1. KAPITEL
Irland im Jahre 1102
Dunkelheit, dicht und erstickend, hüllte sie ein.
Ihr Kiefer schmerzte, und ihre Lippen waren trocken und gesprungen
vom Durst. Als Aisling O’Brannon ihre Hände bewegte, spürte sie die
straffen Stricke, mit denen ihre Handgelenke gebunden waren.
Panik stieg in ihr auf beim Gedanken
an den Wikinger, der sie geraubt hatte. Vage erinnerte sie sich an
ein Langschiff und viele auf See verbrachte Stunden. Irgendwann
waren sie an Land gegangen.
Wohin hatte er sie gebracht? Und …
was würde mit ihr geschehen? Sie bäumte sich auf und zerrte an den
Fesseln. Dabei bemerkte sie, dass sie auf einem Bett lag.
Nein! Nicht das!
Der bittere Geschmack von Furcht
stieg in ihrer Kehle auf, doch sofort wehrte sie sich dagegen.
Nein, sie würde nicht wie ein hilfloses Kind hier liegen bleiben!
Wieder zerrte und zog sie an den Stricken.
„Du bist wach.“ Eine Stimme füllte
den Raum, tief und volltönend, mit schwerem Akzent, der ihr
verriet, dass der Mann die irische Sprache nur unvollkommen
beherrschte.
Sie blinzelte, bemühte sich, in der
Dunkelheit etwas zu erkennnen, bis ihr klar wurde, dass ihre Augen
von einem Streifen Tuch verhüllt waren.
Dadurch, dass sie nichts sehen
konnte, machte ihr das Unbekannte nur noch mehr Angst. Aisling
rollte sich zur Seite, Stroh raschelte unter ihr, und eine Hand
stützte ihren Rücken und half ihr, sich aufzurichten.
Sie wehrte sich gegen die Berührung,
doch dann spürte sie, wie ihr ein Becher an die Lippen gedrückt
wurde. Das drängende Bedürfnis, ihren Durst zu stillen, ließ sie
alles andere vergessen. Sie schmeckte süßen Met und konnte nicht
anders, als gierig zu trinken.
„Wo bin ich?“, fragte sie
schließlich.
„Kurz vor Vedrarfjord.“
Sie erkannte den Wikingernamen für
eine Siedlung, die nahe ihrer eigenen lag. Der Jungfrau sei Dank,
sie war nicht weit weg von zu Hause. Sie konnte sich nur schwach an
ihre Entführung erinnern und hatte lediglich eine verschwommene
Vorstellung von der verflossenen Zeit.
Erneut versuchte sie, etwas zu
erkennen. „Warum trage ich eine Augenbinde?“
„Ich nehme sie dir ab.“
Als er ihren Hinterkopf
berührte, zuckte sie vor Schmerz zusammen. Auch ihr Kiefer tat ihr
weh und schien geschwollen, als hätte ihr jemand einen Faustschlag
versetzt. Der Nordmann wickelte den Stoffstreifen ab, bis sie
endlich Licht sah, auch wenn es ihr schmerzhaft in die Augen stach.
Aisling blinzelte, suchte ihren Wärter zu erkennen.
Er war so groß, dass sie den Kopf
zurücklegen musste, um ihn anzuschauen. Goldfarbenes Haar fiel ihm
auf die breiten Schultern, um seinem Hals lag ein schimmernder
bronzener Reif. Eingeritzte schwarze Runen zogen sich über die
hervortretenden Muskeln seiner Arme. Angesichts dieser mystischen
Zeichen wollte sie sich unwillkürlich bekreuzigen, doch ihre
gebundenen Hände ließen es nicht zu.
Er trug eine graue Tunika, die bis
über seine Hüften reichte, und dunkle Beinlinge. Unauffällige
Farben, die einem Bauern angestanden hätten – nur waren die
Kleider nicht aus grobem Stoff, sondern fein gewebt, aus teurer
weicher Wolle. Sie vermutete, dass er die gedeckten Töne bewusst
gewählt hatte. Einzig sein langer, in tiefstem Weinrot gefärbter
Umhang stach hervor, der auf seiner Schulter von einer goldenen
Brosche in Form einer Schlange gehalten wurde.
Dieser Mann gehörte nicht zum
einfachen Volk. Sie sah es nicht nur an der kostspieligen Kleidung,
sondern auch an seiner Haltung und daran, wie er sie anschaute. Als
sei sie sein Besitz. Das würde nie geschehen! Nicht, solange sie es
irgendwie verhindern konnte!
Sein eindringlicher Blick ließ ihre
Haut kribbeln. Doch dann schnürte die Angst ihr die Kehle zu. Rasch
dachte sie an die vielen Lektionen ihres Bruders, der sie gelehrt
hatte, wie man sich wehrte.
Wenn der Mann wagte, sie anzufassen,
würde er es bereuen. Sobald sie eine Waffe in die Finger bekam,
würde sie sich von ihm befreien.
Zeig ihm deine
Furcht nicht!
„Wer seid Ihr?“
„Ich bin Tharand Hardrata.“
Auf seinen fordernden Blick hin
nannte sie ihren eigenen Namen. „Seid Ihr ein Clanführer?“
„Nein, ich gehöre zur Garde des
Königs. Ich bin ein Freimann.“
Das verblüffte sie. Wenn er ein
Krieger war, wieso kleidete er sich dann so schlicht? Und was hatte
er mit ihr vor? Warum lag sie gebunden auf seinem Lager? Darüber
wollte sie lieber nicht nachdenken. Sie schluckte schwer und
fragte: „Warum habt Ihr mich gefangen?“
Tharand antwortete nicht, sondern zog
einen Dolch aus seinem Gürtel.
Aisling erstarrte. Hielt die Luft
an.
Doch er fasste nur hinter ihrem
Rücken nach den Stricken, die sie hielten. Seine Hände waren so
groß, dass sie dachte, er könnte damit ihre Knochen brechen, ohne
sich im Geringsten anzustrengen. Als er mit festem Griff ihre
Handgelenke umfing, drang die Wärme seiner Handflächen tief in ihre
Haut.
„Ich schneide dich jetzt los.“ Er
drückte die Klinge gegen den Strick. „Halt still.“
Nah, wie er ihr war, spürte sie die
harten Muskeln seines Oberarms an ihrem Rücken. Die Berührung war
rein zufällig, doch da sie fror, strahlte seine Körperwärme
wohltuend auf sie aus. Aisling atmete tief ein, bemühte sich, die
aufsteigende Panik zu unterdrücken.
Es schien ihr sehr gefährlich, mit
diesem Mann allein zu sein. Groß und stark, wie er war, würde sie
sich kaum gegen ihn wehren können.
Als sein Daumen zufällig über ihre
Handfläche fuhr, wurde sie jäh von einem Gefühl der Erwartung
erfasst. Seine Haut strömte einen leicht würzigen Geruch aus, der
an ferne Lande im Orient erinnerte. Der Schein der Kerzen ließ
seinen Schatten beängstigend flackern.
„Was wollt Ihr von mir?“, fragte sie.
„Bin ich nun Eure Sklavin?“
Mit einem raschen, scharfen Schnitt
durchtrennte er mit der Klinge seines Dolches ihre Fesseln, wobei
er sie unverwandt anschaute, mit einem so forschenden Blick, als
wollte er ihren Wert schätzen.
„Du bist ein Geschenk für König
Magnus“, erklärte er schließlich. „Er weilt wieder in Irland.“
Ein Geschenk? Sie presste die Lippen
aufeinander. „Und wieso glaubt Ihr, dass er noch eine Sklavin
will?“
Er nahm eine Strähne ihres dunklen
Haares und ließ es durch seine Finger gleiten. Die kleinen Härchen
in ihrem Nacken richteten sich auf, und plötzlich begann ihr Herz
heftig zu pochen.
„Du wirst nicht einfach eine
Haussklavin sein. Eine Frau wie du ist mehr wert. Wenn du Glück
hast, könntest du sein Bett wärmen.“
Ihr lag eine wütende Entgegnung auf
der Zunge. Eine solche Frau bin ich nicht, wollte sie schreien.
Aber war sie nun nicht genau das? Ihre Freiheit war dahin, war ihr
gestohlen worden. Heftig rieb sie ihre Handgelenke, um die Taubheit
daraus zu vertreiben. Mit aller Macht wünschte sie, sie könnte den
Krieger töten für das, was er ihr angetan hatte. Und für das, was
er noch tun würde.
„Und was bekommst du dafür?“, fragte
sie bewusst respektlos. „Gold? Dreißig Silberlinge?“
Seine Miene gefror. „Sei dankbar,
dass du noch lebst.“
„Warum ich? Warum nicht eine andere
Frau?“ Am liebsten hätte sie laut aufgeschrien. Anspannung lauerte
in ihr, wollte herausbrechen.
Tharand zuckte die Achseln. „Du bist
von edlem irischem Blut und damit geeignet, dem König zu Diensten
zu sein.“
Dem König zu Diensten? Aisling biss
die Zähne zusammen. Wohl kaum! Sie würde sich bestimmt nicht
tatenlos diesem Schicksal ergeben.
Aber draußen herrschte Winter, das
machte ein Entkommen fast unmöglich.