1. KAPITEL
Sie flogen unterhalb des Radars, blieben jedoch nicht so unsichtbar, wie es ihnen lieb gewesen wäre.
Dara Alexander tauchte im Cockpit der MC-130 ganz in den Anblick des sternenklaren Himmels ein. Nicht eine einzige Wolke verdeckte den Mond. Von völliger Finsternis konnte hier nicht die Rede sein. Das gehörte zu den Nachteilen von Einsätzen in der Wüste und machte es äußerst schwierig, sich unbemerkt ein Bild der Lage zu machen.
Der Vollmond gehörte allerdings zu ihren geringsten Sorgen. In wenigen Minuten würden sie noch tiefer fliegen, um die richtige Höhe für den Absprung zu haben. Dann würde die Einheit abspringen, und das Flugzeug würde zur Basis zurückkehren. Das Wichtigste war, unbemerkt den Boden zu erreichen. Wenn sie erst einmal unten waren, kamen ihre besonderen Fähigkeiten ins Spiel, sich zu tarnen.
Dara ließ die Blicke prüfend über Beharrains fremdartige Landschaft schweifen, über die ausgedehnten Flächen des Felsplateaus, aus dem immer wieder riesige Steinblöcke hervorragten. Einige von ihnen waren mehr als hundert Meter hoch. Sie hätte genauso gut ein Video vom Mars betrachten können. Nur dass hier irgendwo ein Konvoi mit Waffenschmugglern nach Süden hin unterwegs war, um die Grenze zum Jemen zu überqueren.
Heute nicht. Ihre Einheit würde es verhindern. Dara lockerte ihre Schultern und war für den Einsatz startklar.
Der Pilot blickte von seinem Bildschirm auf, der die genaue Position anzeigte. „Fünf Minuten bis zur Absprungzone.“
„Wir sehen uns in ein paar Tagen.“ Sie stand auf, klopfte dem Mann anerkennend auf die Schulter und lächelte zum Kopiloten hinüber, der die Positionsangaben auf dem Armaturenbrett überprüfte.
Dara vermisste die Air Force nicht wirklich – ihr derzeitiger Job bei der Special Designation Defense Unit, kurz SDDU, bot mehr als genug Abwechslung – aber immer, wenn sie in einem Cockpit saß, überkam sie das ein Gefühl, zu Hause zu sein. Sie warf einen Blick auf die beiden Navigationsoffiziere und den Offizier für Elektronische Kampfführung, die sich ganz auf die Bedienungskonsole konzentrierten. Dann ging sie nach hinten zu der Sondereinsatztruppe, der sie nun angehörte.
Joey Scallio grinste sie an. „Wie wär’s mit einem Kuss als Glücksbringer?“
„Träum weiter, Scallio.“
Sein Grinsen wurde noch breiter. „Baby, in meinen Träumen tun wir verdammt mehr als das.“
Sie schüttelte nachsichtig den Kopf und machte ein paar Dehnübungen.
Harrison, der Leiter ihrer Einsatztruppe, hob ermunternd den rechten Daumen und lächelte sie an. Seine strahlend weißen Zähnen standen in starkem Kontrast zu seiner dunklen Haut. Er redete gerade mit Miller. „Das wird bald einfacher …“
Den Rest konnte sie wegen des Flugzeuglärms nicht verstehen. Nach dem stolzen väterlichen Lächeln zu urteilen, das sich im Gesicht des jüngeren Mannes ausbreitete, sprachen sie wahrscheinlich über dessen neugeborenen Sohn.
Sie hatte schon fast ihren Sitz erreicht, als der Alarm aus dem Cockpit ertönte. Der schrille Ton ließ sie für den Bruchteil einer Sekunde erstarren.
„Alarm! Boden-Luft-Rakete. Auf Aufprall gefasst machen“, warnte eine Ansage durch ihren Kopfhörer.
Dara ergriff einen der Gurte, die an der Wand befestigt waren, wickelte ihn um einen Arm und hielt sich mit aller Kraft daran fest, während das Flugzeug zur Seite kippte, um der Gefahr auszuweichen.
Doch es war zu spät. Die Maschine wurde von der Boden-Luft-Rakete getroffen.
Daras rechte Schulter fühlte sich an, als wäre sie aus dem Gelenk gerissen worden. Es entstand ein ohrenbetäubender Lärm. Sie konnte sich nicht mehr am Gurt festhalten und rutschte über den Boden in den vorderen Bereich des Flugzeugs. Verdammt! Verzweifelt griff sie nach allem, was ihr Halt bieten könnte, um nicht gegen die Metallkisten vor der Cockpittür zu prallen und sich die Beine zu brechen. Das Netz für die Fracht. Sie bekam es zu fassen und hielt sich daran fest.
Ohne Rücksicht auf den Schmerz in ihrer Schulter versuchte sie, sich hochzuziehen, denn ihre 9-Millimeter-Beretta war beim Hinunterrutschen irgendwo hängen geblieben. Sie suchte mit den Füßen auf dem Boden nach Halt und schaffte es schließlich, sich etwas nach oben zu stemmen.
Endlich! Das Flugzeug richtete sich wieder gerade auf. Dara kniete sich hin, doch dann hob sich der Bug der Maschine, und sie taumelte nach hinten. Ihre Pistole flog außer Sichtweite. Glücklicherweise gelang es ihr, sich im Netz festzukrallen.
Sie ließ nicht locker, obwohl ihr ganzer Körper zitterte.
„Sie haben den linken Flügel erwischt!“ Die Stimme des Piloten hallte durch ihre Gehörgänge. „Ich versuche, uns noch einmal nach oben zu reißen. Bereitet euch auf den Absprung vor.“
Harrison, der sich losgeschnallt hatte, kam zu Dara und half ihr, mit dem Fallschirm abzuspringen, indem er sie auf die Füße zog, die Tür öffnete und sie nach draußen schob. Eisiger Wind wehte ihr entgegen, doch sie nahm ihn kaum wahr, während sie schwerelos durch die Luft glitt.
Sie zog heftig an der Reißleine und spürte Sekundenbruchteile später, wie der Gurt in ihre schmerzende Schulter einschnitt, während der Fallschirm sich öffnete und ihren Absturz auffing. Sie blickte nach unten und versuchte, den Abstand zum Boden einzuschätzen. Die Dunkelheit erschwerte jede Berechnung.
Dara blickte zum Flugzeug hinauf und sah, wie jemand absprang. Vielleicht war es Miller. Ihm folgten Scallio und ein anderer Kollege. Unter optimalen Bedingungen konnten alle fünf Sekunden zehn Männer aus der MC-130 springen. Sie hoffte, die Zeit würde reichen.
Die zweite Boden-Luft-Rakete schlug ein.
Ungläubig und mit einem erstickten Schrei starrte sie auf die explodierende Maschine. Durch die Explosion ging eine Erschütterung durch die Luft, und der Rückstoß wirbelte ihre Gurtaufhängung durcheinander. Verzweifelt zog sie daran, während brennende Metallteile um sie herum vom Himmel in den Sand fielen und mit ihrer Glut Licht in die Dunkelheit brachten. Ihr Fall verlangsamte sich wieder, als sie die Aufhängung entwirrt hatte.
Sie atmete tief durch. Ihre Lungen schmerzten. Sie blickte nach oben: Nur ihr Fallschirm befand sich in der Luft. Ihre Kameraden waren beim Absprung zu dicht an der getroffenen Maschine gewesen. Sie waren alle tot. Die fünf Offiziere ebenso wie die vier Rekruten der Flugbesatzung und elf Spezialisten der SDDU-Einheit.
Eine tiefe Traurigkeit ergriff von ihr Besitz und nahm ihr fast den Atem. Doch sie durfte ihren Gefühlen keinen freien Lauf lassen, durfte sich unter keinen Umständen aus der Fassung bringen lassen.
Sie befand sich völlig allein inmitten eines feindlichen Gebiets. Wie eine ausgerupfte Feder schwebte sie vom Himmel, während ihr hundert unzusammenhängende Gedanken durch den Kopf schossen. Sie hatte keine Funkverbindung. Harrison war tot, Miller war tot und auch die anderen hatten ihr Leben verloren …
Nun näherte sie sich dem Boden. Sie winkelte die Knie an, um den Aufprall abzufedern, landete im Sand und lief einige Meter vorwärts, sodass der Fallschirm hinter ihr zu Boden gleiten konnte.
Zögerlich sah sie sich nach dem abgestürzten brennenden Flugzeugwrack um, das wie ein Leuchtfeuer den Horizont erhellte. Sie besaß nur eine Chance auf Rettung, wenn sie sich nicht zu weit von der letzten Ortung des Flugzeugs entfernte. Andererseits waren die Männer, die die Maschine abgeschossen hatten, vermutlich noch ganz in der Nähe. Wahrscheinlich hatten sie ihren Fallschirm gesehen und suchten jetzt nach ihr.
Im Mondlicht sah Dara auf ihren Kompass und versuchte, sich die Karte genau in Erinnerung zu rufen, die sie auf ihrem Flug hierher studiert hatten.
„Denk dir den bestmöglichen Plan aus, und dann mobilisier alle deine Kräfte“, murmelte sie Harrisons Lieblingsformel laut vor sich hin.
Fünfzig oder sechzig Meilen nördlich – höchstens siebzig – lag ein kleines Dorf. Wenn sie es erreichte, konnte sie sich hineinschleichen, um an Wasser und Essen zu gelangen. Und vielleicht würde sie sogar telefonieren können oder wieder Funkkontakt haben, um Hilfe zu rufen.
Dara riss ein Stück der Fallschirmseide ab, um sich am nächsten Tag vor der brennenden Sonne schützen zu können. Dann vergrub sie den Fallschirm im Wüstensand. Sie ignorierte das Stechen in der Schulter und entfernte sich schnell von der Stelle, wo sie gelandet war. Dabei stellte sie sich vor, ein Manöver zu absolvieren, wo am Ende Verpflegung auf sie wartete und die Jungs sich schon darüber lustig machten, dass sie das Ziel als Letzte erreichte.
Die Jungs.
Tränen des Schmerzes und der Verzweiflung stiegen ihr in die Augen. Doch schon sehr bald würde ihr Körper so stark austrocknen, dass ihre Tränen versiegten.
Scheich Saeed Ibn Ahmad ibn Salim ben Zayed hielt Ausschau in alle Richtungen, bevor er aus der Höhlenöffnung ins Sonnenlicht trat. Zwei Mordversuche innerhalb von zwei Wochen hatten ihn vorsichtig werden lassen.
Sein Pfiff veranlasste seinen schwarzen Hengst, sofort zu ihm zu trotten. „Zeit zum Aufbruch, Hawk.“
Er schwang sich in den Sattel, griff nach der Flasche und trank den letzten Rest seines Wassers. In der Oase auf halbem Weg zum Lager würde er sie auffüllen. Er drehte den Verschluss wieder zu und blickte noch einmal wütend zum Eingang der Höhle. Was es auch kostete, er würde die Diebe finden.
Der Schatz gehörte seinem Stamm, und das Wissen darüber wurde seit Jahrhunderten von Scheich zu Scheich weitergegeben – immer vom Vater an den Sohn. In Notlagen, wenn die Existenz des Stammes bedroht war, griff der Scheich darauf zurück, um mit dem Gold Lebensmittel zu erwerben, bis die Dürre überstanden war und der Hunger ein Ende hatte.
Die Kostbarkeiten in der geheimen Höhle waren seit tausend Jahren ihre Überlebensversicherung. Allah sei Dank hatten sie in den letzten Jahrzehnten nicht darauf zurückgreifen müssen, seit im Süden ihres Territoriums Öl gefördert wurde. Sogar in der zwölf Jahre anhaltenden Trockenperiode der Achtziger- und frühen Neunzigerjahre hatten sie das Gold nicht anrühren müssen. Aber nach wie vor war es das sicherste Erbe seines Stammes. Niemand wusste, was die Zukunft brachte.
Wenigstens hatten die Diebe nicht viel entwendet. In der Höhle, die sich Hunderte von Metern unter der Erde erstreckte, gab es zahllose tiefe Spalten, in denen der Schatz sorgfältig versteckt war. Die Diebe hatten nur ein kleines Versteck in der Nähe des Eingangs entdeckt. Der Verlust im Wert von ein paar Hundertausend Dollar schien Saeed nicht von besonderer Bedeutung.
Doch spätestens wenn die Diebe das Geld ausgegeben hatten, würden sie wiederkommen. Das musste er verhindern. Sie durften den Durchgang nicht entdecken, der in den unterirdischen Teil der Höhle führte. Entweder musste er den Schatz bewachen lassen oder ihn an einen anderen Ort bringen.
Eine plötzliche Windbö blies ihm Sand ins Gesicht, und er beugte sich im Sattel vor, während Hawk durch die Wüste galoppierte. Er musste sich einen guten Plan ausdenken, oder seine Feinde würden ihn schneller begraben als ein Sandsturm. Während er weiterritt, hielt er ringsum nach einem Anzeichen für Gefahr Ausschau. Dann entdeckte er es.
Rechts vor ihm lag ein Mann im Hinterhalt.
Saeed duckte sich, wendete Hawk und trieb ihn zu noch größerer Eile an, doch es ertönten keine Schüsse. Er ritt weiter, bis er Gewissheit hatte, hinter einer Erhebung außer Sichtweite zu sein, und machte wieder kehrt, weil er das Spiel leid war und ihm ein Ende bereiten wollte.
Die letzten Attentäter waren von seinen aufgebrachten Stammesangehörigen getötet worden, bevor Saeed die Gelegenheit hatte, sie zu verhören. Er brauchte einen lebenden Täter. Zwar hatte er eine vage Vorstellung, wer die Männer bezahlte, aber er brauchte Beweise – und ein Geständnis, das er dem Ministerrat vorlegen konnte.
Er sprang aus dem Sattel und ließ Hawk außerhalb der Schusslinie stehen. Vorsichtig näherte er sich dem Mann zu Fuß. Das letzte Stück robbte er sich von hinten lautlos über den Sand heran. Der Mann bewegte sich nicht. Überhaupt nicht. Niemand, der die Wüste kannte, würde sich so den Elementen ausgeliefert zum Schlafen in den Sand legen. Und noch seltsamer war die Tatsache, dass es keinen Hinweis gab, wie der Mann hergekommen war. Weder ein Kamel noch ein Pferd oder ein Auto waren zu sehen.
Saeed robbte weiter auf die ausgestreckte Gestalt zu, wobei er sein Gewehr im Anschlag hielt und sich immer wieder nach weiteren Männern umdrehte. Als er auf wenige Meter herangekommen war, stand er auf und rief dem Liegenden einen Gruß zu. Der Mann, der mit dem Gesicht im Sand lag, rührte sich nicht. Tot, dachte Saeed, während er sich weiter näherte. Dann sah er: Der Rücken des Fremden hob und senkte sich leicht.
„Steh auf!“
Der Mann machte keinerlei Anstalten, sich zu ihm umzudrehen.
Mit dem Gewehr in der Hand und auf alles vorbereitet drehte Saeed ihn mit einer Fußspitze um. Der Fremde gab keinen Laut von sich und hielt die Augen geschlossen. Er war unbewaffnet, bis auf ein Messer, das in einer Halterung am Oberschenkel steckte und das Saeed sofort an sich nahm. Er trug einen Tarnanzug ohne militärische Abzeichen. Ein Tuch bedeckte sein Gesicht zum Schutz vor der Sonne. Ein einsamer Bandit, wahrscheinlich ein Söldner. Dass er so nah bei der Höhle lag, war mehr als verdächtig.
War er einer der Diebe, die das Gold gestohlen hatten? Oder ein weiterer Attentäter?
Saeed versuchte, ihm die ausgefranste Kopfbedeckung abzuziehen, aber sie war hinten zu fest zugeknotet. Dafür blieb später noch Zeit. Er pfiff nach Hawk, und als der Hengst herbeilief, hob er den reglosen Fremden vorn vor den Sattel und schwang sich auf das Pferd. Er musste sicherstellen, dass der Mann lange genug lebte, um seine Fragen zu beantworten.
Der Hengst galoppierte los, als würde er die Dringlichkeit spüren. Das Tier schien sich nicht am zusätzlichen Gewicht zu stören – zum Glück war der reglose Mann alles andere als schwer. Vermutlich war er bereits seit geraumer Zeit ohne Essen und Trinken in der Wüste unterwegs. Er hatte Glück gehabt, denn das Wetter war in diesem Januar bislang mild gewesen. In der Gluthitze des Sommers hätte er nicht überlebt.
Sie erreichten die Oase nach ungefähr zwei Stunden, als sich bereits die ersten Sterne am Himmel zeigten. Der Ort war nicht viel mehr als ein saisonales Wasserloch mit einigen Dattelpalmen und ein bisschen Gras.
Saeed rutschte vom Sattel, fing den Fremden auf, der beinahe heruntergefallen wäre, und legte den schlaffen Körper im Sand ab. Um den Knoten des Kopftuchs durchzuschneiden, benutzte er das Messer des Mannes. Er wollte den Mund freilegen und ihm Wasser einflößen. Doch bevor er fertig war, hielt er inne.
Seine linke Handfläche, mit der er die Brust des Fremden berührte, spürte einen weichen und runden Hügel. Er war alt genug, um eine weibliche Brust zu erkennen, besonders, wenn sie sich in seiner Hand so herrlich anfühlte wie diese.
Ihre vom Mondlicht beschienene Schönheit verschlug ihm fast den Atem, trotz all des staubigen Sandes, der ihr Gesicht bedeckte. Das kaffeebraune Haar hatte sich größtenteils aus ihrem Zopf gelöst. Einen Augenblick erschien ihm das Gesicht einer anderen Frau mit schwarzen Locken, die sterbend in seinen Armen lag.
Er versuchte, die Erinnerung zu verdrängen, und konzentrierte sich auf die Fremde. Ihre zarten femininen Gesichtszüge standen in einem verwirrenden Kontrast zu ihrer Uniform.
Ein weiblicher Soldat? Israel hatte Frauen in der Armee, ebenso die USA. Aber was macht eine solche Soldatin hier? Nach ihren Gesichtszügen zu urteilen, stammte sie aus dem Westen. Er öffnete die beiden oberen Knöpfe ihres Hemdes und griff hinein.
Sein Handrücken fühlte seidige Haut. Saeed zögerte einen Moment, bevor er fortfuhr.
Keine Erkennungsmarke.
Also hatte er mit seiner ersten Einschätzung richtiggelegen. Sie gehörte nicht zum Militär. Aber wer war sie dann? Es fiel ihm schwer zu glauben, dass sie zufällig in der Nähe der Höhle gewesen war. Sie musste sich entweder seinetwegen oder des Goldes wegen dort aufgehalten haben.
Er ging zum Brunnen, schüttelte den Sand aus dem Eimer und ließ ihn hinunter, erleichtert, ein Platschen zu hören, als das Gefäß im Wasser aufprallte und nicht im Schlamm. Wie er erwartet hatte, war das Wasser sandig, aber es war besser als nichts. Er benutzte die Behelfskopfbedeckung der Frau, um Wasser in seine Flasche zu filtern, und kniete sich dann neben sie in den Sand.
Vorsichtig träufelte er Wasser auf ihre ausgetrockneten Lippen, und als sie stöhnte, spritzte er etwas in ihren Mund, massierte ihren zarten Nacken und half ihr, es hinunterzuschlucken.
„Trink.“
Saeed starrte auf die Haut oberhalb ihrer Brüste, die im Mondlicht schimmerte. Wenn sie eine Auftragsmörderin war, hatten sie diesmal die Richtige ausgesucht.
Diese Frau wäre an ihn herangekommen.
Er half ihr, mehr zu trinken, faltete das nasse Tuch und legte es ihr auf die Stirn. Dann kehrte er zum Brunnen zurück, um Wasser für Hawk hochzuziehen, und überlegte, ob er ihm während der Pause den Sattel abnehmen sollte.
„Entschuldige, mein Freund.“ Er gab dem Hengst einen Klaps auf den Hals. „Es kann sein, dass wir in großer Eile aufbrechen müssen.“
Er filterte das Wasser für das Pferd ebenso sorgfältig, wie er es für die Frau getan hatte.
Trotzdem schüttelte Hawk unwillig den Kopf, als er davon trank.
„Du bekommst sauberes Wasser, sobald wir wieder im Lager sind.“
Hawk beugte sich über den Eimer, als ob er Saeed verstanden hätte, blickte allerdings nach wenigen Sekunden auf und spitzte die Ohren. Wiehernd hob er den Kopf.
Saeed lauschte in die Nacht, ohne etwas Auffälliges zu vernehmen. Doch dann hörte er ein rumpelndes Geräusch. Er bemühte sich, die Ursache des Lärms ausfindig zu machen, und entdeckte einen schwarzen Geländewagen, der auf sie zufuhr. Das Mondlicht beleuchtete die Gewehrläufe, die aus den Fenstern ragten.
Auf ein Neues. Bei Allah, er hatte dieses üble Spiel mehr als satt und konnte doch nichts anderes tun, als es zu Ende zu spielen.
Er zog die Frau in die Deckung von zwei Palmen, die dicht nebeneinander standen und etwas Sichtschutz gewährten.
Dann packte er das Gewehr, das am Sattelknauf hing, und pfiff scharf, um den Hengst dazu zu bringen, unverzüglich davonzugaloppieren, denn schon fielen die ersten Schüsse.
Im Schutz einer der Palmen versuchte er, ein Ziel auszumachen, und drückte ab. Fast im selben Moment entglitt dem Fahrer das Gewehr. Nun waren nur noch drei Gegner bewaffnet, aber der Geländewagen nahm wenige Augenblicke später erneut Fahrt auf.
Saeed hielt die Remington seines Urgroßvaters im Anschlag, eine feine Waffe, die jedoch nur mit sechs Patronen geladen war, keiner einzigen mehr. Daher musste er seine Ziele sorgfältig auswählen.
Saeed schoss erneut und erwischte den Mann auf dem Beifahrersitz. Beim nächsten Schuss zielte er auf den Fahrer. Der Geländewagen scherte nach links aus und blieb im Sand stecken.
Die beiden Männer, die hinten gesessen hatten, sprangen heraus und versteckten sich zunächst hinter den geöffneten Türen, bevor sie sich zu Boden fallen ließen.
Saeed robbte so schnell wie möglich in Richtung des Brunnens. Dessen steinerne Umrandung, die einen halben Meter hoch aufragte, bot einen besseren Schutz. Wenn er unbemerkt dorthin gelangte, konnte er die Männer vielleicht von der Seite erwischen.
Wie durch ein Wunder gelang es ihm, den Brunnen heil zu erreichen.
Saeed verhielt sich ruhig und wartete darauf, dass sie näher kamen. Er konnte es sich nicht leisten, danebenzuschießen. In seinem Lauf steckten nur noch zwei Kugeln.
Er spähte über den Steinrand und duckte sich, als sie schossen. Die Männer hatten sich getrennt und umrundeten den Brunnen von zwei Seiten.
Bald würde er sich mitten in der Schusslinie befinden. Saeed rollte vor, zielte, schoss und rollte zurück.
Nur noch ein Angreifer blieb übrig.
Saeed lag dicht am Boden und wartete, bis er den Mann genau sah. Mit seiner letzten Kugel traf er den rechten Arm seines Gegners und zog sich sofort zurück.
Ein wütender Schmerzensschrei war zu hören. Gut. Saeed hatte ihn außer Gefecht setzen wollen, aber er brauchte ihn lebend. Er wollte endlich Antworten bekommen.
Er nahm seine Kufiya ab, wickelte sie um den Lauf der Remington und schob sie über den Brunnenrand.
Keine Schüsse.
Vorsichtig hob er den Kopf aus der Deckung. Der angeschossene Mann rollte vor und zurück, wobei er sein Handgelenk umfasst hielt.
„Ich zahle das Blutgeld in Gold!“, rief Saeed und ging auf ihn zu. „Und für den Namen deines Auftraggebers zahle ich das Doppelte!“
Der Mann sah ihn mit Todesangst an und hob sein Gewehr mit dem unverletzten Arm.
Obwohl der Attentäter noch zu weit entfernt war, zog Saeed seinen Dolch und stürmte vor. Kampflos wollte er sich nicht ergeben. Er war Scheich und wollte seinen Leuten keine Schande bereiten, indem er mit einer Kugel im Rücken starb, weil er vor seinem Feind fortlief. Er dachte an seine Familie und hoffte, noch genug Zeit zu finden, um ein kurzes Gebet für sie zu sprechen.
Jetzt konnte er die Finger des Mannes am Abzug erkennen, die letzten Sekunden, bevor er abdrückte.
Etwas zischte durch die Luft. Dann lag der Mann mit dem Gesicht im Sand – mit einem Messer im Rücken.
Woher war es gekommen? Saeed hielt kurz inne und bemerkte eine Bewegung bei den Palmen. Er starrte auf die mondbeschienene Gestalt der Frau. Der kräftige Wind ließ ihr langes Haar um ihre Schultern flattern.
Seine Gefangene war wach.
Sie hoffte inständig, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Denn jetzt, nachdem sie ihr letztes Messer geworfen hatte, war sie vollkommen unbewaffnet. Dara rieb sich die rechte Schulter, während sie das Erstaunen im Gesicht des Mannes sah. Wegen des Vollmonds war seine Verwunderung sogar aus dieser Entfernung zu erkennen.
Sie befanden sich in einer Oase, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie sie dorthin gelangt war. Sie war inmitten einer Schießerei zu sich gekommen, und nachdem sie die quälenden Erinnerungen an den Absturz hatte verdrängen können, war ihr erster Gedanke gewesen, sich unbemerkt davonzuschleichen. Dann hatte sie den Geländewagen entdeckt.
Wegen des Fahrzeugs änderte sie ihren Plan. Vielleicht konnte sie es zur Flucht benutzen? Doch nicht, solange drei Männer schossen.
Der Angegriffene kämpfte tapfer, wurde aber bedauerlicherweise von den beiden Männern mit den Kalaschnikows eingekreist. Zwar gelang es ihm, den einen unschädlich zu machen, doch der andere stellte trotz seiner Verletzung noch eine tödliche Bedrohung dar. Ihre Entscheidung, den Fremden zu retten, erfolgte schließlich unbewusst. Ganz instinktiv hatte sie das Messer geworfen.
Nun musterte sie den Mann misstrauisch, der auf sie zuschritt, wobei sich sein schweres dunkles Gewand teilte und den Blick auf ein langes weißes Hemd freigab, das beinahe bis zum Saum seiner weißen Hosen reichte.
Während er auf sie zuging, wickelte er seine Kopfbedeckung wieder um, bis nur noch seine Augenpartie frei war. Dara versuchte einzuschätzen, welche Gefahr von ihm ausging.
Er wirkte kräftig und gewandt, hatte einen festen Schritt und schien nicht verwundet zu sein. Sie schätzte ihn auf Mitte dreißig, ein paar Jahre älter als sie. Was sie sah, gefiel ihr nicht, am wenigsten, dass er bewaffnet war.
Sie zwang sich, ihr Zittern zu unterdrücken, als er näher kam. Unter keinen Umständen wollte sie ihm zeigen, wie geschwächt sie war. Sie blickte zum Geländewagen. Zu weit weg. Sie hatte nicht genug Kraft, um zu rennen. Vergeblich sah sie sich nach etwas um, das sich als Waffe verwenden ließ. Nichts! Na toll! Nun blieb ihr nur noch die Hoffnung, dass der Mann für die Lebensrettung etwas Dankbarkeit zeigte, denn bei seiner Körpergröße und ihrem momentanen Zustand erschien es ihr unmöglich, ihn niederzuringen.
Verdammt! Eigentlich durften sie mit niemandem in Kontakt treten, außer mit den Waffenschmugglern, die sie aufgreifen sollten. Der Colonel hatte die hohe Erwartung, dass die Schmuggler sie zu Tsernyakov führen würden, sofern man sie ausreichend unter Druck setzte. Der schwer fassbare Geschäftsmann galt als verantwortlich für rund achtzig Prozent des illegalen Schusswaffenhandels in der Region.
Niemand sollte von der Militäroperation in diesem Land erfahren. Leider war dem Mann anzusehen, dass er jede Menge Fragen hatte.
Dara suchte nach einer logischen Erklärung dafür, was sie mitten in der Wüste in einer Tarnuniform zu suchen hatte.
Er blieb einen guten Meter vor ihr stehen. Über seiner Schulter hing ein altertümliches Gewehr mit Silberbeschlag. Ihre beiden Messer steckten in seinem Gürtel, und seinen bedrohlich gebogenen Dolch hielt er noch immer in Händen. Das Licht des Vollmonds funkelte auf dem goldenen Schaft des Dolches, der wie ein Museumsstück aussah.
Sie blickte dem Mann ins Gesicht und hoffte, seine Absichten erraten zu können. „Wo bin ich?“
Das Kobaltblau seiner Kopfbedeckung passte zu seiner Augenfarbe, was sie einerseits neugierig und andererseits misstrauisch machte. Das Stückchen Haut, das sie sehen konnte, hatte die Sonne braun gebrannt. Seine Wimpern und seine Augenbrauen waren schwarz. Er wirkte grimmig und stolz wie ein Krieger aus einem anderen Zeitalter.
„Jabrid“, sagte er.
Sie hoffte, dass dies der Name der Oase war und nicht die arabische Formel für „bereite dich vor, zu sterben‘.
Die Intensität seines Blicks empfand sie als nervenaufreibend. Ihr kamen Szenen eines vor langer Zeit gesehenen Films in den Sinn, worin ein Wüstenprinz einer Engländerin begegnete, die als Einzige den Überfall einer Karawane überlebt hatte, sie auf sein Pferd hob und sie zu seinem luxuriös ausgestatteten Zelt transportierte. Der Mann vor ihr besaß enorme Ähnlichkeiten mit dem Filmschauspieler. Wenigstens hat er kein Pferd, stellte sie erleichtert fest. Doch dann stieß er, ohne seinen Blick von ihr abzuwenden, eine schnelle Abfolge von hohen Pfiffen aus.
Sie drehte sich um, weil sie ein leises Geräusch hinter sich vernommen hatte, und was sie erblickte, raubte ihr fast den Atem.
Der prächtige schwarze Hengst, der auf sie zugaloppierte, schien direkt aus dem Film zu kommen. Seine lange Mähne und der Schwanz wehten. Sein Sattel war mit einer reich verzierten Decke unterlegt, die rot und weiß im Mondlicht schimmerte, und deren Troddeln wie Glöckchen hin und her tanzten. Ein weißer Fleck in Form eines Vogels mit ausgebreiteten Schwingen schmückte die Stirn des Tieres.
„Hast du noch mehr Messer?“, fragte der Mann mit einem britischen Akzent, was sie von der Betrachtung des Pferdes ablenkte, das direkt neben ihm stehen blieb und an seinen breiten Schultern schnüffelte.
Die Muskelkrämpfe in ihren Beinen waren so heftig, dass sie beinahe mit den Knien einknickte, doch sie biss die Zähne zusammen und hielt sich aufrecht. Dara hob leicht ihre Hände mit den Handflächen nach vorn. „Mehr habe ich nicht.“
Er musterte sie, nickte dann und steckte seinen Dolch in die Scheide. „Wer bist du?“
„Das ist vermutlich die Einemilliondollarfrage.“ Sie lächelte und versuchte, unschuldig zu gucken.
Er kniff die Augen zusammen. „Du willst eine Million für die Antwort?“
Sie lachte. Zeige nie deine Furcht. „Ich meinte, ich gäbe eine Million dafür, wenn mir das jemand sagen könnte.“
Saeed brauchte ein paar Sekunden, um diese Antwort zu verarbeiten. „Du erinnerst dich an nichts?“, fragte er ungläubig und hob eine Augenbraue.
„An gar nichts, bis zu dem Zeitpunkt, als ich unter dieser Palme aufwachte, weil ich Schüsse hörte.“
„Nichts?“ Er hob nun auch die zweite Augenbraue.
Sie presste die Lippen aufeinander und täuschte kopfschüttelnd Betroffenheit vor. Doch durch das Kopfschütteln wurde ihr schwindlig, und die Landschaft um sie herum begann zu verschwimmen. Nach drei Tagen unfreiwilligen Marschierens durch die Wüste ohne Verpflegung und Wasser war ihr Körper völlig ausgetrocknet. Sie schwankte leicht, fasste sich jedoch wieder. Ihm war sicher inzwischen klar, was für eine leichte Beute sie war.
Er gab einen unverständlichen Laut von sich, während er sie erneut von Kopf bis Fuß musterte. „Du klingst wie eine Amerikanerin.“
Dara nickte nur.
„Warum warst du bewaffnet?“
„Ich weiß es nicht.“
„Woher hast du das zweite Messer genommen?“
Sie zeigte auf einen ihrer Stiefel.
„Und du bist sicher, dass du nicht noch mehr davon hast?“
„Ich glaube nicht.“
„Das würde ich gern überprüfen.“
Daran war ihr nicht im Mindesten gelegen. Obwohl es schlimmer hätte kommen können – er hätte auch eine Leibesvisitation verlangen können. In ihrem momentanen Zustand sah sie sich gezwungen, zu tun, was er verlangte, zumindest innerhalb gewisser Grenzen. Sie ließ sich in den Sand fallen und war froh, nicht mehr stehen zu müssen. Ein paar Minuten später, und sie wäre umgefallen. Wenn sie keinen Widerstand leistete, gab er ihr vielleicht etwas Essen und Wasser, ganz zu schweigen vom Geländewagen. Er brauchte das Fahrzeug ohnehin nicht, denn er hatte ja sein Pferd.
Sie zog die Stiefel aus und schleuderte sie ihm entgegen. Während er einen Blick darauf warf, streifte sie auch die Socken ab. Sie war froh, Luft an ihren Füßen zu spüren, und zog die Fußbekleidung nur widerwillig wieder an, als er ihr das Schuhwerk zurückgab.
„Gibt es Wasser im Brunnen?“ Sie wies mit dem Kopf in Richtung der steinernen Umrandung. Ihre Zunge war geschwollen, und ihre Lippen hatten schmerzhafte Risse bekommen.
„Da ist zu viel Sand drin“, erwiderte er, zog eine Flasche, die er zuvor mit durch das Tuch gefiltertem Wasser gefüllt hatte, aus der Satteltasche und reichte sie ihr. Er beobachtete sie, als ob er noch immer unschlüssig wäre, was er mit ihr anstellen sollte.
Hastig trank sie einen Schluck, wobei sie die Flasche mit beiden Händen festhielt. Sie war bereit, darum zu kämpfen, falls er sie ihr wegnehmen wollte.
„Wir befinden uns ein paar Stunden Ritt vom Lager entfernt, wo es genug sauberes Wasser gibt“,