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Eine tollkühne Lady
Erscheinungstag: | Fr, 01.01.2016 |
Bandnummer: | |
Seitenanzahl: | 320 |
ISBN: | 9783733766542 |
E-Book Format: | ePub oder .mobi |
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Nicht mein Ding - 21.01.2016 16:35:23 - Hannelore
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Ein Teil von ihr
Mutter. Heldin. Lügnerin. Mörderin?
Im Bruchteil einer Sekunde kann sich dein Leben für immer verändern….
Du hast die Nachrichten gesehen, über die Gewalt in dieser Welt den Kopf geschüttelt und weitergemacht wie immer. Nie könnte dir so etwas passieren, dachtest du.
Andrea Oliver erlebt das Entsetzlichste. Einen Amoklauf. Was sie noch mehr schockiert: Ihre Mutter Laura entreißt dem Angreifer ein Messer und ersticht ihn. Andrea erkennt sie nicht wieder. Offenbar ist Laura mehr als die liebende Mutter und Therapeutin, für die Andrea sie immer gehalten hat. Sie muss einen Wettlauf gegen die Zeit antreten, um die geheime Vergangenheit ihrer Mutter zu enthüllen, bevor noch mehr Blut vergossen wird …
Laura weiß, dass sie verfolgt wird. Und dass ihre Tochter Andrea in Lebensgefahr ist …
»Dieser Thriller wird Sie um den Schlaf bringen. Für Slaughter-Fans ist „Ein Teil von ihr“ ein absolutes Lese-Muss.«
ok!
»Wie immer hat Slaughter … keine Scheu, Verbrechen in all ihrer Brutalität und Grausamkeit zu schildern. […] Daneben aber beweist sie ebenso viel Gespür für die Zerrissenheit, für Sehnsüchte und Ängste, für starke Gefühle und damit verbundene innerliche Eruption, kurz: für die Komplexität ihrer Charaktere.«
dpa
»Karin Slaughters „Ein Teil von ihr“ liest sich als moderne Geschichte über komplizierte Vereinigte Staaten von Amerika, in der charakteristische Merkmale des American Way of Life ebenso aufscheinen wie der Mythos vom Grenzland.«
krimi-couch.de
»Provokanter und raffinierter als alles, was sie zuvor geschrieben hat.«
vol.at
»Eine spannende Lektüre bis zum Schluss.«
SpotOnNews
»Fesselnd von der ersten bis zur letzten Seite.«
Magazin-frankfurt.com
»Karin Slaughter gilt völlig zu Recht als eine der besten Krimi-Autoren der USA. Ihre Geschichten fesseln von Anfang bis Ende.«
IN
»Karin Slaughter zählt zu den talentiertesten und stärksten Spannungsautoren der Welt.«
Yrsa Sigurðardóttir
»Jeder neue Thriller von Karin Slaughter ist ein Anlass zum Feiern!«
Kathy Reichs
»Karin Slaughter bietet weit mehr als unterhaltsamen Thrill.«
SPIEGEL ONLINE über »Pretty Girls«
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1. KAPITEL
Indien, 1817
Unter einem pfauenblauen Himmel, am Ufer des von Palmen gesäumten Hugli, breitete sich die sonnendurchflutete Stadt Kalkutta aus wie ein lebendig gewordener Wandteppich – oder wie ein bunter Seidenschal, der in der nach Gewürzen duftenden Brise wehte.
Vogelschwärme umkreisten die gewundenen Türme antiker Hindu-Tempel, unter deren reich verzierten Torbögen Gläubige in farbenprächtigen Gewändern auf den Steinstufen badeten, die zum Fluss hinunterführten. Direkt an das dunstige Flussufer grenzte auch der lärmende Basar, ein Durcheinander von Händlern, überfüllten Ständen und Zelten, in denen alles Erdenkliche angeboten wurde, von afghanischen Teppichen bis hin zu Aphrodisiaka, die aus dem Horn des Nashorns gemacht waren.
Weiter entfernt von den überfüllten Ufern bestimmten die geschäftlichen Aktivitäten der Hauptstadt Britisch-Indiens das wimmelnde Treiben am Fluss. Die Handelsmonopole, die viele Jahre lang bei der East India Company gelegen hatten, waren gerade aufgehoben worden – nun war es für jedermann möglich, wahre Vermögen zu erwerben. Händler und Kaufleute beluden überall an den Docks ihre schweren Schiffe bis in den letzten Winkel mit ihren Waren, um sie in ferne Welten zu bringen.
Mitten in all dem Trubel und der Überfülle erreichte still ein flacher Schoner die Kaimauern Kalkuttas.
Ein hochgewachsener, imposant wirkender Engländer lehnte an der Reling, stützte sich mit den Händen ab, das markante Kinn nach vorn gereckt. Seine außergewöhnliche Größe, die elegante Londoner Kleidung und die Ruhe, die er ausstrahlte, unterschieden ihn von den schmutzigen, barfüßigen Seeleuten, die um ihn herum ihre Arbeit taten, Anker setzten und Segel einrollten.
Er war dunkelhaarig, besaß strenge, vornehme Züge und kluge graugrüne Augen, die lebhaft funkelten, als er das Geschehen am Kai aufmerksam betrachtete. Nichts entging ihm, während er über seine Mission nachdachte …
Jedes Jahr im Herbst, wenn die endlosen Regengüsse des Monsuns nachließen, der Himmel aufklarte und sich die Flut beruhigte, begann die Zeit des Krieges. Schon jetzt wurden die Trommeln geschlagen, und viele Meilen entfernt wurden Truppen zusammengezogen.
Es war Oktober geworden. Bald würde der Boden trocknen und hart genug sein für die Räder der Lafetten und die Pferde der Kavallerie. Bald würde das Morden anfangen.
Wenn er es nicht verhindern konnte.
Langsam drehte Ian Prescott, Marquess of Griffith, den Kopf und blickte über seine breite Schulter zu den Booten in der Nähe. Ihm war bewusst, dass er verfolgt wurde.
Nun, das war nichts Neues. Er hatte seinen Verfolger noch nicht entdeckt, aber im Verlaufe der vielen Jahre seiner Tätigkeit als Diplomat hatte er einen sechsten Sinn in solchen Dingen entwickelt – eine Gabe, die ihm schon so manches Mal das Leben gerettet hatte. In der Tat war er schwerer umzubringen als ein gewöhnlicher Adeliger, ein Umstand, den Attentäter aus aller Herren Länder hatten begreifen müssen, sehr zu ihrem Leidwesen.
Verborgen in seiner hervorragend geschnittenen Kleidung trug er sehr diskret ein ganzes Waffenarsenal bei sich; außerdem konnten die rivalisierenden Kolonialmächte in dieser Gegend keinen englischen Diplomaten seines Ranges ermorden, ohne einen internationalen Zwischenfall zu verursachen.
Trotzdem wäre es nett zu erfahren, wer es war, der ihn verfolgte.
Vielleicht Franzosen?, überlegte er. Wie immer waren das die wahrscheinlichsten Verdächtigen, obwohl er die Holländer nicht außer Acht lassen durfte, die sich noch immer nicht damit abgefunden hatten, Ceylon an die Briten verloren zu haben. In Goa waren die Portugiesen stark präsent. Zweifellos hatten alle drei Länder Agenten losgeschickt, um in Erfahrung zu bringen, was die Briten jetzt vorhatten.
Wenn der Spion allerdings vom Maharadscha von Janpur geschickt worden war, nun, das wäre etwas anderes und eine etwas weniger vorhersehbare Angelegenheit. Aber wer immer es sein mochte – wenn sie mich umbringen wollten, dachte er, dann hätten sie es schon getan.
Als der Schoner fest am Kai vertäut war, winkte Ian seinen drei indischen Dienern und verließ das Schiff.
Seine schwarzen Stiefel klangen schwer auf den Planken, während er mit entschlossenem Schritt darüber hinwegging. In den Sohlen waren kleine, an Federn befestigte Klingen angebracht. In seinem Spazierstock mit dem silbernen Griff steckte ein Degen, und eng am Körper, unter dem olivgrünen Tagesrock, trug er eine geladene Pistole.
Seine Diener folgten ihm, als er die Stufen zum Kai hinaufstieg. Oben an der Treppe blieb er einen Moment lang stehen. Er ließ den Blick über das dichte Gedränge auf dem Basar gleiten und wünschte, mehr Zeit gehabt zu haben, um sich vorzubereiten, sich über das Land zu informieren, wie er es gewöhnlich tat vor seinen Missionen. Aber er war ganz plötzlich gerufen worden, sodass er keine Erkundigungen mehr hatte einziehen können.
Obwohl er als Fachmann für so heikle Verhandlungen bekannt war, wie sie bald stattfinden würden, war Ian nie zuvor in Indien gewesen. Als ihn der Ruf erreichte, war er gerade zur Erholung in Ceylon gewesen, hatte ausgestreckt im pudrig-weißen Sand am Strand gelegen und versucht, seinen eigenen Dämonen zu entfliehen. Er hatte sich bemüht, der inneren Leere, die ihn wie betäubt fühlen ließ, mit Vernunft zu begegnen.
Aber auch dieses Mal hatte er wie zuvor keinen Erfolg gehabt mit dem Versuch, seinen sorgfältig verborgenen Schmerz zu überwinden. Und so war er nur zu dankbar gewesen, seine Dienste bei der Lösung der Schwierigkeiten mit dem Maratha-Reich anbieten zu können. Doch bis er seine Anweisungen erhalten und mehr über das Land und seine Menschen herausgefunden hatte, würde er sich mit äußerster Behutsamkeit bewegen und allen, denen er begegnete, mit ausgesuchter Höflichkeit entgegentreten müssen. Das Schlimmste, was ein Diplomat tun konnte, war, jemanden ungewollt zu beleidigen.
Zum Glück kannte er ein paar der Gepflogenheiten des Landes und zwei der Hauptsprachen, die er für seine Mission benötigen würde, Bengalisch und Marathi. Diesen Umstand verdankte er seinem vertrauten Führer und Dolmetscher, Ravi Bhim.
Der Basar lag jetzt direkt vor Ian. Es gab nur einen Weg, und der führte mitten hindurch, also ging er weiter.
In dem Augenblick, da Ian den Hauptweg des Gewürzmarktes betrat, umfing ihn eine Woge von Düften, stark und betäubend zugleich. Seine Augen schmerzten von den scharfen Gerüchen, die die schwüle Luft erfüllten. Schwarzer Pfeffer und Nelken, Ingwer und Senfsaat – das alles wurde verkauft auf breiten, geflochtenen Matten, von Männern in langen Gewändern, die sich bestens aufs Handeln verstanden. Ian wehrte ihre Angebote mit einer Handbewegung ab und lief weiter. Es gab Säcke mit Kardamom, Safran und Muskatblüten, Muskatnüsse, die nach Pfund gewogen wurden, Koriander und Zimt.
Er warf einen Blick hinter sich und stellte fest, dass einer seiner Diener zurückgeblieben war. Der Kuli, der auf dem Rücken einen von Ians Reisekoffern trug, war stehen geblieben, um einem Schlangenbeschwörer zuzusehen, der eine große Kobra aus dem Korb lockte, indem er auf einer Rohrflöte eine bewegte Melodie spielte. Ein anderer Mann mit Turban schlug ein Paar tief tönender Trommeln. Ihre Musik wetteiferte mit den Rufen, mit denen zum muslimischen Gebet aufgefordert wurde und die von den Minaretten überall in der Stadt erschollen.
Der Kuli bemerkte, wie Ian die Brauen hochzog, erbleichte und eilte ihm nach. Bald befanden sie sich mitten auf dem Markt – es war glühend heiß, die Luft war erfüllt von den unterschiedlichsten exotischen Gerüchen und überall wurde lauthals in verschiedenen Sprachen gehandelt. Ians ernsthaftes Bemühen, das Geschehen in sich aufzunehmen, führte dazu, dass ihm nahezu schwindelig wurde und er sich ein wenig berauscht fühlte – so viel gab es zu sehen, zu hören und zu riechen.
Sein Kopf schmerzte, während er durch eine schmale Gasse schritt, die eine unüberschaubare Ansammlung indischer Schätze barg. Seide aus Kanchipuram, so fein, dass seine Mätresse zu Hause in London vor Freude gejubelt hätte. Brokat mit Gold- und Silberfäden durchsetzt, bedruckte Baumwolle, so leicht wie Federn, Teppiche mit herrlichen Mustern, bunte Perlen und Tiere aus Terrakotta, Ledersandalen, Färbemittel und Puderfarben, seltene Zypressenmöbel, vielarmige Göttinnen aus Gold.
Während sie über den Markt liefen, drängten sich Menschen an Ian und seinen Dienern vorbei, die ebenso verschiedenartig waren wie die hier feilgebotenen Waren. Hindu-Damen, in Seiden aller Regenbogenfarben gekleidet, scherzten hierhin und dorthin, lächelten strahlend, die Verheirateten unter ihnen waren mit dem roten Punkt oder bindi auf der Stirn gekennzeichnet.
Englische Offiziere in Uniform ritten am Rande vorbei auf Pferden, die denen bei Tattersalls, dem großen englischen Auktionshaus für edle Rösser, in nichts nachstanden. Buddhistische Mönche mit rasierten Köpfen, in safrangelbe Roben gehüllt, gingen vorüber, mit mandelförmigen Augen und sorglosem Lächeln, als wüssten sie nichts von irgendeinem Kummer auf Erden.
Gewiss hatten die friedliebenden Mönche keine Ahnung davon, dass sich ein weiterer Krieg zusammenbraute.
Eine kleine Gruppe muslimischer Damen, die von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt waren, inspizierte gerade den Stand eines Schmuckhändlers. Eine von ihnen hielt ihr Kind an der Hand, einen kleinen Jungen. Der Kleine aß eine Mango, und Ian lächelte ein wenig, denn das Kind schien etwa fünf Jahre alt zu sein – genauso wie sein Sohn.
Er ignorierte den kurzen Stich in der Herzgegend und blickte sich auf der Suche nach einem Mitbringsel für seinen Erben um. Er wollte etwas gefunden haben, bevor seine Mission begann. Dies war ein Ritual, das er niemals versäumte, gleichgültig, in welche Gegend der Welt seine Arbeit ihn auch führte. Vielleicht blieb ihm später keine Zeit mehr dafür. Er wählte einen Elefanten aus geschnitztem Teakholz und trat zu dem Künstler.
„Koto?“ Obwohl er eigentlich niemals handelte, wenn nicht gerade das Schicksal einer ganzen Nation auf dem Spiel stand – aber dem zuerst genannten Preis nicht zu widersprechen wäre eine Beleidigung des Händlers gewesen.
Und so handelte Ian, um seinen Respekt kundzutun.
Ravi sah belustigt zu. Nachdem der Kauf schließlich unter allgemeinem, freundlichem Gelächter über die Versuche des englischen Lords, Bengalisch zu sprechen, getätigt worden war, reichte Ian das Spielzeug an seinen Diener weiter, machte zum Abschied die Grußgeste Namaste vor dem Händler und führte seine kleine Gruppe dann weiter über den Markt.
Endlich kamen sie auf der anderen Seite wieder heraus. Ian trug Ravi auf, eine Kutsche zu suchen, die Ian zum Akbar Grand Hotel bringen sollte. Diese Unterkunft hatte ihm der Generalgouverneur Lord Hastings in seinem freundlichen Brief empfohlen, der dem Communique mit Ians Berufung beigelegen hatte.
Einen der Kulis schickte er zum Gouverneurshaus, damit dieser Lord Hastings seine Ankunft mitteilte und ausrichtete, dass Ian so bald wie möglich vorsprechen würde, nachdem er sein Quartier bezogen hatte. Dann würde Ian endlich weitere Informationen erhalten und die beiden Kavallerieoffiziere treffen, die er für seine diplomatische Mission angefordert hatte – Gabriel und Derek Knight.
Obwohl er diesen Zweig der Familie Knight noch nicht kennengelernt hatte, waren seine Familie und die der Knights einander sehr verbunden. Ians engster Freund seit Kindertagen und sein stärkster politischer Verbündeter in London war der Kopf des Klans – Robert Knight, der Duke of Hawkscliffe, oder „Hawk“, wie Ian ihn zu nennen pflegte.
Gabriel und Derek waren Hawks Cousins ersten Grades, und Kampfgeist lag ihnen im Blut. Geboren und aufgewachsen in Indien, kannten die Brüder die Gegend wie ihre Westentasche. Der Umstand, dass Ian ihnen bei seiner Mission den Vorzug gegeben hatte, würde darüber hinaus noch ihre ohnehin bravourösen militärischen Karrieren beflügeln. Was Ian betraf, so wollte er Männer um sich haben, denen er bedingungslos vertrauen konnte, wenn er sich in feindliche, unbekannte Gefilde aufmachte.
Auf einmal spürte er, wie jemand ihn ansah, und war nun restlos davon überzeugt, dass er beobachtet wurde, seit er Kalkutta erreicht hatte. Schnell wandte er sich um in der Hoffnung, den Spion zu entdecken, doch stattdessen erstarrte er bei dem Anblick eines großen bengalischen Tigers, der in einem Käfig über den Markt getragen wurde.
Die langen Stangen, auf denen der Käfig thronte, ruhten auf den sonnengebräunten Schultern von nicht weniger als acht Trägern. Das Tier musste mindestens fünfhundert Pfund wiegen. Als es zum Fluss getragen wurde, um eingeschifft zu werden – zweifellos, um die Menagerie irgendeines europäischen Adligen zu bereichern – begann das Tier zu brüllen, erschreckte die Menge der feilschenden Händler und versuchte, durch die Stäbe des Käfigs mit den Pranken nach ihnen zu schlagen.
Die Kulis stießen einen Schrei aus und ließen bei dem Versuch, sich so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen, um ein Haar den Käfig fallen. Als der Aufseher ihnen versicherte, dass der Käfig dem Tier tatsächlich standhalten würde und sie zur Arbeit zurücktrieb, lachten die Männer unsicher, wuchteten aber dann mit aller gebotenen Vorsicht die Stangen wieder auf ihre Schultern.
Ian schaute zu, fasziniert von dem Tier und gleichzeitig traurig über dessen Schicksal. Natürlich hätte es, wäre es frei gewesen, alles zerstört, was ihm in die Quere geraten wäre. Manche Tiere waren in einem Käfig besser aufgehoben.
Als würde er selbst das nicht am besten wissen.
„Sahib!“
Er wandte sich um, als Ravi in Begleitung eines anderen Inders von seinem Auftrag zurückkehrte. Dem Äußeren nach zu urteilen war der andere Mann ebenfalls ein Diener – er trug eine weiße Perücke und eine lavendelfarbene Livree. Ravi deutete auf eine luxuriöse schwarze Kutsche mit vier weißen Pferden davor, die auf der anderen Straßenseite wartete. Ein Pferdeknecht in der gleichen Livree wie der Mann, der mit Ravi erschienen war, hielt den Kopf des Leitpferdes.
„Sahib, dieser Mann sagt, er hätte den Befehl, Sie abzuholen, sobald Sie angekommen sind.“
Ian betrachtete den Diener wachsam. „Der Gouverneur hat Sie geschickt?“
„Nein, Mylord.“ Der Diener verneigte sich. „Ich wurde vom Haus des Lord Arthur Knight geschickt.“
„Lord Arthur?“, rief Ian aus. Lord Arthur war der Vater von Derek und Gabriel.
„Jawohl, Sir. Seit vierzehn Tagen werde ich jeden Tag hierher bestellt, um Sie zu empfangen. Man befahl mir, Ihnen dies hier auszuhändigen.“ Er griff in seine Weste und zog ein zusammengefaltetes Blatt cremefarbenen Leinenpapiers hervor, das er Ian reichte.
Offenbar war Ians misstrauische Reaktion erwartet worden, denn der Brief war versiegelt mit dem Familienwappen des Duke of Hawkscliffe in rotem Wachs. In dem Moment, da Ian das Wappen der Hawkscliffes sah, hätte er beinahe gelächelt. Er kannte dieses Wappen so gut wie sein eigenes. Mochte er auch ein Fremder in einem fremden Land sein, dieser vertraute Anblick gab ihm beinahe das Gefühl, zu Hause zu sein.
Lord Arthur war Hawks Onkel, der jüngere Bruder des vorherigen Duke. Wie es jüngeren Söhnen des Adels oft erging, war Lord Arthur in seiner Jugend ein wenig leichtsinnig gewesen. Das hatte ihn zum Liebling aller Jungen in der Familie gemacht, ehe er sich vor gut dreißig Jahren entschlossen hatte, sein Glück im Dienste der East India Company zu suchen.
Ian hatte versprochen, vom Londoner Zweig der Familie Grüße an Lord Arthur zu übermitteln, denn der war hier in Indien inzwischen verwurzelt und kam nur noch äußerst selten nach England. Dennoch war Ian nicht davon ausgegangen, einen gesellschaftlichen Besuch zu unternehmen, noch ehe er sich im Hotel eingerichtet und auf seine Mission vorbereitet hatte.
In jedem Fall war das Siegel der Hawkscliffes ein guter Beweis dafür, dass die Geschichte des Dieners stimmte und nicht die Falle eines feindlichen Agenten war. Mit dieser Überlegung brach Ian das Siegel und las.
Lieber Lord Griffith,
willkommen in Indien! Das schönste Hotel Kalkuttas kann nicht mithalten mit der Gastfreundschaft des Hauses eines guten Freundes, und da ich hörte, dass Sie in England beinahe zur Familie gehören, müssen Sie hierher kommen und unser Gast sein. Es wird uns ein Vergnügen sein, alles für Ihre Bequemlichkeit zu tun.
Ganz die Ihre
Georgiana Knight
Aha, dachte er. Georgiana. Die Tochter Lord Arthurs. Ihr Ruf eilte ihr voraus.
Ian hatte wieder und wieder Erstaunliches über die junge Dame gehört, die immerhin am Golf von Bengalen lebte – und zwar nicht nur über ihre Schönheit, sondern auch über ihre guten Taten. Obwohl sie eine der einflussreichsten Schönheiten der britischen Gesellschaft in Kalkutta war, mit zahllosen Freunden und mehr Bewunderern, als sie zählen konnte, schien sie all ihre Energie auf wohltätige Projekte für die Armen in Indien zu richten.
Gerüchte, Georgiana hätte ein Waisenhaus mit den Einnahmen ihres Vaters von der East India Company unterstützt, bildeten nur den Anfang. Es gab auch ein Armenhaus für alte Damen, ein Tierhospital in der Tradition der Jain, und einen Schrein, dessen drohende Zerstörung sie verhindert hatte, als die Briten den Bau einer neuen Straße planten. Obendrein war sie erste Vorsitzende der Orientalisten-Gesellschaft, die den Lebensunterhalt Gelehrter finanzierte, die sich dem Studium alter Sanskrit-Texte sowie aller Zweige östlichen Gedankengutes und östlicher Kunst widmeten.
Selbst die Dorfbewohner in Ians englischer Heimat hatten Georgianas Namen in ehrfürchtigem Flüstern ausgesprochen, als wäre von einem göttlichen oder heiligen Wesen die Rede. Doch da er alles über die schockierende Lebensweise jener Georgiana wusste, nach der sie benannt war – Hawks Mutter – hegte er da seine Zweifel.
Die Frauen der Familie Knight bereiteten stets Schwierigkeiten und schienen für Skandale geboren und erzogen zu sein.
Und doch konnte er es kaum erwarten, ihr zu begegnen.
Seit Generationen wurde schließlich schon der Plan gehegt, die beiden mächtigen Klans zu vereinigen, die Dukes der Hawkscliffes und die Marquesses der Griffiths. Aber dem maß Ian kaum eine Bedeutung bei. Sein Interesse an Georgiana war rein akademischer Natur, die große Allianz musste auf die nächste Generation warten. Vielleicht würde eines Tages sein Sohn Matthew die Tochter von Hawk und dessen Frau Bel heiraten. Für Ian aber waren die Tage der Ehe vorüber.
Er hatte einmal geheiratet. Einmal war genug gewesen.
Der Diener blickte ihn erwartungsvoll an. Ian hingegen zögerte. Sollte er von feindlichen Mächten beobachtet werden, so wollte er seine Freunde nicht in Gefahr bringen.
Aber wenn sich außer ihm noch zwei weitere Offiziere im Haus befanden – Gabriel und Derek, die darauf warteten, Ian zu seiner Mission zu begleiten – würde jeder Spion es sich zweimal überlegen, ihn anzugreifen. Außerdem hatte der alte Lord Arthur ihm vielleicht etwas Nützliches über den berühmt-berüchtigten Maharadscha von Janpur zu erzählen.
Nachdem er seinen Entschluss gefasst hatte, schob Ian den Brief in seine Brusttasche und nickte dem Diener zu. „Danke. Ich werde mitkommen.“
„Hier entlang, Mylord.“ Doch als der Diener ihn hinüber zur Kutsche führen wollte, trug ein leichter Luftzug ihm plötzlich den starken Geruch von Rauch zu.
Irgendwo brannte es.
Er sah sich um und bemerkte eine Veränderung im Strom der Menschenmenge. Die Leute auf dem Markt bewegten sich Richtung Westen.
„Was ist passiert?“, fragte er rasch, besorgt, dass irgendwo auf dem überfüllten Basar ein Feuer ausgebrochen sein könnte. Fieberhaft überlegte er, was zu tun wäre, damit die Menschen sich nicht gegenseitig niedertrampelten, wenn es keine geordnete Evakuierung gab. Der alte Markt würde bestimmt wie Zunder brennen.
Ravi hielt einen der Vorübergehenden an und erkundigte sich, was geschehen war, dann wandte er sich erleichtert zu Ian um. „Es ist nur ein Begräbnis, Sahib. Irgendeine wichtige Persönlichkeit ist gestorben und wird verbrannt. Seine Asche wird über den Fluss verteilt werden.“
„Ah.“ Erleichterung erfasste Ian, und er nickte seinem Dienstboten zu. „Also gut. Dann lasst uns …“ Abrupt verstummte er, denn in diesem Augenblick ritt ohne jede Vorwarnung jemand mitten durch die Menge.
Rittlings auf einer herrlichen weißen Araberstute sitzend, lenkte sie das anmutige Tier durch den Basar, zwischen den drängend vollen, im Zickzack verlaufenden Gassen, und ließ hinter sich ein heilloses Durcheinander zurück. Hühner flogen auf, Händler fluchten, ein Turm aus handgeflochtenen Körben fiel in sich zusammen, ein Obststand kippte um, und die Leute flohen aus ihrem Weg.
Ian stand nur da und starrte.
In einer Woge aus federleichter Seide, die elegant um ihren schlanken Leib drapiert war, beugte sich die Frau vor und flüsterte dem Pferd etwas ins Ohr. Über dem Schleier, der die untere Hälfte ihres Gesichts verbarg, blitzten ihre kobaltblauen Augen vor Entschlossenheit.
Blau.
Blaue Augen?
Während er sie noch ungläubig betrachtete, setzte die junge Frau mit ihrem Pferd über einen Ochsenkarren, der gerade durch die Gasse gezogen wurde. Und dann war sie fort, galoppierte direkt auf das Feuer zu.
Ian, Ravi und beide Kulis sowie der Diener der Familie Knight schauten dem Mädchen einen Moment lang wie betäubt hinterher.
Nach diesem Auftritt dachte Ian ein wenig amüsiert, dass es sich bei dieser Frau nur um eine Knight handeln konnte.
Ja, tief in seinem Innern hatte er sofort gewusst, wer sie war.
Der Diener war blass geworden und wollte ihr nach, doch Ian veranlasste ihn mit ein paar leisen Worten zum Stehenbleiben.
„Ich kümmere mich darum.“ Er nickte Ravi zu, dann wandte er sich von den Dienern ab und wählte dieselbe Richtung, in die der junge Feuerkopf eben geritten war.
Georgiana Knight trieb ihre leichtfüßige Stute vorwärts, wich Rikschas aus, Fußgängern und heiligen Kühen, die in der Straße herumlungerten, bis sie endlich das Flussufer erreichte, wo sich gut fünfzig Leute um einen Scheiterhaufen versammelt hatten.
Hoch schlugen die Flammen in den azurblauen Himmel hinauf.
Der Übelkeit erregende Geruch nach verbranntem Fleisch verursachte ihr Schwindel, doch sie ließ sich nicht abschrecken. Von dieser Rettungsaktion hing das Leben einer jungen Frau ab – mehr noch, das Leben einer lieben Freundin.
Die Verwandten des alten, toten Balaram bemerkten jetzt Georgies Ankunft. Die meisten von ihnen liefen noch um den Scheiterhaufen herum, betrauerten gebührend und lautstark den Stadtältesten, klagten und winkten, aber einige wirkten, als wäre ihnen unbehaglich zumute, seit Georgie am Rande der Menge erschienen war. Ihnen war bewusst, dass die Briten dieses heilige Ritual nicht schätzten, und Georgie erwartete beinahe, dass einige von ihnen versuchen würden, sie aufzuhalten.
Die Selbstopferung einer tugendhaften und schönen Witwe gefiel nicht nur den Göttern, sondern brachte auch ihrer Familie und der ihres Mannes große Ehre. Sich bei lebendigem Leibe in einem rituellen Selbstmord zu verbrennen, nur um den Namen des Mannes zu ehren!
Ein besseres Beispiel gibt es nicht, dachte Georgie, um zu verdeutlichen, was falsch war an der Institution Ehe – in beiden Kulturen. Sie sprach alle Macht dem Mann zu. Und Himmel, die Art und Weise, wie Frauen im Osten behandelt wurden, genügte, um jede vernünftige Frau von dem Gedanken an Heirat abzubringen!
Ihr fiel ein kecker Aphorismus ein, der von ihrer berühmten Tante stammte, Georgiana Knight: Der Ehestand ist ein Gefängnis. Nun, heute würde Georgie nicht zulassen, dass er auch ein Todesurteil wurde.
Dann sah sie die liebe, sanfte Lakshmi, wie sie vor dem Scheiterhaufen stand: in ihrem seidenen roten Hochzeitsgewand, schwer behängt mit Gold und Perlen. Die schwarzhaarige Schönheit starrte in die Flammen, als dächte sie darüber nach, welche Pein sie vor dem Vergessen erleiden müsste. Tief in Gedanken und zweifellos auch ein wenig vom Betel betäubt, bemerkte die Braut des toten Mannes nichts vom Herannahen ihrer britischen Freundin.
Vom Rauch beunruhigt, stieg die weiße Stute auf die Hinterbeine, als Georgie das Pferd am Rand der Menge zügelte, dann erteilte sie dem Tier den Befehl stehen zu bleiben und sprang aus dem Sattel.
Gemurmel erhob sich, als sie durch die Menge schritt und dabei ihre Füße in den Sandalen energisch in den Staub setzte. Die kleinen silbernen Glöckchen an ihrem Fußgelenk läuteten leise, aber hörbar in der Stille.
Jeder wusste, dass sich die beiden Mädchen seit ihrer Kindheit kannten und dass Georgie sehr viel stärker von Indien geprägt war als die meisten ihrer britischen Landsleute, daher glaubten die Verwandten vielleicht, sie wäre nur gekommen, um sich zu verabschieden. Lakshmis Familie waren wohlhabende Hindus aus der Kaste der Brahmin und nahmen in ihrer Kultur denselben aristokratischen Rang ein wie Georgies Familie in der ihren.
Sie ließen sie vorbei.
Hinter sich hörte sie, wie Adley am Rande der Menge lärmend eintraf und wie immer hinter ihr herstolperte, doch Balarams Familie gestattete dem dandyhaften jungen Nabob nicht näher zu treten. Lauthals machte er seiner Empörung Luft.
„Und ich sage, es geht nicht! Miss Knight! Ich bin hier – sollten Sie mich brauchen!“
Ganz auf ihren Plan konzentriert, wandte sie sich nicht um, sondern hielt den Blick auf das gerichtet, was sich vor ihr abspielte.
Der riesige Scheiterhaufen hatte die Knochen des alten Balaram bereits in Staub verwandelt, da hob Lakshmi den Kopf und entdeckte Georgie. Unter Georgies erzürntem Blick schlug sie die Augen nieder.
Als sie Lakshmi erreicht hatte, umfasste Georgie deren Schultern, sah sie ernst an und drehte sie weg von den Flammen. „Du hast den Verstand verloren, wenn du glaubst, ich lasse dich durchkommen mit diesem – diesem lächerlichen Aberglauben!“, schalt sie mit leiser Stimme. „Es ist unzivilisiert und grausam.“
„Welche Wahl habe ich denn?“ Lakshmis zarte Stimme bebte. „Ich kann meine Familie nicht entehren.“
„Das kannst du ganz gewiss! Es war schlimm genug, dass sie dich gezwungen haben, den alten Bock zu heiraten, aber für ihn auch noch zu sterben? Das ist unanständig!“, flüsterte Georgie wütend.
„Aber es ist kein endgültiges Sterben“, beharrte Lakshmi halbherzig. „Ich werde direkt zum Himmel auffahren, und wenn – wenn die Menschen zu mir beten, werde ich ihre Wünsche erfüllen.“
„Oh, Lakshmi! Was haben sie mit dir gemacht?“ Hatten die drei Jahre, die die Freundin in der strengen Abgeschiedenheit des Purdah verbracht hatte, ihr jeden gesunden Menschenverstand geraubt? „Ich bin mir sicher, dass du das nicht so meinst.“
„Oh Georgie – mein Dasein wäre zu schrecklich, wenn ich weiterlebe!“, stieß Lakshmi hervor, und ihre großen braunen Augen füllten sich mit Tränen. „Dir ist doch klar, wie es für Witwen ist. Ich wäre eine Ausgestoßene! Die Menschen würden mir aus dem Weg gehen und sagen, ich brächte Unglück! Ich würde meiner Familie eine Last sein, und ich würde mir das Haar abrasieren müssen“, fügte sie bekümmert hinzu, denn Lakshmis nachtschwarzes Haar war ihr ganzer Stolz und reichte ihr bis zur Taille. „Mein Leben ist vorüber. Es ist mir verboten, je wieder zu heiraten. All meine Kinderträume endeten am Tage meiner Hochzeit, und sie werden nicht zurückkehren, daher kann ich genauso gut tot sein.“
„Das weißt du nicht. Niemand kennt die Zukunft. Meine Liebe, du darfst nicht aufgeben.“ Georgie umarmte sie einen Moment lang, und Tränen des Zorns standen ihr in den Augen. „Sieh“, redete sie so beruhigend auf ihre Freundin ein, wie es ihr nur möglich war, „versuch, jetzt nicht an den ganzen Rest deines Lebens zu denken. Denk nur an diesen Augenblick und an den nächsten.“
Georgie hustete ein wenig vom Rauch, doch sie unterdrückte den Schmerz, der sich in ihrer Brust ausbreitete, und achtete nicht auf die Furcht, die sie erfasste, als der Qualm in ihre Lungen eindrang und sie an ihr altes Leiden erinnerte.
„Denk an all die Gründe zu leben“, fuhr sie fort. „All den Spaß, den wir haben. Beim Holi-Fest die Menschen mit Puderfarben zu bewerfen? Adley Streiche zu spielen? Wenn du stirbst, wer wird mir dann die Odissi-Tänze weiter beibringen? Wenn du stirbst, oh, meine Liebste, dann kannst du nie wieder tanzen!“
Lakshmi stieß ein leises Schluchzen aus, das über dem Prasseln des Feuers kaum wahrnehmbar war.
„Jetzt hörst du mir zu“, befahl Georgie leise. „Du würdest deiner Familie keine Last sein, denn …“ Sie verstummte, als ein Krampf ihre Atemwege zuzuschnüren drohte. Voller Angst presste sie die Hände auf die Brust. Diesen Schmerz hatte sie nicht mehr gespürt, seit sie ein Kind gewesen war. Es wurde schlimmer. Sie räusperte sich, doch das nützte nichts, sie begann, pfeifend zu atmen.
„Was ist los?“ Lakshmi blickte sie prüfend an.
„Nichts“, log Georgie ungeduldig, entschlossen, die Freundin zu retten, selbst wenn sie dabei ihr Leben riskierte. „Du wirst für deine Familie keine Last sein“, wiederholte sie und weigerte sich, der Angst, die sich in ihr ausbreitete, nachzugeben, „weil du mit mir kommen und in meinem Haus leben wirst. Papa wird es nichts ausmachen. Er ist ohnehin nie da. Und was meine Brüder anbetrifft – nun, Gabriel und Derek würden es dir nie verzeihen, wenn du das hier tust – und mir würden sie es nie verzeihen, wenn es mir nicht gelingen sollte, dich aufzuhalten.“
Als sie wieder hustete und danach leise fluchte, begriff Lakshmi, das etwas mit Georgie nicht stimmte. „Es ist dein Asthma, oder?“
„Mach dir keine Sorgen um mich!“, erwiderte Georgie, aber die Sorge um ihre Freundin weckte Lakshmi jetzt aus ihrer verzweifelten Trance.
„Gigi, du kannst kaum atmen“, wiederholte sie und benutzte das Kosewort aus ihrer Kinderzeit. „Du musst von diesem Feuer weg.“
Georgie sah sie bedeutungsvoll an. „Du auch“, sagte sie flüsternd. „Sei tapfer, meine Liebe. Sei tapfer genug, um dich gegen sie aufzulehnen, und lebe!“
„Miss Knight, Sie müssen sie jetzt gehen lassen“, wurde sie von Lakshmis Vater unterbrochen. „Es ist Zeit. Beeil dich, Lakshmi, solange das Feuer noch heiß genug brennt.“
Eine Woge von Funken flog hoch und auf Lakshmi zu, als wollte der alte Balaram selbst nach ihr greifen und sie mit sich ins Verhängnis ziehen. Lakshmi blickte von ihrem Vater zurück zu Georgie, und plötzlich wurde sie von Entsetzen nahezu überwältigt. „Hilf mir“, wisperte sie.
„Legt mehr Holz auf!“, befahl einer der Verwandten einem Diener in der Nähe.
Georgies Herz pochte. „Natürlich helfe ich dir. Deshalb bin ich hier. Nimm meinen Arm. Holen wir dich hier heraus. Ehe irgendeiner dich dazu zwingt, das hier zu Ende zu bringen, ob du willst oder nicht.“ Jemanden dazu zu drängen, einen rituellen Selbstmord zu begehen, war eine Sache. Aber wären Lakshmis Verwandte auch zu einem Mord bereit und würden sie gegen ihren Willen ins Feuer werfen?
Wachsam sah Georgie sich um, wohl wissend, dass diese Gefahr durchaus drohte. „Sei gewiss, alles wird wieder gut, das verspreche ich. Komm jetzt. Gehen wir.“ Beschützend hielt sie die Freundin fest und zog sie weg von dem Inferno.
Sogleich ließen die Anwesenden Protestgeschrei vernehmen. Innerhalb eines Augenblicks waren Lakshmi und Georgie umringt von zornigen Gesichtern.
Einige packten die beiden jungen Frauen an den Armen und versuchten, sie zu trennen.
„Lasst sie in Ruhe!“, rief Georgie und stellte sich vor ihre verängstigte Freundin, aber das schien die aufgebrachte Meute nicht zu beeindrucken.
Der Bruder des toten Mannes kam zu ihnen, schalt Lakshmi auf Bengalisch, erinnerte sie an ihre heilige Pflicht und beabsichtigte, sie zurück zum Feuer zu zerren, als wollte er sie lieber in die Flammen werfen, ehe er zusah, wie der verstorbene Familienpatriarch entehrt wurde.
„Es reicht!“ Georgie stieß den Mann mit einem Arm zurück und hielt Lakshmi mit dem anderen fest. „Gehen Sie weg! Ich werde nicht zulassen, dass Sie sie ermorden!“
„Undankbare Tochter! Hör nicht auf diese Ausländerin! Wie kannst du es wagen, Schande über deine Familie zu bringen?“
„Vater, bitte“, klagte Lakshmi, wehrte sich gegen ihren Verwandten, wurde in diesem Streit hin und her gerissen, aber als die beiden Mädchen zum Feuer gedrängt wurden, trat Entschlossenheit in Lakshmis große braune Augen. Jetzt gewann der Überlebenswille die Oberhand, und das Mädchen begann, um sein Leben zu kämpfen.
Georgie fiel es schon schwer, einfach nur Atem zu holen, aber sie hielt die Freundin mit beiden Armen fest und warf nur einen kurzen Blick über die Schulter. „Adley!“
„Ich bin hier, Miss Knight! Gleich bin ich bei Ihnen!“
Es dauerte nur ein oder zwei Minuten, bis ihr treuer blonder Verehrer sie auf seinem schönen Braunen erreicht hatte, aber Georgie erschien es wie eine Ewigkeit. Er hatte Georgies weiße Stute an den Zügeln mit sich geführt.
Die großen, stampfenden Pferde halfen, die Leute fernzuhalten. Georgie schob Lakshmi hoch und hinter Adley in den Sattel.
Zum Zorn ihrer Familie schlang die junge Inderin die Arme um die schlanke Taille des Engländers.
„Bringen Sie sie in mein Haus! Los!“, drängte Georgie, doch Adley zögerte und warf einen Blick auf die feindselige Menge. „Ich komme gleich nach!“ Sie schlug dem Wallach mit der flachen Hand auf die Kuppe, damit sie sich in Bewegung setzten, ehe alles noch schlimmer wurde.
Im nächsten Moment sprang Georgie auf den Rücken ihres Pferdes. Die weiße Stute warf den Kopf zurück, aber einer von Lakshmis Verwandten griff nach den Zügeln, beschimpfte Georgie, weil sie sich einmischte, eine Heidin sei und noch mehr üble Dinge. Nun, die Welt hatte Georgies berühmte Tante noch Schlimmeres genannt – die aufsässige Duchess war als die „Hawkscliffe-Hure“ beschimpft worden ihrer vielen Skandale wegen. Georgie hatte nicht die Absicht, sich einschüchtern zu lassen. „Geben Sie mein Pferd frei!“
Die wütenden Verwandten ihrer Freundin kamen immer näher, scharten sich lautstark um Georgie, und in dem Maße, wie ihre Angst wuchs, fiel ihr auch das Atmen schwerer.
„Wollen Sie an ihrer Stelle ins Feuer gehen?“, rief der erzürnte Schwager.
„Rühren Sie – mich nicht an!“ Während Georgie sich gegen die Angreifer wehrte, spürte sie, wie ihr Puls raste, es fiel ihr immer schwerer zu atmen, und all das brachte die längst vergessene Furcht zurück.
Als Kind schon hatte sie das Gefühl, ersticken zu müssen, gut kennengelernt. Ein Schwindel erfasste sie, weckte in ihr die Furcht, das Bewusstsein zu verlieren und vom Pferd direkt in die wütende Menschenansammlung zu fallen.
Plötzlich tauchte ein hochgewachsener Engländer in deren Mitte auf und trieb die Verwandten des Toten zurück.
„Weg da!“, brüllte er, streckte einen Arm aus, um die Männer in Schach zu halten und verscheuchte die anderen mit nichts als einem Spazierstock.
Georgie machte große Augen.
Gebieterisch rief er die Menge zur Ordnung, und die Leute wichen zurück, als hätte jemand mitten auf dem Markt einen Tiger losgelassen.
Als sie im Sattel das Gleichgewicht wiederfand, betrachtete Georgie erstaunt den stattlichen Fremden – er maß mehr als sechs Fuß, hatte breite Schultern und eine schmale Taille.
Mit athletischer Eleganz bewegte er sich inmitten der vielen Menschen, edel, strahlend und vornehm von dem kurzen Haar bis zu den glänzenden schwarzen Stiefeln. Was die körperliche Präsenz anging, so zählte er zweimal so viel wie Adley, ganz ohne eine Spur von dessen dandyhafter Extravaganz.
Im Herzen erkannte Georgie ihn sofort – nicht wegen seiner eleganten Londoner Kleidung, nicht einmal, weil sie jeden Tag mit seiner Ankunft gerechnet hatte. Sie wusste, dass er Lord Griffith war, weil er keine Waffe zog gegen diese unbewaffneten Leute.
Ein Mann wie er hatte das nicht nötig. Allein durch seine Ausstrahlung besaß der berühmte Marquess mehr Macht als andere Männer sich je mit ihrer Pistole verschaffen konnten.
Staunend sah sie ihn an. Offenbar war ihr erlauchter Gast endlich eingetroffen, und vom ersten Moment an war Georgie beeindruckter von ihm als sie zugeben mochte.
Irgendwie gelang es Lord Griffith, das Chaos unter Kontrolle zu bringen. Durch sein Erscheinen hatte sich der Zorn der Menge für einen Moment auf ihn gerichtet, sodass Georgie zumindest etwas Zeit gewann, um Atem zu schöpfen. Aber sie wusste, sie mussten hier verschwinden – alle beide. Jeden Augenblick konnte die Stimmung in Gewalt umschlagen.
Als er sie fragend anblickte und sich auf diese stumme Weise nach ihrem Befinden erkundigte, vergaß sie plötzlich ihr Asthma und auch das Atmen.
Himmel, er sah hinreißend aus!
Nachdem sie ihr Leben lang ihre beiden Brüder um sich gehabt hatte, erweckte ein schönes Gesicht nicht gleich Bewunderung bei ihr. Doch inmitten dieses Gefechts ließ das gute Aussehen des Diplomaten sie blinzeln.
Einige der Männer aus der Gegend nahmen ihren Mut zusammen und gingen wieder auf den Marquess zu, schrien ihn mit wachsender Heftigkeit in verschiedenen Dialekten an und fuchtelten mit den Armen vor seinem Gesicht herum. Zweifellos würde es gleich zu einem Handgemenge kommen.
Warnend sah er sie an, und für einen Augenblick linderte das ihren Zorn, aber die aufgebrachten Hindus taten ihr Bestes, um seine vernünftigen Aufforderungen, Ruhe zu bewahren, niederzubrüllen.
Georgie besänftigte ihr verängstigtes Pferd und schaffte es endlich, einen tiefen Atemzug zu holen, obwohl ihr die Brust dabei brannte.
Sie führte die Stute näher zu dem Engländer. „Lord Griffith, wie ich annehme?“, begrüßte sie ihn in möglichst leichtem Ton.
Er musterte sie in einer seltsamen Mischung aus Überraschung und Verärgerung, doch dann blickte er wieder misstrauisch hinüber zu den Leuten, die nicht müde wurden, ihn zu beschimpfen. Beinahe gegen seinen Willen verzog er den Mund zu einem kleinen Lächeln. „Miss Georgiana Knight.“
Sie hustete. „In Person.“
„Ich habe Ihre Nachricht erhalten.“
„Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir uns hier zeitig zurückziehen?“
„Ich wäre entzückt.“
Einen Moment lang kehrte Ian der Menge den Rücken zu, um sich hinter Georgie aufs Pferd zu schwingen. Mit seinen großen Händen, die in braunen Handschuhen aus Ziegenleder steckten, umfasste er ihre Taille. „Geben Sie mir lieber die Zügel.“
Sie schnaubte verächtlich. Männer! „Es ist mein Pferd, und Sie kennen den Weg nicht. Halten Sie sich fest.“ Sie musste ein paar von Lakshmis Verwandten mit ihrer Stute zur Seite zwingen, bevor es ihr gelang, das Tier zu wenden.
Endlich hatten sie es aus dem Getümmel geschafft, und Georgie, die sich erstaunlich geborgen fühlte, weil der Marquess wie eine warme menschliche Mauer hinter ihr saß, dirigierte ihre Stute im rasanten Tempo nach Hause.
2. KAPITEL
Zum Teufel, in was hatte diese Wahnsinnige ihn da verwickelt? Er war hierher gekommen, um einen Krieg zu verhindern, nicht, um einen anzufangen.
Aber der Marquess of Griffith verlor niemals die Fassung. Nie.
Gefühle zu zeigen war etwas für Bauern.
Ian bemühte seinen bemerkenswerten Vorrat unerschöpflicher Geduld, biss die Zähne zusammen und weigerte sich, auch nur ein Wort zu sagen.
Für den Augenblick.
Ein wahrer Gentleman, ganz besonders ein Diplomat, der das Protokoll bis in die kleinste Einzelheit kannte, behandelte Damen gewöhnlich mit einem Maß an Höflichkeit, das sie auf ein Podest stellte. Da es sich bei ihr um ein weibliches Mitglied der Familie Knight handelte, traf das in doppeltem Maße auf die Bedachtsamkeit zu, die Georgiana zu zeigen er sich verpflichtet fühlte.
Aber das war nicht einfach.
Nicht, wenn er den heftigen Wunsch verspürte, ihr den hübschen Hals umzudrehen, weil sie sich – und seine Mission – gefährdet hatte.
Er konnte nicht fassen, dass sie ihn dazu gebracht hatte, die Trauerfeierlichkeiten eines verdammten Begräbnisses zu stören, und er konnte nur hoffen, dass unter den Leuten dort niemand gewesen war, mit dem er bei seinem Auftrag zusammenarbeiten musste. Und was sie betraf – was dachte sie sich nur dabei, auf diese ungezügelte Weise in den Straßen Kalkuttas herumzutoben?
Er nahm sich ganz fest vor, mit ihrem Vater darüber zu sprechen.
Ja, entschloss er sich im Stillen, nicht dem Mädchen, sondern den männlichen Familienangehörigen gegenüber werde ich mein Missfallen äußern. Aus irgendeinem Grunde bezweifelte er, dass Lord Arthur wusste, in welche Schwierigkeiten seine schöne Tochter an diesem Tag geraten war, aber das war keine Entschuldigung. Um ein Haar wäre sie lebendig gebraten worden.
Es war schockierend, dass ihr Vater und ihre Brüder nicht besser auf sie aufpassten. War ihr nicht klar, dass sie als Nichte der Hawkscliffe-Hure noch mehr unter Beobachtung der Gesellschaft stand als alle anderen lebhaften jungen Damen? Dieser Zweig der Familie Knight beschwor die Katastrophe geradezu herauf, indem sie ihrer Georgiana so die Zügel schießen ließ.
Natürlich, wenn er gerecht war – und seine Ausbildung wie auch seine Natur veranlassten Ian stets dazu, alle Dinge von beiden Seiten zu betrachten – dann musste er zugeben, dass es bei dieser Rettungsmaßnahme um Leben und Tod gegangen war. Deshalb konnte er ihr wegen des Mutes, den sie gezeigt hatte, keinen Vorwurf machen.
Das Mädchen hatte gerade jemandem das Leben gerettet. Noch nie hatte er gesehen, dass eine Frau für einen anderen Menschen ihr Leben riskierte. Tatsächlich hatte die Verärgerung, die er Georgiana gegenüber zunächst empfunden hatte, beträchtlich nachgelassen.
Außerdem war er ihr Gast. Es kam ihm nicht zu, ihr oder ihrem Vater etwas über Anstand zu erzählen, so gern er das auch vielleicht getan hätte. Und in Anbetracht der Tatsache, dass das gemeinsame Reiten auf einem Pferd mit diesem entzückenden Wesen seine Gedanken in außerordentlich ungehörige Bahnen gelenkt hatte, gab es für ihn keine Veranlassung, etwas über Benimm und Anstand zu sagen. Gütiger Himmel! Ihre warmen Hüften schmiegten sich an seine Lenden, während er seine Hände behutsam um ihre schmale Taille gelegt hatte. Innerhalb der ersten paar Meilen war sein Verlangen geweckt.
Ihre langen Beine berührten seine Schenkel auf verlockende Weise, er fühlte jede Anspannung ihrer Waden, während sie das Pferd lenkte. Das genügte, einen Mann um den Verstand zu bringen.
Er zwang sich, seine Empfindungen zu ignorieren: Die jungfräuliche Tochter seines Gastgebers zu begehren, war sicher die höchste Form des schlechten Geschmacks.
Dann hustete sie – ein kurzer, trockener Laut – und sein Wunsch, sie zu beschützen, gewann sofort die Oberhand.
Stirnrunzelnd stellte Ian fest, dass das Mädchen irgendwelche Schwierigkeiten mit der Lunge hatte. Als er genauer hinhörte, bemerkte er die Anstrengung in jedem mühsamen Atemzug, den sie machte, fühlte es anhand der angespannten Muskeln an ihrem Rücken. Seine Miene verfinsterte sich.
Missbilligung und Lust wurden energisch beiseite geschoben, und er hielt sie fester. „Der Rauch hat Ihre Lungen angegriffen.“
„Nein, wirklich – es geht mir besser.“ Sie versuchte, einen weiteren Hustenanfall zu unterdrücken, und er verfluchte sich für seine Lüsternheit.
„Meine Liebe, Sie sind eine jämmerlich schlechte Lügnerin. Sagen Sie mir doch, was nicht stimmt“, befahl er knapp.
„Es ist nur – ein Anflug von Asthma. Ich hatte es schon als Kind. Gewöhnlich bereitet es mir keine Schwierigkeiten, aber der Rauch …“
„Benötigen Sie einen Arzt?“
„Nein. Danke.“ Über die Schulter hinweg warf sie ihm einen dankbaren Blick zu. „Ich weiß, was ich dagegen tun kann, wenn ich erst zu Hause bin.“
„Gut. Dann wollen wir so rasch wie möglich unser Ziel erreichen.“ Er flüsterte ihr zu, dass sie nicht sprechen sollte, nahm behutsam die Zügel und ließ sich von ihr den Weg zeigen. Seine ganze Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, sie in Sicherheit zu bringen, wo sie angemessene Hilfe finden konnte.
Von dem Augenblick an, da Lord Griffith erschienen war, waren Erleichterung und Dankbarkeit Georgies hauptsächliche Gefühle gewesen. Insgeheim hatte sie es genossen, seinen Körper so warm an ihrem zu spüren, als sie zusammen auf ihrem Pferd nach Hause ritten.
Aber als er sie nötigte, ihm die Zügel zu überlassen, verschwanden die guten Gefühle und plötzlich war Georgie unbehaglich zumute. Obwohl sie nicht mit ihm stritt, erinnerte sie die Selbstverständlichkeit, mit der er die Kontrolle übernahm an ihre eigentliche Ansicht über diesen Mann. Sie hatte bereits eine Meinung von ihm gehabt, bevor er so plötzlich erschienen war und sich am Feuer tatkräftig für sie eingesetzt hatte – kurz, gesunde Skepsis bahnte sich ihren Weg.
Oh ja, sie wusste, dass alle Welt den Marquess of Griffith für eine Art Ausbund an Tugend hielt, für einen gerechten und integren Mann. Seit sie seinen Brief an Papa erhalten hatte, in dem er seine bevorstehende Ankunft ankündigte, hatte sie sich in der Gesellschaft nach ihm erkundigt und versucht, so viele Informationen – und so viel Klatsch – wie möglich über den bekannten Londoner Gast zu sammeln.
Als hochrangiger Diplomat und erfahrener Unterhändler des englischen Außenministeriums – er war sogar ein persönlicher Freund des Außenministers, Lord Castlereagh – hatte Lord Griffith Kriege verhindert, Waffenstillstände ausgehandelt, die Freilassung von Geiseln erwirkt und machtgierige Potentaten mit kühler Unnachgiebigkeit und eiserner Selbstdisziplin bezwungen. Wenn irgendwo in der Welt sich ein Konflikt zusammenbraute, war Lord Griffith derjenige, den das Außenministerium dorthin schickte, um die gefährlichsten Situationen zu entschärfen.
Als eine Frau, die Indiens jahrhundertealte Philosophie der Jain befürwortete, die für Gewaltlosigkeit und soziale Gleichheit einstand, musste Georgie einen Mann achten, der den Sinn seines Lebens darin sah, Menschen daran zu hindern, einander umzubringen.
Dennoch hatte sie ihre Zweifel.
So gut war kein Mensch. Die östlichen Mysterien lehrten, dass es für jedes Licht in einem Menschen auch eine dunkle Stelle gab. Außerdem war sie sehr vorsichtig geworden, nachdem sie erlebt hatte, dass jeder neue Diplomat, Politiker oder Beamte, der aus London geschickt worden war, um bei der Regierung Indiens zu helfen, vor allem ein Motiv für seine Reise nach Indien kannte – Gold. Sie hatten kaum die Schiffe verlassen, da begannen sie schon, die eigenen Taschen mit den Reichtümern des Ostens zu füllen, gewöhnlich, indem sie die Inder ausbeuteten. Nur die wenigsten Briten kümmerten sich um die Bevölkerung. Aber Georgie lag sehr viel an den Menschen in diesem Land.
Seit der Kindheit betrachtete Georgie das indische Volk als ihre zweite Familie. Nach dem Tod ihrer Mutter war sie von freundlichen indischen Dienstboten aufgezogen worden. Sie hatten sie, das verwaiste kleine Mädchen, in ihrer Welt willkommen geheißen – ihrer heiteren, vielfarbigen, geheimnisvollen, paradoxen Welt.
Und Georgie war davon geformt worden.
Sie nutzte ihre Stellung in der britischen Gesellschaft, um die Inder in ihrer Umgebung vor den schlimmsten Übergriffen westlicher Habsucht zu schützen, aber Frauen besaßen wenig Einfluss – außer der Macht, die Gott ihnen in Form von Charme, Geist und Schönheit gegeben hatte. Trotz der Kontakte ihrer Familie zu einem Duke, der Position ihres Vaters als inzwischen im Ruhestand befindliche Führungspersönlichkeit der East India Company, die Ränge ihrer Brüder als allgemein anerkannte Offiziere der Königlichen Armee und ihres eigenen Status als hochwohlgeborene englische Debütantin schienen ihre Versuche, dem indischen Volk zu helfen, oft eine verlorene Schlacht zu sein.
Und jetzt hatten die Mächtigen in London Lord Griffith hergeschickt, die schärfste Waffe in ihrem Arsenal.
Das war kein gutes Zeichen.
Etwas Großes musste im Gange sein, und Georgie hatte vor herauszufinden, was das war. Sie hatte Gerüchte gehört über einen weiteren Krieg gegen das Reich der Marathen, aber sie betete zu Gott, dass das nicht stimmte, nicht mit zwei Brüdern, die es nicht ertragen könnten, sich vom Schlachtfeld fernzuhalten. Und dann war da noch dieser beunruhigende Brief von Meena …
Vor noch nicht langer Zeit hatte eine andere von Georgies indischen Freundinnen von hoher Abkunft, die liebe, reizende Meena, König Johar geheiratet, den mächtigen Maharadscha von Janpur. Gut aussehend und tapfer, ein Krieger und ein Poet, herrschte König Johar über eines der bedeutendsten Hindukönigreiche in Nordzentralindien. Seine königlichen Vorfahren hatten das Maratha-Reich mitbegründet, eine Vereinigung von sechs mächtigen Klans, mit Ländereien um Bombay und in den wilden Wäldern des Deccan Plateau.
Durch einen uralten Verteidigungsvertrag gebunden, der besagte, dass alle Verbündeten einander zur Hilfe eilen mussten, wenn eines der Königreiche angegriffen wurde, hatten sich die Marathakönige hundert Jahre zuvor zusammengeschlossen, um die Mughal-Eindringlinge abzuwehren, die von Afghanistan kamen, um Indien zu erobern.
Bis zu diesem Tag verteidigten sie ihre Unabhängigkeit, indem sie die Briten fernhielten. Es hatte bereits zwei Kriege zwischen den Engländern und den Marathen in den letzten fünfzig Jahren gegeben, doch seit mehr als einem Jahrzehnt hatte glücklicherweise Frieden geherrscht. Viele waren jedoch davon überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ein neuer Krieg ausbrach.
Das befürchtete auch Georgie. Sie verabscheute Gewalt und hasste die Vorstellung, dass ein gerechter Herrscher wie König Johar entmachtet werden sollte. So viele stolze indische Königreiche waren bereits den Briten in die Hände gefallen, einige durch Kriege, andere durch ungerechte Verträge: Hyderabad, Mysore, sogar die wilden Rajputs im Norden. Nur die Marathen waren bislang frei und unabhängig geblieben.
Aber vielleicht nicht mehr lange.
Wenn ein Krieg ausbrach und Johar in der Schlacht stürbe, dann würden alle dreißig von seinen Gemahlinnen, zu denen auch die liebe Meena gehörte, ganz zu schweigen von seinen hundert Konkubinen, auf seinem Scheiterhaufen verbrennen, so wie es mit Lakshmi heute um ein Haar geschehen wäre.
Georgie erschauerte bei dieser schrecklichen Vorstellung, worauf Lord Griffith sie ein wenig fester hielt.
„Geht es Ihnen gut?“, fragte er.
Wie sanft seine Berührungen sind, dachte sie unwillkürlich. Sie schüttelte die bedrückenden Gedanken ab und brachte ein Nicken zustande. „Ja, danke“, stieß sie hervor und erinnerte sich wieder daran, dass – welche Intrigen auch immer gerade geschmiedet wurden – dieser Mann hier war, um Schlimmeres zu verhindern.
Sie hatte vor, durch ihren Gast herauszufinden, was vor sich ging. Obwohl sie das natürlich nicht auf direktem Weg tun konnte. Schließlich war sie „nur“ eine Frau. Niemals würde Lord Griffith ihr Regierungsgeheimnisse anvertrauen, und sie hatte kein Recht zu fragen. Daher, so beschloss sie, wäre es am besten, nicht sein Misstrauen zu erregen. Wenn sie die Waffen einer Frau einsetzte, Augen und Ohren offen hielt, ihn so bezauberte, dass seine Wachsamkeit nachließ, dann würde sie bald alle Informationen besitzen, die sie benötigte.
So gern sie auch an Lord Griffiths brillanten Ruf geglaubt hätte, so unbedarft war sie nicht. Sie sah keinen Grund zu der Hoffnung, dass der angeblich so wunderbare Marquess tatsächlich ganz anders war als all die anderen gierigen Europäer, die seit Jahrhunderten nach Indien kamen, um es auszuplündern.
Sollten seine Motive wirklich selbstlos sein – sollte er wirklich hier sein, um einen Krieg zu verhindern, und sollte er ein vertrauenswürdiger Mensch sein, dann würde sie alles tun, was sie konnte, um ihm zu helfen.
Aber wenn sich herausstellte, dass er genauso war wie alle anderen, korrupt und herzlos, und wenn die Gier sein eigentliches Motiv war – seine eigene Gier, die der Company und die der Krone – dann würde sie ihren Freunden in Maratha beistehen und einen Weg finden, gegen den Marquess zu kämpfen.
Dass er in ihrem Haus als Gast weilte, würde es ihr erleichtern, ihn im Blick zu behalten, daher hatte sie ihm die Nachricht geschickt, in der sie ihm ihre Gastfreundschaft anbot. Sein Besuch sollte ihr genügend Zeit geben, ihn zu beobachten, ihn kennenzulernen, und sich selbst ein Urteil über ihn zu bilden.
Gegenwärtig näherten sie sich einer breiten, eleganten Avenue, die als Chowringee bekannt war, Kalkuttas Antwort auf die elegante Park Lane in London. Ganz in der Nähe lag auch Fort William, wo der britische Generalgouverneur residierte. Als sie an einer Reihe prachtvoller Häuser vorüberritten, in denen die reichsten englischen Familien im Luxus lebten, zog Georgie den Kopf ein. Heute Morgen hatte sie mit Bedacht den Schleier und die indisch anmutende Kleidung gewählt, um ihre Identität vor den neugierigen Nachbarn zu verbergen.
Die meisten von ihnen schliefen vermutlich noch, denn am vorigen Abend hatte ein großer Ball stattgefunden, aber Georgie wollte kein Risiko eingehen. Es lag ihr nichts daran, für Skandale zu sorgen – im Gegensatz zu ihrer verstorbenen großartigen Tante –, denn wenn sie ruiniert wäre, könnte sie niemandem mehr helfen.
Nein, Georgie schätzte zwar die Ideale ihrer Tante, aber nicht deren Methoden.
Als sie das Haus erreichten, bedeutete sie Lord Griffith, das Pferd zu zügeln. „Hier sind wir.“
Vor dem wunderlichsten Haus in der Straße brachte Ian das Pferd zum Stehen. Als er an dem Gebäude hochblickte, sah er eine schneeweiße orientalische Fantasie vor sich, eine Art exotisches Konfekt mit einer türkisfarbenen, zwiebelförmigen Domkuppel und vier kleinen Türmen, die sich an den Ecken wie Minarette erhoben. Das Gebilde schien vor ihm zu schweben, eine schimmernde Illusion, die sich vor dem azurblauen Himmel strahlend weiß abhob.
Er blinzelte und erwartete beinahe, dass es verschwand.
Doch es blieb.
Und als er das Haus noch einmal betrachtete, hatte er wie schon auf dem Gewürzmarkt das Gefühl, ganz langsam verzaubert zu werden, überwältigt, vielleicht verführt von diesem seltsamen Land, als hätte er Opium eingeatmet.
Er sprang vom Pferd und drehte sich dann ganz selbstverständlich um, um Georgiana zu helfen. Als sie die Hände auf seine Schultern legte, er ihre Taille umfasste und sie auf die Füße stellte, sahen sie einander einen flüchtigen Moment lang an. Über dem durchscheinenden Schleier, der die untere Hälfte ihres Gesichts verhüllte, strahlten ihn ihre kobaltblauen Augen an. Im Kontrast zu ihren Augen wirkte ihre Haut so hell wie Elfenbein, und das nachtschwarze Haar trug sie in einem straffen Knoten zusammengebunden.
Ian starrte sie an. Das Verlangen durchzuckte ihn wie ein Feuerball und brachte seinen Vorsatz – seinen Empfindungen keine Beachtung zu schenken – ins Wanken.
„Danke“, flüsterte sie heiser.
Plötzlich erinnerte er sich daran, wie er sich über sie geärgert hatte, und Ian deutete wortlos auf den Weg. Sie senkte den Blick. Seine Missbilligung war ihr nicht entgangen.
Als ein indischer Diener in Livree auf sie zueilte, befahl Georgie dem Mann, die Stute noch eine Weile herumzuführen, damit sie sich auch bestimmt abkühlte, ehe sie in den Stall zurückgebracht wurde.
Der Diener verneigte sich. „Jawohl, Memsahib.“
Sie warf Ian einen kühlen Blick zu. „Kommen Sie“, murmelte sie dann und ging voran zur Vordertür. Während bei jedem ihrer Schritte leise Glöckchen erklangen, hob sie leicht den Saum ihres Seidensaris.
Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete Ian sie von hinten, fühlte sich dabei ein wenig wie Odysseus, der fern der Heimat von Circe bezaubert wurde.
Die meisten alten Barden waren sich darüber einig, dass es ausgesprochen unvorsichtig war, eine Zauberin zu begehren. Vermutlich würde es ihm recht geschehen, wenn Georgiana ihn in einen Molch verwandelte.
Trotzdem folgte er ihr bis zur Tür und wandte sich, bevor er eintrat, noch einmal rasch um. Mit etwas Glück hatte er mit seinem überstürzten Aufbruch vom Marktplatz seine Verfolger abgeschüttelt. Mit den Augen suchte er den breiten grünen Park auf der anderen Seite der Straße ab, dann den Paradeplatz, der Fort William umgab.
Ein Dunstschleier ließ die Konturen des großen, achteckigen Bollwerks weicher erscheinen. Ian prägte sich die Umgebung ein und entdeckte niemanden, der verdächtig wirkte. Offenbar waren sie zum Glück bisher auch nicht von den Verwandten des toten Mannes verfolgt worden.
Dann tat er es Georgiana nach und trat ebenfalls über die Schwelle.
Im Haus herrschte helle Aufregung, da erst kurz zuvor die junge Inderin angekommen war, in Begleitung des jungen Gentleman, den Ian ebenfalls beim Feuer gesehen hatte. Er hörte, dass die Frau nach oben getragen worden war, damit sie sich von ihrer Qual erholte.
Inzwischen huschte eine Schar indischer Dienstboten unterschiedlichster Kleidung in aufgeregtem Durcheinander hin und her, beunruhigt über die Wendung der Dinge. Kaum hatte ihre Herrin das Haus betreten, scharten sie sich um sie und begannen, alle gleichzeitig zu reden. Das blitzschnelle Gespräch auf Bengalisch verlief für Ian zu hastig, als dass er etwas verstanden hätte.
Er wartete eine kleine Weile, aber weder der Vater noch die Brüder seiner Gastgeberin erschienen, daher nahm er die Dinge selbst in die Hand, während Georgiana versuchte, alle Fragen in der Sprache ihrer Angestellten zu beantworten und ihnen Anweisungen zu erteilen. Ian machte sich nützlich, indem er dafür sorgte, dass das Haus gesichert war für den Fall, dass die aufgebrachte Menge ihnen doch gefolgt war.
Sorgfältig schloss er die Eingangstür hinter sich ab und ging dann im ersten Stock von Raum zu Raum, verriegelte Fenster und Türen. Dabei stellte er erstaunt fest, dass die Einrichtung hier der jedes wohlhabenden Hauses in London glich, trotz der äußerlichen Übertriebenheit. Den einzigen wirklichen Unterschied bildeten die üppigen tropischen Palmen, die hier und da in großen irdenen Töpfen standen.
Als alle Fenster und Türen verschlossen waren und er von verschiedenen Plätzen im Haus nach draußen gesehen hatte, um sich zu vergewissern, dass niemand dort lauerte, kehrte Ian in die Eingangshalle zurück. Er war erleichtert, dass zumindest diese grundlegenden Vorsichtsmaßnahmen getroffen waren. Georgiana war es inzwischen gelungen, das aufgebrachte Personal zu beruhigen und die Dienstboten taten bereits wieder ihre Arbeit.
Ein wenig überrascht wandte sie sich um und blickte ihn an, als würde sie sich fragen, wohin er wohl verschwunden gewesen war.
Er betrachtete ihr Gesicht, trat an ihre Seite, nahm ihren Ellenbogen und führte sie behutsam zum nächsten Stuhl. „Wie ist es mit Ihren Lungen?“
„Sehr viel besser jetzt – danke.“
„Sie sehen blass aus. Bitte setzen Sie sich. Lassen Sie mich nach einem Arzt schicken …“
„Nein, wirklich, Mylord. Ich fühle mich gut“, unterbrach sie ihn. „Das Schlimmste ist jetzt vorbei. Außerdem habe ich – habe ich meine eigene Medizin.“
Ian runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust. „Na schön. Dann beeilen Sie sich und nehmen Sie sie ein. Ich werde warten.“
Gütiger Himmel, dachte Georgie im Stillen, was für ein bestimmender Mann, gab schon Befehle, kaum dass er ihr Haus betreten hatte. Allerdings musste sie ihm zugestehen, dass er es gut meinte. Doch sie wollte ihm nicht unbedingt mitteilen, wie exzentrisch ihre Medizin tatsächlich war. Es war sicher besser, etwas vage zu bleiben. „Es ist – äh – nicht gerade ein Saft oder ein Pulver.“
Skeptisch zog er eine Braue hoch.
Georgie musterte seine ernste Miene, die höflich, aber sehr sachlich wirkte. Sie erkannte darin eine gewisse Unnachgiebigkeit und seufzte. Wenn er ihren Brüdern nur ein bisschen ähnlich war, dann bedeutete dieser Blick, dass er nicht die Absicht hatte, das Thema auf sich beruhen zu lassen. „Na schön. Wenn Sie es unbedingt wissen wollen, es sind Atemübungen, die ich gelernt habe, als ich klein war, um mit dem Problem fertig zu werden. Ich mache auch Dehnübungen, die gut für die Lunge sind.“
„Ich verstehe.“ Sein Blick wurde durchdringender. Er schien noch nicht ganz überzeugt.
„Man nennt es Yoga“, murmelte sie. „Es ist das Einzige, was hilft.“
„Ah, davon habe ich gehört.“ Ian nickte langsam und betrachtete sie aufmerksam. „Eine alte Kunst, nicht wahr?“
„In der Tat. Und was wichtiger ist – es hilft.“ Sie war überrascht, dass er sie offenbar nicht verurteilte oder sich über sie lustig machte. Außerhalb ihrer Familie sprach sie mit keinem ihrer englischen Bekannten gern darüber, dass sie Yoga praktizierte, denn die meisten von ihnen hätten das für verrückt gehalten.
Viele Mitglieder der Gesellschaft meinten ohnehin, dass Georgie zu „indisch“ geworden sei. Doch alles, was die britischen Ärzte bisher getan hatten, um Georgie von ihrem Asthma zu heilen, war, ihr grässliche Blutegel anzusetzen und ihr Laudanum zu verordnen, flüssiges Opium, nach dessen Einnahme die Bilder in ihrem Schlafzimmer zum Leben erwacht waren und die Zimmerdecke sich drehte. Hätte sie das Mittel weiter eingenommen, wäre sie inzwischen davon abhängig und zum Pflegefall geworden.
Zum Glück war Georgies geliebte Ayah Purnima, ihr indisches Kindermädchen, vor einigen Jahren mit ihrer Weisheit in Bezug auf Georgies Krankheit am Ende gewesen und hatte einen Verwandten um Rat gebeten. Der Mann war ein Yogimeister, der Georgie angewiesen hatte, ihre Brust und ihren Rücken zu entspannen und ihre Lungen zu entfalten.
Es war auch die weise alte Purnima gewesen, die erkannt hatte, dass Georgies Anfälle wahrscheinl