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Julia Ärzte zum Verlieben Band 66
Erscheinungstag: | Fr, 06.06.2014 |
Erscheinungstag: | Fr, 06.06.2014 |
Bandnummer: | 66 |
Bandnummer: | 66 |
Seitenanzahl: | 384 |
Seitenanzahl: | 384 |
ISBN: | |
ISBN: | 9783733702724 |
E-Book Format: | ePub oder .mobi |
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Die gute Tochter
"Lauf!", fleht ihre große Schwester Samantha. Mit vorgehaltener Waffe treiben zwei maskierte Männer Charlotte und sie an den Waldrand. "Lauf weg!" Und Charlie läuft. An diesem Tag. Und danach ihr ganzes Leben. Sie ist getrieben von den Erinnerungen an jene grauenvolle Attacke in ihrer Kindheit. Die blutigen Knochen ihrer erschossenen Mutter. Die Todesangst ihrer Schwester. Das Keuchen ihres Verfolgers.
Als Töchter eines berüchtigten Anwalts waren sie stets die Verstoßenen, die Gehetzten. 28 Jahre später ist Charlie selbst erfolgreiche Anwältin. Als sie Zeugin einer weiteren brutalen Bluttat wird, holt ihre Geschichte sie ganz ungeahnt ein.
"Die gute Tochter" ist ein Meisterwerk psychologischer Spannung. Nie ist es Karin Slaughter besser gelungen, ihren Figuren bis tief in die Seele zu schauen und jede Einzelne mit Schuld und Leid gleichermaßen zu belegen.
"Die dunkle Vergangenheit ist stets gegenwärtig in diesem äußerst schaurigen Thriller. Mit Feingefühl und Geschick fesselt Karin Slaughter ihre Leser von der ersten bis zur letzten Seite."
Camilla Läckberg
"Eine großartige Autorin auf dem Zenit ihres Schaffens. Karin Slaughter zeigt auf nervenzerfetzende, atemberaubende und fesselnde Weise, was sie kann."
Peter James
"Karin Slaughter ist die gefeiertste Autorin von Spannungsunterhaltung. Aber Die gute Tochter ist ihr ambitioniertester, ihr emotionalster - ihr bester Roman. Zumindest bis heute."
James Patterson
"Es ist einfach das beste Buch, das man dieses Jahr lesen kann. Ehrlich, kraftvoll und wahnsinnig packend - und trotzdem mit einer Sanftheit und Empathie verfasst, die einem das Herz bricht."
Kathryn Stockett
„Die Brutalität wird durch ihre plastische Darstellung körperlich spürbar, das Leiden überträgt sich auf den Leser.“
(Hamburger Abendblatt)
„Aber es sind nicht nur die sichtbaren Vorgänge und Handlungen von guten oder schlechten Individuen, die die (…) Autorin penibel genau beschreibt. Es sind vor allem die inneren, die seelischen Abläufe, die überzeugen.“
(SHZ)
„Das alles schildert Slaughter mit unglaublicher Wucht und einem Einfühlungsvermögen, das jedem Psychotherapeuten zu wünschen wäre.“
(SVZ)
„Die aktuelle Geschichte um die Quinns ist eine Südstaaten-Saga der besonderen Art, von der ihr nicht weniger erfolgreiche Kollege James Patterson sagt, sie sei ‚ihr ambitioniertester, ihr emotionalster, ihr bester Roman. Zumindest bis heute‘.“
(Focus Online)
„Die Autorin hat hier ein ausgezeichnetes Buch vorgelegt, dass mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt hat.“
(Krimi-Couch.de)
„Es gibt Bücher, bei denen man das Atmen vergisst. Die Romane der amerikanischen Schriftstellerin gehören dazu. So auch dieser Pageturner. (…) Karin Slaughter versteht es meisterhaft, glaubwürdige Charaktere zu erschaffen und ihre Leser fortwährend zu überraschen.“
(Lebensart)
„Atmosphärisch dichter Thriller über die sozialen Gespinste einer Kleinstadt, psychologisch sehr stimmig, mit vielen Schichten und Überraschungen.“
(Bayrischer Rundfunk)
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1. KAPITEL
Scarlet Miller, Stationsschwester der Frühchen-Intensivstation am Angel Mendez Children’s Hospital, das von allen liebevoll „Angel’s“ genannt wurde, betrat den nagelneuen Trakt, den sie maßgeblich mitgeplant und – gestaltet hatte. Mit zweiundsechzig Bettchen und hochmoderner Technik ausgestattet, war die NICU für hohe Pflegestandards und die geringste Sterblichkeitsrate im ganzen Land bekannt. Hier wurden kranke und frühreife Babys betreut, und Scarlet, seit vier Jahren in leitender Position, war stolz auf ihr Team, das Eltern und Familien die Hoffnung zurückgab, wenn eine Schwangerschaft nicht so glatt verlief wie erwartet.
„Sieht so aus, als hätte jemand ein heißes Wochenende hinter sich.“ Linda, eine der älteren Krankenschwestern, tauchte neben ihr auf.
„Falls du mich damit meinst …“ Scarlet blieb an der Schwesternstation stehen, nahm den Stapel rosa Nachrichtenzettel von einer der Stationssekretärinnen entgegen und bedankte sich mit einem Lächeln, ehe sie sich wieder Linda zuwandte. „Und mit ‚heiß‘ eine schweißtriefende Samstagnacht, weil ich in Weehawken am wärmsten elften Mai seit Beginn der Wetteraufzeichnungen sechzehn Stunden ohne Strom dasaß – also auch ohne Klimaanlage –, dann ja. Ich hatte wirklich ein heißes Wochenende.“
„Oh, oh.“ Linda warf einen bedeutsamen Blick auf die Vase am Ende des Tresens, in der mindestens zwei Dutzend langstielige samtrote Rosen, umarmt von zartem Farngrün, prangten.
„Oh, oh … was?“, fragte Scarlet verwundert.
„Ich habe euch ja gesagt, wir sollen es lassen“, meinte Ashley, die Sekretärin.
Scarlet blickte sie an. „Was lassen?“
Cindy, eine der neuen Schwestern, die sich zur Einarbeitung Patientenmonitore und Videoaufzeichnungen ansah, zeigte auf eine längliche goldene Pralinenschachtel. Die Zellophanhülle fehlte.
„Kann mir bitte jemand erklären, was hier los ist?“ Scarlet hatte keine Zeit für Ratespiele. Ihr Dienst hatte mit mehreren Besprechungen begonnen, und jetzt wartete die Familie des jüngsten Neuzugangs auf sie. Das winzige Mädchen war mit einem Gewicht von 900 Gramm in der sechsundzwanzigsten Schwangerschaftswoche zur Welt gekommen.
„Wir dachten, es wären deine“, antwortete Cindy.
„Was …?“
„Die Blumen und die Pralinen.“
„Warum …?“ Ja, warum sollten sie annehmen, dass jemand ihr rote Rosen schickte? Rote Rosen, als Zeichen von Liebe und Leidenschaft, die Männer ihren Ehefrauen, ihren Freundinnen oder Geliebten schenkten. Sie lebte praktisch im Krankenhaus und hatte keinen Mann mehr in ihrem Leben gehabt seit …? Scarlet wand sich innerlich, weil sie sich nicht auf Anhieb erinnern konnte. Wahrscheinlich musste sie erst im Kalender nachsehen. War es im letzten oder sogar im Jahr davor gewesen?
Sie verdrängte die Frage und verteidigte sich damit, dass sie ohne unzählige Überstunden niemals so viel Erfolg im Beruf gehabt hätte. Erfolg, der nicht nur ihr guttat, sondern auch dem Angel’s, ihren kleinen Patienten und deren Angehörigen. Für eine Beziehung hatte sie eben keine Zeit.
„Weil dein Name auf der Karte stand.“ Linda deutete auf einen kleinen blassgrünen Umschlag, der in dem duftenden Bouquet steckte.
Tatsächlich, und sogar richtig geschrieben mit einem „t“ – auch wenn sie nach der berühmten Scarlett aus „Vom Winde verweht“ benannt worden war. Ihre Mutter hatte in den offiziellen Unterlagen nur den Namen nicht richtig geschrieben.
Scarlet pflückte das Brieflein aus dem Rosenstrauß und öffnete es.
Liebe Scarlet,
zu spät ist mir aufgefallen, dass Du mir Deinen Nachnamen nicht genannt hast. Ich hoffe, die Blumen erreichen Dich trotzdem. Samstagnacht hast Du meine Erwartungen übertroffen.
An dieser Stelle wusste Scarlet, dass die Karte mit Sicherheit nicht für sie gedacht war. Trotzdem las sie weiter … nicht aus Neugier, nein, sie wollte nur herausfinden, ob es Hinweise auf die wahre Empfängerin gab.
Lass es uns bald wieder tun.
Viel Glück bei Deinem neuen Job.
Ruf mich an.
Brandon
Unter dem Namen standen drei Telefonnummern – von zu Hause, vom Arbeitsplatz und vom Handy – und seine E-Mail-Adresse! Scarlets Namensschwester musste ein heißer Feger sein.
„Ruf doch mal in der Personalabteilung an“, sagte Scarlet zu Ashley. „Frag nach einer neuen Kollegin namens Scarlet und danach, wo sie arbeitet.“
Während Ashley zum Hörer griff, schnappte sich Cindy die Karte und las sie.
„Junge, Junge!“ Sie fächelte sich mit dem Kärtchen Luft zu.
Ashley legte auf und machte ein betretenes Gesicht. „Eine Scarlett Ryan hat heute als Stationssekretärin in der pädiatrischen Notaufnahme angefangen.“
„Und ihr …“ Vorwurfsvoll zeigte Scarlet mit dem Finger auf ihre Kolleginnen, „… habt dem armen Mädchen die hart verdienten Pralinen weggegessen!“
„Es gibt eine ungeschriebene Regel, dass Pralinenschachteln auf den Stationen Gemeingut sind“, entgegnete Linda würdevoll. „Bedien dich, aber beschwer dich nicht, wenn du leer ausgehst. Die Pralinen sind für alle da.“
„Krankenschwestern haben viel Stress“, fügte Cindy hinzu. „Schokolade macht uns glücklich, und dann können wir viel besser arbeiten.“ Sie schnipste mit den Fingern. „Gib mir fünf Minuten, dann finde ich eine Studie, die das belegt.“
Scarlet lächelte. „Wie auch immer.“ Sie hob den Deckel der Schachtel an. Umgeben von dreißig kleinen leeren Vertiefungen lag eine einsame Vollmilchpraline vor ihr, leicht eingedrückt, sodass sie ein dunkelrosa Innenleben enthüllte.
„Ich habe ihnen gesagt, dass sie eine für dich übrig lassen sollen“, meldete sich Ashley zu Wort.
„Wir nehmen an, dass sie mit Himbeer gefüllt ist“, fügte Cindy hinzu.
„Du magst Himbeer“, sagte Linda.
Da die Praline sowieso nicht mehr vorzeigbar war, steckte Scarlet sie sich in den Mund. Hmm, tatsächlich. Himbeercreme, umhüllt von schmelzender Schokolade. Scarlet ließ sich die Köstlichkeit langsam auf der Zunge zergehen und hätte fast vor Behagen geseufzt. Doch sie besann sich rechtzeitig. „An die Arbeit“, verkündete sie, ganz die strenge Stationsschwester.
„Und was machst du jetzt wegen der Pralinen?“, wollte Ashley wissen.
Du. Nicht wir. Weil Scarlet sich immer vor ihre Mitarbeiter stellte, was auch passierte. Und das wussten sie. Sie vertrauten ihr.
Sie legte den Deckel auf die Schachtel und warf sie in den Papierkorb. „Welche Pralinen?“, fragte sie mit einem unschuldigen Lächeln.
Alle Frauen lächelten zurück.
„Und die Blumen?“
Scarlet schob die Karte wieder in den Umschlag und steckte ihn in den Kartenhalter aus durchsichtigem Plastik. „Ich bringe sie nach unten in die Notaufnahme, sobald ich mir die kleine Gupta angesehen habe.“
Im letzten Dreivierteljahr vom Schicksal auf eine harte Probe gestellt, hatte Dr. Lewis Jackson, Chefarzt der pädiatrischen Notaufnahme am Angel’s, nicht geglaubt, dass es noch schlimmer kommen konnte.
Ein schwerer Irrtum.
Es war schon nicht einfach gewesen, plötzlich Vater eines Teenagers zu sein, der sich als wahrer Satansbraten entpuppte, und für den Lewis das alleinige Sorgerecht hatte. Aber der heutige Tag schickte ihn nach sämtlichen vorangegangenen höllischen Tagen direkt in Teufels Küche!
Zwei Schwestern krankgemeldet. Eine neue Stationssekretärin, die zwar hübsch anzusehen war, aber ihre Fähigkeiten eindeutig überschätzte. Und dann Jessie, von der Polizei aufgegriffen, weil sie nicht nur die Schule geschwänzt, sondern in einem Drogeriemarkt ein paar Kosmetika hatte mitgehen lassen.
Der einzige Lichtblick an diesem verfluchten Nachmittag bestand darin, dass der diensthabende Beamte den Filialleiter dazu überredet hatte, es für Jessie bei einer Verwarnung zu belassen. Ob es daran lag, dass Lewis in der Eile in OP-Kleidung und mit Krankenhausausweis an der Brusttasche erschienen war, oder weil er in einem der angesehensten Krankenhäuser des Landes arbeitete, wusste er nicht. Es interessierte ihn auch nicht weiter.
„Das ist mit Abstand der größte Blödsinn, den du je verzapft hast, seit du bei mir bist!“ Und das wollte etwas heißen.
Lewis stand am Straßenrand vor der Wache und hob den Arm. Ein gelbes Minivan-Taxi hielt, und er riss die hintere Tür auf, packte Jessie bei den Armen und schob sie auf die Rückbank.
„Angel Mendez Children’s Hospital“, befahl er dem Fahrer, während er die Tür schloss. „Eingang pädiatrische Notaufnahme. Wenn Sie uns in weniger als fünfzehn Minuten dorthin bringen, gebe ich Ihnen zwanzig extra.“
Als er das hörte, schwenkte der Taxifahrer zurück auf die Straße, schnitt ein anderes Taxi. Und einen Bus. Rammte beinahe einen Fahrradkurier. Ein Hupkonzert ertönte. Fahrer brüllten ihren Ärger aus geöffneten Fenstern. Nicht wenige hoben den Mittelfinger.
Der alltägliche Wahnsinn einer Taxifahrt in New York City.
Lewis richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Jessie. „Was hast du dir dabei gedacht?“ Die Schule zu schwänzen. Durch Manhattan zu streunen. Ohne Begleitung, ohne Schutz. Bei dem Gedanken, was ihr alles hätte zustoßen können, bekam er Magenschmerzen.
Wie immer sah Jessie ihn nicht an. Sie saß einfach da in ihrer ausgebeulten schwarzen Baggyhose und dem unförmigen schwarzen Sweatshirt und machte ein Gesicht, als hätte die ganze Welt sie verraten. Sie beachtete Lewis nicht einmal. Doch als sie in ihre Tasche griff, um die geliebten Kopfhörer hervorzuholen und sich mit dröhnender Musik von allem abzuschotten, riss er ihr die weißen Schnüre aus der Hand.
„Ich rede mit dir, junge Dame. Und ausnahmsweise wirst du mir zuhören!“
Wenn Blicke töten könnten, hätte ihn augenblicklich der Schlag getroffen.
„Dein Benehmen ist unmöglich, und ich habe endgültig genug. Es tut mir leid, dass deine Mutter gestorben ist. Es tut mir leid, dass sie mir nie von dir erzählt hat.“ Und noch mehr, dass sie anscheinend viel Zeit damit verbracht hatte, ihn nach Kräften schlechtzumachen. Sodass Jessie ihn schon hasste, bevor sie ihn überhaupt kennenlernte. Er hatte nicht die geringste Chance gehabt. „Es tut mir auch leid, dass du aus Maryland weg nach New York ziehen musstest“, fuhr er fort. „Es tut mir leid, dass ich so viel arbeiten muss. Aber ich bin alles, was du hast. Und ich gebe mir große Mühe.“
Um Zeit für seine Tochter zu haben und ihr ein gutes Vorbild zu sein, hatte Lewis sein gewohntes Privatleben aufgegeben und damit ein aktives, sehr befriedigendes Sexleben. Er hatte eine Tagesmutter nach der anderen eingestellt, damit nach der Schule jemand für Jessie da war, wenn er arbeiten musste. Es endete damit, dass keine länger als vier Wochen blieb, weil Jessie alle Register zog, die ein rebellischer Teenager auf Lager hatte.
Für die Zeit, in der er Dienst hatte, organisierte Lewis einen Fahrdienst, der sie zur Schule bringen und abholen sollte. Leider passierte es nicht nur einmal, dass Jessie einfach nicht auftauchte, der Fahrer eine Weile auf sie wartete – und das Unternehmen die Zeit minutengenau in Rechnung stellte.
Lewis brachte Pizza mit nach Hause, weil er dachte, dass alle Kinder Pizza liebten. Jessie wollte etwas vom Chinesen. Kam er ihrem Wunsch nach, verlangte sie italienische Küche. Er kaufte ihr ein schickes Smartphone, damit sie in Verbindung bleiben konnten, während er arbeitete. Bis heute hatte sie weder einen seiner Anrufe entgegengenommen noch auf seine SMS reagiert noch überhaupt darüber Kontakt mit ihm aufgenommen. Mit der einzigen Ausnahme, als sie ihn heute von der Polizeiwache aus anrief.
Verdammt, er hatte doch alles versucht, um ein gutes Verhältnis zu ihr aufzubauen. War es da zu viel verlangt, dass sie sich auch ein bisschen anstrengte?
„Du hast mich zwei Stunden lang bei der Polizei warten lassen.“ Das klang vorwurfsvoll und wütend.
„Weil ich bei der Arbeit war, als du deine Nummer abgezogen hast, und ich nun einmal nicht den Job habe, bei dem ich innerhalb von fünf Minuten alles stehen und liegen lassen kann. Ich trage die Verantwortung für meine Patienten. Ich musste einen Kollegen an seinem freien Tag anrufen, ihn bitten, für mich einzuspringen, und warten, bis er da war. Erst dann konnte ich weg.“
Jessie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hasse dich“, sagte sie.
Nichts Neues. „Okay.“ Lewis verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust, genau wie seine starrsinnige, launische Tochter, und erwiderte ihren abfälligen Blick, während er antwortete: „Ich hasse dich gerade auch.“
Kaum waren die Worte heraus, bereute er es auch schon. Lewis Jackson, vom Erfolg verwöhnt, ein Überflieger, der nie versagte, scheiterte als alleinerziehender Vater auf ganzer Linie.
Mit quietschenden Reifen hielt das Taxi vor der Notaufnahme. Jessie sprang aus dem Wagen und ging auf die automatischen Türen zu, noch bevor Lewis bezahlt hatte. Er warf dem Fahrer den Betrag plus Trinkgeld plus einer Zwanzigdollarnote praktisch in den Schoß, stieg hastig aus und folgte seiner Tochter. „Jessie, warte!“
Tat sie natürlich nicht.
Er eilte in die Notaufnahme. „Bleib sofort …“
Jessie rannte los, Richtung Flur.
Nein, nicht schon wieder. Lewis lief hinterher. Als er um die Ecke bog, sah er gerade noch, wie sich die Tür zur Behindertentoilette schloss.
Er erreichte sie in dem Moment, in dem von innen verriegelt wurde. Klick. Lewis hämmerte an die Tür. „Verflucht, Jessie, komm da raus!“ Damit er sich entschuldigen konnte. Damit er versuchen konnte, ihr alles zu erklären. Damit er sie in sein Büro bringen und einsperren konnte, weil sie dort sicher war. Wenigstens für die nächsten Stunden.
Wie ein Tiger im Käfig marschierte er auf und ab, wütend, angespannt, hilflos. Ihm kam der Gedanke, dass es vielleicht besser wäre, wenn sie blieb, wo sie war. Lewis schwankte zwischen dem Drang, sie zu schlagen, und dem Wunsch, sie in die Arme zu nehmen. Er hätte sie anschreien und gleichzeitig vor ihr die Knie sinken und um Verzeihung bitten können. Er war hin- und hergerissen, sie bei sich zu behalten oder nach einem streng geführten Internat weit weg in Europa zu suchen, das Verwandtenbesuche nur unter Aufsicht erlaubte – ein Mal im Jahr.
In seinem gesamten Erwachsenenleben hatte er sich noch nie so unsicher, so nutzlos und so überwältigend unfähig gefühlt.
„Jessie“, sagte er durch die Tür und drückte die Klinke hinunter. Ohne Erfolg. „Bitte komm raus.“ Lewis zwang sich, ruhig zu sprechen. „Ich muss zurück zur Arbeit.“
Sie antwortete nicht. Wie immer, wenn er mit ihr durch eine geschlossene Tür zu reden versuchte. Wie oft war das inzwischen vorgekommen? Ein Dutzend, dreißig, hundert Mal? Lewis stellte sich vor, wie sie grinsend auf der anderen Seite dieser Tür stand und eine abartige Befriedigung daraus zog, dass er hier frustriert und zornig im Flur wartete. Drauf und dran, das letzte bisschen Beherrschung zu verlieren, das ihm noch geblieben war.
„Na schön.“ Lewis stürmte zur Schwesternstation. „Rufen Sie in der Wartungsabteilung an“, fuhr er die neue Stationssekretärin an, die anscheinend mehr Interesse an einer riesigen mit roten Rosen gefüllten Glasvase hatte als daran, ihre Arbeit zu erledigen.
Ungeduldig wartete er, bis sie sich auf ihren Platz am Telefon begab, wo sie eigentlich hingehörte.
„Die sollen jemanden schicken, der mir wieder die Tür zur Behindertentoilette im hinteren Flur öffnet. Und diesmal können Sie mir gleich einen Schlüssel dafür mitbringen!“
Sobald sie ihm mitgeteilt hatte, dass in wenigen Minuten ein Mitarbeiter hier wäre, eilte er zurück zum Toilettenraum. Hoffentlich hatte Jessie nicht die Gelegenheit genutzt, um zu verschwinden und erst kurz vor seinem Dienstschluss wieder aufzutauchen. Wie immer in letzter Zeit.
Nach dem ersten Schock, dass er Vater eines Teenagers war, hatte Lewis sich schnell mit dem Gedanken angefreundet, in der Stadt, die er liebte, mit seiner Tochter zu leben. Er stellte sich vor, wie sie Radtouren durch den Central Park unternahmen, Museen besuchten, gemeinsam ins Ballett und in die Oper gingen. Ja, er wollte ihr Kultur nahebringen, sie in seiner Obhut Neues entdecken lassen und ihr alles bieten, damit sie für ihr Erwachsenenleben gut gerüstet war.
Die Ernüchterung folgte, als er sie kennenlernte.
Lewis kam um die Ecke und blieb abrupt stehen. Mit dem Rücken zu ihm stand Jessie im Flur und sprach mit einer dunkelhaarigen Krankenschwester, die er nicht kannte. Der kurze weiße Laborkittel, den sie über ihrer hellblauen Krankenhauskleidung trug, verriet jedoch, dass sie eine leitende Position bekleidete.
„Jetzt muss ich bestimmt nicht mehr mit zu diesem blöden See“, hörte er Jessie sagen. „Er kann mich seinen Eltern nicht zumuten.“
Zorn, wie er ihn noch nie erlebt hatte, erreichte den Siedepunkt und kochte über. „Deshalb hast du das Gesetz gebrochen?“, brüllte er, während er zu ihr marschierte. „Deshalb riskierst du, verhaftet und vor Gericht gestellt und zu gemeinnütziger Arbeit oder einer anderen Strafe verdonnert zu werden? Nur um einem schönen Wochenendausflug mit deinen Großeltern und deinen Cousinen zu entgehen? Wie dumm …“
Jessie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hab dir gesagt, dass ich nicht mit will.“
„Und ich sage dir eins, junge Dame. Mein Entschluss steht fest. Endgültig. Du fährst zum Lake George.“
In elf Tagen. Weil Lewis eine Pause brauchte und Sex und ein paar Tage, um wieder er selbst zu sein. So wie früher, als er noch locker und entspannt war und sich leiden mochte. Damit er sich in Ruhe Gedanken machen konnte, wie er in Zukunft ruhig und gelassen mit seiner Tochter umging.
„Er will mich loswerden.“ Jessie warf sich der verblüfften Krankenschwester in die Arme.
Nicht für immer. Nur für eine kurze Verschnaufpause. „Ich …“
„Er will mich nicht“, schluchzte sie. „Er hat mich nie gewollt. Das hat meine Mom gesagt. Und jetzt ist sie nicht mehr da, und ich hab niemanden mehr.“
Die Verzweiflung in ihrer Stimme schnürte ihm die Kehle zu. Zugegeben, Kinder waren in seiner Lebensplanung nie vorgekommen. Aber seit der Vaterschaftstest bewiesen hatte, dass Jessie seine leibliche Tochter war, wollte Lewis alles tun, dass es seinem Kind gut ging. Auch wenn sie nicht nur das hübsche Gesicht, sondern auch das unberechenbare Temperament ihrer Mutter geerbt hatte.
Allerdings hätte er sich in seinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können, wie schwer es war, ein guter Vater zu sein.
„Jessie …“ Er streckte die Hand aus, wollte derjenige sein, der sie in den Armen hielt und tröstete.
Doch Jessie hob abwehrend den Arm, während sie schluchzend Luft holte und sich bitter beschwerte: „Er sagt, dass ich dableiben muss. Egal, was ist, ich darf nicht früher nach Hause kommen.“
„Weil ich arbeiten muss.“ Das war gelogen. Aber es klang besser als: Weil ich ein paar Tage Ruhe vor dir haben muss, um wieder zu Kräften zu kommen.
„Du arbeitest ständig“, konterte sie und warf ihm über die Schulter der Krankenschwester einen anklagenden Blick zu.
„Warum auch nicht?“, gab er zurück. „Es ist ja nicht so, dass du etwas mit mir unternehmen willst, wenn ich nicht arbeite.“
„Hörst du, wie er mit mir redet? Er hasst mich.“
„Findest du nicht, dass du ein bisschen dick aufträgst?“, fragte die Frau, entwand sich Jessies Umklammerung und trat einen Schritt zurück.
Jetzt konnte Lewis auch das Namensschild an ihrem Kittel lesen.
Scarlet Miller, RN, BSN, MSN, CCRN
Stationsschwester NICU
Sie war staatlich geprüfte Kranken- und Intensivpflegeschwester, hatte einen Bachelor in Krankenpflege und den Master dazu und leitete die Frühgeborenen-Intensivstation.
„Bestimmt nicht.“ Jessie wischte sich mit den Handrücken über die Augen. „Er hat’s mir selbst gesagt. Vorhin im Taxi.“
Scarlet wandte sich ihm zu. „Unglaublich“, sagte sie kopfschüttelnd. „Und ich habe Jessie die ganze Zeit gesagt, dass Sie gar nicht so schlimm sein können, wie sie Sie beschreibt. Da muss ich mich wohl korrigieren.“
Wache blaue Augen blickten ihn herausfordernd an. Ihr Gesicht strahlte eine attraktive Mischung aus natürlicher Schönheit und Klugheit aus, und einen Moment lang verlor sich Lewis in der Betrachtung seidiger schokoladenbrauner Haare und der wohlgeformten Figur von Scarlet Miller.
Und noch etwas machte ihn neugierig. Die ganze Zeit, hatte sie gesagt. Lewis fragte sich, warum eine leitende Krankenschwester, die vom Alter her ihm näher war als seiner Tochter, sich mit einem jungen Mädchen angefreundet hatte.
„Wenn er mich zwingt, laufe ich weg“, sagte Jessie zu Scarlet, als wäre ihr Vater gar nicht da.
„Nein, das tust du nicht“, antwortete diese bestimmt.
„Du hast es auch gemacht.“
Lewis traute seinen Ohren nicht. War die Frau verrückt geworden, so etwas einem Mädchen zu erzählen, das schon genug Flausen im Kopf hatte?
„Hast du mir nicht zugehört? Ich habe dir gesagt, wie gefährlich und dumm das war.“ Scarlet Miller packte sie bei den Schultern und drehte Jessie zu sich herum. „Sieh mich an, Jess.“
Jess. Das klang vertraut. Fast liebevoll.
Ein verletzlicher Ausdruck erschien auf Jessies Gesicht, und zum ersten Mal sah Lewis hinter die Fassade von Teenagerzorn und Trotz, die sie bisher perfekt vor ihm gewahrt hatte. Dahinter kam ein verängstigtes kleines Mädchen zum Vorschein. Und das vor einer Fremden. Warum?
„Du hast jemanden, den ich nicht hatte. Du hast mich.“ Sie holte eine Visitenkarte aus ihrer Kitteltasche, schrieb etwas hintendrauf und reichte Jessie das Kärtchen. „Vorne steht meine Nummer hier im Angel’s, hinten meine Handynummer. Du kannst mich jederzeit anrufen, warum auch immer. Ich habe es dir nicht schon eher angeboten, weil ich mich nicht in eure Angelegenheiten einmischen wollte.“
Sehr richtig, dachte er.
„Du bist nicht allein, Jess. Du hast deinen Vater, und du hast mich.“ Scarlet sah ihn an, bevor sie hinzufügte: „Und falls bei diesem Wochenendausflug irgendjemand versucht, dich zu etwas zu bringen, das du nicht möchtest, und dein Vater dich nicht abholt, verspreche ich dir, dass ich komme.“
Oh nein, Verehrteste. „Meine Tochter wird von ihren Großeltern zum See gefahren und wieder zurück. Sie braucht Ihre Telefonnummern nicht, weil sie mich anrufen kann – jederzeit, warum auch immer.“ Lewis griff nach der Karte.
Jessie versteckte sie hinter ihrem Rücken.
„Die Sache läuft aus dem Ruder, Jess“, sagte Scarlet. „Du musst es ihm sagen.“
Lewis richtete sich auf und starrte sie an. „Was muss sie mir sagen?“
„Das bleibt unter uns!“, schrie Jessie Scarlet an. „Du hast es versprochen!“
„Das war, bevor du von der Polizei aufgegriffen wurdest und damit gedroht hast wegzulaufen.“
„Heißt das, Sie …?“ Lewis wurde von einer Lautsprecherdurchsage unterbrochen.
„Scarlet Miller in die Notaufnahme. Sofort“, ertönte eine drängende Stimme. „Scarlet Miller in die Notaufnahme.“
„Gerettet von der Telefonzentrale.“ Scarlet zwinkerte Jessie zu. „Sprich mit deinem Vater“, fügte sie noch hinzu, bevor sie eilig davonging.
2. KAPITEL
Scarlet erreichte die Schwesternstation im Zentrum der Notaufnahme.
„Ich bin Scarlet Miller“, sagte sie zu der Scarlett, der sie vor ein paar Minuten die Blumen gebracht hatte. Dr. Jackson und Jessie waren ihr gefolgt und standen neben ihr.
„Sie werden in Schockraum drei gebraucht“, antwortete eine Schwester. „Schwangerer Teenager. Kam allein, mit fortgeschrittenen Wehen. Keine Identifizierung möglich. Keine Schwangerschaftsvorsorge. Sie sind nicht sicher, in welcher Woche sie ist, vermuten aber um die dreiunddreißigste. Dr. Gibbons hat ein Frühchen-Team angefordert.“
„Und meine Leute sind bei einer riskanten Mehrlingsentbindung, die für heute Nachmittag geplant wurde.“ Drillinge, einer davon in besorgniserregendem Zustand, die per Kaiserschnitt in der neunundzwanzigsten Woche geholt werden sollten. Scarlet zog ihren Kittel aus und drückte ihn Jessie in die Hand. „Dann will ich mal. Bitte rufen Sie in der NICU an und sprechen Sie mit Ashley“, wandte sie sich an die Sekretärin. „Sagen Sie ihr, dass ich hier bin und dass sie Dr. Donaldson verständigen soll. Ich melde mich bei ihm, wenn ich ihn brauche. Und bitten Sie sie, einen Inkubator runterzuschicken.“
„Kann ich helfen?“, fragte Dr. Jackson.
„Könnten Sie dafür sorgen, dass der Wärmetisch eingeschaltet wird? Ich brauche auch einen Einwegkittel, Handschuhe und angewärmte Handtücher.“
„Bekommen Sie sofort.“ Er drehte sich zu Jessie um. „Warte in meinem Büro auf mich. Und geh nicht weg!“
Scarlet betrat den Schockraum und stellte sich vor: „Ich bin Scarlet von der NICU.“
Auf der Liege lag ein fünfzehn-, vielleicht auch sechzehnjähriges Mädchen mit raspelkurzem schwarzem Haar. Zwei Schwestern hielten ihre nackten blassen Beine angewinkelt. Zwischen den geöffneten Beinen stand ein älterer korpulenter Arzt, ganz auf die Entbindung konzentriert.
„Es tut so weh“, schrie das Mädchen auf.
Schnell wusch sich Scarlet die Hände, trat ans Kopfende der Liege und nahm die Hände des Teenagers in ihre. „Atme den Schmerz weg“, sagte sie ruhig. „Und zwar so.“ Sie zeigte es ihr.
Mit angsterfüllter Miene blickte die Patientin auf. Tränen standen ihr in den Augen, ihr Gesicht war gerötet. „Ich kann das hier nicht.“
„Doch, du schaffst es. Drück meine Hände, so fest du kannst. Es tut mir nicht weh.“
„Da kommt wieder eine!“ Sie schluchzte auf.
Und als sie Scarlets Hände umklammerte, stiegen Erinnerungen in Scarlet auf an jene Zeit, als sie im gleichen Alter wie das Mädchen genau in dieser Situation gewesen war. Ihr zog sich das Herz zusammen.
„Das ist eine Presswehe“, sagte der Arzt. „Du musst pressen.“
„Ja, so ist es richtig“, ermutigte Scarlet sie. „Das machst du ganz toll.“
Als die Wehe abflaute, sagte sie zu dem Mädchen: „Ich heiße Scarlet, und ich werde mich um dein Baby kümmern, wenn es auf der Welt ist.“ Sie tupfte ihr den Schweiß von Stirn und Oberlippe. „Wie heißt du?“
Das Mädchen zögerte kurz. „Holly“, flüsterte es dann.
„Warum bist du allein hier, Holly? Sag mir, wen ich anrufen kann. Jemanden von deiner Familie? Einen Freund?“
Ein Ausdruck von Panik huschte über ihr Gesicht. „Es weiß keiner. Sie dürfen es nicht wissen.“
Hollys Verzweiflung war wie ein Echo ihrer eigenen Ängste, als sie damals mit siebzehn versucht hatte, ihre Schwangerschaft vor allen anderen zu verbergen. Vor ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, vor ihrer Familie. Und dann die brennenden Fragen, wo sie entbinden, wohin sie hinterher gehen sollte, ohne Job, ohne Highschool-Abschluss. Ohne Hilfe und Unterstützung.
Wie naiv sie doch gewesen war, als sie davon träumte, mit ihrem Baby wegzulaufen. Endlich jemanden zu haben, den sie lieben konnte und der sie liebte.
Ihr Traum war geplatzt wie eine Seifenblase, weil Monate vor dem Termin viel zu früh die Wehen einsetzten. Ihr einflussreicher und sehr wütender Vater begleitete sie in eins der Krankenhäuser, mit denen er zusammenarbeitete. Drei Tage später erwachte sie mit lückenhaften Erinnerungen an die Geburt, an den schwachen Schrei ihres Babys, bevor man es ihr abgenommen und weggebracht hatte. Es sei gestorben, erzählte man ihr. Von einer der Schwestern, die ihr dabei nicht in die Augen sehen konnte, erfuhr sie, dass sie durchgedreht war, als sie vom Tod des Kindes hörte. Man hätte ihr starke Beruhigungsmittel geben müssen, und um sie nicht noch mehr aufzuregen, hätte ihr Vater für eine Beerdigung in aller Stille gesorgt.
Ohne Scarlet die Chance zu geben, das Kind, das sie so lange unter ihrem Herzen getragen hatte, zu sehen und in den Armen zu halten. Sie hatte sich nicht verabschieden können.
Wo es beerdigt worden war, das hatte ihr Vater ihr nie verraten. Vor acht Jahren nahmen er und ihre Mutter das Geheimnis mit ins Grab, und Scarlet fragte sich heute noch …
„Oh, da kommt eine Wehe.“ Holly stöhnte laut auf.
„Das Gleiche noch mal.“ Scarlet wünschte, sie könnte ihr mehr Mut machen.
„Sehr gut“, lobte der Arzt, als die Kontraktion nachließ und Holly sich in die Kissen zurückfallen ließ. „Ich denke, noch eine Presswehe, dann ist es geschafft.“
Erschöpft wandte Holly den Kopf und sah Scarlet flehentlich an. „Versprechen Sie mir, dass Sie gut auf mein Baby aufpassen. Versprechen Sie mir, dass es ihr gut gehen wird, ja?“
Die alte Wunde, die so viele Jahre gebraucht hatte, um zu heilen, riss wieder auf. Scarlet hörte wieder ihre eigenen verzweifelten Bitten an die Krankenschwestern. Ich will meinen Vater nicht hierhaben. Ich will mein Baby sehen. Bitte bringen Sie mir mein Baby.
„Sie müssen mir versprechen, dass Sie ein gutes Zuhause für sie finden.“
Warum nicht Hollys Zuhause? Moment mal … „Du weißt, dass es ein Mädchen ist?“ Das konnte sie nur bei einer Ultraschalluntersuchung erfahren haben. „Wer hat dir das gesagt?“ Eine Praxis oder ein anderes Krankenhaus musste Unterlagen haben und damit auch Hollys Nachnamen und ihre Adresse.
„Ich möchte, dass sie Joey heißt.“ Scarlets Frage beachtete sie gar nicht. „Ich möchte, dass sie glücklich aufwächst, in einer Familie, die sie liebt.“ Sie erstarrte. „Oh, Gott. Wieder eine. Ich bin noch nicht so weit.“
„Doch, Holly, das bist du. Na, komm. Gleich kannst du dein kleines Mädchen in den Armen halten.“
„Lassen Sie mich übernehmen.“ Dr. Jackson hielt ihr einen der hellblauen Einwegkittel hin. Er selbst hatte bereits einen an.
„Ich muss mich fertigmachen, damit ich mich um dein Baby kümmern kann, Holly.“
Aber Holly ließ ihre Hände nicht los. „Versprechen Sie mir, dass es ihr gut gehen wird.“ Tränen liefen ihr über die Wangen. „Bitte.“
Ein solches Versprechen konnte sie nicht geben. „Ich werde tun, was ich kann“, antwortete sie stattdessen und fügte mit einem entschuldigenden Lächeln hinzu: „Dazu brauche ich meine Hände.“ Da endlich gab Holly sie frei.
Scarlet trat vom Bett zurück, schlüpfte in den Kittel und drehte sich so, dass Dr. Jackson ihn hinten zubinden konnte. Während sie den Mundschutz aufsetzte und Handschuhe anzog, nahm Dr. Jackson ihren Platz bei der werdenden Mutter ein. Er sprach ruhig mit ihr, machte ihr Mut und lobte sie. Warum konnte er so nicht mit seiner Tochter umgehen?
„Nicht pressen!“, befahl sein Kollege.
„Was ist los?“, stieß Holly erschrocken hervor. „Ich muss aber pressen. Damit sie rauskommt.“
„Die Nabelschnur hat sich um den Hals des Babys gewunden“, erwiderte er. „Also nicht pressen, auf keinen Fall.“
Dr. Jackson hielt Hollys Hände und half ihr, die Wehe wegzuatmen. „Ausgezeichnet. Das machst du sehr gut.“
Minuten später erblickte die kleine Joey mit einem ungnädigen leisen Schrei das Licht der Welt. Die Nabelschnur wurde durchtrennt, und Scarlet hielt ein warmes Handtuch bereit, um das Neugeborene entgegenzunehmen. Nach einem ersten prüfenden Blick entschied sie, dass sie Joey ruhig ihrer Mutter zeigen konnte, bevor sie sie nach nebenan brachte.
„Möchtest du dein Baby sehen?“, fragte sie, während sie zu Holly ans Kopfende der Liege trat. Aus Erfahrung wusste sie, dass viele junge Mütter, die ihr Kind zur Adoption freigaben, es nicht sehen wollten.
„Meine Brust … Schmerzen.“ Holly schnappte nach Luft. „Kann nicht … atmen.“
„Was ist los?“ Scarlet schmiegte Joey an sich.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Dr. Jackson. „Aber Dr. Gibbons wird sich um sie kümmern. Wir müssen das Baby stabilisieren.“ Scarlet spürte seine große warme Hand auf ihrem Rücken. „Der Wärmetisch ist dort“, fügte er hinzu, während er sie zu einer Seitentür führte.
„Kein Puls“, vermeldete die Schwester, die an Hollys Bett stand. „Beginne mit der Herzdruckmassage.“ Sie legte die Hände aufeinander und drückte in rhythmischen Abständen auf den Brustkorb des Mädchens.
Scarlet blieb stehen, warf einen besorgten Blick zurück.
„Kommen Sie“, drängte Dr. Jackson und stieß die Tür auf. „Wir müssen uns auf das Baby konzentrieren.“
„Ich weiß.“ Trotzdem konnte sie nicht einfach den Schalter umlegen und die Sorge um eine junge Frau ausblenden, mit der sie sich wenige Minuten zuvor noch eng verbunden gefühlt hatte. Zum Glück hatte sie sich gefangen, als sie den Wärmetisch erreichten. Sie legte das viel zu stille Frühchen darauf und rieb es mit dem Handtuch ab. Nicht nur, um es zu säubern, sondern um auch seinen Kreislauf anzuregen. „Ich muss sie wiegen.“
„Die Waage war vorhin in Gebrauch. Warten Sie, ich hole sie.“
Als er den kleinen Raum verließ, horchte Scarlet die schmale Brust ab, um Herz- und Atemfrequenz festzustellen. Danach befestigte sie ein Pulsoximeter an der winzigen Hand, das ihr die Sauerstoffsättigung im Blut anzeigte.
Durchscheinend blass lag das Baby reglos auf dem Tisch.
Dr. Jackson kehrte mit der Waage zurück, bedeckte sie mit einem Papiertuch, und Scarlet legte den Säugling vorsichtig darauf.
„2050 Gramm.“ Sie notierte die Zahl auf dem Notizblock am Wärmetisch und nannte die übrigen Werte, die sie aufgeschrieben hatte. „Sauerstoffsättigung neunzig, Herzfrequenz fünfundneunzig. Erhöhte Atemanstrengung. Hautfarbe blass. Erste Apgarmessung bei fünf.“ Nicht normal für ein Neugeborenes.
„Geben wir ihr Sauerstoff und intravenös Kochsalzlösung.“
Während Dr. Jackson eine feine Sauerstoffbrille in Joeys Nase schob und die Schläuche mit Heftpflaster auf den Wangen befestigte, legte Scarlet einen Zugang in die linke Armvene. Das Kind zuckte nicht einmal. Dr. Jackson stellte die Sauerstoffzufuhr ein und prickte Joeys Ferse, um den Blutzuckergehalt festzustellen.
Jeder Handgriff saß, und sie arbeiteten zügig, ruhig und effizient, als wären sie seit Jahren ein Team.
„Blutzucker bei fünfundzwanzig“, sagte er und suchte in einer Schublade des Wärmetisches, bis er die Karte mit den empfohlenen Dosierungen je nach Gewicht des Frühchens fand. „Wir müssen Glucose zuführen.“ Er nannte die Dosis, und Scarlet zog eine Spritze auf und injizierte die genau bemessene Menge über den intravenösen Zugang.
„Komm schon, Joey“, sagte sie und rieb die Beine der Kleinen, um ihren Kreislauf anzuregen.
Die Tür flog auf, und Cindy rollte einen Inkubator herein. „Alles okay hier?“, fragte sie.
„Besser als erwartet.“ Zum Glück hatte Dr. Jackson seinen exzellenten Ruf als Mediziner mehr als bestätigt.
„Gut. In der NICU ist der Bär los. Mit der Verwaltung habe ich gesprochen. Baby Doe geht in Zimmer zweiundvierzig.“ Doe – stellvertretend für „unbekannt“, da Holly ihren Nachnamen nicht gesagt hatte.
„Ruf noch mal dort an und sag ihnen, dass es Joey Doe heißt. Holly hat ihr Kind Joey genannt.“
„Wird gemacht.“ Cindy ging zum Wärmetisch, um einen Blick auf ihren jüngsten Neuzugang zu werfen. „Schon traurig mit ihrer Mom.“
„Ist sie …?“ Scarlet konnte nicht weitersprechen.
Cindy blickte von ihr zu Dr. Jackson und nickte. „Tut mir leid, ich dachte, du wüsstest es.“
Scarlet wandte sich ab. Zum ersten Mal seit Jahren fürchtete sie, in Tränen auszubrechen. Weil Holly so jung sterben musste. Weil Joey ganz allein auf der Welt war. Und weil sie an ihr eigenes Kind dachte. Hatte es gelitten? Hatte jemand es im Arm gehalten, bevor es starb? Oder war ihre Tochter einfach weggebracht worden, während Scarlet von Medikamenten betäubt schlief?
„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte Dr. Jackson leise.
„Doch, doch, natürlich.“ Scarlet war keine Anfängerin und Holly nicht die erste Patientin, die sie verloren hatte. Aber sie hatte eine besondere Verbindung zu ihr gespürt … „Was glauben Sie, was passiert ist?“
„Vielleicht ein unerkannter angeborener Herzfehler oder eine Lungenembolie. Unter solchen Umständen war die Geburt eine zu hohe Belastung für den Körper. Dr. Gibbons ist ein kompetenter Kollege. Ich bin sicher, dass er alles Notwendige getan hat.“
„Leider war es nicht genug.“
Als wollte sie das bestätigen, gab die kleine Joey ein schwaches Wimmern von sich.
„Ihre Hautfarbe hat sich verbessert“, beobachtete Scarlet. „Und sie wirkt wacher als vorhin.“
Behutsam untersuchte Dr. Jackson das Baby. „Herzfrequenz bei einhundertundzwanzig. Ich würde ihr jetzt einen Apgarwert von sieben geben.“
Zehn wäre perfekt, aber es gab immerhin Fortschritte. Scarlet notierte den Wert.
„Damit ist sie stabil für den Transport in die NICU“, sagte Dr. Jackson und half ihr, Joey in den Inkubator zu legen.
„Wenn ich sie hingebracht habe, rufe ich mir ihre Unterlagen aus der Notaufnahme auf und ergänze sie.“
„Falls es Schwierigkeiten geben sollte, sagen Sie mir Bescheid.“ Er streckte ihr die Hand hin. „Danke für Ihre Hilfe.“
„Keine Ursache.“ Sie wollte ihm ihre Hand entziehen, doch er hielt sie fest.
„Wir müssen über Jessie reden“, sagte Dr. Jackson ernst.
Lächelte der Mann denn nie? Anscheinend nicht – nach allem, was Jessie ihr erzählt hatte.
Scarlet sah ihn an und konnte nicht umhin, einen Moment lang seine hochgewachsene, athletische Gestalt zu bewundern. Jessies Vater war ein gut aussehender Mann mit dichtem dunkelbraunem Haar, das an den Schläfen erste graue Strähnen zeigte. Er strahlte ein Selbstvertrauen aus, das sie bei einem anderen Mann durchaus attraktiv gefunden hätte.
„Nein“, erwiderte sie. „Sie müssen mit Ihrer Tochter reden. Und ich gebe Ihnen gern einen guten Rat, wie Sie die Kommunikation verbessern können.“ Scarlet entzog ihm ihre Hand. „Hören Sie auf, sie mit dem perfekten kleinen Jungen zu vergleichen, der Sie einmal waren. Nur weil Sie Schwimmen und Segeln und alles, was mit Wasser zu tun hatte, als Kind geliebt haben, muss sie nicht genauso gestrickt sein.“
Am späten Abend stand Lewis in seiner Designerküche und betrachtete gedankenverloren den modernen Edelstahlgriff des schwarzen Hochglanz-Küchenschranks, in dem er seine Weine lagerte, nur für den Fall, dass eine seiner Besucherinnen Lust auf ein Glas Wein hatte. Heute war er drauf und dran, sich eine Flasche aufzumachen.
Normalerweise trank er nicht allein, doch heute war wieder einer dieser Tage gewesen, an denen er sich abends gern einen Schluck genehmigen würde, um wenigstens für eine Weile zu entspannen. Seit Jessie in sein Leben getreten war, wusste er kaum noch, was Entspannung war!
Aber Lewis Jackson hatte noch nie seine Probleme in Alkohol ertränkt, und er würde jetzt nicht damit anfangen. Probleme verlangten nach einer Lösung, also konzentrierte er sich lieber darauf, als über dem Ärger zu brüten. Und dazu brauchte er einen klaren Kopf.
Seit seine Tochter das Gästezimmer der Loftwohnung bezogen hatte, hielt Lewis sich ungern im Wohnzimmer auf, nachdem sie schlafen gegangen war. Er ging die Treppe hinunter zu seinem Schlafzimmer. Die Klimaanlage sorgte für eine angenehme Raumtemperatur, und unter den Füßen spürte er die glatten Hartholzdielen. Die Einrichtung in seinem Luxusapartment vereinte Stil, Komfort und Funktionalität. Leider fand er schon längst nicht mehr die Erholung, die ihn hier nach einem anstrengenden Arbeitstag erwartet hatte.
Auf der Fahrt vom Krankenhaus nach Hause hatte Jessie kaum gesprochen, und wenn, dann nur einsilbig. Das setzte sich beim Abendessen mit Grillhähnchen und Caesarsalat, die sie unterwegs geholt hatten, fort. Lewis bestand darauf, dass sie zusammen aßen, aber die Stimmung war denkbar mies. Jessie starrte auf ihren Teller, schob die Bissen hin und her.
Lewis versuchte, mit ihr über den Ausflug zum Lake George zu reden, mehr über ihr Verhältnis mit Scarlet Miller zu erfahren und sich – zum gefühlt hundertsten Mal – einen Einblick in die Denkweise eines präpubertären weiblichen Gehirns zu verschaffen. Lewis wurde das Gefühl nicht los, in einem aberwitzigen Labyrinth umherzuirren, wenn er versuchte, die oft widersprüchlichen Gedankengänge und Verhaltensweisen seiner Tochter zu deuten. Und das, obwohl er als Kinderarzt mehrere Kurse in Kinderpsychologie erfolgreich abgeschlossen hatte.
Nach neun Monaten vergeblicher Versuche, Jessie zu verstehen und jede sich anbahnende Krise zu bewältigen, musste er zugeben, dass er es nicht allein schaffte. Bitter, aber wahr …
Wieder dachte Lewis an Scarlet Miller, eine hübsche, attraktive Frau, die ihm gegenüber nicht gerade freundlich gesinnt schien. Allerdings hatte er sich erkundigt und dabei erfahren, dass sie als Stationsschwester nicht nur bei Kollegen und Patienten beliebt war, sondern auch im höheren Management allseits geachtet und in höchsten Tönen gelobt wurde. Trotzdem interessierte ihn im Grunde nur eins: Welche Beziehung hatte sie zu seiner Tochter?
Er griff in die Hosentasche, holte die Visitenkarte heraus und sah auf seine Armbanduhr. Ein paar Minuten nach elf.
Zu spät, um bei ihr anzurufen. Aber er musste dringend mit ihr sprechen, brauchte Antworten und ihre Hilfe. Nachdem er stundenlang gegrübelt hatte, was er tun sollte, war er zu dem Schluss gekommen, dass er nur mit Scarlet Jessies abwehrendes, oft aggressives Verhalten und ihre Geheimnisse entschlüsseln konnte. Lewis wollte seine Tochter ja verstehen – und endlich etwas an ihr entdecken, das er lieben konnte.
Er schnappte sich das Telefon und wählte.
Am anderen Ende klingelte es ein paar Mal, dann meldete sich eine schläfrige Stimme. „Hallo?“
Na wunderbar, er hatte sie geweckt! Er räusperte sich. „Hi, hier ist Lewis.“
„Tut mir leid, Sie haben sich verwählt.“
„Warten Sie. Ist da Scarlet Miller?“
„Ja.“
„Ich bin’s. Lewis Jackson, Jessies Dad.“
„Geht es ihr gut?“ Sofort klang sie hellwach. „Ist etwas passiert?“
Es gefiel ihm, dass sie sich um seine Tochter sorgte. „Nein, sie liegt oben in ihrem Bett und schläft.“ Glaubte er jedenfalls. Sicherheitshalber ging Lewis zur Tür und steckte den Kopf in den Flur. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er nicht belauscht wurde, schloss er die Tür wieder und drehte sicherheitshalber den Schlüssel herum.
„Woher haben Sie diese Nummer?“, fragte Scarlet. „Von mir nicht, da bin ich sicher. Und ich bezweifle, dass Jessie sie Ihnen gegeben hat.“
„Ich habe zufällig die Karte gefunden, die Jessie von Ihnen hat.“ Böser, böser Vater, der im Rucksack und im Notizbuch seiner Tochter wühlt, während sie unter der Dusche ist … „Als ich alles Mögliche aus ihren Hosentaschen zutage gefördert habe, bevor ich die Hose in die Waschmaschine steckte“, schwindelte er. „Ich nahm es als ein Zeichen, Sie anzurufen.“
Schweigen.
„Hallo?“
Durch die Leitung kam ein inbrünstiges, sehr weibliches Stöhnen.
„Störe ich?“
„Nein.“ Jetzt ein wohliges Seufzen. „Normalerweise telefoniere ich nicht im Bett. Ich habe nur versucht, eine angenehme Stellung zu finden.“
Und einfach so, nur weil sie erwähnte, dass sie im Bett war, schaltete sein Gehirn aus dem Besorgter-Vater-Modus in den Neun-endlose-Monate-ohne-Sex-Modus. Lewis stellte sich ihren sanft gerundeten Körper vor. In angenehmer Stellung. Scarlet auf einem schimmernden Satinlaken. Nackt. Erwartungsvoll.
Sein Körper, zu lange schon zur Enthaltsamkeit verdammt, reagierte.
„Also, Sie haben angerufen“, sagte sie da. „Was kann ich für Sie tun?“
Das hätte sie nicht sagen sollen. Lewis lauschte ihrer Stimme nach, stellte sich vor, wie ihre Unterhaltung eine völlig andere Richtung einschlug. Er wünschte sich plötzlich, dass sie sich berührte, ihre Brüste, zwischen den Beinen, und ihm genau schilderte, was sie machte. Wie ihre Brustwarzen hart wurden und … Verdammt, jetzt konnte er nicht einmal mehr abends mit einer Frau telefonieren, ohne gleich an Telefonsex zu denken. Nur weil er in seinem und sie in ihrem Schlafzimmer war.
„Hallo? Alles okay bei Ihnen?“
Voller Verachtung für sich selbst atmete er hörbar aus. „Da genügt ein schlechter Tag, gefolgt von einem schlechten Abend, verbunden mit einem nichtexistenten Liebesleben, seit meine Tochter bei mir eingezogen ist – und meine Fantasie beschwört absolut unangebrachte Bilder von Ihnen herauf. Einer Frau, die ich keine vierundzwanzig Stunden kenne, nur weil sie erwähnt hat, dass sie es sich im Bett bequem macht. Zu meiner Verteidigung muss ich allerdings anführen, dass Sie gerade ein paar sehr sexy Laute von sich gegeben haben. Also sind Sie zum Teil auch verantwortlich für das, was sich in meinem Kopf abspielt. Doch ich versichere Ihnen, dass meine Absichten harmloser Natur waren, als ich vorhin Ihre Nummer wählte.“
„Und jetzt?“, neckte sie.
„Lassen Sie es mich so ausdrücken: Wenn wir uns das nächste Mal sehen, dürfen Sie mir eine runterhauen, weil ich es verdient habe.“
Ein sexy Lachen hatte sie auch noch …
Unbehaglich rutschte Lewis in seinem Sessel tiefer. Seine Hose spannte. Nicht gut. Scarlet Miller war nicht die Richtige, um seine Lust zu befriedigen. Er brauchte sie, um sein Verhältnis zu Jessie zu verbessern. Und das stand an allererster Stelle. „Ich bitte in aller Form um Entschuldigung.“
„Gewährt, aber Sie müssen sich nicht entschuldigen“, sagte sie. „Nur fürs Protokoll: Sie klingen am Telefon auch ziemlich sexy.“
„Sagen Sie nicht so was.“
„Wollen Sie wissen, was ich anhabe?“ Ein unterdrücktes Lachen schwang in ihrer melodischen Stimme mit.
„Auf gar keinen Fall“, log er.
„Ich könnte …“
„Aufhören.“
„Okay. Aber Sie haben angefangen.“
„Deshalb beende ich es auch.“ Einer musste es ja tun. „Ich wollte mit Ihnen über Jessie reden, Ihnen vielleicht ein paar hilfreiche Hinweise entlocken, wie ich die Kommunikation zwischen uns verbessern kann. Auf direktem Weg scheint es nicht zu funktionieren.“
„Schade. So nahe war ich noch nie an Telefonsex dran.“ Bildete er sich etwas ein, oder klang sie enttäuscht? Aber da fuhr sie auch schon fort: „Ihnen ist klar, dass Sie mich in eine schwierige Lage bringen? Ich darf Ihnen nicht sagen, was Jessie mir anvertraut hat. Sie braucht wirklich eine Freundin, mit der sie reden kann, und das bin im Moment zufällig ich. Es hat eine Weile gedauert, bis sie sich mir gegenüber geöffnet hat.“
Lewis hätte gern gewusst, wie sie das geschafft hatte. „Verraten Sie mir wenigstens, wie Sie sie kennengelernt haben?“
Sie schwieg so lange, dass er schon fürchtete, sie würde nicht antworten.
„Okay“, sagte sie schließlich. Stoff raschelte, und wieder stieg vor seinem inneren Auge ein Bild von Scarlet Miller auf, wie sie sich im Bett räkelte. Lewis konzentrierte sich auf ihre Worte. „Dienstags und donnerstags arbeite ich länger, um Zeit für meine Schwestern in der Spätschicht zu haben. Um drei Uhr nachmittags mache ich für gewöhnlich Pause.“
„Genau zu der Zeit kommt Jessie aus der Schule, und ich schicke sie in die Kantine, damit sie etwas isst.“
„Wo dann nicht viel los ist. Jessie fiel mir auf, weil sie immer allein dasaß. Mit einer Miene, als wollte sie sagen: Lasst mich bloß in Ruhe.“
Lewis hasste diesen Gesichtsausdruck.
„Ich fühlte mich daran erinnert, wie ich mit dreizehn war. Wütend auf die ganze Welt. Zu viel allein, unbeaufsichtigt. Haben Sie keine Angst, dass ihr etwas passieren könnte, wenn sie stundenlang durch ein Großstadtkrankenhaus streift, bis Sie von der Arbeit kommen?“
Der Vorwurf ärgerte ihn. „Ich habe sie nicht dazu gezwungen. Ich habe ihr gesagt, dass sie mit mir ins Angel’s kommt, wenn sie noch eine Tagesmutter vergrault. Und ich habe ihr nicht erlaubt, im Krankenhaus herumzulaufen!“, fügte er gereizt hinzu.
Beruhige dich, dachte er, als ihm bewusst wurde, dass er sich wie ein in die Enge getriebener Bär aufführte.
„Eigentlich soll sie sich in meinem Büro aufhalten und Schularbeiten machen“, fuhr er fort. Leider schaffte es dieser kleine Houdini immer wieder zu verschwinden, ohne dass es jemand mitbekam, und erst wieder aufzutauchen, wenn es Zeit war, nach Hause zu fahren. „Was soll ich machen? Sie in meiner Wohnung lassen, bis ich wiederkomme? Das wäre ihr am liebsten. Vielleicht kann man das manchen Dreizehnjährigen zutrauen, aber Jessie meiner Meinung nach nicht.“
„Da haben Sie recht“, antwortete sie zu seinem Erstaunen. „Aber das Thema erübrigt sich, weil sie jetzt ihre Nachmittage bei mir in der NICU verbringt.“
„Wo denn?“ Und warum?
„Auf unserer Station gibt es einen Familienbereich, der vor allem für die Geschwister unserer Frühchen gedacht ist. Dort werden sie betreut, während ihre Eltern bei dem kranken Kind sind. Wir haben Videospiele, Spielzeug und PCs, an denen sie ihre Hausaufgaben erledigen können, auch einen Fernseher und viele Kinderbücher vom Bilderbuch bis zum Jugendroman. Jessie kommt jeden Nachmittag dorthin, um zu lesen.“
Jessie las gern? Hatten sie tatsächlich etwas gemeinsam? In den vergangenen neun Monaten hatte er sie nie mit einem Buch in der Hand gesehen.
„Tut mir leid, ich dachte, Sie hat es Ihnen erzählt.“
„Sie redet kaum mit mir, von vielen Neins und einem gelegentlichen Ja einmal abgesehen. Stattdessen ernte ich oft ein Schulterzucken oder entnervtes Stöhnen. Meistens verdreht sie nur die Augen, wenn ich etwas sage. Und falls sie mich doch einmal mit einem vollständigen Satz überrascht, dann sagt sie in der Regel, wie sehr sie mich hasst oder dass sie sich wünscht, ich wäre statt ihrer Mutter gestorben.“ In solchen Momenten wünschte er sich dann, sie wäre stumm geblieben.
„Sie steckt voller Wut.“
„Ja, ich weiß, aber sie ist seit neun Monaten bei mir. Sollte sich das nicht langsam geben?“
„Zeit ist anscheinend nicht das Einzige, was sie braucht.“
„Sagen Sie mir, was dann. Ich würde alles tun, um es ihr zu geben.“
Stille am anderen Ende der Leitung.
„Bitte.“ Lewis war drauf und dran, zu betteln.
Sie schwieg noch einen Moment, bevor sie sagte: „Wenn Sie morgen gegen vier Uhr nachmittags in den Familienraum kommen können, werden Sie eine andere Seite an Jessie entdecken. Eine, die Sie sehr stolz machen wird.“
Die Gelegenheit würde er sich nicht entgehen lassen. „Gut, ich werde da sein.“
„Sie darf nicht wissen, dass Sie das von mir haben. Sagen Sie, Sie wollten nach der kleinen Joey sehen, und meine Mitarbeiterinnen hätten Ihnen gesagt, wo Sie mich finden.“
„Okay.“
„Ich gebe Ihnen die Gelegenheit, auf Ihre Tochter zuzugehen, Lewis. Vermasseln Sie es nicht.“
3. KAPITEL
Um halb vier am Mittwochnachmittag, in sterilem Kittel, mit Handschuhen und Mundschutz, öffnete Scarlet Joeys Inkubator. Da sich das Baby bisher geweigert hatte, zu trinken, hatte Dr. Donaldson eine Magensonde gelegt.
„Hallo, meine Süße“, begrüßte sie den Winzling leise, um ihn nicht zu erschrecken. Joey blinzelte und streckte sich, als sie Scarlets Stimme hörte.
Sehr gut.
Scarlet drückte ihren Zeigefinger sanft in die kleine Handfläche, und sofort schlossen sich die zarten Fingerchen darum. „Ich habe deiner Mommy versprochen, gut auf dich aufzupassen.“ Und sie war entschlossen, dieses Versprechen zu halten. „Und deshalb musst du lernen, aus der Flasche zu trinken, damit du groß und stark wirst.“
Sie wickelte sie in eine weiche Decke und trug das Kind zu einem Schaukelstuhl keine zwei Schritte vom Inkubator entfernt, sorgsam darauf bedacht, nicht an den vielen Schläuchen und Leitungen zu ziehen, über die Joey mit den Geräten verbunden war.
Als sie saß, fing sie langsam an zu schaukeln. Joey seufzte leise und schmiegte sich an sie. „Mach’s dir nicht zu bequem“, sagte Scarlet zärtlich und griff nach der kleinen Flasche, die sie vorbereitet hatte. „Auf uns wartet noch Arbeit.“
Da sie die Station leitete, hatte sie mehr mit Managementaufgaben zu tun und weniger mit der direkten Pflege ihrer Schützlinge. Deshalb genoss sie Momente wie diese besonders.
„Mündchen auf“, lockte sie, während sie mit dem Spezialsauger über Joeys Unterlippe strich und ein Tröpfchen Babynahrung herausdrückte.
Die Sozialarbeiterin der NICU hatte bisher nichts über Holly in Erfahrung bringen können. Bei der Polizei wurden Vermisstenmeldungen durchgegangen, und man hatte ein Foto von Holly, das nach ihrem Tod aufgenommen worden war, an alle Frauenarztpraxen, Pränatal-Kliniken und Schulen im Umkreis von dreißig Meilen gefaxt.
Scarlet fragte sich immer wieder, warum Holly nicht gewollt hatte, dass ihre Familie von dem Baby erfuhr. War es nur die Angst vor der Schande oder Schlimmeres? Wenn nun Hollys Elternhaus kein sicherer Ort für ein Baby war? Wenn ihre Eltern unfähig waren, ein Kind großzuziehen – so wie Scarlets Eltern? Drohender Missbrauch könnte auch ein Grund sein.
Und wenn Hollys Identität nie geklärt, ihre Familie nie ausfindig gemacht werden konnte? Joey käme zwangsläufig in ein Pflegeheim, vielleicht zu wechselnden Pflegefamilien. Ein hilfloses, verletzliches Wesen mit einer ungewissen Zukunft.
Versprechen Sie mir, dass es ihr gut gehen wird. Versprechen Sie mir, dass Sie ein gutes Zuhause für sie finden. Die flehentlichen Bitten einer sterbenden Mutter, und Scarlet hatte nicht den geringsten Einfluss auf Joeys Zukunft.
Es sei denn, sie adoptierte sie.
Ein abwegiger Gedanke. Bei ihrem Arbeitspensum hatte sie nicht einmal genug Zeit für ein Haustier. So selten wie sie zu Hause war, wie konnte sie sich da richtig um ein Kind kümmern? Trotzdem hatte sie sich in den letzten Monaten öfter damit beschäftigt. Ihre biologische Uhr tickte, und das Ticken wurde immer lauter.
Joey schlief ein, und Scarlet genoss ein paar Minuten die friedliche Stille in diesem dämmrigen Zimmer, mit dem Baby in ihren Armen.
Grandma Sadie, eine der freiwilligen Kuschelomis, betrat Joeys Raum und flüsterte: „Linda schickt mich, damit ich Sie ablöse.“
Grandma Sadie war eine der ersten Freiwilligen gewesen, als Scarlet das Projekt vor vier Jahren ins Leben gerufen hatte. Zahlreiche Untersuchungen belegten, dass Frühchen auf menschliche Berührung und Ansprache mit deutlichen Fortschritten reagierten. Manchmal brauchten erschöpfte Eltern eine Pause, manchmal hatten Babys, so wie Joey, keine Angehörigen. Dann sorgten die Kuschelomis für Streicheleinheiten und Geborgenheit.
Sie sah auf ihre Uhr. „Perfektes Timing“, sagte sie lächelnd. Sie musste im Familienraum sein, bevor Lewis dort auftauchte.
Scarlet räumte Spielzeug ein und stellte Bücher ins Regal. Danach unterhielt sie sich mit den Müttern, die an einem Tisch in der Ecke des Aufenthaltsraums saßen und Kaffee tranken.
Fünf kleine Mädchen im Alter zwischen zwei und fünf saßen im Kreis auf dem Fußboden. Der Reihe nach durfte immer eine auf Jessies Schoß sitzen, während sie ihre Lieblingsgeschichte vorgelesen bekam.
Als Lewis das Zimmer betrat, bedeutete Scarlet ihm, leise zu ihr zu kommen.
In ihre Aufgabe vertieft merkte Jessie nicht, dass ihr Vater da war. Sie untermalte den letzten Satz mit einem trötenden Laut, und die Kinder kicherten ausgelassen.
Lewis beobachtete seine Tochter ungläubig und bewundernd zugleich.
„Jessie hält jeden Nachmittag um vier ihre Lesestunde ab“, flüsterte Scarlet ihm zu. „Die Kinder lieben sie, weil sie ihnen besondere Aufmerksamkeit schenkt, und die Mütter sind dankbar für die geschenkte Zeit, in der sie sich mit anderen austauschen können.“
Jessie hatte das Buch zu Ende vorgelesen und lächelte, als das Mädchen sich mit einem Kuss auf die Wange bei ihr bedankte. Dann kletterte die Nächste auf ihren Schoß, gab ihr das Buch, das sie sich ausgesucht hatte, und Jessie fing an zu lesen.
„Ich glaube es nicht“, sagte Lewis leise, ohne Jessie aus den Augen zu lassen. „Sie lächelt.“
„Sie hat ein bezauberndes Lächeln.“
Lewis sah Scarlet an. „Und ich sehe es zum allerersten Mal.“
„Dad.“ Jessie kam zu ihnen. „Was machst du hier?“
„Entschuldige, ich wollte nicht stören. Ich wollte mich nur nach dem Baby erkundigen, das gestern bei uns in der Notaufnahme geboren wurde, und die Stationssekretärin, meinte, ich würde Scarlet hier finden.“
Braver Mann, sehr überzeugend.
Mit angriffslustiger Miene stand Jessie vor ihm. „Wenn du mich anschreien willst, gehen wir lieber raus. Ich möchte nicht, dass die Mädchen sich erschrecken.“
Alle fünf beobachteten sie mit großen Augen und warteten anscheinend darauf, dass Jessie wieder zu ihnen kam.
Lewis versteifte sich. „Wie kommst du darauf, dass ich dich anschreien will?“
„Weil du das immer machst.“
„Das Wort ‚immer‘ solltest du vorsichtig benutzen“, mischte sich Scarlet ein und legte Lewis beschwichtigend die Hand auf den Arm, weil sie spürte, dass es zwischen den beiden gleich einen handfesten Krach geben würde. „Es ist ziemlich selten, dass jemand etwas immer tut.“
„Du kennst meinen Vater nicht.“ Jessie verdrehte die Augen, und Scarlet musste sich ein Lächeln verkneifen.
„Wenn ich etwas gesagt hätte, dann, wie schön es ist, dich zur Abwechslung einmal lächeln zu sehen“, sagte Lewis. „Und wie stolz ich darauf bin, dass du dich hier um die Kinder kümmerst.“
Jessie machte ein Gesicht, als wäre ihm plötzlich ein zweiter Kopf gewachsen.
Eine der Mütter gesellte sich zu ihnen. „Ist das dein Dad?“, fragte sie Jessie.
Diese nickte zögerlich, so als wäre es ihr unangenehm.
Die junge Frau legte ihr den Arm um die Schultern. „Ihre Tochter ist ein Schatz …“ Sie warf einen Blick auf Lewis’ Namensschild und fügte hinzu: „… Dr. Jackson. Sie können stolz auf sich sein.“
„Danke“, antwortete Lewis und wandte sich zu Jessie um. „Ich wünschte, ich hätte diese Lorbeeren verdient, aber sie gebühren allein ihrer Mutter.“
Jessie rannte aus dem Zimmer.
An den Fahrstühlen holten Scarlet und Lewis sie ein.
„Warum bist du so nett?“, fuhr Jessie ihn anklagend an. „Du hast meine Mom gehasst, und mich hasst du auch!“
Zwei Krankenschwestern, die gerade ihren Fahrstuhl verließen, wurden unfreiwillig Zeugen ihres Gefühlsausbruchs und gingen rasch weiter.
„Honey, ich habe deine Mutter nicht gehasst. Und dich hasse ich auch nicht.“ Scarlet war beeindruckt, dass er so ruhig blieb. „Als ich dich gestern von der Wache abholen musste, war ich wütend und enttäuscht. Das entschuldigt aber nicht, was ich im Taxi zu dir gesagt habe, und es tut mir aufrichtig leid.“
Die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick zu Boden gerichtet, stand Jessie da.
„Da ich jetzt weiß, wo du deine Nachmittage verbringst, kann ich endlich aufhören, mir Sorgen zu machen.“
„Entschuldige, dass ich dir nichts davon erzählt habe“, sagte Jessie leise, sah aber immer noch nicht auf.
Es war ein Anfang. Immerhin. Jedoch rückte der Wochenendausflug zum Lake George unaufhaltsam näher, ein Damoklesschwert, das sich mit jedem Tag tiefer senkte. Lewis und Jessie mussten dringend miteinander reden, doch Scarlet bezweifelte, dass der heutige Nachmittag genügte, um den Stein ins Rollen zu bringen.
Was konnte sie tun, ohne dass Jessie sich von ihr verraten fühlte?
Scarlet schlief erst weit nach Mitternacht ein. Lange hatte sie darüber nachgedacht, wie sie Lewis und seiner Tochter helfen könnte, und endlich war ihr eine Idee gekommen.
Deshalb saß sie jetzt in einer abgeschiedenen Ecke der fast leeren Krankenhauskantine, Stunden vor ihrer Mittagspause, und wartete auf Lewis.
Und da kam er auch schon. Als er direkt zu den Kaffeeautomaten ging, nutzte sie die Gelegenheit, um ihn zu betrachten. Sein dunkles Haar, die attraktiven Züge, breite Schultern und lange Beine. Der Mann sah in grüner Krankenhauskleidung genauso umwerfend aus wie in einem Maßanzug.
Kein Wunder, dass bei ihren alleinstehenden Kolleginnen immer wieder sehnsüchtig sein Name genannt wurde, wenn über die Männer am Angel’s gesprochen wurde.
Sie ließ den Bl