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Historical Lords & Ladies Band 63
Erscheinungstag: | Fr, 01.09.2017 |
Erscheinungstag: | Fr, 01.09.2017 |
Bandnummer: | 63 |
Bandnummer: | 63 |
Seitenanzahl: | 352 |
Seitenanzahl: | 352 |
ISBN: | |
ISBN: | 9783733768461 |
E-Book Format: | ePub oder .mobi |
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Die gute Tochter
"Lauf!", fleht ihre große Schwester Samantha. Mit vorgehaltener Waffe treiben zwei maskierte Männer Charlotte und sie an den Waldrand. "Lauf weg!" Und Charlie läuft. An diesem Tag. Und danach ihr ganzes Leben. Sie ist getrieben von den Erinnerungen an jene grauenvolle Attacke in ihrer Kindheit. Die blutigen Knochen ihrer erschossenen Mutter. Die Todesangst ihrer Schwester. Das Keuchen ihres Verfolgers.
Als Töchter eines berüchtigten Anwalts waren sie stets die Verstoßenen, die Gehetzten. 28 Jahre später ist Charlie selbst erfolgreiche Anwältin. Als sie Zeugin einer weiteren brutalen Bluttat wird, holt ihre Geschichte sie ganz ungeahnt ein.
"Die gute Tochter" ist ein Meisterwerk psychologischer Spannung. Nie ist es Karin Slaughter besser gelungen, ihren Figuren bis tief in die Seele zu schauen und jede Einzelne mit Schuld und Leid gleichermaßen zu belegen.
"Die dunkle Vergangenheit ist stets gegenwärtig in diesem äußerst schaurigen Thriller. Mit Feingefühl und Geschick fesselt Karin Slaughter ihre Leser von der ersten bis zur letzten Seite."
Camilla Läckberg
"Eine großartige Autorin auf dem Zenit ihres Schaffens. Karin Slaughter zeigt auf nervenzerfetzende, atemberaubende und fesselnde Weise, was sie kann."
Peter James
"Karin Slaughter ist die gefeiertste Autorin von Spannungsunterhaltung. Aber Die gute Tochter ist ihr ambitioniertester, ihr emotionalster - ihr bester Roman. Zumindest bis heute."
James Patterson
"Es ist einfach das beste Buch, das man dieses Jahr lesen kann. Ehrlich, kraftvoll und wahnsinnig packend - und trotzdem mit einer Sanftheit und Empathie verfasst, die einem das Herz bricht."
Kathryn Stockett
„Die Brutalität wird durch ihre plastische Darstellung körperlich spürbar, das Leiden überträgt sich auf den Leser.“
(Hamburger Abendblatt)
„Aber es sind nicht nur die sichtbaren Vorgänge und Handlungen von guten oder schlechten Individuen, die die (…) Autorin penibel genau beschreibt. Es sind vor allem die inneren, die seelischen Abläufe, die überzeugen.“
(SHZ)
„Das alles schildert Slaughter mit unglaublicher Wucht und einem Einfühlungsvermögen, das jedem Psychotherapeuten zu wünschen wäre.“
(SVZ)
„Die aktuelle Geschichte um die Quinns ist eine Südstaaten-Saga der besonderen Art, von der ihr nicht weniger erfolgreiche Kollege James Patterson sagt, sie sei ‚ihr ambitioniertester, ihr emotionalster, ihr bester Roman. Zumindest bis heute‘.“
(Focus Online)
„Die Autorin hat hier ein ausgezeichnetes Buch vorgelegt, dass mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt hat.“
(Krimi-Couch.de)
„Es gibt Bücher, bei denen man das Atmen vergisst. Die Romane der amerikanischen Schriftstellerin gehören dazu. So auch dieser Pageturner. (…) Karin Slaughter versteht es meisterhaft, glaubwürdige Charaktere zu erschaffen und ihre Leser fortwährend zu überraschen.“
(Lebensart)
„Atmosphärisch dichter Thriller über die sozialen Gespinste einer Kleinstadt, psychologisch sehr stimmig, mit vielen Schichten und Überraschungen.“
(Bayrischer Rundfunk)
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Verbotene Küsse im Mondschein
1. KAPITEL
Die Saison hatte zwar erst begonnen, doch es hielten sich bereits zahlreiche Kurgäste in Harrogate auf. An einem Spätnachmittag im Juni fuhr die aus Leeds kommende Kutsche auf den Hof der Posthalterei, und sieben Passagiere stiegen aus – eine vierköpfige Familie, eine ältere, von einem sehr viel jüngeren Mann begleitete Dame sowie Lady Annis Feltham, Baroness Wycherley. Lady Wycherley kannte die Stadt, da sie in der Nähe geboren worden war und zahlreiche Sommer mit ihren Cousins und Cousinen hier verbracht hatte, wenn ihr Vater auf Landurlaub gewesen war. Er hatte bei Skipton ein kleines Anwesen erstanden, das sich seit nunmehr fast zehn Jahren in ihrem Besitz befand. Dort hielt sie sich auf, wann immer sich die Gelegenheit dazu ergab. Da sie als Patronesse für Debütantinnen fungierte, weilte sie jedoch auch häufig in London, Brighton oder Bath, wenngleich von allen Städten, die bei der feinen Gesellschaft en vogue waren, Harrogate als der populärste Badeort galt. Unter den auf dem Platz wartenden Leuten entdeckte sie Charles, nahm ihren Portemanteau an sich und eilte zum Vetter.
Die meisten Frauen würden ihn als sehr attraktiv bezeichnen. Wie seine Schwester Sibella hatte er blaue Augen und ein ansprechendes Gesicht, und sein Lächeln war sehr gewinnend. Er arbeitete als juristischer Berater für Mr. Ingram, den erfolgreichsten Kaufmann der Stadt, und bekleidete daher in der Gesellschaft eine gehobene Position.
Annis stellte das Gepäck ab und umarmte ihn herzlich.
Zuneigungsvoll drückte er sie an sich, schob sie dann auf Armeslänge von sich fort und schaute sie belustigt an. Sie war siebenundzwanzig Jahre alt, seit fast acht Jahren verwitwet und sah sehr gut aus. Ihr ovales Gesicht mit den nussbraunen Augen, der ebenmäßigen Nase und den hübsch geschwungenen vollen Lippen war sehr ausdrucksvoll und ihr Teint makellos. Ihre Schönheit kam nicht recht zur Geltung, weil das herrliche blonde Haar von einer Schute bedeckt wurde. Über einem einfachen Reisekleid trug sie eine schlichte graue Pelerine. „Du meine Güte, Annis!“, sagte Charles verdutzt. „Was hast du aus dir gemacht?“
„Wie schön, dich wiederzusehen, Charles“, antwortete sie lächelnd. „Was stört dich an meinem Aussehen? Ich kleide mich schlicht, wie es sich für jemanden gehört, der als Chaperone fungiert.“
„Deine Garderobe, meine Liebe, macht dich um Jahre älter“, erwiderte Charles kopfschüttelnd. „Beinahe hätte ich dich nicht wiedererkannt!“
„Eine allzu elegante Aufmachung wäre bei meiner Tätigkeit gänzlich unangebracht“, entgegnete Annis trocken.
„Hattest du angenehme Mitreisende?“, erkundigte er sich.
„Teils, teils“, antwortete sie und winkte den Fairlies zu, die soeben in die Herberge gingen. „Die Familie mit den beiden Kindern war sehr nett, aber leider kann ich das von den anderen Herrschaften nicht behaupten. Wie geht es dir und Sibella?“
„Sie erwartet ihr viertes Kind“, erklärte Charles. „Folglich ist ihr Befinden den Umständen entsprechend. Und ich kann nicht klagen.“
„Auch du solltest bald ans Heiraten denken“, meinte Annis schmunzelnd. „Findest du das nicht auch?“
„Nein“, sagte Charles auflachend. „Dafür bleibt mir noch viel Zeit. Ich schlage vor, wir fahren gleich in die Church Row“, fügte er an, nahm das Gepäck an sich und reichte der Cousine den Arm. „Du hast hinreichend Zeit, dich dort einzurichten“, setzte er auf dem Weg zu seiner Kutsche hinzu. „Sibella wird dich erst abends aufsuchen. Wann treffen deine Schützlinge ein?“
„Am Freitag. Sir Robert Crossley wird seine Töchter in Begleitung von Mrs. Hardcastle herbringen. Ich hoffe, dass sie ihnen bereits etwas Schliff beigebracht hat.“
„Wie steht es um beider … hm … Mitgift?“, wollte Charles wissen.
„Jede von ihnen wird so viel Geld haben, dass sie sich halb Harrogate kaufen kann“, erklärte Annis schmunzelnd. „Indes wird es bei Miss Fanny in Anbetracht ihrer schlechten Manieren nicht reichen, um einem Mann, der sich für sie interessiert, den Gedanken zu versüßen, sie zu heiraten. Zudem sieht sie nicht besonders gut aus und hat obendrein eine äußerst scharfe Zunge. Ich bin sicher, dass es mir nicht gelingen wird, einen Ehemann für sie zu finden.“
„Stell dein Licht nicht so unter den Scheffel“, erwiderte Charles lächelnd. „Dein Ruf als erfolgreiche Ehestifterin ist selbst bis hierher gedrungen.“
„Nun, vielleicht schaffe ich es, Miss Fanny oder Miss Lucy an den Mann zu bringen, aber beide … nein, das glaube ich nicht. Oder suchst du zufällig eine Frau mit großer Mitgift?“
„Nein!“, antwortete Charles entschieden. „Ich habe jedoch einen Klienten, Sir Everard Doble, der sich vermählen möchte. Er ist ein anständiger, aber ziemlich langweiliger Mensch, dessen Besitz leider hoch belastet ist. Wenn du willst, stelle ich ihn deinen beiden Schützlingen vor.“
„Das ist ein guter Einfall, Charles“, stimmte Annis zu. „Vielleicht hat meine Aufgabe sich dann schon zur Hälfte erledigt. Im Gegensatz zu Miss Fanny ist die jüngere Miss Lucy umgänglich, sodass ich die Hoffnung habe, einer der in der Stadt weilenden Offiziere werde Gefallen an ihr finden. Sollte ich es schaffen, beide Schwestern unter die Haube zu bringen, wenngleich wohl keine von ihnen eine exzellente Partie machen wird, dann kann ich noch einige Zeit in Starbeck bleiben. Diese Möglichkeit war der eigentliche Grund, weshalb ich Sir Roberts Auftrag überhaupt angenommen habe.“
„Über Starbeck müssen wir uns bald eingehender unterhalten, Annis. Leider muss ich dir mitteilen, dass in den vergangenen Monaten kein Pächter es dort lange ausgehalten hat und das Haus in erbärmlichem Zustand ist.“
Der Ton, in dem Charles gesprochen hatte, beunruhigte Annis. Seit dem Tod des Vaters hatte der Cousin den Besitz für sie verwaltet und ihr schon öfter vorgehalten, es sei Gefühlsduselei, Starbeck, das mehr Kosten verursachte, als es Gewinn abwarf, nicht abzustoßen. Bei ihrem schmalen Einkommen könne sie sich den Unterhalt nicht länger leisten. Da sie jedoch sehr an ihrem Heim hing, wollte sie es nicht veräußern.
„Natürlich stehe ich dir für ein Gespräch zur Verfügung, Charles“, erwiderte sie betroffen und hielt dann inne, weil ein Phaeton mit zwei Insassen viel zu schnell auf den Platz fuhr und etliche Reisende genötigt wurden, ihm hastig auszuweichen. Die üppig gewachsene, schwarzhaarige Dame zog Annis’ Blick auf sich, da sie kostspielig gekleidet war. Neugierig ließ sie den Blick über den Hof schweifen und einen Moment lang auf Charles verweilen, ehe sie die braunen Augen auf ihren Begleiter richtete, dessen Hand ergriff und sich von ihm aus der Kutsche helfen ließ.
„Nanu, was will der Earl of Ashwick hier?“, murmelte Charles.
Annis fragte sich, ob in seiner Stimme ein neidischer oder ablehnender Unterton mitgeschwungen hatte, und blickte wieder zu Seiner Lordschaft hinüber, der mit einem Angestellten der Posthalterei sprach. Sie hatte von ihm gehört, wie wohl jeder in Londons guter Gesellschaft. Er war mit dem Duke of Fleet und dem Earl of Tallant befreundet, zwei Herren, deren Skandale den ton seit Jahren in Atem gehalten hatten. Und von Lord Ashwick hieß es, er sei wie sie der Spielleidenschaft verfallen und verkehre in recht dubiosen Kreisen. Annis hatte ihn nie kennengelernt, wusste jedoch, dass seine Vorfahren über Generationen hinweg in Yorkshire ansässig waren und seiner Familie hier größere Ländereien gehörten. Wahrscheinlich befand er sich auf der Reise zu seinem Landsitz.
Er und seine Begleiterin hatten das Gespräch mit dem Bediensteten beendet und näherten sich Charles und Annis auf dem Weg zum Haupteingang der Umspannstelle. Als beide mit ihnen auf gleicher Höhe waren, hielten sie zu Annis’ Überraschung an, und der Earl verneigte sich leicht.
„Guten Tag, Mr. Lafoy“, sagte er kühl und lächelte mokant.
„Guten Tag, Mylord“, erwiderte Charles steif.
Sogleich hatte Annis den Eindruck, dass zwischen beiden Männern eine ihr unerklärliche Spannung bestand. Seine Lordschaft war kein besonders gut aussehender Mann, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn. Er war von hohem, kräftigem Wuchs und hatte ein kantiges, streng wirkendes Gesicht, graue Augen und an den Schläfen leicht ergrautes Haar, wenngleich er wohl höchstens Anfang dreißig war. Er hatte das Flair eines Menschen, der energisch und tatkräftig war, und nicht, wie sie erwartet hätte, die eines ausschweifenden Lebemanns. Mit seiner gebieterischen, selbstbewussten Aura unterschied er sich sehr von Charles, und unwillkürlich fühlte Annis sich von ihm beeindruckt.
Plötzlich richtete er den Blick auf sie. Rasch senkte sie die Lider, weil sie von ihm nicht dabei ertappt werden wollte, dass sie ihn beobachtete.
„Guten Tag, Madam“, begrüßte er sie mit einer angedeuteten Verneigung.
„Das ist die Dowager Baroness Wycherley, meine Cousine“, stellte Charles sie ihm widerstrebend vor.
Sein unüberhörbar steifer Ton belustigte Annis. Sie sah Seine Lordschaft an und bemerkte, dass auch er amüsiert war. Erheitert zog er, während er Annis anschaute, die rechte Braue hoch. „Guten Tag, Mylord“, äußerte sie höflich.
„Ihr Diener, Lady Wycherley“, erwiderte er, ergriff ihre Hand und hob sie zum Kuss an die Lippen.
Sie bereute, dass sie ihn in diesem Moment anschaute, da sie seinen prüfenden Blick bemerkte. Zu ihrer Bestürzung verriet der Ausdruck in seinen grauen Augen eindeutig Interesse an ihr, und voller Unbehagen entzog sie ihm ihre Hand.
Aus Verärgerung über die Nichtbeachtung zupfte Margot ihn am Arm, blickte ihn kokett an und äußerte schmollend: „Möchten Sie mich nicht mit den Herrschaften bekannt machen, Ashy?“
Annis biss sich auf die Zunge, um nicht laut aufzulachen. Aus dem Mund dieser Person, die mit französischem Akzent sprach, hatte die Verniedlichung des Titels Seiner Lordschaft einfach lächerlich geklungen.
„Miss Margot Mardyn“, stellte Adam sie in gleichgültigem Ton vor. „Mr. Charles Lafoy und Lady Wycherley.“
„Sehr erfreut“, sagte Margot strahlend. „Ich bin sicher, Sie haben bereits von mir gehört, nicht wahr?“
„Natürlich“, antwortete Annis hastig.
Verständnislos schaute Charles Miss Mardyn an.
„Ich weiß, dass wir im Sommer das Vergnügen haben werden, Sie auf der Bühne des Theatre Royal bewundern zu können“, fuhr Annis fort. „Charles und ich werden ganz gewiss eine der Vorstellungen besuchen.“
„Ich hoffe, Sie nach dem Ballett zu sehen, Mr. Lafoy“, wandte Margot sich lächelnd an ihn und drückte auffordernd den Arm des Earls. „Mir ist kalt, Ashy. Ich begreife nicht, warum das Wetter in England immer so miserabel ist!“
Annis sah ihn an und stellte befremdet fest, dass er sie nicht aus den Augen gelassen hatte. Er verneigte sich und lächelte in einer Weise, die sie ziemlich irritierte. Beunruhigt hoffte sie, nicht zu erröten, und fragte sich, wieso sie sich zu ihm, dessen Lebensstil sich stark von ihrem unterschied, hingezogen fühlte.
„Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt und freue mich darauf, Madam, Sie wiederzusehen“, äußerte Adam höflich, bevor er sich mit Miss Mardyn entfernte.
Verhalten seufzend schaute Charles ihr hinterher und erkundigte sich betont gleichmütig: „Was weißt du über Miss Mardyn, Annis?“
„Sie ist Sängerin und Tänzerin und war zuletzt im Drury Lane Theater engagiert“, antwortete Annis. „Kannst du dich endlich von ihrem Anblick losreißen und mir in die Kutsche helfen, Charles?“, fügte sie auflachend hinzu.
„Oh, Pardon!“, entschuldigte er sich, war ihr behilflich und nahm neben ihr Platz. Sobald Thompson das Gespann angetrieben hatte und der Landauer vom Platz fuhr, wiederholte Charles: „Tänzerin? Sie ist doch höchstens siebzehn Jahre alt.“
„Du irrst dich, mein Lieber“, widersprach Annis belustigt. „Sie ist mindestens fünfunddreißig. Die Verjüngungskur hat sie bestimmt den Schminkkünsten ihrer sehr fähigen Zofe zu verdanken. Außerdem stammt sie nicht aus Frankreich, sondern aus Portsmouth, wo sie im Hafenviertel aufgewachsen ist. Wenn du sie unbedingt wiedersehen willst, dann solltest du dich bald um Eintrittskarten für das Ballett bemühen.“
„Wie man sich doch täuschen kann“, murmelte Charles betroffen. „Wie kommt es, dass sie mit Lord Ashwick zusammen ist?“
Annis warf dem Cousin einen bedeutungsvollen Blick zu.
„Nun, das hätte ich mir denken können“, meinte er grinsend.
„Natürlich kann es sein, dass er sie einem Freund zuliebe mitgenommen hat“, meinte Annis. „Vor der Abreise aus London habe ich nämlich gehört, sie sei die Mätresse des Duke of Fleet. Ich habe jedoch nicht damit gerechnet, diesen Paradiesvogel hier zu sehen.“
„Du bist, wie mir scheint, über den neuesten Klatsch bestens auf dem Laufenden“, erwiderte Charles amüsiert. „Hoffentlich hältst du deine neuen Schützlinge davon ab, Gerüchten zu glauben!“
„Seit wann legst du so großen Wert auf Moral, Charles?“, wunderte sich Annis und schaute auf die am Wagen vorüberziehenden, von der Nachmittagssonne beschienenen Häuser. „Oh, es ist wundervoll, wieder hier zu sein!“, rief sie entzückt aus. „Zum letzten Mal war ich vor zwei Jahren in Harrogate, und das auch nur sehr kurz.“ Sie wandte sich erneut dem Vetter zu, räusperte sich und sagte: „Ich wusste nicht, dass du den Earl of Ashwick kennst, Charles.“
„Ich bin ihm im letzten Jahr begegnet, nach dem Tod von Lord Tilney, seinem Schwager“, erklärte Charles.
„Ich hatte den Eindruck, dass zwischen euch eine gewisse Spannung besteht.“
„Ja, das stimmt“, räumte Charles unbehaglich ein. „Viscount Tilney hatte geschäftlich mit Mr. Ingram zu tun. Die Transaktion war jedoch nicht erfolgreich, sodass er hohe Verbindlichkeiten hatte. Die Schuldscheine wurden dann von Mr. Ingram übernommen, und Lord Ashwick willigte ein, die Außenstände zu begleichen, damit seine Schwester, die verwitwete Viscountess, finanziell nicht in Schwierigkeiten geriet. Die Verhandlungen sind nicht immer reibungslos verlaufen.“
Samuel Ingram, Charles’ wichtigster Klient, hatte den Ruf, in geschäftlichen Dingen nicht mit sich reden zu lassen. Annis konnte sich gut vorstellen, dass es jemandem wie dem Earl of Ashwick zuwider gewesen war, Schulden bei ihm zu haben. „Welcher Art war diese Transaktion?“, fragte sie neugierig.
„Eigentlich müsstest du dich erinnern, weil die Zeitungen voll davon waren“, antwortete Charles. „Die ‚Northern Prince‘, die vor eineinhalb Jahren mit Mann und Maus auf der Fahrt zu den Kolonien unterging, gehörte zu gleichen Teilen Mr. Ingram und Lord Tilney. Aufsehen hat dieses Unglück vor allem deshalb erregt, weil ein Teil der Ladung aus Goldbarren, Silbermünzen, Banknoten und anderen Wertgegenständen bestand.“
„Das Schiff war doch gewiss versichert“, warf Annis ein.
„Ja, aber Lord Tilney hatte sich finanziell derart übernommen, dass er die Einlagen nicht in voller Höhe leisten konnte. Unter normalen Umständen hätte er seine Schulden in einigen Jahren abtragen können. So jedoch beliefen sich seine Verbindlichkeiten schließlich auf dreißigtausend Pfund. Wie gesagt, Mr. Ingram hat diesen Betrag übernommen, damit Lord Tilney nicht noch weiter in die Fänge von gierigen Geldverleihern geriet.“
Annis fand es seltsam, dass Mr. Ingram sich derart großzügig verhalten hatte. „Wie generös von ihm“, sagte sie trocken und wechselte das Thema. „Ist die ‚Northern Prince‘ tatsächlich untergegangen? Oder hat Mr. Ingram dem Unglück vielleicht etwas nachgeholfen?“
„Weder das eine noch das andere!“, äußerte Charles entsetzt. „Um Himmels willen, sag so etwas nie in der Öffentlichkeit!“
„Ich habe nicht die Absicht, Charles.“ Annis schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht, warum du dich so aufregst. Schließlich war das nur eine Frage. Übrigens habe ich gelesen, dass es auf Mr. Ingrams Gut in Shawes gebrannt hat und man den Grund für das Entstehen des Feuers nicht kennt.“
„Es war keine Brandstiftung!“, verkündete Charles heftig und schaute die Cousine scharf an. „Warum interessiert dich das so?“
„Nun, ich weiß, dass man Drohungen gegen ihn ausgestoßen und schon früher Brände gelegt hat. Schließlich ist er in der Gegend äußerst unbeliebt.“
„Nun, ich muss zugeben, dass es der Dorfweiden wegen in Shawes zu Unruhen gekommen ist und man auch Anstoß an seinen Pachtforderungen genommen hat …“
„So parteiisch kann nur ein Advokat reden“, unterbrach Annis seufzend.
„Ich bin Mr. Ingrams Anwalt“, stellte Charles gelassen fest. „Also muss ich auf seiner Seite sein.“
„Dafür wirst du honoriert, und das sicher nicht schlecht.“
„Du nimmst wahrlich kein Blatt vor den Mund, Annis. „Wenn du ebenso freimütig mit den Verehrern deiner Schützlinge redest, wundert es mich, dass dir bei deiner Tätigkeit Erfolg beschieden ist.“
„Übersieh bitte nicht, dass diese Herren eine der jungen Damen, die ich unter meine Fittiche genommen habe, heiraten wollen, und nicht mich!“, entgegnete Annis ein wenig verstimmt. „Und ich habe ohnehin nicht vor, mich ein zweites Mal zu vermählen.“
„Dein Standpunkt ist mir unbegreiflich“, entgegnete Charles. „Wärst du verheiratet, müsstest du nicht für deinen Lebensunterhalt aufkommen.“
„Erstens hasse ich Müßiggang, und zweitens ziehe ich meine Unabhängigkeit vor. In meiner Ehe habe ich mich arg eingeengt gefühlt.“ Annis blickte auf die Straße und dachte daran, dass die Unstimmigkeiten zwischen John und ihr kein Geheimnis gewesen waren. Obwohl seit dem Tod des sehr viel älteren Gatten inzwischen acht Jahre vergangen waren, empfand sie noch immer Kummer darüber, dass sie keine glückliche Ehe mit ihm geführt hatte.
„Entschuldige, Annis“, murmelte Charles kleinlaut. „Ich wollte keine unliebsamen Erinnerungen in dir wecken.“
„Schon gut“, erwiderte sie gedehnt. „Du weißt, John hatte sehr fest umrissene Vorstellungen davon, wie Frauen zu sein haben und wo ihre Grenzen sind. Gottlob bin ich jetzt nicht mehr gezwungen, seine Ansichten zu respektieren. Also kann ich es mir erlauben, meiner Meinung unumwunden Ausdruck zu verleihen.“
„Bestimmt gibt es genügend Ehemänner, die nichts dagegen haben, dass ihre Frau Zeitung liest und eine eigene Meinung hat.“
„So ein Mann ist mir noch nie begegnet, wahrscheinlich deshalb, weil ich nicht Ausschau nach ihm halte.“
In diesem Moment bog die Kalesche auf die Auffahrt eines schmucken Anwesens ab und hielt auf einem von einem langen Gebäude begrenzten Stallplatz. „Hinter dem Haus befindet sich ein mit einer Mauer umgebener Garten“, erklärte Charles. „Personal habe ich bereits für dich eingestellt, abgesehen von der Wirtschafterin.“
„Danke, Charles. Mrs. Hardcastle wird bald eintreffen und die Leitung des Haushaltes übernehmen.“
„Das Haus ist sehr gut eingerichtet und hat die für dich notwendigen Räumlichkeiten. Ich bin überzeugt, es wird dir gefallen“, fügte Charles hinzu, stieg aus und half der Cousine aus dem Wagen. „Geschäfte für den täglichen Bedarf sind in der Nähe und leicht zu erreichen. Ansonsten ist das hier eine recht beschauliche Gegend.“
„Gut, denn ich möchte nicht, dass meine neuen Schützlinge von Betrunkenen oder aufdringlichen Nachbarn belästigt werden“, erwiderte Annis erleichtert, vernahm im gleichen Augenblick lautes, grelles Gelächter und drehte sich befremdet um. Sie sah noch einen grüngelb lackierten Phaeton von der Straße abbiegen und auf das angrenzende Grundstück fahren, zog die Augenbrauen hoch und fragte, irritiert den Vetter ansehend: „Sind das meine Nachbarn?“
„Hm, ja“, antwortete er betreten.
„Was würde wohl Ihre Mutter sagen, Ashy, wüsste sie, dass Sie mich hierher mitgenommen haben?“, fragte Margot und setzte sich auf die Armlehne des Fauteuils, in dem Lord Ashwick Platz genommen hatte.
Er hob den Kopf, blickte flüchtig auf ihre straffen Brüste und sagte, während er die Augen wieder auf die Lektüre richtete: „Bitte, setzen Sie sich woanders hin, Miss Margot. Sie sind mir im Licht. Außerdem wird Tranter gleich den Tee servieren.“
Schmollend stand Margot auf, ging zur Chaiselongue und ließ sich in aufreizender Haltung darauf nieder. „Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Ashy“, sagte sie pikiert.
Seufzend ließ er die Zeitung sinken. Ihm war klar, dass er keine Ruhe haben würde, bis er Miss Mardyn ins Hotel gebracht hatte. Dummerweise hatte ein Pferd ein Hufeisen verloren, sodass er genötigt gewesen war, in der Umspannstelle Station zu machen. Danach hatte Miss Mardyn darauf bestanden, von ihm zum Tee eingeladen zu werden. „Ich bin überzeugt, dass meine Mutter entzückt sein wird, Sie hier anzutreffen, Margot“, erwiderte er ironisch.
„Fein!“, äußerte sie zufrieden. „Müssen wir Tee trinken, oder können wir die Zeit auch anders nutzen? Sebastian muss ja nichts davon erfahren.“
„Ich denke nicht daran, ihn zu hintergehen“, erwiderte Adam abweisend. „Das wäre schäbig von mir.“
„Männer und ihr Ehrgefühl!“, äußerte Margot abfällig, stand auf und ging zum Fenster. Zum nächsten Grundstück blickend, bemerkte sie Mr. Lafoy und dessen Cousine und sagte geringschätzig: „Du meine Güte, Ashy! Wie kann man nur einen so fürchterlichen Hut tragen! Sind Mr. Lafoy und Lady Wycherley unsere Nachbarn?“
So unerwartet an die Baroness erinnert, dachte Adam daran, wie belustigt sie über Miss Mardyns Äußerungen gewesen war. Im ersten Augenblick war er nicht sonderlich von ihr angetan gewesen, doch dann hatte er gemerkt, dass sie offenbar Gefallen an ihm fand. Sie hatte zwar versucht, ihr Interesse zu verhehlen, aber das war ihr nicht restlos gelungen. Ihre Befangenheit war bezaubernd gewesen, sodass er den Wunsch verspürt hatte, sie wiederzusehen.
Adam erhob sich, gesellte sich zu Miss Mardyn und schaute über den Rasen und die seinen Besitz begrenzende niedrige Mauer hinweg in den Garten des angrenzenden Anwesens. Lady Wycherley ging dort mit ihrem Vetter spazieren. Natürlich konnte er ihr nicht anlasten, dass ihr Cousin der Anwalt des ihm verhassten Mr. Ingram war. Mr. Lafoy war ihm der Rolle wegen, die er bei den Verhandlungen zwischen ihm und Mr. Ingram bezüglich der Verbindlichkeiten seines verstorbenen Schwagers gespielt hatte, von Herzen zuwider.
Überhaupt hätte Humphrey nie in ein gemeinsames Besitzrecht mit Mr. Ingram an der „Northern Prince“ einwilligen dürfen. Der Schwager hatte jedoch jede Gelegenheit genutzt, zu Geld zu kommen, und war leicht zu beeinflussen gewesen. Durch den Untergang des Schiffes, der gewiss auf widrige Witterungsverhältnisse zurückzuführen war, hatte Humphrey ein Vermögen verloren, sodass Della nach seinem Tod in höchste finanzielle Bedrängnis geraten war.
Als Adam das Ausmaß der Schulden seines Schwagers festgestellt hatte, war es für ihn eine Sache der Ehre gewesen, sie zu begleichen. Die vorausgehenden Gespräche mit Mr. Ingram waren äußerst unerfreulich verlaufen, denn der Kaufmann hatte keinen Hehl aus der Freude über den für ihn gewinnträchtigen Vorgang gemacht.
Adam beobachtete Lady Wycherley und kam plötzlich durch die Tatsache, dass sie seine Nachbarin war, auf den Einfall, länger denn geplant in Eynhallow zu bleiben, wo er sich ursprünglich nur kurze Zeit hatte aufhalten wollen. Vielleicht gestaltete die Zeit in Harrogate sich dadurch abwechslungsreicher und interessanter.
„Finden Sie nicht auch, dass Lady Wycherley einen wirklich scheußlichen Hut trägt?“, fragte Margot verächtlich. „So ein grässliches Ding würde ich nie aufsetzen!“
„Ach, seien Sie still, Miss Mardyn“, erwiderte Adam ungehalten, wenngleich er ihr im Stillen recht gab. Lady Wycherley war in der Tat nicht sehr vorteilhaft gekleidet. Der Hut war nicht besonders hübsch, und die graue Farbe ihres Tageskleides machte sie blass. Sie bewegte sich jedoch mit einer natürlichen Grazie, die ihm gefiel. Plötzlich lachte sie über etwas, das ihr Vetter geäußert hatte, und schaute ihn belustigt an. Sie sah sehr jung aus, gelöst und glücklich.
Im nächsten Moment knüpfte sie die Bänder der Schute auf, nahm sie ab und strich sich über das in der Sonne wie Gold schimmernde blonde Haar. Der Anblick faszinierte Adam, und irgendwie bedauerte er, dass es zu einem Knoten aufgesteckt war. Er hätte es gern gelöst gesehen, auf die Schultern fallend, und es zwischen den Fingern hindurchgleiten gespürt. Unvermittelt entsann er sich, dass er gehört hatte, sie sei als Patronesse tätig und habe den Ruf, selbst hoffnungslos erscheinende Fälle erfolgreich an den Mann zu bringen. Die Aufgabe, der sie sich widmete, bedingte es, sich unauffällig im Hintergrund zu halten, denn keine junge, nach einem Gatten Ausschau haltende Dame sah es gern, wenn ihre Anstandsdame attraktiver war als sie.
Adam wandte sich vom Fenster ab, kehrte zu seinem Sessel zurück und nahm wieder Platz. Schon im Begriff, die unterbrochene Lektüre des Artikels über Mr. Ingram fortzusetzen, der die Absicht hatte, die Zollrechte für die Straße nach Skipton zu kaufen, wurde er durch ein Klopfen an der Salontür gestört. „Herein!“, rief er und sah gleich darauf Tranter, gefolgt von Latchem, der den Teewagen schob, ins Gesellschaftszimmer kommen.
Tranter servierte den Tee und zog sich dann diskret wieder mit Latchem zurück.
Missmutig ging Margot zu Seiner Lordschaft, ließ sich ihm gegenüber in einem Fauteuil nieder und äußerte spitz: „Hätte ich geahnt, Sir, dass Sie ein so schlechter Gesellschafter sind, wäre es besser gewesen, das mir in Cheltenham angebotene Engagement anzunehmen!“
„Es tut mir leid, Miss Mardyn, wenn ich Sie langweile“, erwiderte er kühl. „Ich bin jedoch überzeugt, dass Sie in Harrogate genügend Herren kennenlernen werden, die Sie besser unterhalten können als ich, zum Beispiel Mr. Lafoy.“
„Ich weiß nicht, ob es amüsant wäre, ihn zu erobern“, entgegnete Margot schulterzuckend. „Ich befürchte, nach einer Weile wird er sich als verknöchert und ermüdend herausstellen. Gibt es sonst niemanden, der reizvoller für mich wäre?“
Adam warf einen Blick auf die Gesellschaftskolumne der Zeitung und antwortete trocken: „Ja, der Earl of Glasgow und seine Gattin sind in diesem Sommer in der Stadt. Allerdings ist er nicht mehr der Jüngste und außerdem nicht sehr freigiebig. Des Weiteren ist Baron Boyles anwesend, ein reichlich dicker, ständig verschwitzter Patron, sowie Sir Everard Doble, den ich Ihnen schon eher empfehlen kann, da er jung und einigermaßen vermögend ist.“
„Sir Everard Doble“, wiederholte Margot nachdenklich. „Nun, wenn er begütert ist …“ Vielsagend hielt sie inne, schaute den Earl of Ashwick an und erkundigte sich leichthin: „Und was gedenken Sie zu unternehmen, um sich die Zeit zu vertreiben?“
„Ich habe eine Menge geschäftlicher Dinge zu erledigen“, antwortete er, vernahm im gleichen Moment Lady Wycherleys helles Lachen und beschloss, sie näher kennenzulernen.
„Du meine Güte, wie anödend!“, erwiderte Margot abfällig.
„Ganz im Gegenteil!“, widersprach Adam lächelnd. „Ich rechne ganz fest damit, dass ich viele interessante Augenblicke erleben werde.“
Karten für das Ballett waren schwer zu bekommen. Charles war es erst nach Tagen gelungen, für die in zwei Wochen stattfindende Donnerstagsvorstellung eine Loge im Theatre Royal zu buchen. Er besuchte die Aufführung mit seiner Schwester, deren Mann, seiner Cousine und deren Schützlingen, die sich seit ihrer Ankunft begeistert ins gesellschaftliche Leben der Stadt gestürzt hatten.
Nachdem der Vorhang am Ende des ersten Aktes gefallen und Beifall aufgebrandet war, äußerte Annis begeistert: „Bisher war das wunderbar, nicht wahr, Sibella?“
Sibella nickte und erwiderte mit einem Blick auf Mann und Bruder: „Ja, aber ich habe gehört, dass Miss Mardyn auf einem ganz anderen Gebiet noch begabter sein soll.“
Annis schmunzelte. Miss Mardyn war zwar keine besonders talentierte Tänzerin, bekam indes viel Applaus, vornehmlich von den Herren im Zuschauerraum. Eine Künstlerin, die sich wie sie derart lasziv und aufreizend auf der Bühne bewegte, war noch nie in Harrogate aufgetreten, und unwillkürlich fragte sich Annis, ob die Aufführung für ihre beiden Schützlinge geeignet sei. „Möchten Sie sich in der Pause die Beine vertreten, Miss Fanny, Miss Lucy?“, erkundigte sie sich freundlich.
„Nein, vielen Dank, Madam“, antwortete Fanny und schüttelte den Kopf. „Meine Schwester und ich sind hier gut aufgehoben.“
Miss Lucy kicherte verhalten. Annis war klar, dass die beiden jungen Damen in der Loge bleiben wollten, um all die attraktiven Herren im Auditorium zu beobachten, die sich nicht in die Foyers begaben.
„Sieh dir diesen seltsamen Menschen an, Lucy“, fuhr Fanny fort und wies mit dem zusammengeklappten Fächer ins Parterre. „Er ist furchtbar dürr und hat obendrein eine lange, spitze Nase!“
Annis ärgerte sich erneut über Miss Fannys schlechte Manieren. In den vergangenen zwei Wochen hatte sie versucht, dem Mädchen etwas Schliff beizubringen, mittlerweile jedoch eingesehen, dass ihre Bemühungen vergebens sein würden. Miss Fanny war nicht gewillt, sich Belehrungen anzuhören und gute Ratschläge zu befolgen. Im Gegenteil, jedes Mal, wenn man ihr Vorhaltungen machte, führte sie sich noch schlimmer auf. Sie war wie ein verzogenes kleines Kind, das ständig seinen Willen haben musste. Annis hatte resigniert und sich vorgenommen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, was ihr durch das ihr von Sir Robert gezahlte Honorar etwas versüßt wurde. Manchmal fühlte sie sich jedoch versucht, Miss Fanny zu packen und zu schütteln. „Das ist der Marquess of Midlothian“, erklärte sie, „der hohes Ansehen genießt.“
„Midlothian?“, wiederholte Fanny fragend. „Ist das ein irischer Titel? Wie man mir berichtete, soll der irische Adel ein ziemlich wüster Haufen sein.“
„Erstens stimmt das nicht, und zweitens handelt es sich um einen schottischen Titel“, erwiderte Annis kühl.
„Na, wenn schon“, äußerte Fanny frech. „Macht das einen Unterschied? Oh, Lucy, schau mal nach links. Siehst du die fürchterlich dicke Person in dem auffallend schillernden rot-gelb gestreiften Kleid? Ist sie nicht grässlich angezogen? Wie kann man eine violette Bayadère dazu tragen?“
Annis begriff sofort, dass die Kritik gegen sie gerichtet war, da auch sie einen Spitzenschal in dieser Farbe umgelegt hatte.
Vor Verlegenheit wurde Lucy rot und warf Lady Wycherley einen gequälten Blick zu.
Aufmunternd lächelte Annis sie an. Es bedurfte einer größeren Gemeinheit, um sie aus der Fassung zu bringen.
„Auch Lord Ashwick und seine Angehörigen sind heute in der Vorstellung“, raunte Sibella ihr zu. „Im letzten Jahr war er zwar die meiste Zeit in London, doch seine Verwandten hielten sich in Eynhallow auf und sind wiederholt in die Stadt gekommen. Das war eine für mich sehr unangenehme Situation, denn hier bleibt niemandem etwas verborgen. Mit anderen Worten, alle Leute wissen von den Auseinandersetzungen zwischen Mr. Ingram, Charles und Seiner Lordschaft. Wenn ich seiner Mutter oder seiner Schwester begegnet bin, wusste ich kaum, was ich sagen sollte“, fügte sie hinzu und schaute verhalten seufzend zu Charles, der sich leise mit ihrem Mann unterhielt.
„Dein Bruder ist nun einmal Mr. Ingrams Anwalt“, flüsterte Annis und tätschelte ihr tröstend die Hand.
„Ich weiß“, murmelte Sibella. „Leider haben weder er noch ich von unseren Eltern etwas geerbt, sodass er gezwungen ist, sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Aber es gefällt mir nicht, dass er diesen Beruf ausübt. Und besonders stört mich, dass ich freundlich zu den Ingrams sein muss. Oh, da sind sie! Von hier aus gerechnet, in der siebten Loge rechts. Siehst du sie?“
Annis nickte. In all den Jahren, die sie Mr. Ingram nicht mehr begegnet war, hatte er sich äußerlich nicht sehr verändert. Zum Abendfrack trug er eine auffallend bestickte Weste, die sicher viel Geld gekostet hatte, und an der rechten Hand einen protzigen Ring, beides Zeichen dafür, dass er ein gemachter Mann war. Die Wirkung, die er erzeugen wollte, wurde indes sehr durch sein wichtigtuerisches Gehabe geschmälert. Mit stolzer Miene geleitete er seine Frau, von der es hieß, sie sei seine einzige Schwäche, aus der Loge ins Foyer. Schmunzelnd dachte Annis daran, dass ältere Männer oft auf schöne junge Frauen hereinfielen, sagte sich jedoch im gleichen Moment, sie habe sich diese Neigung häufig zu Nutze gemacht, wenn sie einen ihrer Schützlinge unter die Haube zu bringen hatte.
„Wer ist die hinreißend aussehende Dame neben dem alten Herrn?“, wollte Fanny wissen.
Annis meinte, in ihrer Stimme einen neidischen Unterton wahrgenommen zu haben.
„Das ist Mrs. Ingram“, antwortete Sibella. „Aber Mr. Ingram ist noch nicht so alt, wie Sie zu glauben scheinen.“
„Er muss sehr reich sein, wenn eine derartige Schönheit eingewilligt hat, seine Gattin zu werden“, äußerte Lucy seufzend.
Im Stillen gab Annis ihr recht. Männer und Frauen vermählten sich oft nur des Geldes oder eines Titels wegen.
„Ich lege Ihnen, Miss Fanny, Miss Lucy, nahe, mit uns ins Foyer zu gehen“, schlug Sibella vor. „Zu langes Sitzen schadet nur der Figur. Bitte, begleitet uns“, wandte sie sich dann an ihren Gatten und den Bruder.
Annis war für die Ablenkung dankbar. Cousine Sibella fand die beiden Mädchen zwar nicht besonders nett, hatte sich in den letzten Tagen jedoch bereit erklärt, sie zum Einkaufen mitzunehmen und mit anderen jungen Damen und deren Anstandsdamen zusammenzubringen. Geteiltes Leid war bekanntlich halbes Leid.
Plötzlich entdeckte Fanny zwei vertraute Gesichter, ergriff Lucy bei der Hand und sagte aufgeregt: „Da sind Lieutenant Greaves und Lieutenant Norwood, die wir gestern in der Wandelhalle kennengelernt haben. Komm schnell, sonst verpassen wir sie womöglich!“
„Pardon“, murmelte Lucy und spürte sich erröten, während sie aufstand und sich an Sibella Granger vorbeizwängte.
Hastig verschwand sie mit ihrer Schwester im Foyer, strebte nur einen Moment später die drei Stufen zum Parterre hinunter und winkte eifrig den beiden sich mit anderen Zuschauern unterhaltenden Offizieren zu.
„Du wirst es nie schaffen, Annis, Miss Fanny klarzumachen, wie eine wahre Dame sich zu benehmen hat“, meinte Sibella kopfschüttelnd. „Das Beste ist, du bringst sie möglichst rasch unter die Haube, damit du deine Ruhe hast. Miss Lucy ist zwar kein hoffnungsloser Fall, steht jedoch ganz unter dem Einfluss ihrer Schwester. Wie kommst du bei deinen Bemühungen voran, jemanden für die beiden zu interessieren?“
„Nun, Sir Everard Doble hat Gefallen an Miss Fanny gefunden“, antwortete Annis trocken, „wenngleich ich befürchte, dass es bei ihm mehr ihre Mitgift ist, die ihn anlockt, und bei ihr sein Titel. Bedauerlicherweise ist sie sehr launisch, sodass sie vielleicht Sir Everard nicht mehr haben will, wenn ihr jemand über den Weg läuft, der ihr reizvoller erscheint. Lieutenant Greaves sieht zwar sehr stattlich aus, ist aber leider mittellos und obendrein charakterlich wenig gefestigt. Dummerweise ist er sehr gut mit Lieutenant Norwood befreundet, der mir für Miss Fanny entschieden lieber wäre. Entschuldige, Sibella“, fügte sie an und stand auf. „Es ist ratsam, zu den Mädchen zu gehen und ein Auge auf sie zu halten.“
„Nein, bleib du hier“, entgegnete Sibella hilfsbereit. „Ich werde an deiner Stelle zu ihnen gehen. Kommt mit!“, forderte sie Charles und David auf. „Mit vereinten Kräften können wir sicher Unheil verhüten!“
Sobald Annis allein in der Loge war, lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Unvermittelt hatte sie jedoch den Eindruck, dass jemand sie beobachtete, öffnete die Augenlider und sah im Parterre den Vetter mit der Viscountess Tilney sprechen, die halb hinter einer Säule verborgen war. Lord Ashwicks Schwester, eine dunkelhaarige, temperamentvolle Schönheit, trug eine exquisite Abendrobe. Es verwunderte Annis, dass ihr Cousin und Lady Tilney auf so vertrautem Fuß standen, da er schließlich der Anwalt des Mannes war, der ihren Gatten ruiniert hatte.
Einen Moment später fiel ihr der neben der Säule stehende Earl of Ashwick auf, der sie, wie sie merkte, gespannt beobachtete. Als ihre Blicke sich trafen, verneigte er sich leicht, setzte sich dann in Richtung ihrer Loge in Bewegung.
Annis war verwirrt und konnte sich nicht erklären, warum sie derart von ihm beeindruckt war. Nervös zupfte sie an ihrer Bayadère, klappte fahrig den Fächer auf und zu und starrte zur anderen Seite des Theaters, um ihre Beunruhigung zu verhehlen. Hoffend, Lord Ashwick möge nicht zu ihr kommen, sah sie sich jedoch sehr schnell getäuscht.
„Guten Abend, Lady Wycherley“, grüßte Adam beim Betreten ihrer Loge.
Sie zuckte leicht zusammen und drehte sich unbehaglich zu ihm um. „Guten Abend, Sir“, erwiderte sie steif. „Was verschafft mir die Ehre?“
„Gestatten Sie, dass ich mich einen Moment zu Ihnen setze?“, fragte er höflich.
„Bitte“, antwortete sie irritiert, weil sie nicht damit gerechnet hatte, dass er an ihr Interesse bekundete. Sein Wunsch, mit ihr zu plaudern, überraschte sie, und noch mehr der forschende Ausdruck in seinen Augen. Als sie ihm in der Posthalterei begegnet war, hatte sie sich höchst unverhofft zu ihm hingezogen gefühlt. Nach der unglücklich verlaufenen, zu früh eingegangenen Ehe mit John hatte es keinen Mann mehr in ihrem Leben gegeben, und diesen Zustand gedachte sie auch nicht zu ändern. Daher befremdete es sie, dass der Earl of Ashwick sie dermaßen aus dem inneren Gleichgewicht bringen konnte.
„Wie ich gehört habe, waren Sie seit einigen Jahren nicht mehr in der Stadt“, begann er die Unterhaltung.
„Das stimmt“, bestätigte sie mit leicht gezwungenem Lächeln. „Aber obwohl ich nicht viel Zeit hier verbringe, werde ich Harrogate stets als meine Heimatstadt betrachten. Und wie sagt Ihnen der Aufenthalt zu?“
„Nun, für eine Weile kann man es in Harrogate aushalten“, antwortete Adam und schaute Lady Wycherley gespannt an.
Es kam ihr vor, als habe er die ersten Züge in einem Spiel unternommen, das er bis zum Ende fortzusetzen gedachte. Entschlossen, sich von ihm nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, erkundigte sie sich in beiläufigem Ton: „Gefällt es Ihnen nicht in Yorkshire?“
„Oh, doch!“, sagte Adam ehrlich. „Die Landschaft ist sehr reizvoll. Harrogate hat jedoch nicht viel zu bieten. Und zudem trifft man bei allen Festivitäten stets dieselben Leute.“
„Das ist in London doch nicht anders“, erwiderte Annis erstaunt.
„Ich stimme Ihnen zu“, räumte Adam mit verlegenem Lächeln ein. „Die Saison dort unterscheidet sich kaum von der in einer anderen Stadt. Aber in London weiß ich, wo ich mich am besten mit meinen Freunden amüsieren kann.“
„Es hat sich herumgesprochen, welchen Vergnügungen Sie mit ihnen nachgehen“, äußerte Annis kühn und war froh, dass sie ihn mit ihrer Offenheit anscheinend nicht gekränkt hatte. Er schmunzelte, und auch sein Blick war belustigt. Wahrscheinlich war es ohnehin schwer, ihn aus der Fassung zu bringen, da er über genügend Lebenserfahrung verfügte. Und dieser Gedanke erzeugte Annis noch mehr Unbehagen. Zudem drückte Lord Ashwicks Blick so etwas wie Bewunderung aus. Jäh hoffte sie, den besten Eindruck auf den Earl zu machen, rief sich indes sogleich zur Ordnung, weil es äußerst unangebracht war, sich zu wünschen, er möge sie attraktiv finden.
„Sie halten sich oft in London auf, nicht wahr, Madam?“
„Ja.“
„Dann finde ich es verwunderlich, dass wir uns dort noch nie begegnet sind.“
„So seltsam ist das nicht“, widersprach Annis. „London ist groß, und der Feste gibt es viele. Folglich muss man sich nicht zwangsläufig über den Weg laufen.“
„Wie wahr“, stimmte Adam zu. „Nun, in dieser Hinsicht ist eine Kleinstadt von Vorteil. Hier kennt jeder jeden, und man kann es nicht vermeiden, sich hin und wieder zu sehen. Daher war es eine zwangsläufige, wenngleich für mich sehr erfreuliche Folge, dass wir uns begegnet sind.“
„Sie sind ein Schmeichler, Sir“, erwiderte Annis lächelnd.
„Wollen Sie andeuten, ich hätte Ihnen nur ein leeres Kompliment gemacht?“, fragte Adam mit gespielter Entrüstung. „Ich versichere Ihnen, ich habe es ernst gemeint!“
„Ach, die Komplimente der Männer dienen doch nur einem ganz bestimmten Zweck!“, sagte Annis trocken. „Das ist mir in all den Jahren, die ich als Patronesse tätig bin, immer wieder aufgefallen.“
„Sie sind boshaft, Madam“, äußerte Adam schmunzelnd. „Aber diese Einstellung hilft Ihnen wahrscheinlich, die Spreu vom Weizen zu trennen, wenn Sie den geeigneten Ehemann für einen Ihrer Schützlinge suchen. Doch nun verraten Sie mir bitte, welche Absicht ich Ihrer Meinung nach mit meinem Kompliment verbinde.“
„Wie bitte?“ Annis spürte die Röte in die Wangen steigen, schaute betroffen den Earl of Ashwick an und befürchtete, auf gefährliches Terrain zu geraten. „Ich habe keine Ahnung“, antwortete sie ausweichend.
„Pardon, aber ich glaube Ihnen nicht“, entgegnete Adam. „Sie vermuten, ich hätte etwas Bestimmtes im Sinn und sei daher bemüht, mich bei Ihnen einzuschmeicheln.“
„Mein soeben vertretener Standpunkt fußt zwar auf den Erfahrungen, die ich mit Herren gemacht habe, die sich für einen meiner Schützlinge interessieren und daher bestrebt sind, mich für sie einzunehmen. Es würde mich indes nicht erstaunen, wenn der mir von Ihnen unterstellte Argwohn berechtigt wäre“, setzte Annis ehrlich hinzu. „Vielleicht sind Sie auf Brautschau und möchten, dass ich Sie Miss Lucy oder Miss Fanny Crossley vorstelle, die ich zurzeit unter meine Fittiche genommen habe.“
„Oh, nein, das ist nicht der Fall“, widersprach Adam und bezwang den Drang, laut aufzulachen. „Auch wenn es Sie enttäuschen mag, aber die beiden Damen interessieren mich nicht im Mindesten. Was Sie betrifft, Madam, sieht die Sache allerdings ganz anders aus.“
Verblüfft starrte Annis Seine Lordschaft an und nahm sich verschreckt vor, hinfort genau zu überlegen, was sie äußerte, damit sie ihm nicht unbedacht ein zu unangenehmen Folgen führendes Stichwort lieferte.
Adam merkte, dass er sie in Verlegenheit gebracht hatte, und erkundigte sich, um das Thema zu wechseln: „Hat Ihnen die Ballettaufführung gefallen, Madam? Ich bin skeptisch, ob die Zuschauer auf diese Art der Darbietung vorbereitet waren.“
„Das kann ich nicht beurteilen, Sir“, erwiderte Annis schulterzuckend. „Miss Mardyn hat jedoch frenetischen Beifall bekommen, ein Zeichen dafür, dass die Leute von ihr bisher begeistert sind. Falls Sie indes etwas Gehobeneres vorziehen, dann sollten Sie in der kommenden Woche eine Vorstellung von ‚Hamlet‘ besuchen.“
„Noch weiß ich nicht mit Sicherheit, ob ich dann in der Stadt sein werde. Möglich ist es, da ich geschäftlich in Eynhallow zu tun habe und wiederholt zwischen meinem Landsitz und Harrogate hin- und herfahren muss.“
Durch den Hinweis auf den bei Skipton gelegenen Landsitz des Earls wurde Annis daran erinnert, dass Seine Lordschaft ebenso wie Mr. Ingram, der ein Gut bei Linforth hatte, in Starbeck ihre Nachbarn waren.
„Wenn ich mich nicht irre, hat Mr. Lafoy, Ihr Cousin, dort einen Besitz namens Starbeck“, fuhr Adam fort.
„Nein, das Anwesen gehört mir“, stellte Annis richtig. „Er verwaltet es nur für mich.“
„Oh, wie angenehm“, äußerte Adam erfreut. „Das bedeutet, dass ich in Eynhallow nicht nur von mir feindlich gesonnenen Menschen umgeben bin.“
„Wie kommen Sie darauf?“, fragte Annis und zog leicht die Augenbrauen hoch.
„Ich nehme an, Sie haben von den Differenzen zwischen mir, Mr. Ingram und seinem Anwalt gehört“, antwortete Adam ernst. „Ich hoffe, Sie sind nicht parteiisch.“
„Ich bilde mir meine eigene Meinung, Sir“, erwiderte Annis kühl und hielt Lord Ashwicks prüfendem Blick Stand. Die Vorstellung, er könne sie gegen Charles ausspielen wollen, behagte ihr ganz und gar nicht.
„Nun, mehr kann wohl nicht erwarten?“
„Nein.“
„Sie sind eine sehr bemerkenswerte Frau, Madam“, sagte Adam lächelnd.
„In welcher Hinsicht?“, fragte sie steif.
„Sie könnten gewiss gut darauf verzichten, einer Beschäftigung nachzugehen“, erklärte Adam. „Ich habe jedoch den Eindruck gewonnen, dass Sie gern als Chaperone tätig sind. Und bei einer Dame Ihres Standes ist das zweifellos etwas ungewöhnlich.“
„Leider bin ich genötigt, mir den Lebensunterhalt zu verdienen“, erwiderte Annis befremdet. „Zudem hasse ich Müßiggang. Im Übrigen widme ich mich der mir selbst gestellten Aufgabe mit Freude.“
„Ich verstehe“, murmelte Adam. „So kann nur jemand sprechen, der unabhängig ist und seine Freiheit schätzt.“
Bestürzt erkannte Annis, dass sie zu offenherzig gewesen war. Im Allgemeinen war sie ziemlich zurückhaltend und sprach wenig über sich, erst recht nicht mit Fremden. „Ja, ich genieße es, eigenständig zu sein“, erwiderte sie ernst. „Die Position einer Patronesse ist gesellschaftlich nicht mit der einer Gouvernante zu vergleichen und lässt mir sehr viel Spielraum in der Wahl meiner Schützlinge und des Arbeitszeitraums. Zudem komme ich viel herum und lerne neue Menschen kennen.“ Ärgerlich auf sich hielt sie inne, da sie soeben dem Vorsatz untreu geworden war, nicht so viele persönliche Dinge preiszugeben.
„Sie entsprechen in nichts dem Bild, das man sich üblicherweise von einer Anstandsdame macht“, warf Adam ein. „Ich gebe jedoch zu, dass ich nicht über umfangreiche Erfahrungen mit Patronessen verfüge. Wie Sie vorhin zu Recht bemerkten, verkehren wir beide in unterschiedlichen Kreisen.“
„Vermutlich sind viele der Damen dafür dankbar“, erwiderte Annis spitz, „da sie somit nicht ständig vor Ihnen auf der Hut sein müssen.“
„Wie darf ich das verstehen?“, fragte Adam belustigt.
„Ihnen geht der Ruf voraus, ein Lebemann zu sein.“
„Falls Sie darauf anspielen, ich könne daran interessiert sein, eine der Schwestern Crossley oder beide zu verführen, so kann ich Sie beruhigen“, sagte Adam erheitert. „Ich bin kein prinzipienloser Frauenheld.“
„Nein?“
„Nein!“, bestätigte Adam mit Nachdruck. „Sie wirken jedoch nicht sehr überzeugt auf mich.“
„Ihnen kann es nicht wichtig sein, Sir, was ich von Ihnen halte. Ich glaube nicht, dass wir in Zukunft oft Gelegenheit zu weiteren Gesprächen haben werden. Ich nehme meine Aufgabe ernst und bin nicht gewillt, meinen Schützlingen ein schlechtes Beispiel zu geben, indem ich Umgang mit Ihnen pflege.“
„Sie nehmen wahrlich kein Blatt vor den Mund, Madam!“, erwiderte Adam kopfschüttelnd. „Finden Sie nicht, dass Sie reichlich voreingenommen sind?“
„Ich bin der Ansicht, dass ein offenes Wort zu Beginn einer Bekanntschaft notwendig ist, um späteren Missverständnissen vorzubeugen.“
„In diesem Punkt stimme ich Ihnen zu“, räumte Adam ein. „Ich finde es jedoch höchst bedauerlich, dass Sie eine so schlechte Meinung von mir haben. Wahrscheinlich wäre das nicht der Fall, hätten wir uns früher kennengelernt. Wenn ich berücksichtige, dass Sie wie ich in der Umgebung von Harrogate aufgewachsen sind, ist es verwunderlich, dass wir uns nicht eher getroffen haben. An Ihren Vetter und Ihre Cousine erinnere ich mich noch gut. Mein Bruder war zu Tode betrübt, weil Miss Sibella Mr. Granger ihm vorgezogen hat. Wo waren Sie zu jener Zeit, Madam?“
„Mit der Annahme, ich sei in Starbeck groß geworden, sind Sie einem Irrtum erlegen“, antwortete Annis und wandte den Blick ab. „Mein Vater war bei der Königlichen Marine, sodass meine Eltern und ich oft den Wohnort gewechselt haben. Ich war selten in Starbeck zu Besuch.“
Adam konnte dem Drang nicht widerstehen, Lady Wycherley auszufragen. „Haben Sie nach Ihrer Heirat in London gelebt?“, erkundigte er sich.
„Nein. Mein Gatte und ich haben in Lyme Regis gewohnt.“
Die Stimme der verwitweten Baronin hatte etwas bedrückt geklungen, sodass Adam befürchtete, zu weit gegangen zu sein. „Verzeihen Sie, Madam, habe ich etwas Falsches gesagt?“, äußerte er betroffen und schaute sie beunruhigt an.
„Nein“, antwortete sie leise. „Aber ich möchte nicht über meine Ehe sprechen.“
„Warum nicht?“, platzte Adam unhöflich heraus. „Waren Sie nicht glücklich?“
Annis ärgerte sich über seine Aufdringlichkeit. „Nein“, sagte sie knapp. „Und das ist der Grund, warum ich nicht darüber reden will!“, setzte sie hinzu und ging davon aus, dass Lord Ashwick sich jetzt seiner Manieren besinnen werde.
„Das tut mir leid zu hören“, fuhr er mitfühlend fort und merkte plötzlich, wie unverschämt er sich benahm. „Verzeihen Sie bitte meine Impertinenz“, entschuldigte er sich hastig. „Leider habe ich die Neigung, hartnäckig zu sein, wenn ich etwas in Erfahrung bringen möchte.“
„Schon gut“, murmelte Annis und rang sich ein mattes Lächeln ab. „Wir kennen uns nicht gut, und folglich hätten Sie nicht über so persönliche Dinge sprechen dürfen. Mir ist nicht klar, warum ich Ihnen überhaupt geantwortet habe.“
„Vielleicht besteht zwischen uns eine natürliche Geistesverwandtschaft“, meinte Adam und berührte sacht Lady Wycherleys Hand. „Es wird mir immer eine Ehre sein, mich mit Ihnen zu unterhalten, ganz gleich, worüber.“
„Guten Abend, Sir.“
Überrascht drehte Annis sich um und sah, dass der Vetter in die Loge gekommen und sichtlich verärgert war. Hinter ihm erschienen die laut schwatzenden Geschwister Crossley, gefolgt von Sibella und ihrem Gatten.
Adam stand auf und erwiderte höflich: „Guten Abend, die Herrschaften.“ Er verneigte sich leicht vor den Damen und wandte sich dann wieder Lady Wycherley zu. „Ich habe es sehr genossen, mich mit dem Feind einzulassen, Madam“, scherzte er. „Hoffentlich ergibt sich bald wieder Gelegenheit dazu.“
„Auf Wiedersehen, Sir“, erwiderte Annis kühl.
Kaum hatte er die Loge verlassen, äußerte Sibella bezaubert: „Er ist wirklich so charmant, wie man behauptet.“
„Was hast du dir dabei gedacht, Annis, ausgerechnet mit ihm zu reden?“, fragte Charles schroff, während er sich auf seinen Platz setzte.
„Warum sollte ich nicht mit ihm sprechen?“, wunderte sie sich. „Schließlich sind wir miteinander bekannt.“
„Er ist ein Frauenheld, Annis!“, erwiderte Charles streng. „Er spielt, trinkt und hat Liebschaften …“
„Ach, sei still“, unterbrach sie ihn ungehalten. „Gibt es einen Mann, auf den das alles nicht zutrifft?“
„Wenn dein guter Ruf dir so gleichgültig ist, solltest du zumindest Rücksicht auf mich nehmen“, erwiderte Charles verärgert. „Mr. Ingram wird es nicht billigen, wenn du mit Lord Ashwick verkehrst.“
„Erstens verkehre ich nicht mit Seiner Lordschaft, und zweitens bin ich zum Glück nicht von Mr. Ingrams Wohlwollen abhängig!“, entgegnete Annis spitz. „Du machst aus einer Mücke einen Elefanten, Charles! Lord Ashwick ist mein Nachbar und hat mir lediglich aus Höflichkeit die Aufwartung gemacht.“
Der Vorhang zum zweiten Akt öffnete sich, doch Annis konnte sich nicht mehr richtig auf die Vorstellung konzentrieren. Der Wortwechsel mit Charles hatte sie verstimmt. Flüchtig blickte sie zum Vetter und bemerkte erstaunt, dass er den Blick auf die Loge gerichtet hielt, in der die Viscountess Tilney neben ihrem Bruder saß.
Aus dem Augenwinkel nahm Charles wahr, dass die Cousine ihm das Gesicht zugewandt hatte. Er fühlte sich ertappt und sah verlegen zur Bühne.
Nach dem Ende der Aufführung begab man sich ins Foyer und wartete darauf, dass die Kutschen vor dem Portal vorfuhren. Miss Fanny und Miss Lucy plapperten unaufhörlich; Sibella machte einen abgespannten Eindruck und stützte sich auf den Arm ihres Gatten, und Charles wirkte in sich gekehrt und nachdenklich.
Lord Ashwick begab sich mit seiner Mutter und Schwester zu seiner Kalesche, half den Damen in den Wagen und stieg dann ebenfalls ein. Die Chaise setzte sich in Bewegung, und Charles’ und Davids Kutschen rollten vor den Haupteingang.
Sobald sie gehalten hatten, begleitete Annis ihre Schützlinge zum Landauer, bemerkte dabei eine Berline, die soeben vom Seiteneingang des Theaters abfuhr, und erhaschte einen flüchtigen Blick auf Miss Mardyn. Sofort kam ihr der Argwohn, die Tänzerin könne zu einem Rendezvous mit Lord Ashwick unterwegs sein. Verärgert sagte sie sich, alle Männer seien gleich, und stellte einen Moment später überrascht fest, dass sie eifersüchtig auf Miss Mardyn war.
2. KAPITEL
Am Vormittag traf ein an die Geschwister Crossley gerichteter Brief ein, in dem Lady Anstey, eine sehr gute Freundin Sibellas, sie ersuchte, einige Tage mit ihrer Tochter Clara zu verbringen. Natürlich nahmen die beiden jungen Mädchen die Einladung gern an. Nachdem sie abgereist waren, beschloss Annis, da sie so unerwartet ihrer Pflichten ledig war, zu ihrem Gut zu fahren, wo sie, sobald sie sich nicht mehr mit den Schwestern befassen musste, noch einige Zeit verweilen wollte, bis sie zur Nachsaison nach London zurückkehrte.
Es war ein warmer, windstiller Tag, und die Hitze flirrte über den Feldern, während Annis von Wilcox durch die im Sonnenschein liegende Landschaft kutschiert wurde. Vor einer der neuen Zollstationen, die Mr. Ingram einrichten ließ, musste man anhalten. Bisher handelte es sich nur um ein Provisorium, doch die Maurer waren bereits damit beschäftigt, ein Steinhaus zu errichten.
Mr. Harry Castle, der frühere Dorfschullehrer von Starbeck und jetzige Zolleinnehmer, näherte sich dem Landauer, begrüßte höflich Ihre Ladyschaft und erkundigte sich nach ihrem Befinden.
„Danke, es geht mir gut“, antwortete sie freundlich. „Wieso versehen Sie den Schuldienst nicht mehr?“, fragte sie dann befremdet.
„Nun, Mr. Ingram entlohnt mich besser“, erklärte Harry verlegen. „Er zahlt mir 36 Schillinge im Monat. Pardon, aber Sie müssen jetzt neun Pence für die Passage entrichten, Mylady.“
Im gleichen Moment hielt ein Bauer vor der die Straße sperrenden Eisenkette, sprang vom Kutschbock und begann, sein Pferd auszuschirren.
„Das geht nicht, Mr. Marchant!“, rief Harry ihm ärgerlich zu. „Sie müssen für Pferd und Wagen zusammen sechs Pence zahlen.“
„Ich denke nicht daran“, weigerte sich Jeremiah. „Wir armen Bauern können es uns nicht leisten, Mr. Ingrams überhöhte Preise zu zahlen. Das Pferd für sich kostet nur zwei Pence und der Karren drei, sodass ich billiger wegkomme! Guten Tag, Madam“, fügte er hinzu, während er das Tier am Kopfhalfter nahm.
„Guten Tag“, erwiderte sie freundlich und sah, dass einige Passanten stehen geblieben waren und neugierig die beiden Männer beobachteten. Auch die Maurer hatten die Arbeit unterbrochen und schauten gespannt zu Mr. Castle, der zu dem Karren gegangen war und ihn misstrauisch beäugte.
„Was ist auf dem Wagen?“, fragte er scharf.
Mr. Marchant beachtete ihn nicht, führte das Pferd zur Barriere und begann, die Kette auszuhaken.
„Ich habe Sie gefragt, was auf dem Karren ist!“, rief Harry ihm erbost zu.
„Sehen Sie selber nach!“, antwortete Jeremiah Marchant dreist und spuckte mit einem wütenden Blick auf die Handwerker aus. „Lauter Fremde!“, äußerte er abfällig. „Einheimische, die für Mr. Ingram die Drecksarbeit erledigen, würde er nicht bekommen!“
Aus der Gruppe der Bauarbeiter wurden Drohungen und Beschimpfungen laut. Annis bemerkte, dass mittlerweile noch mehr Gaffer hinzugekommen waren, die Partei für Mr. Marchant ergriffen.
„Wer ist die feine Dame in der Kutsche?“, rief jemand aus der Menschenmenge.
Annis bekam es mit der Angst. Sie befürchtete, die Situation könne eskalieren und in eine Rauferei ausarten.
„Das ist Lady Wycherley aus Starbeck“, antwortete Harry. „Sie ist zwar Mr. Lafoys Cousine, aber nicht in die Machenschaften ihres Vetters und Mr. Ingrams verwickelt.“
Jeremiah band das Pferd am Schlagbaum fest, stapfte zu ihrem Landauer und blieb in drohender Haltung vor dem Wagenschlag stehen. „Richten Sie Mr. Lafoy aus, dass wir hier keine Straßensperren haben wollen, Mylady! Sollte er sich hier blicken lassen …“
„Moment mal!“, schaltete Ellis Benson sich wütend ein und stapfte zu Mr. Marchant. „Wie können Sie es wagen, Mann, Ihre Ladyschaft zu behelligen?“, herrschte er ihn scharf an.
Mr. Marchant schlug zu, und dann geschah das, was Annis befürchtet hatte. Es kam zu einem wüsten Handgemenge zwischen den verfeindeten Parteien, und plötzlich flogen Steine durch die Luft. Sie sah eins der Wurfgeschosse auf sich zusausen, versuchte noch, ihm auszuweichen, verspürte jedoch einen Moment später einen Schlag an der rechten Stirnseite und schrie auf. Entsetzt griff sie sich an die Schläfe, merkte, dass Blut durch ihre Handschuhe drang, und sah im gleichen Augenblick einen Reiter in vollem Galopp auf die Zollstation zukommen.
„Lord Ashwick!“, rief jemand warnend, und gleich darauf ließen die Männer mehr und mehr voneinander ab.
Jäh riss Adam an den Zügeln, brachte den Hengst vor den Leuten zum Stehen und fragte kalt: „Zum Teufel, was ist hier los, Mr. Benson? Ich glaube nicht, dass Mr. Ingram Sie und Ihre Handwerker dafür bezahlt, sich mit Dorfbewohnern zu prügeln!“
„Ich habe lediglich versucht, Ihre Ladyschaft zu schützen“, antwortete Ellis und verbeugte sich dann höflich.
„Das ist Ihnen hoch anzurechnen“, erwiderte Adam ironisch. „Von nun an werde jedoch ich mich um sie kümmern.“
„Ja, Mylord“, erwiderte Ellis. „Geht wieder an die Arbeit!“, wandte er sich dann an seine Leute. „Ihr habt Besseres zu tun, als hier untätig herumzustehen!“
„Was ist passiert?“, fragte Adam Mr. Ingrams Verwalter.
Ellis Benson berichtete ihm, wie es zu der Auseinandersetzung gekommen war.
„Ich sollte Sie, Mr. Marchant, wegen Störung der öffentlichen Ordnung belangen lassen“, sagte Adam kalt.
„Ich bitte um Entschuldigung, Mylord“, erwiderte Jeremiah betreten. „Es war nicht meine Absicht, Ihre Ladyschaft in Bedrängnis zu bringen.“
„Zahlen Sie den Wegezoll, und verschwinden Sie!“, befahl Adam streng und schaute dann Lady Wycherley an. „Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, Madam?“, fragte er freundlich.
„Nein, danke“, antwortete sie. „Ich werde die verlangte Abgabe entrichten und dann die Fahrt nach Starbeck fortsetzen.“
„Wenn es Ihnen recht ist, möchte ich vorher noch mit Ihnen reden, und zwar unter vier Augen.“
„Hier?“
„Warum nicht?“, fragte er und schwang sich aus dem Sattel. „Wenn Sie bitte aussteigen würden.“
Unschlüssig schaute Annis ihn an und entschied sich nach einem Moment, seiner Aufforderung zu entsprechen.
Als sie sich erhob, öffnete Adam den Wagenschlag für sie und half ihr beim Aussteigen. „Fahren Sie zur nächsten Straßenkreuzung voraus“, rief er dann dem Kutscher zu, „und warten Sie dort auf Lady Wycherley.“
Brian Wilcox warf ihr einen fragenden Blick zu und erkundigte sich: „Ist Ihnen das genehm, Madam?“
„Ja, Wilcox“, antwortete sie, wenngleich sie nicht begriff, warum der Earl unbedingt mit ihr reden wollte.
Adam hielt den Rappen kurz am Zügel und äußerte entschuldigend: „Es tut mir leid, dass ich Sie aufhalte, Madam.“
„Was wünschen Sie?“
Er überging die Frage und sagte, während er sich langsam in Bewegung setzte: „Ich hoffe, der Zwischenfall belastet Sie nicht zu sehr, Madam. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre Ihnen nichts geschehen, aber die Lage sah sehr bedrohlich aus.“
„Dummerweise bin ich zwischen die Fronten geraten“, erwiderte Annis und berührte erneut die schmerzende, aber nicht mehr blutende Schläfe.