzu auffällig zu mustern. Das war also der Mann, der sich offensichtlich geschickt La Viña Bonita unter den Nagel gerissen hatte: Rodrigo Ariaz y Rivera. Sie unterdrückte den leisen Widerwillen, der bei diesem Gedanken in ihr aufstieg. Es konnte ihr egal sein, in wessen Hände das Gut gelangte. Mit La Viña verband sie nichts mehr als traurige Erinnerungen. Außerdem, was sollte sie wohl mit einem vollkommen überschuldeten Weingut anfangen? Als ob ihre finanzielle Lage nicht auch so schon schlimm genug wäre. Nein, auf dieses Erbe konnte sie wahrlich verzichten. Das hatte sie Anthony bei ihrem letzten Treffen vor sechs Monaten auch klipp und klar gesagt. Wieso sollte sie nun also diesem Spanier gegenüber irgendwelche Feindseligkeiten hegen? Noch dazu, wo er ihr, wenn sie ehrlich war, von Minute zu Minute besser gefiel. Verstohlen ließ sie den Blick über das Gesicht des Mannes streifen, erfasste die sonnengebräunten, scharf geschnittenen Züge, die kühne Adlernase, das energische Kinn, das der Anflug eines Dreitagebartes zierte, das nackenlange, dichte, leicht gewellte rabenschwarze Haar und verweilte schließlich bei den unglaublichen Augen. Schimmernder Onyx war das Erste gewesen, was ihr einfiel, als sie vorhin bei der Begrüßung in das dunkle, von dichten schwarzen Wimpern umrahmte Augenpaar geblickt hatte. Rodrigo Ariaz war ohne Zweifel der attraktivste Mann, dem sie je begegnet war.
Unleugbar beherrschte er zudem den Raum, ohne auch nur das Geringste dafür zu tun. Beide Anwälte überschlugen sich damit, ihm ihre Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, und Rosa schien seine Anwesenheit sogar regelrecht nervös zu machen. Unentwegt veränderte sie ihre Sitzposition und tupfte sich mit ihrem Spitzentaschentuch die Stirn. Tessa musste grinsen. Seine Wirkung auf die Eiskönigin machte den Spanier nicht nur attraktiv, sondern sogar äußerst sympathisch.
Obwohl – sie kräuselte die Stirn – seine nun gelangweilte Miene verlieh ihm unbestreitbar einen Hauch von Arroganz. Und irgendwie lag ein harter – oder war es doch eher ein melancholischer? – Zug um die an sich schön geschwungenen Lippen. Zum Glück war er jedenfalls nicht so formell gekleidet wie die Anwälte. Die Jeans und das weiße kurzärmelige Poloshirt milderten, zusammen mit dem Dreitagebart, den hochmütigen Eindruck und betonten zugleich seine breiten Schultern und die schmalen Hüften. Alles in allem wirkte er nicht wie der gesetzte Weinbaron, den sie erwartet hatte, sondern eher wie ein durchtrainierter Sportler. Wie alt er wohl sein mochte? Vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Jahre?
Sein Blick ruhte auf Anthonys Anwalt, ganz so als lausche er konzentriert dessen Worten. Das lautlose Trommeln der schlanken und doch kräftigen Finger auf die Unterlage, die Caliera allen soeben ausgeteilt hatte, ließ Tessa jedoch ahnen, dass Rodrigo Ariaz nur mühsam seine Ungeduld im Zaum hielt. Fasziniert verfolgte sie, wie sich die Bewegung seiner Finger im Spiel der Sehnen auf seinem gebräunten Unterarm fortsetzte. Als er plötzlich aufhörte, war sie regelrecht enttäuscht. Ihr Blick wanderte höher und begegnete dem seinen. Das belustigte Glitzern in den dunklen Augen und die hochgezogene linke Braue trieben ihr das Blut in die Wangen. In diesem Moment verzogen sich seine Lippen jedoch zu einem entwaffnenden Lächeln, das ihre Befangenheit wegwischte und ihr Herzklopfen bescherte. Ehe sie sich versah, stahl sich ein mutwilliges Funkeln in ihre Augen, und sie schenkte dem Spanier ein strahlendes Lächeln, bevor sie den Blick abwandte.
Was war auch schon dabei? Es war bedeutend angenehmer, einen harmlosen Flirt mit einem umwerfenden Mann anzufangen, den sie nach dem heutigen Tag ohnehin nie wieder sehen würde, als sich in dieser Kanzlei zu Tode zu langweilen. Denn mittlerweile fiel es ihr immer schwerer, dem Anwalt zuzuhören. Abgesehen davon, dass sein monotoner Singsang sie geradezu schläfrig machte, sprach er unheimlich schnell und dazu noch mit ausgeprägtem andalusischem Dialekt, der ihn dazu verleitete, ganze Silben zu verschlucken. Die nicht enden wollende Aufzählung von vorhandenen Werten, denen – soweit sie mitbekam – eine noch viel längere Liste von Verbindlichkeiten gegenüberstand, die vielen Fachbegriffe und Calieras Sprechweise ließen ihre Konzentration bald endgültig ermüden. Offensichtlich war sie nach all den Jahren aus der Übung, was ihre Spanischkenntnisse anbelangte. Tessa seufzte innerlich, während ihre Gedanken unaufhaltsam abdrifteten.
Möglichst unauffällig schaute sie in Rodrigos Richtung, doch zu ihrem Leidwesen zeigte der attraktive Spanier keinerlei Interesse an einem weiteren Blickkontakt. Das Bedauern darüber beunruhigte sie, und auf einmal sehnte sie sich inbrünstig nach der vertrauten Londoner Umgebung. Wie lange brauchte der Anwalt denn noch? Sie musste sich endlich darum kümmern, das Geld für ihr Rückflugticket aufzutreiben. Das Telefonat mit dem Kundenbetreuer ihrer Bank gestern war ziemlich frustrierend verlaufen. Man würde ihr dort keine neuerliche Erweiterung ihres Überziehungsrahmens einräumen. Und die wenigen Menschen, die sie in London gut genug kannte, um sie um Geld zu bitten, fielen auch aus: Ihr bester Freund Tom war über die Sommermonate irgendwo in Tibet unterwegs und hatte dummerweise beschlossen, dabei stilecht auf jegliche modernen Kommunikationsmittel zu verzichten. Beth und Ryan wiederum befanden sich auf Hochzeitsreise. Erst hatte sie davor zurückgescheut, sie in ihren Flitterwochen zu stören, in ihrer wachsenden Verzweiflung gestern dann aber doch eine Nachricht auf Beth’ Handy hinterlassen. Bisher wartete sie allerdings vergeblich auf einen Rückruf.
Missmutig runzelte Tessa die Stirn bei dem Gedanken, dass ihr also letztlich nichts anderes übrig bleiben würde, als Rosa um das Geld für den Rückflug zu bitten. Doch sie würde es ihr so schnell wie möglich zurückzahlen. Selbst wenn sie dafür einen Monat lang Tag und Nacht in Joe’s Pub kellnern musste.
„Señorita Walters?“
Tessa fuhr erschrocken hoch und blickte irritiert in die Runde. Die Augen aller Anwesenden waren auf sie gerichtet. Offensichtlich erwartete man von ihr eine Antwort. Aber worauf? Als das Schweigen andauerte, räusperte sich Anthonys Anwalt. Tessa erwachte aus ihrer Starre und setzte ein entschuldigendes Lächeln auf.
„Ich bin wohl ein wenig in meine eigenen Gedanken versunken. Habe ich etwas Wichtiges verpasst?“
Sie hörte, wie Rosa neben ihr einen empörten Laut ausstieß, während Señor Caliera konsterniert ein unsichtbares Staubkorn vom Revers seines Anzugs schnippte, bevor er sich mit betont langsamer und deutlicher Aussprache auf Spanisch an sie wandte.
„Ich fragte gerade, Señorita Walters, ob Sie den Ehevertrag gleich jetzt mit der Verzichtserklärung unterzeichnen wollen oder erst am Tag vor der Eheschließung.“
Tessa starrte Caliera verständnislos an.
„Wie bitte?“
Beiläufig nahm sie wahr, wie Rodrigo Ariaz seinen Anwalt, der ihm offenbar besorgt etwas zuflüsterte, mit einer gereizten Handbewegung zum Schweigen brachte. Beinahe gleichzeitig spürte sie, wie sich Rosas Finger schmerzhaft in ihren Oberarm gruben, und automatisch wandte sie sich ihr zu. Der harte Ausdruck in den dunklen Augen ließ sie zusammenzucken, und sie machte sich – ohne einen Grund dafür auch nur zu ahnen – auf eine von Rosas verletzenden, vorwurfsvollen Tiraden gefasst. Bevor ihre Großmutter jedoch dazu kam, Luft zu holen, erklang auf einmal Rodrigo Ariaz’ ruhige, tiefe Stimme. Trotz ihrer grenzenlosen Verwirrung bemerkte Tessa wieder den ungewöhnlichen, samtenen Klang darin, der ihr schon vorhin bei der Begrüßung angenehm aufgefallen war.
„Ich bitte Sie, mich einen Moment mit Señorita Walters allein zu lassen.“
Während die beiden Anwälte offensichtlich dankbar Rodrigos Aufforderung nachkamen, blieb Rosa wie versteinert sitzen.
„Das gilt auch für Sie, Señora Valez.“
Obwohl der Spanier die Worte leise, ja beinahe sanft gesprochen hatte, zeigten sie zu Tessas größter Verwunderung Wirkung. Ohne den warnenden Blick von dem ihrer Enkelin zu lösen, erhob sich Rosa. In ihrer Stimme schwang eine unverhohlene Drohung.
„Ich erwarte, dass du das Richtige tust, Teresa.“
Tessa konnte ein erleichtertes Seufzen nicht unterdrücken, als sich die Tür hinter Rosa schloss. Ob sich das je ändern würde? Dieses Gefühl der Hilflosigkeit und Wertlosigkeit, das sie in der Gegenwart ihrer Großmutter immer zu ersticken drohte.
Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie sich Rodrigo Ariaz erhob, und wandte sich ihm zu. Lässig gegen die Schreibtischkante gelehnt, schien er sie aufmerksam zu beobachten. Sein angespannter Gesichtsausdruck verlieh seinem Blick etwas Raubtierhaftes. Als wäre ich eine Beute, die er taxiert – schoss es ihr durch den Kopf. Sie widerstand dem Impuls, ebenfalls aufzustehen, reckte stattdessen ihr Kinn angriffslustig nach vorn und zwang sich, alle Unsicherheit aus ihrer Stimme zu verbannen.
„Also gut. Nun erklären Sie mir einmal, was hier gespielt wird. Von welchem Ehevertrag hat Señor Caliera da eben gesprochen?“
Zu Tessas Befremden stieß der Spanier ein freudloses Lachen aus und griff nach einem Kuvert, das etwas abseits der übrigen Papiere auf dem Schreibtisch lag und mit ihrem Namen versehen war.
„Vielleicht sollten Sie zunächst diesen Brief lesen. Er ist an Sie gerichtet. Ihr Vater hat ihn kurz vor seinem Tod verfasst.“
Angesichts der verstörten Miene der jungen Frau, die vor ihm auf dem Stuhl saß, erwachten Rodrigos Beschützerinstinkte. Ärgerlich unterdrückte er sie jedoch sogleich wieder. Sie war sicher nicht auf den Trost eines völlig Fremden angewiesen. Dann beobachtete er nachdenklich, wie sie den Umschlag öffnete, das darin enthaltene Blatt mit spitzen Fingern herauszog und zögernd zu lesen begann. Sofern das überhaupt möglich war, wurde ihr Gesicht dabei von Sekunde zu Sekunde blasser.
Kein Wunder. Rodrigo kannte den Inhalt dieses Briefes. Anthony Walters hatte ihn ihm bei einem Treffen einige Tage vor seinem Tod gezeigt. Offensichtlich hatte der Engländer jedoch seinen eindringlichen Rat in den Wind geschlagen, seine Tochter persönlich über die von ihnen beiden getroffene Vereinbarung zu informieren. Schlimmer noch, wie es schien, hatte niemand sie darüber informiert, was von ihr erwartet wurde.
Dios! Dabei war es ganz sicher nicht seine Aufgabe, eine unbekannte Frau davon in Kenntnis zu setzen, dass sie ihn – den letzten Wunsch ihres Vaters respektierend – heiraten sollte. Die ganze Situation war auch ohne eine sperrige Braut schon schlimm genug für ihn. In Gedanken fluchte Rodrigo erneut und stieß sich von der Schreibtischkante ab, um auf die Vitrine zuzusteuern, in der Caliera allem Anschein nach Spirituosen aufbewahrte. Während sein Blick prüfend über die Flaschen glitt, zwang er sich dazu, seinen Ärger unter Kontrolle zu bringen. Er hatte die richtige Entscheidung getroffen. Anthony dieses Versprechen zu geben war seine Pflicht gewesen. Außerdem kannte er dessen Starrköpfigkeit gut genug. Nie hätte er ihm La Viña Bonita überlassen, wenn er der Aufnahme dieser Eheklausel in die Übernahmeverträge nicht zugestimmt hätte.
Rodrigo verzog den Mund zu einem zynischen Lächeln, als er sich widerstrebend umdrehte und Tessa musterte. Er sollte wirklich aufhören, das Unvermeidliche zu beklagen. Schließlich hätte es noch viel schlimmer kommen können. Zumindest stieß ihn seine Braut nicht schon auf den ersten Blick ab. Mehr noch, ihr Lächeln vorhin, gepaart mit dem herausfordernden Funkeln in den überraschend grünen Augen, hatte er sogar recht anziehend gefunden. Gut, sie wirkte vielleicht ein wenig farblos, was aber wohl in erster Linie auf die beinahe schon ungesunde Blässe ihres schmalen, ungeschminkten Gesichts zurückzuführen war. Und auf die Tatsache, dass sie offensichtlich nicht viele Gedanken an ihr Äußeres verschwendete.
Bedauernd betrachtete er ihr Haar. Die Farbe erinnerte ihn an reifen goldgelben Weizen.