1. KAPITEL
Die Maschine steuerte den Flughafen Marco Polo an, setzte mit quietschenden Reifen auf und rollte auf der Landebahn aus.
Voller Spannung schritt Lucy Weston die Gangway hinunter. Auch wenn sich immer noch Trauer in ihren goldbraunen Augen zeigte, überwog doch die Vorfreude, endlich die Stadt zu erleben, von der ihre Mutter immer so geschwärmt hatte.
„Nächstes Jahr …“, hatte sie zu ihr gesagt, „… machen wir gemeinsam Urlaub und reisen nach Italien. Du wirst Venedig lieben.“
Aber für ihre Mutter, die denselben Vornamen trug wie sie, hatte es kein ‚nächstes Jahr‘ gegeben … Lucy seufzte wehmütig und betrat das Rollfeld, wo sie gleich von einer brütenden Backofenhitze eingehüllt wurde. Zwar war es bereits später Nachmittag, aber die Sonne brannte so vom Himmel, dass Lucy froh war, ihre schweren Haare zu einem Knoten aufgesteckt zu haben. Auch der Asphalt war heiß und ließ ihre Fußsohlen in den Sandaletten glühen, während sie dem Strom der Passagiere folgte, die in die Ankunftshalle des Airports drängten.
„Es ist wirklich mörderisch warm!“ Die mollige Amerikanerin Dolly Cook, die während des Fluges seit London mit ihrem Mann neben Lucy gesessen hatte, war schweißgebadet. „Dabei habe ich Walt noch vor diesen Temperaturen hier gewarnt. Doch er wollte nicht hören.“
Lucy lächelte. Genauso munter hatte sie die Frau die gesamte Reise unterhalten. Inzwischen kannte sie jeden Ort, in dem das Paar auf seinem Europatrip Station machen wollte.
Allerdings war ihr Informationsbedarf in diesem Punkt damit auch gedeckt. Im Augenblick wollte sie nur so schnell wie möglich in ihr Hotel.
Zuvor jedoch musste sie an der Gepäckausgabe auf ihren Trolley warten. Nachdem sie ihn vom Laufband gefischt hatte, zog sie ihn zum Ausgang. Gleich neben der Tür bemerkte sie eine Gruppe junger Männer. Einer pfiff ihr anerkennend hinterher, die anderen betrachteten sie anerkennend. Doch Lucy nahm es gelassen. Schließlich sollten Italiener unverbesserlich sein, wenn es darum ging, Frauen mit Blicken zu vernaschen. Das wusste sie von ihrer Mutter. Auch war es nicht das erste Mal, dass man ihr wegen ihrer Modelfigur – wie Paul sagte – bewundernde Blicke schenkte.
Seelenruhig ging sie also in gewohnt spielerischer Anmut an ihnen vorbei und hielt nach einem Taxi Ausschau. Als sie kein freies entdecken konnte, zwängte sie sich in den Shuttlebus, der vom Flughafen in die dreizehn Kilometer entfernte Lagunenstadt fuhr.
Dicht gedrängt mit den anderen Fahrgästen stand Lucy nah bei der Tür und versuchte, während der ruckelnden Fahrt immer wieder einen Blick auf die Umgebung zu erhaschen. Aber der lange Küstenstreifen erwies sich als wenig aufregend. Erst als sie die Brücke erreichten, die Ponte della Liberta, welche die Stadt mit dem Festland verband, erfüllten sich ihre Erwartungen.
Ihr erster Eindruck von Venedig war überwältigend. Ganz tief atmete Lucy ein, als sie die prächtigen Kuppeln und Kirchturmspitzen in der Sonne schimmern sah wie einen himmlischen Traum, der auf dem Wasser schwebte.
Weitaus irdischer dagegen wirkte der Piazzale Roma, der Auto- und Busparkplatz, mit seinen Garagen für die Pendler und Urlauber, die von hier auf dem Wasserweg in die Lagunenstadt weiterreisten. Zwischen all dem Verkehr verkauften Händler noch frisches Obst, kühle Getränke und saftige Kokosnüsse. Direkt neben einem dieser Marktstände war auch Endstation für den Shuttlebus, der jetzt hielt.
Nachdem es Lucy gelungen war, sich mit den anderen Fahrgästen herauszukämpfen, fühlte sie sich wie erschlagen. Das Haar fiel ihr in wirren Locken auf die Schulter, und ihr Kostüm, das in London so elegant ausgesehen hatte, klebte an ihr. Außerdem war es laut, und die Abgase auf dem staubigen Platz stiegen ihr in die Nase.
Erhitzt strich sich Lucy eine Haarsträhne aus der Stirn. Bei der Zimmerreservierung hatte ihr der Angestellte vorgeschlagen, vom Piazzale Roma mit dem Vaporetto, dem Wasserbus des öffentlichen Nahverkehrs, zum Hotel zu fahren. Allerdings überlegte sie schon jetzt, ob es nicht doch besser gewesen wäre, sich abholen zu lassen, da es noch ein ziemliches Stück war bis zur Kaimauer, wo die Boote ablegten. Warum nur hatte sie nicht Signor Candiano sich um alles kümmern lassen, wie er es vorgeschlagen hatte?
Weil sie es nicht leiden konnte, wenn man über sie bestimmte! Seit Paul sich geradezu übereifrig um ihr Wohl kümmerte, war es ihr klar geworden …
Leicht gereizt ließ Lucy ihre Blicke über den Strom der Passanten schweifen, der an ihr vorbeifloss, als ihr Blick auf einen Mann fiel, der etwas abseits stand. Er hatte dunkle Haare, breite Schultern, schmale Hüften und war groß. So groß, dass er fast alle anderen überragte. Und trotz seiner modernen Kleidung wirkte er mit seinen markanten Gesichtszügen wie aus einem Gemälde der Renaissance entsprungen.
Als er in ihre Richtung blickte, sah sie zum ersten Mal seine Augen. Überrascht stellte sie fest, dass diese nicht dunkel, sondern silbergrau waren.
Wie gebannt schaute sie ihn an und erstarrte. Ihr Gehirn signalisierte ihr, dass es unmöglich war, aber ihr Gefühl widersprach. Konnte es sein?
Unvermittelt begann sie zu zittern und senkte den Blick. Lange allerdings hielt sie es nicht durch. Wie magisch angezogen, musste sie wieder zu ihm hinsehen. Doch er war schon fort. Lucy hatte das Gefühl, einen Verlust erlitten zu haben.
War es nicht ungeheuerlich, dass ein Fremder eine so heftige Reaktion bei ihr auslösen konnte?
Um sich selbst zu beruhigen, betrachtete sie ihren Verlobungsring mit dem Diamanten, ehe sie weiterging.
Am Bootsanleger angekommen, schaute sie über den Canal Grande, der viel breiter war, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Unzählige Wassertaxis schaukelten dort neben Vaporetti, Motorbooten mit Gemüsekisten und Gondeln. Und beidseits der Ufer standen barocke Kirchen, verzierte Marmorpaläste und wunderschöne alte Häuser.
Das startklare Vaporetto hupte, und wenig später stand Lucy bereits an der Reling, ließ sich vom Fahrtwind ihre Wangen kühlen und blinzelte in die Sonne, die auf dem Wasser glitzerte und mit ihrem Farbenspiel eine Heiterkeit verbreitete, die auch auf sie übergriff und sie ihre Reise über den vielbefahrenen Kanal mit allen Sinnen genießen ließ.
Ob es noch weit ist bis zum Hotel?, fragte Lucy sich, als sie die berühmteste Brücke der Stadt, die Ponte di Rialto, mit ihren beiden Ladenzeilen passierten. Gerade wollte sie die Wegbeschreibung aus ihrer Tasche holen, da steuerten sie schon die Haltestelle Sant’ Angelo an, und Lucy reihte sich mit den anderen Passagieren, die aussteigen wollten, in die Warteschlange ein. Im Gedränge auf der Gangway nahm sie flüchtig einen großen dunkelhaarigen Mann wahr – und war wie elektrisiert.
Verwirrt machte sie einen falschen Schritt und stolperte. Als sie sich wieder gefangen hatte und sich umsah, war er – wenn er es wirklich war – fort. Ohne zu wissen, warum, fühlte sie sich enttäuscht.
Nur wenige Gehminuten vom Anleger entfernt, lag das Trevi an einem ruhigen Seitenkanal. Auf den ersten Blick wirkte der Stuckbau mit seinem abblätternden Fassadenputz und seinen Fensterläden aus Holz wie ein verwaistes Fabrikgebäude.
Leicht ernüchtert blickte Lucy auf die schweren Eingangstüren aus Rauchglas. Aber einmal in der Lobby, wurde sie angenehm überrascht: Fußboden und Treppen waren aus exquisitem Marmor, und Kristalllüster schenkten luxuriösen Glanz.
Weiter staunend ging Lucy zur Rezeption und sah das Ehepaar Cook im Gespräch mit dem Angestellten. Der glatzköpfige Mann versuchte offenbar, den beiden Amerikanern etwas auf Italienisch zu erklären.
„Kann ich helfen?“
„Hoffentlich!“ Halb verzweifelt trocknete sich Walt die Stirn mit einem großen bunten Taschentuch. „Damned, könnte ich nur verstehen, was er sagt.“
Höflich lächelnd wandte sich Lucy an den Rezeptionisten und teilte ihm mit, dass sie Italienisch sprach.
Der Mann bedachte sie mit einem erleichterten Lächeln und erklärte ihr alles in einem Wortschwall.
„Es liegt eine Doppelbuchung vor“, übersetzte sie. „Ihr Zimmer mit Bad ist belegt. Als Ersatz bietet man Ihnen eins mit Etagendusche.“
Notgedrungen stimmte das Paar zu. Walt bedankte sich bei Lucy und fragte: „Woher können Sie so gut Italienisch?“
„Meine Mutter war Italienerin.“
„Also, das hätte ich jetzt nicht gedacht“, rief Dolly aus. „Wo Sie einen so hellen Teint haben und helle Augen … Obwohl Ihr Haar ja recht dunkel ist. Sicher ist dann Ihr Vater Engländer, oder?“
„Ja. Obwohl ich mehr meiner Mutter ähnele. Mamma wurde gar nicht weit von hier in Mestre geboren“, erklärte Lucy, verabschiedete sich und kümmerte sich um ihre eigene Hotelreservierung.
Wenig später schon musterte sie neugierig ihr Domizil: ein helles Zimmer mit Terrazzofliesen und Blick zum Kanal. Sie ging zum Fenster und schaute hinaus.
Die Abendsonne ließ das grünliche Wasser glitzern und erhellte den bröckelnden Putz des gegenüberliegenden Gebäudes mit ihrem Licht. Es war keine großartige Aussicht. Aber Lucy plante ja nicht, Venedig nur vom Hotelzimmer aus zu erleben.
Sie nahm frische Unterwäsche, ein rotes Kleid und passende Pumps aus dem Koffer und ging ins Bad. Sobald sie sich frisch gemacht hatte, wollte sie essen gehen und bei einem Stadtbummel erste Eindrücke von Land und Leuten gewinnen.
Land und Leuten …
Beim letzten Gedanken sah Lucy sofort das faszinierende Gesicht des Fremden vor sich. Seine hellen Augen, die so einen intensiven Kontrast zu seinen dunklen Haaren bildeten. Seine klassischen Gesichtszüge mit der markanten Kerbe im Kinn, wie Lucy sie nur von Gemälden alter Meister kannte. Dieses Gesicht erschien ihr so vertraut, als habe sie es schon immer in ihrem Herzen getragen.
Ob er hier lebte? Natürlich konnte er auch ein Tourist sein. Doch das glaubte Lucy eher nicht. Er gehörte hierher, passte perfekt zu Venedigs stolzer Vergangenheit. Sie konnte sich ihn gut vorstellen in dem schwarzen Umhang des Dogen …
Lucy seufzte und versuchte schuldbewusst, sich wieder auf ihren Verlobten zu konzentrieren. An den anderen Mann zu denken, erschien ihr wie ein Verrat an Paul.
Kurze Zeit später schlüpfte sie nach einer belebenden Dusche in ihr Kleid und zog die Schuhe an. Ihr Haar trug sie offen. Sie verließ das Hotel und bahnte sich ihren Weg durch die Gassen in Richtung Piazza San Marco.
Mit seinen Prachtfassaden und den Arkaden, die ihn an drei Seiten umgaben, wirkte der Platz wie eine einzige Theaterkulisse mitten im Herzen Venedigs.
Zwar war es Sonntagabend, dennoch waren die Straßencafés voll. Stimmen, Gelächter und Musik ertönten. In der Luft schwebte eine Geruchsmischung aus frisch geröstetem Kaffee, Blütenduft und einer salzigen Brise von der Lagune.
Gerade schlenderte Lucy auf eins der Restaurants zu, als ein Tisch frei wurde.
Sie bestellte sich einen Salatteller Frutti di mare, dazu ein Glas Weißwein. Daran nippte sie und lauschte der Liveband, die bei Einbruch der Dämmerung italienische Liebeslieder im purpurnen Licht der alten Gaslaternen vortrug.
Und während der ganzen Zeit versuchte sie, von jedem Passanten, der vorbeiging, einen flüchtigen Blick zu erhaschen. Vielleicht war er ja dabei, der Mann mit dem faszinierend markanten Gesicht …
Die nachhaltige Wirkung ihrer Begegnung mit dem Unbekannten beschäftigte Lucy so sehr, dass sie die Zeit vergaß. Mehr und mehr Sterne funkelten am Abendhimmel auf, der sich wie ein Baldachin wölbte. Wie spät es geworden war, bemerkte sie erst, als sich eine Wolke vor den Mond schob.
Zwar wäre sie noch gern geblieben, aber am Morgen wollte sie mit ihrer Arbeit beginnen. Deshalb trank sie nur noch schnell einen Espresso, bezahlte und machte sich auf den Rückweg.
Abseits der Touristenpfade war es ruhiger. Aber auch dunkler. Sehr viel dunkler.
Zuversichtlich lief Lucy zunächst in die Richtung, aus der sie gekommen war. Doch nach einer Weile wurde sie unsicher.
Wann immer sie an einer Kreuzung meinte, eine der Gassen wiedererkannt zu haben, bemerkte sie bald ihren Irrtum. Selbst die Straßenschilder halfen nicht. Manche hingen zu hoch, andere lagen so im Dunkeln, dass sie sie nicht lesen konnte.
Am Ende der Gasse gabelte sich der Weg wieder. War sie nicht dort auf den kleinen Platz abgebogen? Angestrengt spähte Lucy in die Nacht. Wenn sie nicht alles täuschte, ging es hinter dem Brunnen und der Kirche mit der schmiedeeisern beschlagenen Tür zu dem Kanal hinter ihrem Hotel.
Oder doch nicht? Verzagt blickte sie sich um und stellte fest, dass sie sich rettungslos verirrt hatte im Labyrinth der verwinkelten Gässchen.
Dennoch biss sie entschlossen ihre Zähne zusammen. So schnell ließ sie sich nicht ins Bockshorn jagen! Zwar konnte sie kaum die Hand vor Augen sehen, aber sie ging tapfer weiter. Beschleunigte vorsichtig ihre Schritte, die unheimlich durch die Dunkelheit hallten. Plötzlich stieß sie mit einem Fuß an ein Hindernis. Sie erkannte es als ein Stück Pappe und wollte aufatmen, da hörte sie hinter sich Schritte.
Langsame Schritte, die schneller wurden, sobald sie schneller lief. Die aufhörten, wenn sie stehenblieb. Wie gelähmt verharrte sie, hörte in der Stille nur ihren eigenen Atem – und ihre Nackenhärchen richteten sich auf.
Der Unsichtbare war kein normaler Passant. Wer auch immer er war, er verfolgte sie!
Blind vor Panik stolperte Lucy einfach nur nach vorne. Doch schon nach wenigen Metern hielt ein sechster Sinn sie davon ab, weiterzugehen. Die Gasse endete an einer Treppe, die zu einem träge fließenden Abwasserkanal führte.
Mit dem Rücken an eine Wand gepresst, spähte sie den Weg hinauf. Es war nichts zu hören, dennoch hatte sie das Gefühl, dass dort jemand lauerte.
Jemand, der wusste, dass sie in der Falle saß.
Obwohl Lucy vor Angst wie gelähmt war, arbeitete ihr Gehirn auf Hochtouren. Sie konnte nicht über das Wasser fliehen. Aber vielleicht könnte sie um ihr Leben rennen wie bei einem Spießrutenlauf. Damit würde er nicht rechnen, und den Überraschungseffekt nutzend, könnte sie an ihm vorbeistürmen.
Kurzerhand zog sie schnell ihre Schuhe aus – ehe sie der Mut wieder verließ – und sauste die Gasse hinauf.
Gerade oben angekommen, prallte sie unvermittelt auf die lauernde Gestalt. Lucy hörte den Mann fluchen, während sie nach Atem rang.
Er war groß und muskulös und ergriff sie mit seinen starken Händen. Verzweifelt versuchte Lucy, sich von ihm zu befreien. „Kein Grund zur Panik.“ Sein Englisch klang kultiviert. „Ich will Ihnen doch nichts tun.“ Sobald Lucy ihren Widerstand aufgab, ließ er sie los und bückte sich, um die Schuhe aufzuheben, die sie fallen gelassen hatte.
„Die sollten Sie besser anziehen“, stellte er fest und wartete, bis sie wieder in Pumps vor ihm stand. „Ausrauben wollte ich sie auch nicht“, fügte er hinzu und gab ihr ihre Handtasche zurück.
Immer noch unter Schock, griff sie danach und wollte an ihm vorbei, doch er versperrte ihr in den Weg. „Bei Dunkelheit sollten Sie finstere Seitenstraßen meiden. In einen Kanal zu fallen, wäre hier noch das kleinste Übel. Das verstehen Sie doch?“
Lucy versuchte zu sprechen, brachte jedoch kein Wort heraus. Sie stand so nah bei ihm, dass ihr der Duft seines teuren Aftershaves in die Nase stieg.
Ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, dass sie von ihm nichts zu befürchten hatte. Aber weil sie das Gesicht des Fremden nicht sehen konnte, war sie unsicher.
„Sie zittern. Ich glaube, Sie brauchen erst mal einen Drink auf den Schreck“, bemerkte er eher schroff als mitfühlend.
Seltsam beruhigt durch den kühlen Tonfall, folgte Lucy ihm. Wobei sie allerdings das Gefühl hatte, dass ihre Beine ihr nicht gehörten, und prompt stolperte.
Der Mann ergriff sofort ihren Arm und ging langsamer. Bewegte sich so sicher wie ein Geschöpf der Nacht durch die Dunkelheit.
Ehe Lucy sich versah, gelangten sie auf einen Platz mit noch geöffneten Straßencafés. Als das Licht einer Laterne auf den Unbekannten fiel, sah sie sein Gesicht – und starrte ihn wie hypnotisiert an. Ihr Gehirn musste ihr einen Streich spielen!
Er sagte nichts, schenkte ihr nur einen kurzen Blick aus seinen silbergrauen Augen.
In dem lässigen Seidenshirt wirkte er noch breitschultriger als in ihrer Erinnerung. Aber er war eindeutig der Mann, der sie auf dem Piazzale Roma so beeindruckt hatte.
Trotz der Wärme der Nacht fröstelte Lucy. Er dirigierte sie zu einem freien Tisch, ging zur Bar und kam mit zwei Brandys wieder.
Mit zitternder Hand hob Lucy das Glas an die Lippen. Weil sie Alkohol nicht gewohnt war, hüstelte sie, als die brennende Flüssigkeit durch ihre Kehle rann.
Ihr Begleiter sah ungerührt zu, wie sie trank, und bemerkte schließlich: „Langsam bekommen Sie wieder Farbe im Gesicht.“
Lucy stellte fest, dass er akzentfrei Englisch sprach. War er womöglich ein Geschäftsmann auf Besuch, der Venedig gut kannte, aber nicht hier lebte?
„Warum sind sie bloß durch die Finsternis spaziert?“
„Und warum sind Sie mir gefolgt?“, reagierte sie auf den versteckten Tadel.
„Ich soll Ihnen gefolgt sein?“ Er hob eine Braue.
„Stimmt es denn nicht?“, stichelte sie.
„Sehe ich aus wie ein Räuber oder Vergewaltiger?“ Der Fremde amüsierte sich.
Wollte er sie für dumm verkaufen?
„Also, ich hörte doch Schritte hinter mir und …“
„Ihre blühende Fantasie verriet Ihnen, dass sie verfolgt werden?“
„Aber, sobald ich stehenblieb, taten Sie es auch.“
„In den engen Gassen klingen alle Geräusche seltsam, besonders nachts.“
Lucy sagte nichts, schließlich wollte sie es nicht übertreiben, auch wenn sie dazu neigte. Doch ihr Begleiter fügte hinzu: „Morgen werden Sie darüber lachen.“
„Ich fürchte, ich habe keinen so guten Humor.“
„Nun, wenn er so ist wie Ihre Fantasie … Sagen Sie mal, wenn Sie so schwache Nerven haben, warum spazierten Sie dann allein hier herum?“
„Eigentlich habe ich starke Nerven, und ich bin nicht herumspaziert. Ich versuchte nur, zu meinem Hotel zurückzufinden. Dabei habe ich mich verirrt.“
„Aber nicht rettungslos, glauben Sie mir“, kommentierte er trocken, musterte sie eine Weile schweigend und fragte schließlich: „Was haben Sie sich nur dabei gedacht, Ihre Schuhe auszuziehen und barfuß loszustürmen?“
Ein wirklich dummer Fehler. Sie hätte in eine Scherbe treten und sich verletzen können. Aber es gab Schlimmeres!
Entschlossen suchte Lucy seinen Blick und war ziemlich überrascht, als sie darin statt des erwarteten Spotts einen Funken unwilligen Respekts entdeckte. Doch alles, was er sagte, war: „Möchten Sie noch einen Brandy?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Vielleicht einen Espresso?“
„Dazu sage ich nicht Nein.“
Ihr Begleiter gab dem in der Tür wartenden Kellner ein Zeichen, bestellte den Kaffee auf Italienisch – was bei ihm ebenso fließend klang wie auf Englisch – und fragte weiter: „Was führt Sie nach Venedig?“
Während er sprach, hatte Lucy wie hypnotisiert auf seinen markanten Mund mit den sinnlichen Lippen gestarrt. Jetzt riss sie sich los, um sich von den Schmetterlingen in ihrem Bauch abzulenken, und antwortete mit einer Gegenfrage: „Vielleicht haben Sie von Peter Sebastian gehört?“
„Sollte ich?“
„Er ist ein sehr begabter Maler und Bildhauer. Soweit ich weiß, hat er viele seiner Werke in Venedig gefertigt.“ Da ihr Begleiter nichts sagte, sprach sie weiter: „Ich bin hier, um eine Ausstellung seiner Skulpturen und Plastiken vorzubereiten.“
„Dann kennen Sie sich gut aus in Venedig?“
„Überhaupt nicht.“
Er hakte nach: „Aber Sie waren schon einmal hier, Miss …?“
„Weston … Lucy Weston. Nein, ich bin zum ersten Mal hier, überhaupt zum erstem Mal in Italien.“
Aus unbegreiflichen Gründen schien er plötzlich verärgert, was Lucy sehr verwirrte und sie ins Stottern brachte. „V…verraten Sie mir auch Ihren Namen?“
Als wäre er nie verärgert gewesen – wenn er es überhaupt gewesen war –, antwortete er lächelnd: „Ich bitte um Verzeihung für mein Versäumnis. Mein Name ist …“, er zögerte unmerklich, „… Michele Lorenzo.“
„Oh … Ich dachte, Sie wären Engländer.“
„Nein, ich bin Italiener.“
Merkwürdig. Warum hatte er sie gleich auf Englisch angesprochen? Er konnte doch gar nicht wissen, dass …
Lucy brach den Gedanken ab, als ihr Begleiter ergänzte: „Ich wuchs in England auf und studierte auch dort. Aber ich bin gebürtiger Venezianer.“ Der Stolz auf seine Herkunft war nicht zu überhören.
Lucy schluckte. Sie hatte richtig vermutet. „Dann leben Sie in Venedig?“
„Hier bin ich zu Hause. Obwohl ich geschäftlich auf der ganzen Welt zu tun habe und viel reise.“ Er hielt inne, als der Kellner den Kaffee servierte, und sprach weiter, während Lucy ein Tütchen Zucker in ihre Tasse rieseln ließ und umrührte. „Wie ich sehe, sind Sie verlobt“, bemerkte er.
Lucy blickte auf ihre linke Hand, spielte erst die Überraschte und senkte schließlich verlegen den Blick. Sie hätte den auffälligen Diamantring zum Mond wünschen können. „Ja, ich …“, begann sie, als Michele Lorenzo sie unterbrach.
„Gehört Ihr Verlobter auch zur Kunstszene?“
„Nein, er ist Bauingenieur.“
Blond und muskulös wie ein Rugby-Stürmer, war Paul eher bodenständig und zeigte wenig Verständnis für alles, was auch nur entfernt mit Kunst zu tun hatte.
Nach dem Tod ihrer Mutter war er ihr eine Stütze gewesen, hatte geholfen, wo er konnte, bis sie nicht mehr wusste, was sie ohne ihn machen sollte. Und da sie sich damals an einem Tiefpunkt befunden hatte, war ihr seine Fürsorge willkommen gewesen.
Aber irgendwann begann er damit, sie zur Heirat zu drängen.
Lucy hatte versucht, ihm zu erklären, dass sie sich ihrer Gefühle erst noch klar werden müsste. Aber Paul war wie ein menschlicher Bulldozer. Attraktiv und selbstsicher, wusste er immer genau, was er wollte – und was sie wollen sollte. Es war hart – nein, in ihrem depressiven Zustand nahezu unmöglich gewesen –, sich gegen ihn zu behaupten.
„Und wie heißt Ihr Verlobter?“
„Paul Jenkins.“
„Sind Sie schon lange verlobt?“
Warum interessierte ihn das?
Lucy hätte das Thema ohnehin am liebsten ausgeklammert, antwortete daher nur vage: „Ach, nicht lange.“
Einen Moment schien es ihr, als hätte sich die Miene Michele Lorenzos verächtlich verzogen. Fand er es ungehörig, dass sie ihre Verlobung einfach so abtat?
„Waren Sie vorher schon einmal verlobt?“
Kann er nicht aufhören, mich so kalt anzusehen?, dachte Lucy entnervt, fragte aber nur: „Warum … wollen Sie das wissen?
„Waren Sie es?“
„Nein“, log sie. Diesem grimmig blickenden Mann konnte sie ihre Jugendsünde unmöglich gestehen.
Ein, zwei Sekunden herrschte eine seltsam angespannte Stille, bis er unvermittelt das Thema wechselte. „Es ist sehr spät geworden“, sagte er und bot ihr höflich, aber kühl an: „Gestatten Sie, dass ich Sie zu Ihrem Hotel zurückbringe?“
„Das wäre nett!“
Sie wollten aufbrechen, als eine schrille Stimme rief: „Nein, sieh mal, wer da ist …“
Dolly Cook, ihren Ehemann im Schlepptau, stürmte auf sie zu und strahlte Lucy an: „Bestimmt haben Sie auch die Sehenswürdigkeiten abgeklappert, was? Eben noch sagte ich zu Walt, wir sollten uns um ein Wassertaxi für die Rückfahrt kümmern.“ Neugierig musterte sie den großen dunkelhaarigen Mann neben Lucy.
Gut erzogen, wie sie war, stellte Lucy alle einander vor und ergänzte: „Mr. und Mrs. Cook wohnen im selben Hotel wie ich.“
Plötzlich ganz Italiener, deutete Michele Lorenzo dem amerikanischen Paar eine Verbeugung an. „