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Julia Ärzte zum Verlieben Band 33
Erscheinungstag: | Fr, 27.08.2010 |
Bandnummer: | 0033 |
Seitenanzahl: | 128 |
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Top-titel
Die gute Tochter
"Lauf!", fleht ihre große Schwester Samantha. Mit vorgehaltener Waffe treiben zwei maskierte Männer Charlotte und sie an den Waldrand. "Lauf weg!" Und Charlie läuft. An diesem Tag. Und danach ihr ganzes Leben. Sie ist getrieben von den Erinnerungen an jene grauenvolle Attacke in ihrer Kindheit. Die blutigen Knochen ihrer erschossenen Mutter. Die Todesangst ihrer Schwester. Das Keuchen ihres Verfolgers.
Als Töchter eines berüchtigten Anwalts waren sie stets die Verstoßenen, die Gehetzten. 28 Jahre später ist Charlie selbst erfolgreiche Anwältin. Als sie Zeugin einer weiteren brutalen Bluttat wird, holt ihre Geschichte sie ganz ungeahnt ein.
"Die gute Tochter" ist ein Meisterwerk psychologischer Spannung. Nie ist es Karin Slaughter besser gelungen, ihren Figuren bis tief in die Seele zu schauen und jede Einzelne mit Schuld und Leid gleichermaßen zu belegen.
"Die dunkle Vergangenheit ist stets gegenwärtig in diesem äußerst schaurigen Thriller. Mit Feingefühl und Geschick fesselt Karin Slaughter ihre Leser von der ersten bis zur letzten Seite."
Camilla Läckberg
"Eine großartige Autorin auf dem Zenit ihres Schaffens. Karin Slaughter zeigt auf nervenzerfetzende, atemberaubende und fesselnde Weise, was sie kann."
Peter James
"Karin Slaughter ist die gefeiertste Autorin von Spannungsunterhaltung. Aber Die gute Tochter ist ihr ambitioniertester, ihr emotionalster - ihr bester Roman. Zumindest bis heute."
James Patterson
"Es ist einfach das beste Buch, das man dieses Jahr lesen kann. Ehrlich, kraftvoll und wahnsinnig packend - und trotzdem mit einer Sanftheit und Empathie verfasst, die einem das Herz bricht."
Kathryn Stockett
„Die Brutalität wird durch ihre plastische Darstellung körperlich spürbar, das Leiden überträgt sich auf den Leser.“
(Hamburger Abendblatt)
„Aber es sind nicht nur die sichtbaren Vorgänge und Handlungen von guten oder schlechten Individuen, die die (…) Autorin penibel genau beschreibt. Es sind vor allem die inneren, die seelischen Abläufe, die überzeugen.“
(SHZ)
„Das alles schildert Slaughter mit unglaublicher Wucht und einem Einfühlungsvermögen, das jedem Psychotherapeuten zu wünschen wäre.“
(SVZ)
„Die aktuelle Geschichte um die Quinns ist eine Südstaaten-Saga der besonderen Art, von der ihr nicht weniger erfolgreiche Kollege James Patterson sagt, sie sei ‚ihr ambitioniertester, ihr emotionalster, ihr bester Roman. Zumindest bis heute‘.“
(Focus Online)
„Die Autorin hat hier ein ausgezeichnetes Buch vorgelegt, dass mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt hat.“
(Krimi-Couch.de)
„Es gibt Bücher, bei denen man das Atmen vergisst. Die Romane der amerikanischen Schriftstellerin gehören dazu. So auch dieser Pageturner. (…) Karin Slaughter versteht es meisterhaft, glaubwürdige Charaktere zu erschaffen und ihre Leser fortwährend zu überraschen.“
(Lebensart)
„Atmosphärisch dichter Thriller über die sozialen Gespinste einer Kleinstadt, psychologisch sehr stimmig, mit vielen Schichten und Überraschungen.“
(Bayrischer Rundfunk)
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1. KAPITEL
Knarrend öffnete sich die Kirchentür von St. Mark’s. Eve Dwyer lächelte vor sich hin. Da kam einer auf den letzten Drücker. In ein paar Minuten würde die Trauung beginnen.
Neugierig, wer der Nachzügler wohl sein mochte, blickte sie über die Schulter, und ihr gefror das Lächeln auf den Lippen.
Er war es. Sein volles schwarzes Haar hatte zwar ein paar graue Strähnen, und die Stirnfalten waren vor zwanzig Jahren auch nicht gewesen. Doch Eve hätte den Mann, der mit langen Schritten zu einem der freien Plätze vorn strebte, überall erkannt.
Tom Cornish war wieder in Penhally Bay. Und hätte Eve nicht inmitten der dicht gedrängten Hochzeitsgäste gesessen, sie hätte Hals über Kopf die Flucht ergriffen.
„Gütiger Himmel!“, flüsterte Kate Althorp, die links von ihr saß. „Ist er das wirklich?“
Andere murmelten Ähnliches, wie Eve feststellte. Köpfe drehten sich in Toms Richtung, die Leute stießen ihre Nachbarn an, um sie auf den verspäteten Gast aufmerksam zu machen. Nicht die Jüngeren, aber alle über fünfundvierzig erinnerten sich anscheinend noch sehr gut an ihn. Deutete man die kritischen Mienen richtig, so schienen die wenigsten begeistert zu sein.
„Wer denn?“, fragte Lauren Nightingale zu ihrer Rechten, aber Kate kam nicht mehr dazu, ihr zu antworten.
Mit Inbrunst griff der Organist in die Tasten, und die Klänge des Hochzeitsmarschs erfüllten die Kirche. Die Braut hielt Einzug. Eine Braut, die Tom nicht kennen konnte. Eve zerknüllte fast die feine Leinenkarte, in die mit goldener Schrift der Ablauf der Zeremonie geprägt war. Alison Myers und der Bräutigam Jack Roberts mussten noch Kinder gewesen sein, als Tom zuletzt in Penhally Bay war. Warum war er dann gekommen? Er hatte doch geschworen, sich nie wieder hier blicken zu lassen …
„Sieht Alison nicht reizend aus?“ Lauren seufzte verzückt, als die Braut in einem langen cremeweißen Satinkleid den Mittelgang entlangschritt.
Eve konnte sich nicht recht daran erfreuen. Ihr war plötzlich kalt, und der Duft der romantischen Blumengestecke verursachte ihr Kopfschmerzen. Hatte sie sich auf der eng besetzten Kirchenbank gerade noch in der Menge geborgen gefühlt, so bekam sie auf einmal kaum Luft.
„Eve, geht es dir nicht gut?“ Kate musterte sie besorgt.
Mit Mühe brachte Eve ein Lächeln zustande. „Doch, doch“, murmelte sie. „Es ist nur ein bisschen voll hier.“
Die Hebamme lachte leise. „Wir lieben Hochzeiten. Taufen auch, aber bei einer Trauung strömt ganz Penhally Bay in die Kirche.“
Selbst Dr. Tom Cornish. Eve versteifte sich, als sie sah, wie er sich halb umdrehte und über die Schulter blickte. Tom, der gesagt hatte, die Ehe sei ein Gefängnis. Tom, der frei sein, reisen wollte. Tom, der verdammt sein wollte, wenn er in dem Fischerstädtchen, wo er geboren war, für den Rest seines Lebens versauern würde. Das waren seine Worte gewesen.
„Oh, sind die beiden süß!“, flüsterte Lauren mit leuchtenden Augen.
Eve folgte ihrem Blick. Stolz präsentierten Alisons Sohn, der dreijährige Sam, und Jacks gleichaltriger Junge Freddie die rosenroten Samtkissen mit den Eheringen.
„Ja“, war das Einzige, was Eve hervorbrachte, während die Anwesenden um sie herum gerührt seufzten.
Was wollte Tom hier? Vor wenigen Jahren hatte sie in einem Ärztejournal gelesen, dass er an die Spitze von Deltaron gerückt war, um die Rettungseinsätze der weltweit operierenden Organisation zu koordinieren. Also müsste er jetzt irgendwo im Ausland sein, Katastrophenopfern helfen – und nicht in der kleinen Kirche von Penhally Bay im nördlichen Cornwall.
Die alten Wunden brachen wieder auf, und Eve wurde die Brust eng, als Schmerz sich mit wachsendem Zorn mischte.
„Eve, ist wirklich alles in Ordnung?“ Mitfühlend legte Kate ihr die Hand auf den Arm. „Du bist ganz blass.“
„Ich habe nur Kopfweh, das ist alles“, schwindelte sie. „Die Blumen, das Parfüm … starke Düfte vertrage ich nicht so gut.“
Kate warf ihr noch einen prüfenden Blick zu, schien die Ausrede aber geschluckt zu haben.
Reiß dich zusammen, ermahnte Eve sich im Stillen. Trotzdem ertappte sie sich immer wieder dabei, dass ihre Blicke von dem jungen Paar abschweiften. Hin zu Tom. Du meine Güte, du bist zweiundvierzig Jahre alt und kein junges Mädchen mehr! Wahrscheinlich erinnert er sich nicht einmal an dich.
Doch es half nichts. Sie konnte sich noch so sehr ins Gewissen reden, irgendwann wollte sie nur eins: verschwinden.
„Eve, du siehst furchtbar aus“, flüsterte Kate, während sich alle zusammen erhoben, als eine glücklich strahlende Alison an Jacks Arm auf den Ausgang zuschritt. „Warte, ich habe Paracetamol in meiner Handtasche …“
„Danke“, wehrte Eve matt ab. „Ich muss nur an die frische Luft.“
Und so schnell wie möglich weg von hier, bevor Tom mich sieht, fügte sie im Stillen hinzu. Sie schob sich mit den anderen durch die breite Doppeltür und flüchtete hinaus in den Sonnenschein. Eve war nicht groß, nur knapp einsfünfundsechzig, und wenn sie es geschickt anstellte, konnte sie in der Menge untertauchen. Danach brauchte sie nur die Harbour Road hinunter nach Hause zu eilen.
Am Montag würde sie dann in der Praxis erzählen, dass sie einen Migräneanfall bekommen hätte. Dafür würden alle Verständnis haben, ganz bestimmt. Also, dachte sie, einfach weitergehen, immer weiter, nicht umdrehen, und …
„Eve Dwyer? Bist du es wirklich?“
Seine Stimme hat sich nicht verändert. Sie klang noch genauso tief und weich wie früher, mit diesem leicht rauen kornischen Tonfall. Eve wollte erst so tun, als hätte sie ihn nicht gehört, aber sie schaffte es nicht.
„Eve Dwyer“, wiederholte Tom und schüttelte ungläubig den Kopf, als sie sich langsam zu ihm umdrehte. „Ich bin keine halbe Stunde in Penhally Bay und laufe dir über den Weg! Ich bin’s, Tom Cornish“, fügte er zögernd hinzu. „Sag bloß, du hast mich vergessen.“
Wie könnte ich? „Natürlich erinnere ich mich an dich, Tom. Du … du siehst gut aus.“
Und wirklich. Von Nahem betrachtet war er kräftiger als damals mit vierundzwanzig, aber es stand ihm ausgezeichnet. Auch die silbergrauen Strähnen in seinem dunklen Haar und die feinen Stirnfalten verliehen seinem Gesicht einen männlich markanten Ausdruck, den er früher noch nicht gehabt hatte. Doch am meisten faszinierten sie seine Augen.
Jahrelang hatten diese tiefgründigen grünen Augen sie bis in ihre Träume verfolgt, hatten sie geneckt, sie angelacht. Bis Eve glaubte, sie seien nur ein Produkt ihrer lebhaften Fantasie, entstanden im Lauf der Zeit – unwirklich.
Doch jetzt musste sie feststellen, dass sie genauso intensiv leuchteten wie in ihrer Erinnerung und Eve noch immer magisch in ihren Bann zogen. Sie schluckte unwillkürlich.
„Also …“
„Also …“
Sie hatten gleichzeitig angefangen, verstummten aber sofort wieder, und Eve spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg.
„Ich wusste nicht, dass du Alison und Jack kennst“, brach sie schließlich das Schweigen.
„Wen?“
„Das Paar, dessen Trauung du gerade miterlebt hast.“ Eve trat zwei Schritte zurück, um den Leuten Platz zu machen, die aus der Kirche strömten.
„Bin ihnen noch nie in meinem Leben begegnet.“
„Warum kommst du dann zu ihrer Hochzeit?“, fragte sie verwirrt.
„Als ich kurz vor zwölf in Penhally Bay ankam, war die Stadt wie ausgestorben. Ich fragte an der Tankstelle nach, und man sagte mir, dass wahrscheinlich alle in der Kirche wären.“
Eve war genauso schlau wie vorher … weshalb war er hier? „Tom …“
„Tom Cornish!“ Mit einem herzlichen Lächeln eilte Kate auf sie zu. „Was um alles in der Welt bringt dich nach Penhally Bay? Ich dachte, du wärst noch in den Staaten.“
Tom sah sie prüfend an und grinste plötzlich. „Kate Templar, richtig?“
„Inzwischen Kate Althorp, Tom.“ Sie lachte. „Seit einer halben Ewigkeit.“
Auch Kates Frage hat er nicht beantwortet, dachte Eve.
„Kommst du mit zum Hochzeitsempfang?“ Kate winkte Reverend Kenner kurz zu. „Es gibt ein Büfett im Smugglers’ Inn, zu essen ist also genug da. Ich bin sicher, Alison und Jack möchten dich gern kennenlernen.“
„Tom hat sicher Besseres zu tun, als zu einem Empfang zu gehen, wo es von Ärzten und Krankenschwestern nur so wimmelt. Irgendwann werden sie nur noch über die Arbeit reden“, mischte Eve sich ein.
Toms Brauen gingen in die Höhe. „Da kann ich mithalten. Ich bin Arzt, schon vergessen?“
„Ja, aber …“
„Hast du Angst, dass ich mich betrinke, die Möbel zu Kleinholz schlage und deine Freunde beleidige?“, meinte er spöttisch.
Eve lief dunkelrot an. „Natürlich nicht, ich dachte nur …“ Sie stutzte, als eine kleine Hand sich in ihre schob. „Tassie, mein Schatz, wo kommst du denn her?“, beugte sie sich zu dem kleinen Mädchen mit den langen blonden Haaren herab.
„Ich war hier draußen“, antwortete die Zehnjährige. „Von Anfang an. Ich hab auf der Mauer gesessen und der Musik zugehört.“
„Oh Tassie, Liebes, warum bist du nicht in die Kirche gegangen?“, rief Eve aus. Das dünne fadenscheinige T-Shirt und die abgetragene Baumwollhose waren sicher nicht warm genug, um sich an diesem kühlen Oktobertag lange im Freien aufzuhalten. „Hier weht ein frischer Wind!“
„Mir war nicht kalt“, erwiderte Tassie. „Und ich bin doch für eine Hochzeit nicht richtig angezogen. Ihr Brautkleid ist wunderschön, nicht?“, fügte sie andächtig hinzu, während sie zu Alison und Jack hinüberblickte, die am Tor zum Kirchhof für den Fotografen posierten.
„Ja, sehr schick“, pflichtete Eve ihr abwesend bei. Der sehnsüchtige Ausdruck in den großen braunen Augen des Kindes ging ihr zu Herzen. „Tassie, weiß deine Mutter, dass du hier bist?“
„Sie hat gesagt, ich soll nicht zu Hause rumhängen. Sie macht sich bestimmt keine Sorgen.“
Nein, Amanda Lovelace wohl nicht, dachte Eve resigniert. „Tassie …“
„Kann ich nicht mit zum Empfang?“, unterbrach die Kleine sie. „Mrs. Althorp hat doch gesagt, es gibt genug zu essen. Ich bin auch ganz still, versprochen.“
Eve wurde das Herz schwer. Normalerweise konnte sie Tassie keinen Wunsch abschlagen. Das Kind wuchs in Verhältnissen auf, wo schöne Erlebnisse rar gesät waren. Aber Eve wollte nicht zum Empfang gehen, sie wollte nur nach Hause.
„Tassie, der Empfang ist eigentlich nicht für Kinder“, begann sie. „Sondern mehr für Erwachsene.“
„Quatsch“, mischte Kate sich ein. „Mein Sohn Jem ist dabei, und er ist erst neun. Alisons und Jacks Söhne kommen auch mit, die sind drei. Ich bin sicher, Tassie würde viel Spaß haben.“
„Vielleicht, aber ich glaube nicht, dass …“
„Ich schon“, ergriff Tom Kates Partei. „Wenn Tom Cornish eine Einladung bekommt, darf die Kleine auch mit.“
„Aber ihre Mutter weiß nicht, wo sie ist“, unternahm Eve einen letzten Versuch.
Tom zückte sein Handy. „Nutzen wir die Vorzüge moderner Technologie. Ruf sie an, und dann begleite ich zwei wunderschöne Frauen zum Mittagessen.“
Tassie kicherte, und Eve seufzte stumm. Was sollte sie noch sagen? Widerstrebend nahm sie das Telefon.
„Dann ist das ja geregelt.“ Kate schien zufrieden zu sein, während Eve rasch mit Amanda telefonierte. „Tom, Eve kann dir zeigen, wo das Smugglers’ Inn ist, falls du dich nicht mehr erinnerst, und …“ Sie verstummte abrupt, als ein dumpfes, metallisches Knirschen ertönte, gefolgt von einem verräterischen Klirren. „Was …?“
„Hört sich an, als hätte jemand etwas gerammt“, meinte Tom.
„Dreimal dürft ihr raten, wer“, antwortete Kate mit einem Stöhnen, als sie sah, wie Lauren aus ihrem Wagen stieg und entsetzt die Hand vor den Mund schlug.
„Ach, komm, Kate“, nahm Eve Lauren in Schutz. „Die Autos stehen ziemlich dicht. Wessen Wagen hat sie getroffen?“
Kate reckte den Hals. „Keine Ahnung. Es ist ein metallicblauer Range Rover. Nicht von hier, dem Nummernschild nach zu urteilen. Wahrscheinlich gehört er einem reichen Touristen.“
Tom räusperte sich. „Ich fürchte, der reiche Tourist bin ich. Also, wer ist die Dame, die gerade in meinen Wagen gekracht ist?“
Betreten sah Kate zu Eve, und Eve biss sich auf die Lippe.
„Lauren, unsere Physiotherapeutin. Sie ist ein lieber Mensch, aber leider schrecklich … unfallgefährdet.“
Und völlig aus dem Häuschen, fügte Eve insgeheim hinzu, als Lauren auf sie zueilte, mit sorgenvoller Miene und hochroten Wangen.
„Ich war ganz sicher, dass ich noch genug Platz hatte!“, rief sie aus. „Wisst ihr, wem der blaue Geländewagen gehört?“
„Ja, Tom“, antwortete Eve. „Tom, dies ist Lauren Nightingale.“
„Nicht Florence?“, sagte er umgehend, und Eve verdrehte die Augen.
„Tom, den Spruch hat Lauren sicher schon tausendmal gehört.“
„Jetzt tausendundeinmal“, sagte Lauren. „Aber das ist nicht so wichtig. Es tut mir furchtbar leid wegen Ihres Wagens …“
„Wie es aussieht, hat es Ihren Renault schlimmer erwischt.“ Tom musterte erst ihr, dann sein Auto kritisch. „Der Lack ist beschädigt, während bei mir nur die Abdeckung vom Bremslicht zu Bruch gegangen ist.“
„Was ich natürlich bezahlen werde.“ Lauren kramte in ihrer Handtasche. „Ich habe die Versicherungskarte dabei …“
„Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen einfach die Rechnung schicke, und wir regeln die Sache ohne unsere Versicherungen?“, schlug Tom vor. „Das wäre besser für Ihren Schadensfreiheitsrabatt.“
„Wollen Sie das wirklich machen?“, antwortete Lauren unsicher. Als Tom nickte, zog sie einen Notizblock hervor. „Okay, dann brauchen Sie meine Adresse. Ich wohne im Gatehouse Cottage, das ist …“
„Das Cottage, das am Fuß der Auffahrt zum Manor House liegt.“ Tom lächelte, weil sie ihn verblüfft ansah. „Ich bin in Penhally Bay geboren und habe hier die ersten vierundzwanzig Jahre meines Lebens verbracht. Ich kenne mich aus.“
„Wo kann ich Sie erreichen?“
„Im Anchor Hotel.“ Tom streckte die Hand nach Block und Kugelschreiber aus. „Aber nicht mehr lange, deshalb gebe ich Ihnen besser meine Londoner Adresse.“
Seine Londoner Adresse. Also lebt er nicht mehr in den USA, dachte Eve. Und was heißt das, er bleibt nicht lange im Hotel? Will er in sein altes Zuhause ziehen?
„Du wohnst im Anchor Hotel?“, fragte Kate, bevor Eve die Fragen stellen konnte, auf die sie so sehnlich eine Antwort brauchte. „Sehr edel.“
„Erstaunt es dich, dass sie einen Mann aus Cornwall durch die Tür lassen?“
Der scharfe Unterton war nicht zu überhören gewesen, und Kate errötete. „So meinte ich das nicht! Ich …“ Ihre Stimme verlor sich, ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus.
„Kate, solltest du dich nicht allmählich auf den Weg machen?“, sprang Eve ihr bei. „Alison und Jack sind gerade gefahren. Sie wundern sich bestimmt, wo du bleibst.“
„Oh ja, natürlich.“ Die Hebamme schenkte ihr ein dankbares Lächeln und eilte mit Lauren zu der Reihe parkender Autos.
Eve wandte sich zu Tom um. „Nach all den Jahren springst du immer noch darauf an, wie?“, fragte sie traurig.
An seiner Wange zuckte ein Muskel. „Nur in Penhally Bay“, sagte er knapp, zwang sich dann aber zu einem Lächeln, als er Tassies verwirrten Blick auffing. „So, Kleine, worauf warten wir noch? Wenn wir nicht bald beim Empfang sind, müssen wir die Reste essen.“
„Fahren wir in Ihrem Wagen? In dem schönen blauen?“
„Wir können doch zu Fuß gehen“, sagte Eve rasch. „Bis zum Gasthof ist es nicht weit.“
„Wir fahren“, bestimmte Tom. „Wenn ich zwei umwerfende Frauen zum Essen begleite, dann stilvoll – auch wenn das eine Bremslicht zerdeppert ist.“
Sie wäre lieber gelaufen, als auf begrenztem Raum neben ihm zu sitzen. Aber das konnte sie kaum laut sagen.
„Dann eben mit Stil“, fügte sie sich widerwillig.
„Kann ich vorne sitzen?“ Aufgeregt hüpfte Tassie von einem Bein aufs andere, und die blonden Haare flogen ihr um den Kopf.
Tom schüttelte den Kopf. „Du weißt doch, dass Prinzessinnen immer auf dem Rücksitz, hinter dem Chauffeur sitzen?“
„Aber ich bin keine Prinzessin.“
Sein charmantes Lächeln hätte die Sonne hinter Wolken hervorlocken können.
„Heute schon“, sagte er, half Tassie auf den Sitz und verbeugte sich kurz. „Wohin wünschen Hoheit zu fahren?“
„Zum Smugglers’ Inn, so schnell Sie können, Chauffeur“, antwortete Tassie gebieterisch, fing aber gleich darauf an zu kichern.
„Das war nett von dir“, sagte Eve leise, als sie auf den Beifahrersitz glitt und Tom sich hinters Steuer setzte.
„Es gehört zum guten Ton, einer Frau die Tür aufzuhalten.“
„Nein, ich meinte, dass du so nett zu Tassie warst.“
„Sie ist ein liebes Mädchen.“
„Das sehen nicht alle so.“ Mit Mühe brachte sie ein Lächeln zustande, als Tom sie fragend anblickte. „Kennst du dich wirklich noch so gut in Penhally Bay aus, oder soll ich dir sagen, wie wir zum Smugglers’ Inn kommen?“
„Ich habe nicht das Geringste vergessen, was Penhally Bay angeht“, erwiderte er abrupt, verzog jedoch das Gesicht, als Eve die Brauen leicht zusammenzog. „Entschuldige. Kaum bin ich eine Stunde hier, werde ich gleich angriffslustig. Nein, ich brauche keine Wegbeschreibung“, fügte er hinzu, lenkte den Rover vom Parkplatz und bog links ab.
„Lebst du schon lange in London?“, wechselte sie das Thema. „Ich dachte, du wärst noch in den USA, aber du hast Lauren eine Londoner Anschrift gegeben.“
„USA, das ist zehn Jahre her. Ich habe eine Wohnung in London und ein Apartment in Lausanne, am Genfer See.“
„Klingt …“
„Nobel?“ Die feine Ironie war nicht zu überhören.
„Hübsch … Ich wollte sagen, klingt hübsch“, verteidigte sie sich.
Tom zuckte mit den Schultern. „Ich halte mich dort nur zwischen den Einsätzen auf. Beide sind kein richtiges Zuhause. Zu Hause sind Menschen, die du liebst. Deine Ehefrau, Kinder.“
Frag nicht. Eve sah durchs Seitenfenster, nahm die vorbeihuschenden Bäume aber nur schemenhaft wahr. Bäume, die langsam die Blätter verloren und über denen sich ein blauer Himmel spannte, wie es ihn nur in Cornwall gab. Du musst es nicht wissen, sagte sie sich, aber dann fragte sie doch.
„Du bist also nicht verheiratet.“ Sie wandte sich ihm kurz zu.
„Nein.“ Er bremste ab, als ein Kaninchen über die Straße flitzte. „Bei meinem Job ist der Alltag schlecht planbar. Ich habe niemanden gefunden, der das mitmacht. Jedenfalls nicht auf Dauer.“ Die grünen Augen suchten ihren Blick. „Und du?“
Sie sah wieder zu den Bäumen. „Nein, ich bin nicht verheiratet.“ Eve holte tief Luft. „Tom, kommst du wieder nach Penhally Bay zurück, oder bist du …?“
„Nur bis Montag. Ich muss ein paar Dinge … regeln. Dann verschwinde ich wieder.“
Erleichterung überschwemmte sie. Montag. Heute war Samstag. Damit kam sie klar. Falls sie sich morgen noch einmal trafen, konnten sie über dieses und jenes reden. Belangloses.
All die Jahre hatte sie stillgeschwiegen, das schaffte sie auch noch zwei weitere Tage. Welchen Sinn hätte es, ihm davon zu erzählen? Es würde ja doch nichts ändern und auch nicht weniger schmerzhaft sein.
„Eve?“
Sie bemerkte, dass er sie fragend anblickte, und zwang sich zu einem Lächeln. „Vor einer Weile habe ich gelesen, dass du bei Deltaron zum Einsatzleiter befördert worden bist. Du bist sicher froh darüber.“
„Ja, es ist nicht schlecht, wenn man an dem Schreibtisch sitzt, wo die Entscheidungen getroffen werden. Was ist mit dir? Arbeitest du noch als Krankenschwester?“
Sie nickte. „Hier in Penhally Bay habe ich allerdings erst vor einem Monat angefangen. Vorher war ich in Truro und Newquay. Alison – die Braut, deren Hochzeit du gerade gesehen hast – ist schwanger, und ich vertrete sie in der Gemeinschaftspraxis.“
„Das heißt, wenn ihr Mutterschaftsurlaub beendet ist, stehst du ohne Job da?“
„Bestimmt nicht lange. Krankenschwestern werden in ganz England händeringend gesucht. Ich finde schnell wieder was.“
„Aber du würdest lieber hier arbeiten, in deiner Heimatstadt.“
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Eve verzog den Mund. „Du hast schon immer gesagt, ich hätte keine Fantasie.“
„Habe ich das? Oje, mit vierundzwanzig hatte ich eine ziemlich große Klappe, was?“
„Stimmt“, sagte sie, und er lachte. „Übrigens, Jacks Vater müsstest du kennen. Es ist Nick Roberts.“
„Der Arzt Nick Roberts?“
„Genau der. Seniorpartner in der Penhally Gemeinschaftspraxis und mein Chef.“
„Ich war auf der Hochzeit eines Mannes, dessen Vater mit mir studiert hat?“ Tom stöhnte auf. „Jetzt fühle ich mich richtig alt.“
Eve lachte auf. „Weißt du noch, wie wir jeden jenseits der vierzig für altersschwach gehalten haben?“
„Und jeder über fünfzig war schon scheintot. Da sieht man mal, wie wenig wir wussten.“ Ihre Blicke trafen sich wieder. „Eve …“
„Wann sind wir da?“, zwitscherte Tassie vom Rücksitz. „Ich hab solchen Hunger.“
„Mit anderen Worten, hör auf zu reden und fahr schneller“, meinte Tom verschmitzt.
„So ähnlich.“ Das Mädchen lachte verlegen.
Tom zwinkerte Eve lächelnd zu, und ihr Herz setzte einen Schlag aus.
Nein, sagte sie sich. Nein! Was vergangen ist, ist vergangen, und wenn ich mich mit ihm einlasse, wird er mir nur wieder wehtun. Und das überlebe ich nicht.
„Was ist los?“ Das übermütige Funkeln in den grünen Augen war schlagartig verschwunden, und Tom musterte sie fragend.
„Nichts, ich bin nur hungrig. Wie Tassie.“
„Eve …“
„Da vorn ist es!“, rief Tassie begeistert, als die granitgraue Fassade des Smugglers’ Inn vor ihnen auftauchte. „So viele Wagen! Hoffentlich finden wir noch einen Tisch.“
Eve wären Stehplätze lieber gewesen. Sie könnte sich unter die Gäste mischen und müsste nicht bei Tom bleiben.
Leider schien er Gedanken lesen zu können. Kaum war sie ausgestiegen, nahm er sie beim Arm und hakte sich bei ihr unter. „Auf ins Gewühl“, meinte er.
„Geht schon vor“, wich sie aus. „Ich muss nur eben …“
Vage deutete sie auf die Tür, hinter der die Damentoilette lag, aber es nützte ihr nicht viel.
„Wir warten hier auf dich, nicht wahr, Tassie?“
Tassie nickte mit leuchtenden Augen, und Eve blieb nichts anderes übrig, als hinter besagter Tür zu verschwinden.
2. KAPITEL
Zum Glück waren die Räume leer. Gesellschaft war das Letzte, was sie sich wünschte. Sie wusch sich die Hände und zog ihre Haarbürste aus der Handtasche. Du siehst furchtbar aus, dachte sie, als ihr ein bleiches Gesicht mit verschreckten braunen Augen aus dem Spiegel entgegenschaute. Die Meeresbrise hatte ihr schulterlanges braunes Haar leicht zerzaust und …
Zweiundvierzig, fuhr es ihr durch den Kopf. Ich bin zweiundvierzig, und ich sehe auch so aus. Okay, das war kein Alter, aber vor zwanzig Jahren war sie schlanker gewesen und hatte noch nicht diese feinen Fältchen um die Augen gehabt. Und ihr Haar wäre nicht braun, wenn ihre Friseurin nicht alle sechs Wochen eine frische Tönung hineinzauberte.
Na und? Ungeduldig zog sie die Bürste durch die Strähnen. Was macht es schon, dass ich nicht mehr wie zweiundzwanzig aussehe?
Eine Menge, seufzte ihr Herz. Dann würde er erkennen, was er weggeworfen hat, als er dich verließ …
„Geht es dir besser?“
Wie ertappt wirbelte Eve herum. Kate Althorp stand an der Tür und lächelte aufmunternd.
„Sicher“, log sie.
Kate drehte den Hahn auf und wusch sich gründlich die Hände. „Für dich muss es ein Schock gewesen sein, Tom wiederzusehen.“
„Eher eine Überraschung.“
„Ja, aber ihr wart euch ziemlich nahe, bevor er in die USA ging, oder?“
Nahe. Was für ein sehr britischer, sehr distanzierter Ausdruck für Geliebte! Natürlich hatte Kate nicht vergessen, dass Eve und Tom in jenem Sommer unzertrennlich gewesen waren. Kate war nur ein paar Jahre älter, und in Penhally Bay konnte man nichts lange geheim halten, es sei denn, man legte es besonders darauf an.
Und Tom hatte sich nie darum geschert, was die Leute dachten.
„Kate, ich war zweiundzwanzig, er vierundzwanzig“, täuschte sie Gleichgültigkeit vor. „Wir hatten eine kurze Sommerromanze, mehr nicht.“
Kate schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich jedoch anders, trocknete sich die Hände ab und verließ den Raum.
Eve kniff die Augen zusammen. Oh nein, Tom Cornish, dachte sie, das wirst du mir nicht antun. Du wirst nicht alles wieder aufwirbeln und mir mein Leben kaputtmachen, das ich mir mühsam aufgebaut habe. Und auf das ich stolz bin!
„Vorbei ist vorbei“, sagte sie leise und sah wieder in den Spiegel. „Denk nicht mehr daran.“
Was leichter gesagt als getan war. Draußen vor der Tür warteten Tom und Tassie auf sie, verschmitzt grinsend wie zwei Verschwörer.
„Tassie war der festen Meinung, dass du in die Toilette gefallen bist“, sagte er. „Wir wollten noch fünf Minuten warten, dann hätte ich in meiner Eigenschaft als Deltaron-Einsatzleiter die Räume gestürmt.“
„Wer’s glaubt.“
Tom lächelte breit. „Meinst du, das würde ich nicht tun?“
„Ich meine, wir sollten etwas essen“, sagte Eve bestimmt. Es war ein Ablenkungsmanöver, was Tom leider durchschaute.
Das Funkeln in seinen grünen Augen verriet ihn. Wie früher auch, wenn er diesen neckenden, herausfordernden Ausdruck im Gesicht hatte. Dann konnte Eve sicher sein, dass er etwas Unerhörtes sagen oder tun würde. Unwillkürlich wappnete sie sich.
Wahrscheinlich hatte er es in ihrer Miene gelesen. „Ich bin ein erwachsener Mann, Eve“, erklärte er ruhig. „Keine Streitereien, keine hitzigen Diskussionen, keine Provokationen, versprochen.“
Und er hielt Wort.
In der nächsten Stunde zeigte er sich von seiner charmanten Seite, suchte das Gespräch mit anderen Gästen und wurde überall freundlich aufgenommen. Nun, nicht überall. Einige der älteren Anwesenden zeigten ihm die kalte Schulter und ließen ihn deutlich spüren, dass sie Tom Cornish in keiner guten Erinnerung hatten.
Aber er ließ sich nicht provozieren, lächelte flüchtig und wandte sich anderen zu. Er beruhigte Lauren noch einmal wegen des Wagens, und er brachte Chloe MacKinnon, die zweite Hebamme von Penhally Bay, herzlich zum Lachen. Ihr Verlobter Dr. Fawkner stand schmunzelnd daneben.
„Er hat sich verändert, findest du nicht?“ Kate wies mit dem Kopf zu Tom, der nun in eine angeregte Unterhaltung mit Dr. Lovak vertieft war.
„Tom konnte schon früher zusammenhängende Sätze herausbringen.“
Das klang bissiger als beabsichtigt, und prompt hob Kate die Brauen. „Ich habe nie das Gegenteil angenommen“, erwiderte sie. „Genau wie ich immer fand, dass er hier in Penhally Bay keine faire Chance hatte.“
„Wenn man sieht, wie manche Leute auf ihn reagieren, ist das wohl immer noch so.“ Eve blickte zu einer Gruppe Gäste hinüber, die Tom misstrauisch musterten.
„Vorurteile halten sich lange. Und schlechte Erinnerungen auch. Aber vergiss nicht, Tom hat hier nicht nur Gegner, sondern auch Freunde.“
Nenn mir einen, abgesehen von dir selbst, hätte Eve beinahe gesagt, aber sie tat es nicht. „Tassie muss langsam ins Bett“, erklärte sie stattdessen. „Sie sieht müde aus.“
Ganz im Gegensatz zu Tom. Kaum bahnte Eve sich ihren Weg durch die Menge, tauchte er neben ihr auf. „Willst du schon gehen und mich hier allein lassen?“
„Ich bringe Tassie nach Hause.“ Schnell wich sie zur Seite aus, um Freddie und Sam Platz zu machen. Laut jubelnd schlitterten die beiden über den polierten Holzfußboden.
„Schön, dass die Kids ihren Spaß haben“, meinte Tom mit einem gutmütigen Lächeln.
„Früher mochtest du Kinder nicht. Du hast gesagt, ihre Eltern sollten sie im Haus behalten, bis sie Teenager sind.“
„Na ja …“ Er sah den beiden Jungen nach. „Hast du dir jemals gewünscht, du hättest Kinder?“
Eve fixierte die Hochzeitstorte vor einem der Fenster. „Wozu sich etwas wünschen, Tom? Man ist besser zufrieden mit dem, was man hat.“
„Wahrscheinlich.“ Er winkte Tassie zu. „Aber ich glaube, ich hätte gern Kinder gehabt.“
„Und ich glaube, es ist höchste Zeit, dass Tassie nach Hause kommt.“ Ihre Kehle war so eng, dass sie die Worte förmlich hervorpresste.
„Eve …“
„Sieh an, sieh an. Wenn das nicht Tom Cornish ist. Was bringt Penhally Bays Sohn nach Cornwall zurück?“
Eve blickte über die Schulter und entdeckte Nick Roberts hinter ihnen. Sie lächelte ihm zu. „Tom“, begann sie. „Das ist …“
„Nick Roberts.“ Tom lächelte breit. „Du brauchst uns nicht vorzustellen, Eve. Den alten Schurken würde ich überall wiedererkennen. Schön, dich zu sehen, Nick. Immer noch passionierter Allgemeinarzt, wie ich gehört habe?“
„Und du reist nach wie vor für Deltaron durch die Weltgeschichte, wenn es stimmt, was ich gelesen habe.“ Nick lächelte nicht.
„Du interessierst dich für meine Karriere?“, antwortete Tom locker, aber der leicht verwirrte Ausdruck in seinen Augen entging Eve nicht. „Wie schmeichelhaft.“
„Selbst in einem verschlafenen Nest wie Penhally Bay gibt es inzwischen Internet und Digitalfernsehen. Ich kann also genau verfolgen, was du so treibst.“
„Tom ist nur zu einem kurzen Besuch hier.“ Eve blickte von Tom zu Nick, dann unsicher wieder zu Tom. Nick strahlte eine Kälte aus, mit der man Fische schockgefrieren könnte! „Er fährt Montag wieder.“
„Um heldenhaft mit links die Welt zu retten, nehme ich an?“
Toms Lächeln war im Lauf der Unterhaltung geschmolzen, jetzt verschwand es endgültig. „Die wahren Helden sind immer schon im Land, wenn meine Teams und ich dort ankommen, Nick. Es sind die Menschen, die dort leben und mit den Langzeitfolgen jeder Katastrophe klarkommen müssen.“
„Ganz meine Meinung. Aber was haben sie schon davon? Sie bleiben zurück und müssen in mühevoller Kleinarbeit ihr Land wieder aufbauen, während andere die Lorbeeren ernten und du dich schon beim nächsten Einsatz fotografieren lässt.“
„He, Moment mal.“ Toms Gesicht lief dunkel an, und Eve packte ihn besorgt am Ärmel.
„Tom, wir müssen Tassie jetzt wirklich nach Hause fahren“, sagte sie eindringlich. „Sie ist sehr müde, und ich habe Amanda versprochen, sie nicht zu spät zu bringen.“
Sekundenlang dachte sie, er würde nicht mitkommen. Er starrte Nick an, und der starrte genauso finster zurück.
Doch schließlich nickte Tom. „Okay. Wir sehen uns, Nick“, fügte er noch hinzu, bevor er zum Ausgang marschierte. Eve und Tassie blieb nichts anderes übrig, als hinterherzulaufen.
„Ich dachte, du und Nick Roberts wärt Freunde“, stieß Eve hervor, als sie ihn auf dem Parkplatz eingeholt hatte.
„Ich auch. Aber anscheinend ist er nicht gut auf mich zu sprechen. Hast du eine Ahnung, warum?“
„Nicht die geringste. Er kann manchmal ganz schön barsch sein, aber sonst ist er nicht so … so …“
„Streitsüchtig?“ Kopfschüttelnd half er Tassie ins Auto. „Kate Althorp hat noch mal Glück gehabt.“
„Wieso?“
„Dass sie ihn nicht geheiratet hat. Erinnerst du dich, wie nahe die beiden sich in der Schule waren? Jeder hat doch gedacht, dass sie eines Tages heiraten werden.“
„Haben sie nicht. Kate hat James Althorp geheiratet.“
„Was mich total überrascht hat.“ Tom drehte den Zündschlüssel herum. „Versteh mich nicht falsch. James war ein sympathischer Kerl, aber für Kate … vielleicht ein bisschen schlicht. Da sieht man mal wieder, wie falsch man liegen kann. Nick hat das Mädchen geheiratet, dass er beim Studium kennengelernt hat, nicht? Wie hieß sie noch … Anne … Isabel …?“
„Annabel.“
„Richtig, das war der Name. Sie war nett, fand ich.“
„Sie ist vor drei Jahren gestorben.“
„Das tut mir leid. Ich bin trotzdem der Meinung, dass Kate froh sein kann.“
Aber Nick ist sonst nicht so, dachte Eve. Ihr Chef konnte ziemlich kurz angebunden sein, wenn man nicht sein Bestes gab, aber sie hatte noch nie erlebt, dass er jemanden so zynisch angegriffen hatte.
„Wo wohnt Tassie?“
„Morwenna Road, aber du kannst uns an der Post rauslassen. Wir laufen das letzte Stück.“
„Das ist ganz schön weit“, protestierte Tassie.
„Umso besser. Nach dem vielen Essen muss ich mich bewegen.“
„Aber …“
„Setz uns an der Post ab, Tom.“
Er seufzte, hielt jedoch gehorsam hinter der Harbour Bridge an.
„Danke fürs Mitnehmen, Sir“, sagte Tassie artig, nachdem sie alle drei ausgestiegen waren.
Tom wuschelte ihr lächelnd durchs Haar. „Kannst du dich für zwei Minuten rar machen, Kleine? Ich möchte kurz mit Eve sprechen.“
„Muss das sein, Tom?“, sagte Eve, als das Mädchen gehorsam ein paar Schritte die Straße hinunterging und dann wartete. „Der Wind ist kalt, und sie ist für dieses Wetter nicht richtig …“
„Hast du Lust, dich morgen mit mir zu treffen?“, unterbrach er sie. „Wir könnten zusammen essen, und hinterher zeigst du mir die Sehenswürdigkeiten von Penhally Bay.“
„Tom, du bist hier geboren, du kennst die Sehenswürdigkeiten.“
„Irgendwas hat sich bestimmt verändert, seit ich das letzte Mal hier war. Komm mit, ja? Um der alten Zeiten willen.“
Nur das nicht! Zwei Postkarten – das war alles, was sie von ihm gehört hatte, seit er England damals verlassen hatte. Die erste war in New York abgestempelt, und er schrieb, dass er Heimweh hätte und einsam wäre. Sechs Monate später die Zweite, aus Kalifornien, auf der er mitteilte, er hätte sich bei Deltaron beworben. Das war’s.
Keine weitere Karte, kein Brief, kein Anruf in zwanzig Jahren. Zwanzig Jahre, in denen sie sich in ihrem Leben eingerichtet hatte. Auch wenn sie sich ein anderes erträumt hatte, so war sie doch zufrieden damit. Nun war Tom wieder da, und sie wollte ihn hier nicht haben.
„Tut mir leid“, sagte sie bestimmt. „Ich habe morgen einiges zu erledigen.“
„Bitte.“
Hätte er gelächelt, so wie früher, als er sie mit seinem charmanten Lächeln jedes Mal herumgekriegt hatte, wäre sie standhaft geblieben. Doch er lächelte nicht. Stattdessen wirkte er ungewohnt unsicher. Der Tom Cornish, den sie kannte, war nie unsicher gewesen.
„Mittagessen schaffe ich nicht.“ Will ich nicht. „Wie gesagt, ich habe zu tun.“
„Ein halber Tag ist besser als nichts. Wohnst du noch bei deinen Eltern in der Polkerris Road? Ich könnte dich um zwei Uhr abholen …“
„Um drei. Und wir treffen uns vor deinem Hotel.“
Er wirkte enttäuscht. „Gut, dann um drei. Du kommst doch?“
Überrascht, dass er sich dessen noch einmal vergewisserte, sah sie ihn an. „Ja, natürlich.“
Und nur der Himmel weiß, warum, seufzte sie insgeheim, als sie zu Tassie ging.
„Er ist nett“, meinte das Mädchen, während sie auf dem Gehsteig neben Eve herhüpfte.
„Tom kann sehr nett sein, wenn er will.“
„Er hat mir erzählt, dass Sie beide früher eng befreundet waren.“
Eve brachte ein Lächeln zustande. „Das ist lange her, Tassie.“
„Er mag Sie immer noch. Echt. Wissen Sie was?“, fügte sie hinzu. „Ich wette, wenn wir uns jetzt umdrehen, steht er vor der Post und sieht uns nach.“
„Tassie“, begann Eve abwehrend, aber das Mädchen war bereits stehen geblieben und blickte über die Schulter.
„Na bitte.“
„Er blickt uns nach?“, fragte Eve matt.
„Sehen Sie selbst, wenn Sie mir nicht glauben.“
Eve kroch das Blut in die Wangen. „Ich muss dich nach Hause bringen.“
„Feigling.“ Tassie lachte.
Reiner Selbstschutz, dachte Eve und ging entschlossen weiter. Ich schulde ihm nichts. Nicht nach all diesen Jahren.
Trotzdem hast du dich überreden lassen, ihn morgen Nachmittag zu treffen, oder? flüsterte eine spöttische innere Stimme.
Eve stöhnte stumm auf. Ich muss den Verstand verloren haben.
3. KAPITEL
Es ist schon seltsam, dachte Tom, während er an der Granitwand des Anchor Hotels lehnte und tief einatmete. Er war schon viel herumgekommen, aber nirgends auf der Welt schmeckte die Luft so wie hier in Penhally Bay.
Und keine Frau ist wie Eve Dwyer, fügte er hinzu, als er in der Ferne Schritte hörte. Er drehte sich um und sah sie die Fisherman’s Row entlangkommen. Sie trug einen kirschroten Pullover zum knielangen Tweedrock, und ihr braunes Haar schimmerte im Licht der Oktobersonne.
Mein Gott, sie hat sich kaum verändert! fuhr es ihm durch den Kopf. Sie hatte immer noch die dichte braune Mähne, die langen gebogenen Wimpern und diese bezaubernden Grübchen, wenn sie lächelte. Vielleicht war sie ein bisschen voller als damals mit zweiundzwanzig, aber es stand ihr gut. Sehr gut sogar, fand er, als er sie ausgiebig von oben bis unten betrachtete.
„Bin ich zu spät?“
Er schüttelte den Kopf und holte wieder tief Luft. „Oh Mann, selbst mit verbundenen Augen würde ich Penhally Bay wiedererkennen. Nur an der Luft. Die riecht nirgends so wie hier.“
„Du meinst nach gammeligem Tang und Fisch?“ Ihre Augen blitzten übermütig.
„Nein, nach Sonne, Salz und Meer, das weißt du doch genau“, erwiderte er ernst, musste dann aber schmunzeln. „Und ich dachte, du bist noch immer die Romantikerin.“
Das Funkeln erlosch, an seine Stelle trat ein Schatten.
„Das habe ich vor langer Zeit aufgegeben, Tom. Also …“ Sie spreizte beide Hände. „Womit fangen wir an?“
„Anfangen?“, wiederholte er ratlos, in Gedanken noch bei ihrer abweisenden Reaktion auf seine Bemerkung.
„Du wolltest doch eine Tour durch Penhally Bay. Wohin gehen wir zuerst, nach Norden zum Leuchtturm oder zur Rettungsstation?“
„Zum Leuchtturm. Dorthin bist du immer gegangen, wenn du in Ruhe nachdenken musstest.“
Überrascht warf sie ihm einen Seitenblick zu. „Komisch, dass du dir das gemerkt hast.“
„Oh, mein Kopf hat bunt durcheinander alles Mögliche abgespeichert“, erwiderte er, als sie Seite an Seite die Harbour Bridge überquerten und in die Fisherman’s Row einbogen.
„Natürlich leben nicht mehr viele Fischer in der Fisherman’s Row“, erklärte Eve. „Eigentlich sind sie in ganz Penhally Bay ziemlich selten geworden. Magere Fischbestände und zu niedrige Fangquoten. Damit kann man kaum mehr eine Familie ernähren.“ Sie winkte einer dunkelhaarigen jungen Frau zu, die gerade aus einem Cottage trat und eine Katze mit rötlich-gelbem Fell vom Boden aufhob. „Das ist Chloe MacKinnon. Sie war gestern auch auf der Hochzeit.“
„Sie ist Hebamme wie Kate, oder? Arbeitet in der Gemeinschaftspraxis, ist mit Oliver Fawkner verlobt und lebt mit ihm zusammen?“
„Genau die. Oliver hast du auch schon kennengelernt.“
„Ja, ich erinnere mich.“ Tom lachte leise auf. „Die Hebamme und der Arzt in wilder Ehe, das wäre zu meiner Zeit undenkbar gewesen. Man hätte die beiden geteert und gefedert und aus der Stadt vertrieben.“
„Die Zeiten ändern sich, selbst in Penhally Bay. In mancher Hinsicht, jedenfalls“, fügte sie leise hinzu. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, deutete sie zu einem hübschen Cottage auf einem Hügel oberhalb des Hafens. „Da wohnt Kate. Ich glaube, sie hat den schönsten Blick über das Städtchen und die Bucht.“
„Sicher.“
„Dr. Lovak hat anfangs in der Fisherman’s Row gewohnt“, fuhr sie fort. „Aber seine Frau Melinda und er sind im Sommer aufs Land gezogen. Sie bekommen ein Kind und wollten wahrscheinlich ein Haus mit mehr Platz.“
Bestimmt wollen sie das, dachte Tom. Allerdings interessierten ihn die Bewohner von Penhally Bay weniger. Als er Eve gefragt hatte, ob sie etwas zusammen unternehmen könnten, hatte er etwas anderes im Sinn gehabt. Wenn sie nun tatsächlich die nächsten Stunden damit verbrachte, ihm jedes einzelne Haus ihrer Kollegen vorzustellen, lag ein sehr langer Nachmittag vor ihm.
„Eve …“
„Entschuldige.“ Mit zerknirschter Miene wandte sie sich ihm zu. „Ich überschütte dich mit langweiligem Zeug, aber …“ Hilflos zuckte sie die Schultern. „Wir kennen uns nicht mehr, und ich weiß nicht, was ich sagen soll, worüber ich reden soll. Früher waren wir … uns sehr nahe, doch jetzt …“
„Treffen wir uns wieder, und es ist das schrecklichste Date, das du je gehabt hast.“
Eve wurde rot. „So schlimm nun auch wieder nicht, aber wir sind praktisch Fremde, Tom. Warum wolltest du mich treffen – gibt es einen besonderen Grund?“
Gute Frage. Ein Teil von ihm hatte fest damit gerechnet, sie glücklich verheiratet anzutreffen. Dann hätte er den Traum, der ihn seit Jahren verfolgte, endgültig begraben können. Den Traum, zurückzukehren und noch einmal von vorn anzufangen.
Aber das konnte er ihr nicht erzählen. Und auch nicht, dass der andere Teil von ihm gehofft hatte, sie wäre noch Single. Es war eine winzige Hoffnung, dass das Schicksal ihm eine zweite Chance auf das ersehnte Glück geben würde.
„Hör zu, Tom, ich bin dir nicht böse, wenn du lieber wieder in dein Hotel zurückgehen möchtest“, sagte sie da.
Hätte er ihr in diesem Moment nicht in die Augen gesehen, er wäre versucht gewesen, ihr Angebot anzunehmen. Doch als ihre Blicke sich trafen, durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Mein Gott, sie ist hinreißend, dachte er. Wie hatte er nur vergessen können, dass ihre Augen nicht schlicht braun waren, sondern diese faszinierenden grüngoldenen Pünktchen hatten?
Weil du es vergessen wolltest. Über Jahre hinweg wolltest du dich nicht erinnern, bis dann vor einem Jahr …
Denk nicht daran, ermahnte er sich. Lass es.
„Tom?“
Sie fühlte sich sichtlich unwohl in ihrer Haut. Tom zwang sich zu einem Lächeln. „Blödsinn. Natürlich will ich nicht zurück ins Hotel“, antwortete er. „Wenigstens nicht, bevor du mir Nicks Haus gezeigt hast, damit ich einen Ziegelstein durchs Fenster werfen kann.“
Sie lachte leise. „Ich dachte, du bist ein erwachsener Mann.“
„Okay, dann fange ich ein paar Blattläuse und lasse sie auf seine Rosen los.“
Als sie schallend auflachte, hakte er sich bei ihr unter und ging weiter. „Eve, es ist wahr, dass wir uns lange nicht gesehen haben. Aber sieh es mal so – es gibt viel zu erzählen. Übrigens, hast du wirklich keine Ahnung, warum Nick mich wie den letzten Dreck behandelt?“
„Ich dachte, du wüsstest es.“
„Nein“, antwortete er nachdenklich. „Wir kannten uns von der Schule her, und später bin ich ihm ein paar Mal an der Uni begegnet. Aber er ist einige Jahre älter als ich, und seine Freunde waren etwas gesetzter, während meine …“ Er grinste sie an. „Einen Hang zum Übermut hatten.“
„Was du nicht sagst.“
„Wie viele Kinder hat Nick?“
Sie hatten das Ende der Harbour Road erreicht und gingen Richtung Leuchtturm.
„Drei. Die Zwillinge Lucy und Jack, und Edward. Alles Mediziner.“
Tom verzog das Gesicht. „Alle drei! Ich glaube, ich würde nicht wollen, dass irgendeins meiner Kinder Arzt wird, du?“
Er hatte etwas Falsches gesagt. Tom hatte keine Ahnung, was oder wieso, aber ihr Gesicht glich plötzlich einer starren Maske. Am liebsten hätte er sie umarmt oder einen frechen Spruch gemacht, um das Lächeln wieder zurückzuholen. Leider fiel ihm nichts ein, und was das Umarmen betraf …
Früher hätte er keine Sekunde gezögert, aber jetzt war da diese alberne Hemmschwelle. Ein Gefühl, als wäre es zu vertraulich – was komplett lächerlich war, wenn man bedachte, wie intim sie miteinander gewesen waren.
„Ungewohnte Zeit für einen Gottesdienst“, wechselte er bewusst das Thema, als sie an der Kirche vorbeikamen. Heraus drang der Gesang heller Stimmen.
„Das ist kein Gottesdienst. Sonntagnachmittags probt Reverend Kenner mit dem Kinderchor. Er ist ein sehr netter Mann. Und herzensgut.“
„Alleinstehend?“ Verrückterweise empfand Tom so etwas wie Eifersucht.
„Daniel ist Witwer, wie Nick. Er hat eine siebzehnjährige Tochter.“
Sie sieht immer noch unglücklich aus, dachte er. Wie sollte er sie aus dieser Stimmung befreien? In seiner Not zeigte er auf die Stelle im Meer, wo seit vierhundert Jahren das Wrack einer spanischen Galeone aus dem siebzehnten Jahrhundert lag.
„Weißt du noch, wie wir zum Schatzschiff tauchen wollten? Tonnen von Goldmünzen finden und reich werden wollten?“
„Aber da keiner von uns schwimmen konnte, war die Schatzsuche von vornherein zum Scheitern verurteilt“, antwortete sie. „Ich kann es heute noch nicht, was ziemlich peinlich ist für jemanden, der am Meer wohnt. Was ist mit dir?“
„Für meine Arbeit war es unerlässlich, also schickte man mich zu einem Kursus. Mein Ego hatte einiges auszuhalten, als ich mich unter lauter Fünfjährigen wiederfand. Mit vierundzwanzig und einer Größe von einem Meter achtzig.“
Ihre Mundwinkel zuckten. „Das hast du dir ausgedacht.“
„Nein! Großes Pfadfinderehrenwort.“
Eve lachte. „Tom, du bist mit dreizehn bei den Pfadfindern rausgeflogen!“
„Okay, das gebe ich zu.“ Er war unendlich froh, dass sie endlich wieder lächelte. „Aber ich war wirklich im Kinderschwimmkurs. Mein Boss meinte, es würde mir helfen, mich zu konzentrieren, und er hatte recht. Mich wundert nur, dass dein Vater dir nicht das Schwimmen beigebracht hat. Er war doch Fischer.“
„Dad musste hart arbeiten, um seine Familie durchzubringen. Für alles andere blieb keine Zeit. Mum wollte, dass ich es lerne, aber sie hätte die Kursgebühr bezahlen müssen, und …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Geld war bei uns immer knapp.“
„Leben sie noch … deine Mum und dein Dad?“
„Nein, Dad ist vor fünfzehn Jahren an Krebs gestorben. Konnte nicht von seinen Zigaretten lassen, obwohl Mum ihm damit ständig in den Ohren gelegen hat. Sie selbst hatte vor fünf Jahren einen Herzinfarkt.“
„Das tut mir leid“, sagte er sanft. „Sie waren alles andere als begeistert, als ich in jenem Sommer anfing, mit dir auszugehen, aber ich mochte sie.“
„Ich auch“, sagte sie leise.
Tom hätte sich ohrfeigen können. Wahrscheinlich hatte er mit seinen Fragen Erinnerungen geweckt, die lieber in der Versenkung hätten bleiben sollen. Jetzt hatte Eve wieder diesen verlorenen, traurigen Ausdruck in den Augen.
„Lass uns zum Strand runtergehen, ja?“, schlug er rasch vor. „Ein bisschen durch den Sand laufen.“
„Dafür bin ich nicht angezogen.“ Sie deutete auf ihre Schuhe. „Mit den Absätzen bleibe ich gleich stecken.“
„Dann zieh die Schuhe aus. Und die Strümpfe auch. Vielleicht hast du Lust, durchs Wasser zu waten.“
„Tom, wir haben Oktober.“ Eve verdrehte die Augen. „Das Wasser ist zu kalt.“
„Quatsch.“ Entschlossen nahm er sie am Arm und führte sie zu den Stufen. „Es ist ein herrlicher Tag.“
Stimmt, dachte Eve, während sie zum Himmel hinaufblickte. Über ihnen zogen Möwen ihre Kreise, und ihr weißes Gefieder hob sich von dem klaren, wolkenlosen Blau ab. Für Oktober war die Luft erstaunlich mild. Was sich natürlich bald ändern würde. Im Winter verwandelte sich der blaugrüne Ozean in eine düstere graue Masse. Brandungswellen klatschten auf den puderweißen Sand, und dann traf man dort unten nur wenige tapfere Spaziergänger an.
Heute jedoch war es warm genug für einen Spaziergang am Meer.
„Wenn du dich beeilst …“, Tom saß bereits auf der obersten Stufe, streifte Schuhe und Socken ab und rollte sich die Hosenbeine hoch, „… haben wir den Strand ganz für uns allein – was dir früher immer am liebsten war.“
Daran erinnert er sich? fragte sie sich überrascht. Er hat auch noch gewusst, dass du zum Nachdenken gern am Fuß des Leuchtturms gesessen hast. Kleinigkeiten, belanglos eigentlich, aber er hatte es nicht vergessen.
Und das Wasser sah wirklich verlockend aus.
Aber wenn jemand sie sah? Eve konnte sich lebhaft vorstellen, was die Tratschtanten hinter vorgehaltener Hand flüstern würden.
Eve Dwyer hat gestern mit Tom Cornish im Meer geplanscht. Mit dem Tom Cornish.
„Vielleicht sollten wir zurückgehen“, begann sie zögernd.
In seinen grünen Augen blitzte Übermut auf. „Hey, ich habe nicht vorgeschlagen, nackt zu baden. Obwohl … wenn du mitmachst, ich bin dabei.“
Gegen ihren Willen musste sie lächeln. „Träum weiter.“
„Feigling.“
Das war nun schon das zweite Mal in vierundzwanzig Stunden, dass man sie feige genannt hatte. Und es gefiel ihr gar nicht. Okay, Nacktbaden kam absolut nicht infrage, aber ach, zum Teufel, selbst in Penhally Bay konnte sie ja wohl durchs Wasser waten, wann sie wollte. Und sie wollte es jetzt!
„Na gut, rutsch rüber“, sagte sie, und sofort machte er ihr Platz, damit sie sich neben ihn setzen konnte.
„Und, was wird das jetzt? Bis zu den Knöcheln ins Wasser oder nackt?“
Als Eve ihm schweigend einen tadelnden Blick zuwarf, grinste er verwegen. „Schade. Ich hatte mich schon darauf gefreut, die ehrbaren Einwohner von Penhally Bay zu schockieren.“
„Das dachte ich mir“, kommentierte sie trocken und schlüpfte aus den Schuhen. „Dreh dich um, ich ziehe mir jetzt die Strümpfe aus.“
„Wie bitte?“ Tom blickte sie entgeistert an.
„Ich will nicht, dass du auf meine Schenkel starrst und spöttische Bemerkungen über meine Cellulitis machst, also dreh dich um!“
„Ich weiß nicht mal, was Cellulitis ist“, protestierte er, tat aber, was sie sagte. Doch als sie schließlich aufstand und die Strümpfe in die Rocktasche stopfte, fügte er hinzu: „Du spinnst, weißt du das?“
„Kann sein.“ Sie fasste ihre Schuhe an den Riemen und begann, die Stufen hinunterzusteigen. „Gehen wir nun oder nicht?“
Kopfschüttelnd folgte er ihr. „Sonst warst du nicht so schüchtern.“
Eve schoss das Blut in die Wangen. Natürlich wusste sie, dass er sie damals nackt gesehen hatte. Und jetzt machte er sich über sie lustig.
Doch der ironische Spruch blieb aus. „Ich werde nie vergessen, wie du hier im Sand gesungen und getanzt hast“, sagte Tom stattdessen. „Es war Hochsaison, der Strand voller Touristen und Familien aus dem Ort – und plötzlich fängst du an, lauthals diesen Song von Whitney Houston zu schmettern.“
„I wanna dance with somebody!“, rief sie lachend aus. „Ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Meine Mutter hat mir die Hölle heißgemacht, nachdem Audrey Baxter ihr von meinem öffentlichen Auftritt erzählt und gesagt hatte, ich solle mich schämen.“
„Das passt zu Audrey Baxter.“
„Und du hast gesagt, ich hätte keinen Geschmack“, erinnerte sie ihn. „Wenn ich schon singen wollte, dann nur etwas von Bruce Springsteen.“
„Hast du das Kleid noch?“
„Welches Kleid?“
„Das rote, das du an dem Tag anhattest. Als ich in die USA kam, haben sie im Radio ständig Chris de Burghs The Lady in Red gespielt, und ich musste jedes Mal an dich denken, wie du singend am Strand getanzt hast.“
„Wirklich?“, sagte sie schwach.
Tom nickte. „Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein Heimweh ich dann hatte.“
Aber anscheinend nicht genug, um mir zu schreiben oder mich anzurufen. „Leider habe ich das Kleid schon vor Jahren weggeworfen.“
„Schade“, murmelte er, bückte sich nach einem Kiesel und ließ ihn schwungvoll übers Wasser hüpfen. „Ich mochte es, und auch die roten Stiefeletten, die du oft getragen hast.“
„Meine Stiefel! Oh, wie habe ich die geliebt. Die könnte ich heute nicht mehr tragen.“
„Doch. Du hast tolle Beine. Und eine tolle Figur“, setzte er hinzu.
„So toll nun auch wieder nicht.“ Eve errötete, als Tom sie ungeniert betrachtete. „Vor ein paar Jahren noch konnte ich essen, was ich wollte, ohne zuzunehmen. Heute brauche ich ein Stück Torte nur anzusehen, und schwups, habe ich es auf den Hüften. Sinnbildlich gesprochen.“
Tom grinste charmant. „Ich finde, du kannst dich sehen lassen.“
Du dich aber auch, dachte sie. Im Sonnenlicht, mit den vom Wind zerzausten Haaren, sah er aus wie der draufgängerische bad boy der Stadt, der er vor zwanzig Jahren gewesen war. Sie hingegen …
Wie war sie damals gewesen?
Naiv, ganz sicher. Vertrauensvoll, auch. Aber vor allem voller Träume, Hoffnungen und Pläne. Wie Tom. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass es nicht die gleichen waren. Er wollte so weit wie möglich weg von Penhally Bay und ein abenteuerliches Leben führen. Und Eve? Sie wollte ihn. Nur ihn.
„Lass uns Spaß haben“, hatte er in jenem Sommer gesagt, als er als fertiger Arzt nach Penhally Bay zurückgekommen war. Sie war überglücklich gewesen, dass er sie endlich bat, mit ihm auszugehen. Er erzählte ihr zwar, dass er Ende September in die USA fliegen würde, aber sie hatte dem keine Bedeutung beigemessen.
Er wird es sich anders überlegen, hatte sie gedacht. Vier wundervolle, berauschende Monate lang waren sie spazieren gegangen, hatten über alles geredet, was sie bewegte, und sie hatten sich geliebt. Sie war noch Jungfrau gewesen, und Tom hatte sie damit geneckt. Er meinte, eine Frau könne Sex genauso genießen wie ein Mann, ohne die Folgen zu fürchten. Eve hatte die Pille genommen und in seinen Armen das Paradies kennengelernt.
Und nach vier viel zu kurzen Monaten war er gegangen.
„Woran denkst du?“
Eve blickte auf. Das Lächeln fiel ihr nicht leicht. „Daran, wie schnell zwanzig Jahre vergehen können. Ein halbes Leben, und doch kommt es einem manchmal vor wie ein paar Monate.“
„Ich kann es nicht glauben, dass du immer noch ledig bist. Die Männer in Penhally Bay müssen entweder blind oder blöd sein. Oder beides.“
„Einmal hätte ich fast geheiratet.“ Eve stieß den Fuß in den Sand, sodass die Körnchen nach allen Seiten flogen. „Aber …“
„Es hat sich nicht richtig angefühlt?“
„So ähnlich. Und du? Warst du nie versucht, den Schritt zu wagen?“
„Ich hatte zweimal eine halbwegs ernsthafte Beziehung.“ Seine breiten Schultern hoben und senkten sich wieder. „Mit meinem Job ist ein geregeltes Leben schwierig. Oft muss ich von einem Tag auf den anderen weg.“
„Oder du bist einfach nicht der Typ zum Heiraten. Solche Leute gibt es.“
Tom blickte aufs Meer hinaus und wandte sich ihr wieder zu. Eve war erstaunt, einen wehmütigen, fast traurigen Ausdruck in seinen Augen zu lesen.
„Vielleicht habe ich einfach die falschen Prioritäten gesetzt.“ Sein Blick hielt sie fest, so intensiv, dass sie nicht wegsehen konnte. Ihr Herz fing an zu klopfen. Diese Unterhaltung wurde allmählich zu persönlich. Dagegen musste sie etwas tun.
Und zwar jetzt.
„Wer zuletzt am Ende des Strandes ist, hat verloren!“, rief sie und sauste los, ohne seine Antwort abzuwarten. Ihre nackten Füße flogen über den Sand, der Rock bauschte sich an ihren Schenkeln.
Hinter sich hörte sie ihn verdutzt protestieren, aber sie blieb nicht stehen. Sie rannte und rannte, und als seine Schritte dumpf näherkamen, fing sie an zu lachen.
Eve lachte glockenhell und aus voller Kehle wie das Mädchen, das sie einmal gewesen war. Wie die junge Frau, die am Strand getanzt und gesungen hatte, trunken vor Lebenslust.
Wahrscheinlich sah sie aus wie eine arme Irre, doch das war ihr egal. In diesem Moment, als ihre Haare im Wind wehten und die Luft nach Sonne und Meer schmeckte, fühlte sie sich so jung wie damals. Es war berauschend!
4. KAPITEL
„Du hast gemogelt!“ Tom hatte sie eingeholt, packte sie an der Taille und wirbelte Eve so wild herum, dass sie sich an seinem Hemd festkrallen musste, um nicht hinzufallen.
„Keine Ausreden.“ Atemlos strich sie sich das Haar aus dem Gesicht. „Du verbringst einfach zu viel Zeit hinter dem Schreibtisch.“
„Hinter dem …“ Seine Augen wurden schmal. „Dafür wirst du bezahlen, Eve Dwyer.“
„Bestimmt nicht!“ Lachend entwand sie sich ihm, er griff nach ihr, und sie sprang rasch zur Seite. Dummerweise landete sie bis zu den Knöcheln im Wasser. Eve schrie gellend auf. „Oh Gott, ist das eisig!“
„Geschieht dir recht.“ Tom lachte schallend.
Aber nicht lange. Blitzschnell hatte Eve die Hand ins Meer getaucht und ihn mit Wasser bespritzt.
„Du bist wohl auf Krawall aus?“ Mit zwei Schritten war er bei ihr. „Na warte, mach dich auf ein kaltes Bad gefasst.“
„Das wagst du nicht!“ Sie versuchte, ihm auszuweichen, vergeblich. Tom bekam sie zu fassen und schwang sie auf die Arme.
„Bist du sicher?“ Er senkte sie tiefer, und mit einem Aufschrei schlang sie die Arme um seinen Nacken.
„Tom, hör auf!“
Er grinste. „Okay, wenn du kein Bad nehmen willst, musst du mir ein Pfand geben.“
Einen Kuss.
Das Pfand war immer ein Kuss gewesen. Damals. Als Eve aufblickte und die vertrauten Züge über sich sah, wurde ihr schmerzlich klar, dass sie ihn küssen wollte. Nach allem, was passiert war, nach all dem Kummer und der Verzweiflung sehnte sie sich unendlich danach, seinen Mund auf ihrem zu spüren.
„Lass mich runter, Tom.“
„Ich denke nicht daran“, sagte er. „Das Pfand oder ab ins Meer. Du hast die Wahl.“
„Tom, bitte!“
„Entscheide dich, entscheide dich …“, sang er ausgelassen, während er sie herumwirbelte.
Die Entscheidung wurde ihr erspart. Eve sah etwas, was er nicht bemerkt hatte, und zupfte ihn hastig am Ärmel.
„Tom, wir haben Gesellschaft.“
„Gesellschaft?“ Er folgte ihrem Blick und fluchte unterdrückt. „Oh, klasse. Ist sie das wirklich?“
„Ich fürchte, ja.“ Kaum hatte Tom sie auf die Füße gestellt, verließ sie fluchtartig das Wasser. Eve kam sich unbeschreiblich dumm vor mit ihren zerzausten Haaren und dem nassen Rocksaum, der an ihren Beinen klebte.
„Tom Cornish“, sagte Audrey Baxter spitz. „Gütiger Himmel, ich hätte nie gedacht, dass du dich jemals wieder in Penhally Bay blicken lassen würdest.“
„Wir Gauner haben die schlechte Angewohnheit, immer an den Tatort zurückzukehren, nicht wahr, Mrs.