1. KAPITEL
Herzogtum Normandie, Frankreich,
1067.
Dunkelheit
senkte sich bereits über den kleinen Garten, den Giselle hinter der
Hütte ihrer Eltern angelegt hatte. Auf Händen und Knien jätete sie
Unkraut und hegte die Pflanzen. Gleich würde ihr Vater von den
Feldern nach Hause kommen, und sie musste sich beeilen, wenn sie
das Abendessen rechtzeitig fertig haben wollte. Rasch pflückte sie
eine Handvoll Kräuter und lief dann zur Haustür. Als sie eintrat,
stand ihre Mutter bereits am munter prasselnden Herdfeuer und
rührte in einem rußgeschwärzten Kessel, in dem ein dicker
Gemüseeintopf kochte.
„Setz dich hin, maman“, wies Giselle ihre
Mutter an und nahm ihr den hölzernen Kochlöffeln aus der Hand. „Ich
mache das hier schon.“
Die Frau tätschelte ihrer Tochter die Hüfte und
humpelte zu einer niedrigen Holzbank hinüber. Langsam ließ sie sich
darauf sinken, eine Hand in ihr schmerzendes Kreuz gedrückt.
„Die Sonne hat mir heute auf dem Feld ein wenig
den Nacken verbrannt“, erklärte Giselles Mutter und lächelte
erschöpft. „Du bist ein gutes Mädchen, Giselle. Merci.“
Lächelnd zerrieb Giselle die Kräuter in der
Hand und ließ sie unter stetigem Rühren in den Topf rieseln.
„Das ist doch selbstverständlich, maman“, entgegnete sie. „Ich
bin nicht besonders müde.“
„Trotzdem“, seufzte ihre Mutter, „es ist
herrlich, vor dem Abendessen noch ein kurzes Päuschen zu
haben.“
Sie griff nach ihrem Nähzeug, doch ein strenger
Wink Giselles mit dem Kochlöffel brachte sie davon ab.
„Dann mach auch eine richtige Pause,
maman“, sagte
sie. „Und flick jetzt nicht die Kleider. Das Licht ist schon zu
schlecht für deine Augen, und am Ende muss ich morgen doch wieder
alles noch einmal machen!“
Schmunzelnd schüttelte Giselles Mutter den Kopf
über ihre Tochter, ihr einziges Kind, das die Fieberwelle im
Frühjahr nach diesem ungewöhnlich harten Winter überlebt hatte.
Giselle ist schon immer so ein fleißiges Mädchen gewesen, dachte
sie, während sie zusah, wie Giselle leise summend im Kessel
rührte.
Sobald das hölzerne Gerüst ihrer Hütte fertig
gewesen war, hatte Giselle als Erste ihrer drei Kinder die Händchen
in dem streng riechenden Gemisch aus Erde, Stroh und Dung versenkt
und begonnen, die Wände ihres Zuhauses damit zu verputzen. Und
nachdem sie ihre jüngere Schwester und ihren Bruder an einem kalten
Morgen im März dieses Jahres begraben mussten, hatte Giselle deren
Pflichten ohne ein Wort der Klage übernommen.
Und jetzt, dachte die Mutter, werde ich bald
auch meine letzte Tochter an eine lieblose Ehe verlieren.
Giselle sah über die Schulter zu ihrer
plötzlich still gewordenen Mutter, und sie erkannte die tiefe
Besorgnis in ihren Augen. Sie musste nicht erst fragen, um zu
wissen, was ihre alternde maman bedrückte, und sie
wandte sich wieder dem Kessel zu und starrte hinab auf den Eintopf,
den sie langsam rührte. Was sollte es nützen, alles noch einmal
durchzusprechen? Ihr Schicksal stand fest.
Wenn ihr Lehnsherr der Verbindung seinen Segen
erteilte, würde sie verheiratet sein, noch ehe die Woche vergangen
war.
Sie hatten keine Wahl. Schon jetzt war es
schwierig, dem Stück Land, das sie bewirtschafteten, genug Ertrag
abzuringen, um sie zu ernähren, und die Pacht stieg immer weiter.
Sie mussten eine Verbindung eingehen, die es ihnen gestattete, ihr
Land mit dem eines anderen Bauern zusammenzulegen.
Unglücklicherweise kam für eine vorteilhafte Hochzeit nur Henri
infrage, ein brutaler Rohling, der stets im Dorf herumlungerte und
nach Wein und Dung roch. Doch er bewirtschaftete das Land, das an
jenes ihrer Familie grenzte, und war ein Witwer mit Söhnen, die bei
der Feldarbeit helfen konnten. Giselle seufzte. Sie würde Henri
wahrscheinlich niemals lieben können, doch die Heirat mit ihm würde
das Überleben ihrer Familie sichern.
Genau in diesem Augenblick trat ihr Vater in
die Hütte. Sofort hielt Giselle mit dem Rühren inne und vergaß das
Abendessen völlig. Irgendetwas Schreckliches war geschehen, das
wusste sie, sobald sie einen Blick auf ihren Vater geworfen hatte,
der sich jetzt schwer auf einen wackligen Hocker fallen ließ.
Augenblicklich war ihre Mutter an seiner Seite
und strich mit den Händen fahrig über seine breiten Schultern. Ihr
Vater stützte die Ellbogen auf die grobe Tischplatte und rieb sich
die Stirn.
„Was ist geschehen?“
Die einzige Antwort war ein schweres Seufzen,
was die Angst ihrer Mutter nur noch steigerte.
„Was?“, beharrte sie und beugte sich vor,
um ihn ansehen zu können. „Um Himmels Willen, mon amour, sag mir, was
passiert ist!“
Wieder seufzte er, dann richtete er sich auf.
Er hob den Kopf und sah seiner Tochter in die Augen. Sein Gesicht
war aschfahl, und er presste die Lippen aufeinander. Wie ein
schwerer Stein senkte die Angst sich in Giselles Magen. Noch nie
hatte sie ihren Vater so bekümmert gesehen.
„Ma
fille.“ Seufzend hielt er inne. „Meine Tochter“, wiederholte
er dann mit kummerschwerer Stimme, „unserem Antrag auf eine Ehe
zwischen dir und Henri wurde zugestimmt.“
„Aber was bedrückt dich dann so?“, rief ihre
Mutter besorgt.
„Die Erlaubnis wurde zwar erteilt“, ihr Vater
schluckte schwer. „Doch der Sohn des Lehnsherrn hat das
droit du
seigneur eingefordert – das Recht der ersten
Nacht.“
Giselle ließ den Kochlöffel fallen und hob die
Hände an ihr Herz. Die Luft schien plötzlich zu dick zum Atmen zu
sein, und ihre Brust hob und senkte sich schwer.
„Nein“, widersprach ihre Mutter. „Nein! Henri
wird unsere Abmachung brechen, kein Mann würde eine verdorbene
Braut akzeptieren!“
„Das spielt keine Rolle“, erklärte ihr Vater
tonlos. „Der Seigneur besteht auf dem Recht seines Sohnes. Es wurde
in dem Augenblick geltend, da er uns seine Erlaubnis zur Ehe
erteilte. Er wird sich unsere Tochter auch dann nehmen, wenn Henri
sich nicht an die Abmachung halten sollte.“
„Quel horreur!“ Ihre Mutter
schlug die Hand vor den Mund und sah Giselle an. „Oh, mein armes
Mädchen …“
Ungläubig starrte Giselle in die fassungslosen
Gesichter ihrer Eltern, ihre Finger gruben sich in den Stoff der
Schürze.
„Papa“, hörte sie sich
fragen, und ihre Stimme klang merkwürdig gedämpft in ihren Ohren.
„Welcher der Söhne des Seigneurs hat nach meinem Körper
verlangt?“
Das lange Schweigen ihres Vaters beantwortete
die Frage, und sein kummervoller Blick bestätigte ihre Befürchtung.
Giselles Knie gaben nach, und sie sank auf den Lehmboden.
„Seigneur Eustache also“, flüsterte sie und
barg das Gesicht in den Händen.
Eustache de Fiennes.
Er war der ältere der beiden Söhne des
Seigneurs. Ein Soldat, der gerade erst von den Schlachtfeldern des
Krieges gegen die Engländer jenseits des Kanals heimgekehrt war.
Ein finsterer und in sich gekehrter Mann mit stählernem Blick und
unnachgiebiger Haltung. Unter den Pächtern wurde ehrfürchtig über
diesen heimgekehrten Sohn getuschelt, darüber, wie er ganze
Heerscharen seiner Feinde gefällt hatte, ohne auch nur ins
Schwitzen zu geraten. Bauerstöchter schwärmten kichernd von seiner
männlichen Ausstrahlung und seiner beeindruckenden Gestalt. Doch
Giselle wusste über den geheimnisvollen Herrscher nur, dass er
mächtig war. Und gewissenlos.
Und er wollte sie.
Ein unerwarteter Funke der Erregung glomm in
ihr auf. Ja, der junge Seigneur wollte sie, eine namenlose
Bauerstochter. Die Vorstellung war erschreckend … und gleichzeitig
unerhört aufregend.
Solch ein männlicher und gut aussehender junger
Seigneur hatte sicher zahllose heiratswürdige und schöne
Verehrerinnen unter den Adligen, die um seine Gunst und um einen
Platz in seinem Bett wetteiferten. Warum also verlangte er so
dreist nach einer Nacht der verbotenen Leidenschaft mit ihr? Das
droit du
seigneur war zwar weit verbreitet, doch es wurde im
Allgemeinen nicht geltend gemacht, wegen des Aufruhrs, den eine
solche Forderung selbst unter den Dekadentesten der Adligen
verursachte. So etwas zu verlangen war rücksichtslos und
unbesonnen.
Und, dachte Giselle sich, rücksichtslose und
unbesonnene junge Männer können leicht beeinflusst werden, egal
welcher Klasse sie angehören.
Sie hörte auf zu zittern. Auch wenn sie noch
nicht wusste, wie – sie war sicher, dass sie dieses Unglück zu
ihren Gunsten würde nutzen können. Doch bevor sie diesen Gedanken
weiter nachgehen konnte, schreckte der Klageruf ihrer Mutter sie
auf.
„Warum?“