1.
Kapitel
Es
war Liebe. Heiße Liebe, die einem Herzklopfen bescherte und
weiche Knie. Verliebte Frauen verhielten sich oft schändlich,
taten unverzeihliche Dinge – aus lauter Liebe.
Tonya
Griffin ging im Schatten des Waldes in Deckung und hoffte, dass der
scheue Damien nicht ahnte, dass sie ihn beobachtete. Und gleichzeitig
dankte sie dem Himmel, dass sie ihm endlich wieder begegnet war. Als
sie ihn vor einer Woche zum ersten Mal gesehen hatte, war es um sie
geschehen gewesen. Seitdem ging er ihr nicht mehr aus dem Kopf, und
sie sehnte sich nach seinem Anblick.
Es
war Liebe, und deshalb hatte sie keine Schuldgefühle, seine
Arglosigkeit auszubeuten und in seine Intimsphäre einzudringen.
Sie blickte durch den Sucher ihrer Kamera, stellte die richtige
Schärfe ein und nahm das Objekt ihrer Begierde, das sich ihr
jetzt im milden Licht der Septembersonne darbot, ins Visier.
"Habe
ich dich erwischt, du kaltschnäuziger Teufel", flüsterte
sie und schlich auf der Suche nach unverstellter Sicht vorsichtig um
eine Fichte herum.
Damien
merkte nichts von der Verfolgung und ahnte nichts von ihrem Vorhaben
– noch nicht. Aber ihr war klar, dass er ihre Nähe bald
spüren würde, daher beeilte sie sich, um die guten
Lichtverhältnisse auszunutzen und nicht in das angekündigte
Unwetter zu geraten. Denn wenn Damien ihr auf die Schliche kam, würde
er blitzartig verschwinden, so viel stand fest. Es würde ihm gar
nicht gefallen, dass sie ihn eingefangen hatte, und sei es auch nur
mit der Kamera.
Nicht
böse sein, Damien, bat sie innerlich, ohne ihn aus dem Auge zu
lassen, und zoomte ihn näher heran.
Die
klare Auflösung der Naheinstellung sandte ihr einen kalten
Schauder über den Rücken, obwohl der Spätsommertag
warm war. Damien war einmalig schön mit seinen funkelnden Augen,
die ebenso dunkel waren wie seine üppige Brustbehaarung.
Außerdem war er groß – eindeutig weit über
einsachtzig. Und natürlich brachte er auch das entsprechende
Gewicht auf die Waage.
"Groß,
dunkel und gefährlich", murmelte sie mit einem liebevollen
Lächeln. "Der Herr des Universums, nicht wahr, mein Junge?"
Damien
drehte den markanten Kopf in ihre Richtung. Als er Tonya erblickte,
reagierte er mit einem tiefen Knurren. Und wenn ein Bursche seines
Formats knurrte, konnte das gar nicht anders als bedrohlich wirken.
"Oh!"
Tonya ließ die Kamera sinken und hatte plötzlich Mühe
zu atmen, denn sie erkannte, dass plötzlich sie die Rollen
getauscht hatten und nun sie die Gejagte war.
Ihr
Puls beschleunigte sich rapide, ihr brach der kalte Schweiß aus
bei dem Gedanken. Ihr Herz raste. Das Geräusch hallte in ihren
Ohren wider wie die Brandung am etwa hundert Meter entfernten
felsigen Seeufer.
Er
ist gefährlich.
Wie
ein Warnschuss hallte dieser Satz in ihrem Kopf nach. Dennoch hob sie
erneut die Kamera und machte hastig mehrere Aufnahmen von Damien.
Von
den wütenden Bewegungen seines wuchtigen Körpers erbebte
der mit Blättern und Tannennadeln bedeckte Boden des Waldes, und
eine eigenartige Spannung schien plötzlich in der Luft zu
liegen, so als würde gleich ein Gewitter losbrechen. Regungslos,
ja fast wie erstarrt stand Tonya da, während Damien auf sie
zustürmte, um klarzustellen, wer hier das Sagen hatte. Und um
ihr unmissverständlich zu zeigen, dass sie zu weit gegangen war.
Dies
könnte ihr Tod sein. Wochenlang würde niemand sie
vermissen. Plötzlich fühlte sie sich sehr allein und hatte
große Angst. Aber trotz all ihrer Panik verspürte sie
einen Stich von Wehmut wegen all der Dinge, die sie im Leben noch
vorhatte. Wegen aller Erlebnisse, die ihr entgehen würden. Und
dann setzte ihr Denken aus, denn Damien machte einen weiteren Schritt
auf sie zu.
Sie
hielt den Atem an, ihr Herz pochte zum Zerspringen, und sie wappnete
sich gegen den Hieb, der sie zweifellos treffen würde. Doch
plötzlich, wie durch ein Wunder, blieb Damien stehen und wandte
sich ab.
Erleichtert
atmete Tonya auf, als er im dichten Unterholz der Fichten und Birken
verschwand. Ihre Finger begannen zu prickeln, so fest hielt sie die
Kamera umklammert. Und der Druck auf ihre Blase zeigte, wie stark der
Stress sie mitgenommen hatte.
Nervös lachte sie auf.
"Er
liebt mich", murmelte sie, lächelte zitterig und machte
sich auf den Rückweg zur Hütte.
Es
muss Liebe sein, sinnierte sie. Sonst hätte er sie ganz sicher
angegriffen. Ein verspäteter Adrenalinstoß brachte sie auf
Trab, sie sprintete los und erblickte bald den dünnen Rauchfaden
aus dem Kamin der Hütte, die auf einer Lichtung in etwa
fünfhundert Metern Entfernung von ihrem jetzigen Standort stand.
"Es kann nicht anders sein, oder ich wäre jetzt tot,
anstatt mich zu fragen, ob ich es bis zur Toilette schaffe, bevor ich
in die Hose mache."
Trotz
der ausgestandenen Ängste lachte sie vor Freude über den
glücklichen Zufall, Damien auf freier Wildbahn gestellt zu
haben, wo sie ihn in seiner ganzen Herrlichkeit hatte fotografieren
können. Ohne Zweifel war er der größte, bedrohlichste
und schönste Schwarzbär in ganz Koochichin County,
Minnesota. Und einen Moment lang hatte er ihr, der Fotografin Tonya,
gehört.
"Unglaublich",
sagte Webster Tyler leise, als die laut lachende Frau an ihm vorbei
durch den Wald stürmte. Tonya Griffin würdigte ihn keines
Blickes aus ihren hellblauen Augen.
Zumindest
glaubte er, dass es sich bei diesem seltsamen weiblichen Wesen um die
einsiedlerische Miss Griffin handelte. Er war ihr nie persönlich
begegnet. Allerdings hatte er Fotos der preisgekrönten
Naturfotografin gesehen – die meisten in körnigem
Schwarz-Weiß und in irgendeinem entlegenen Winkel des Erdballs
aufgenommen. Er kannte ihre Arbeiten sehr gut. Wer je eine Ausgabe
von National Geographic oder ähnlichen Zeitschriften
aufgeschlagen hatte, merkte sich ihren Namen. Ihr Talent war
überragend.
Deshalb
war er jetzt hier. Tonya Griffin war die Beste ihres Fachs. Und da
Webster das Beste brauchte, hatte er zähneknirschend die
Zivilisation und sein weiches Bett hinter sich gelassen, in aller
Herrgottsfrühe einen Flug vom Kennedy Airport in New York
genommen, um sie aus den Wäldern zu locken und zu einem Vertrag
mit dem Verlag Tyler-Lanier zu überreden. Und seitdem war alles
schief gegangen.
Angefangen
hatte es damit, dass der Firmenjet nicht verfügbar war, so dass
Webster einen Linienflug nach Minnesota nehmen musste. Seine
Sekretärin Pearl hatte vergessen, ihm das mitzuteilen. Nach
einem dreistündigen Aufenthalt in Minneapolis, der ihm schier
endlos erschienen war, hatte ihn ein winziger Flieger in zwei Stunden
nach International Falls, Minnesota, gebracht, eine Kleinstadt an der
kanadischen Grenze. Da bei der einzigen Mietwagenfirma in diesem
Provinznest alle komfortablen Limousinen ausgeliehen waren, musste er
sich mit einem abgenutzten Kombi zufrieden geben.
Und
als wäre das schon nicht schlimm genug, sagte man ihm, dass er
das Bärenrefugium in den Wäldern, wo Tonya Griffin sich
verbarg, in zwei Stunden erreichen könnte – vorausgesetzt,
er verfuhr sich nicht. Was er prompt tat, und zwar gleich mehrfach.
Erst nach einer wahren Odyssee von vier Stunden und siebenunddreißig
Minuten gelangte er ans Ziel. Unterwegs war er irgendwo in ein
riesiges Schlagloch geraten, seitdem gab der Wagen merkwürdige
Geräusche von sich, was Webster jedoch ignorierte, da er ohnehin
nichts dagegen unternehmen konnte. Er war kein
Kraftfahrzeugmechaniker, ebenso wenig wie Pfadfinder oder
Frischluftfanatiker.
Die
Hände in die Hüften gestützt, schaute er sich grimmig
um und konnte nur den Kopf schütteln über sich und seine
Dummheit. Er befand sich Lichtjahre entfernt von seinem üblichen
Terrain. Als eingefleischter Stadtmensch sehnte er sich von ganzem
Herzen fort aus diesem Land der Elche und Mücken. Und während
er so dastand, umgeben von Felsen, Bäumen, weitem Himmel und der
für ihn völlig ungewohnten Stille, fragte er sich, was er
sich eigentlich dabei gedacht hatte, sich in diese Wildnis zu
begeben.
Die
Antwort war einfach. Er hatte einzig und allein ans Überleben
gedacht. Genauer, an sein wirtschaftliches Überleben. Und an
seinen guten Ruf als Verleger. Dafür brauchte er Tonya Griffin –
ob sie wollte oder nicht.
Er
stieß die Luft aus und sah Tonya nach, wider Willen von ihr
fasziniert. Sie musste ihn doch bemerkt haben, wie er hier am Rand
der Lichtung stand, oder? Es war verwirrend, ja ärgerlich, dass
sie ihn ignoriert hatte, dennoch lächelte er über die
beharrliche Konzentration, mit der sie an ihm vorbeigeschossen war,
als wäre er mit seinen einsdreiundachtzig praktisch unsichtbar.
Anstatt
sich bemerkbar zu machen, verhielt er sich still und schaute ihr
nach, wie sie auf die alte Blockhütte am Rand der Lichtung
zueilte.
"Was
wäre gegen ein kurzes Hallo einzuwenden?" murmelte er,
während sie im Innern verschwand.
Eine
Weile starrte er die geschlossene Tür an. Okay, du kleine Hexe,
und was jetzt? dachte er.
Jetzt
musste er offenbar warten. Es war am klügsten, diplomatisch
vorzugehen. Sein Ruf in der Wirtschaftswelt, ja die Zukunft des
Verlanges hing davon ab.
Er
sagte sich, dass er hier war, um Tonya Griffins Sympathie zu
gewinnen, und nahm sich vor, an der Exzentrik dieser als Einsiedlerin
bekannten Frau keinen Anstoß zu nehmen.
Er
war doch tolerant. Immerhin kam er ihr sehr weit entgegen, oder
nicht? Er war bereit, eine Frau zu umgarnen, die ohne jeden Zweifel
ein rechtes Ekel war.
Er
bückte sich und hob die Mütze mit Tarnzeugmuster auf, die
ihr beim Laufen vom Kopf geflogen war. Jawohl, dachte er, während
er eine auf seinem Hals sitzende Mücke erschlug, ich bin äußerst
tolerant. Vor allem, wenn mir gar nichts anderes übrig bleibt.
Eine
Tür klappte, Webster wandte den Kopf und richtete den Blick auf
die Blockhütte. Der Anlass für seine Pilgerreise ins Herz
der Wildnis stand an der Treppe und starrte ihm ungehalten direkt ins
Gesicht. Tonyas hellblaue Augen hatten sich verdunkelt und wirkten
plötzlich so drohend wie ein Gewitterhimmel.
"Sie
befinden sich auf Privatbesitz", erklärte sie.
Was
in diesem Fall offensichtlich mit Feindgebiet gleichzusetzen ist,
schoss es ihm durch den Kopf. Dennoch brachte er ein Lächeln zu
Stande. Im Grunde fiel es ihm nicht schwer, Tonya anzulächeln.
Es war nie schwierig, einer Frau zuzulächeln, und obwohl diese
Frau keine strahlende Schönheit war, hatte sie doch eine
angenehme Ausstrahlung und einen natürlichen Charme.
"Sie
sind nicht gerade leicht aufzuspüren", stellte er fest.
Sie
verschränkte die Arme, was seinen Blick auf ihre Brüste
lenkte, und musterte ihn misstrauisch. "Offenbar immer noch zu
leicht."
Er
trat vor und streckte ihr die Hand hin. "Ich bin Webster
Taylor."
Sie
kam ihm kein bisschen entgegen. Sie gab ihm auch nicht die Hand,
sondern riss ihm die Mütze weg, die er aufgehoben hatte. "Das
weiß ich."
"Großartig",
gab er ein wenig überrascht zurück. "Dann brauche ich
Ihnen ja meinen Lebenslauf nicht herunterzubeten. Und Sie werden
lachen, ich weiß auch, wer Sie sind."
Tonya
verzog keine Miene. Sie betrachtete ihn nur schweigend und stieß
dann sichtlich gereizt die Luft aus. "Was wollen Sie, Tyler?"
fragte sie kurz angebunden.
Am
liebsten ganz woanders sein, Schätzchen, hätte er beinahe
geantwortet. "Wie wär's mit einer Tasse Kaffee, für
den Anfang?"
Sie
lehnte sich mit der Hüfte ans Verandageländer und wies mit
dem Kinn auf das, was man nur mit einigem Wohlwollen als Straße
bezeichnen konnte. "Da müssen Sie schon ins Driftwood Café
gehen", erwiderte sie ungnädig. "Etwa zwanzig Meilen
an dem Weg, den Sie gekommen sind, auf der linken Seite. Es ist nicht
zu verfehlen. Sie haben dort auch ganz guten Kuchen."
Das
stimmte vermutlich. Wahrscheinlich war es gar nicht zu verfehlen,
zumal er auf seiner Irrfahrt bereits drei Mal an der Kreuzung
gelandet war, wo das Driftwood Café stand. Unwillkürlich
lachte er über seine Unbeholfenheit, über die ganze
unmögliche Situation und über Tonyas finsteren
Gesichtsausdruck. "Sie halten wohl nicht viel von
Gastfreundschaft, wie?"
"Ich
bin beschäftigt, Mr. Tyler. Es dauert mindestens noch fünf
Stunden, bis ich Feierabend mache."
"Schön."
Ganz auf seinen männlichen Charme setzend, zwang Webster sich zu
einem neuerlichen gewinnenden Lächeln, als sie die Stufen
herunterkam und zum zweiten Mal an diesem Tag an ihm vorbeiging. "Ich
warte, bis Sie fertig sind, damit wir uns unterhalten können."
Tonya
blieb stehen und blickte ihn über die Schulter an. "Wie Sie
wollen."
Wie
gebannt stand er da und beobachtete sie bei ihren diversen
Tätigkeiten. Die Spätnachmittagssonne zauberte goldene
Glanzlichter in ihr hellblondes Haar, das sie achtlos zu einem
dicken, langen Zopf geflochten hatte. Ein paar Strähnen hatten
sich gelöst und umspielten ihre Wangen und ihren Hals. In den
geflochtenen Haaren steckten Blätter und kleine Zweige, fast so,
als wären sie in einem feinen Spinnennetz gelandet. Bestimmt
haben sich in ihrem Zopf auch ein paar Spinnweben verfangen, dachte
Webster missbilligend und ging hinüber zur Verandatreppe.
Er
ließ sich auf der untersten Stufe nieder, faltete die Hände
und stützte die Ellbogen auf die Knie. Er würde warten.
Irgendwann musste sie ja Zeit für ihn haben.
Er
schaute sich auf der Lichtung um, doch immer wieder ging sein Blick
zu Tonya. Schließlich gab er es auf, sich etwas vorzumachen,
und konzentrierte sich ganz auf sie. Er schrieb es seiner Langeweile
zu, denn diese Frau hatte absolut nichts an sich, das einen Mann zu
näherem Hinsehen veranlassen könnte.
Ja,
die Langeweile war schuld daran, dass er sich so verhielt. Keine zwei
Stunden hatte er an diesem gottverlassenen Fleck verbracht, und schon
fühlte er sich gründlich angeödet. Alles war
langweilig: die Bäume, die Einsamkeit, die beängstigende
Stille der Wälder, der frühherbstliche Himmel, der herbe
Duft der Bäume und Gräser. Er sehnte sich nach New York,
dem Pulsschlag der Großstadt, den Lichtern, dem Tempo. Er hätte
sogar lieber die ungesunde abgasreiche Stadtluft geatmet als die
klare Luft hier draußen. Verdammt! Er konnte es sich nicht
leisten, seine Zeitschrift so lange zu vernachlässigen.
Andererseits – laut Pearl – konnte er es sich auch nicht
leisten, diese Reise zu unterlassen; er musste die unvergleichliche
Tonya Griffin persönlich in seine Netze, sprich, in seinen
Verlag locken.
Er
hörte sie in einem kleinen Schuppen rumoren, und als sie wieder
auftauchte, beladen mit Näpfen, die gefüllt waren mit
etwas, das nach Hundefutter aussah, fand er ihren Anblick zu seinem
eigenen Erstaunen reizvoll. Es war lächerlich. Warum sollte
ausgerechnet diese seltsame Frau ihn erregen? Schließlich war
sie ganz und gar nicht sein Typ. Er fragte sich sogar, wessen Typ sie
überhaupt sein mochte.
Welcher
Mann, überlegte er, würde sich für diese halbe Portion
interessieren, eine Fotografin, die sich lieber mit vierbeinigen
Raubtieren als mit Männern umgab und deren Garderobe nur eine
Farbe zu kennen schien: Kaki. Mit höchstens einem T-Shirt in
Tarnfarben als minimalem Farbtupfer. Und dazu diese hässlichen
schlammfarbenen geschnürten Wanderstiefel. Echt abturnend, diese
martialische Kluft!
Er
streckte die Beine lang aus, schlug die Füße übereinander,
stützte die Ellbogen hinter sich auf die nächsthöhere
Stufe und bereitete sich auf eine längere Wartezeit vor.
Allerdings gelang es Tonya nicht, ihre Weiblichkeit vollständig
zu verbergen. Wenn er die Augen zusammenkniff, gewahrte er ein
interessantes Wippen unter ihrem Shirt, während sie sich eifrig
bewegte. Intelligent, wie er war, schloss er daraus, dass Miss
Griffin einen Busen hatte. Vielleicht sogar einen hübschen, doch
sie war eindeutig nicht auf Bewunderung aus.
Mit
schräg gelegtem Kopf begutachtete er ihre Beine. Die waren auch
nicht übel, wenn man sich die Beulen von den Mückenstichen,
die Kratzer und Risse und die Schmutzstreifen an den Knien wegdachte.
Und dann ihr Po … Webster musste zugeben, ihr Po war perfekt
mit seiner prallen Form, die an einen knackigen Apfel erinnerte.
Nicht einmal die weiten Shorts konnten das verbergen.
Verbergen
schien ohnehin Tonya Griffins Hauptinteresse neben dem Fotografieren
zu sein. Er kannte sie zwar nicht persönlich, aber er wusste
einiges über sie. Alles an dieser Frau mit dem hübschen
Busen, dem erstklassigen Po und dem glänzenden blonden
Engelshaar verkündete, wie sehr sie drauf bedacht war, ihre
Reize zu verbergen. Offenbar versuchte sie, ihre Weiblichkeit zu
leugnen. Und sie vergrub sich weit weg von der Zivilisation in
einsamen Wäldern, die für einen Großstädter der
pure Horror waren, weil dort alle möglichen Gefahren in Gestalt
von wilden Tieren lauerten. Von giftigem Efeu und anderen reizenden
Pflanzen ganz zu schweigen.
Keine
Frage, mit einer Frau, die sich freiwillig in eine solche Umgebung
begab, konnte er nicht viel anfangen. Natürlich war sie auf ihre
Art attraktiv. Sie hatte schöne blaue Augen – die
vermutlich niedlich funkelten, wenn sie lachte. Er hatte jedoch nur
ein umwölktes Blau gesehen, wie ein Gewitterhimmel. Ihre vollen
Lippen waren sinnlich geschwungen; außerdem hatte sie eine
hübsche, zierliche Nase, eine hohe Stirn und Wangenknochen, die
jedem Model zur Ehre gereicht hätten. Mit ein wenig Make-up
könnte sie ein ganz anderer Mensch sein.
So
wie die Frauen aus seiner Welt. Frauen, die ihre Vorzüge durch
ein geschicktes Make-up betonten, Designerkleidung trugen und perfekt
geschnittenes Haar hatten. O ja, er kannte sich mit sorgfältig
manikürten Nägeln, aufreizendem Verhalten und
Stilettoabsätzen aus. Er mochte Raffinesse, Ehrgeiz und die
Spielchen, die in der Großstadt zwischen Männern und
Frauen abliefen.
Was
er nicht begriff, war eine Frau, die nach Insektenspray roch und
deren einziger Luxus in der teuren Kamera bestand, die sie bei sich
hatte, als sie wie die Feuerwehr aus dem Wald gestürmt kam. Er
verstand diese Frau nicht, die nicht einmal den Versuch machte, mit
ihm zu flirten, sondern sich ausgesprochen kratzbürstig gab. Sie
ging ihm bereits mächtig auf die Nerven, obwohl sie nur wenige
Worte miteinander gewechselt hatten.
Eine
halbe Stunde verging. Allmählich verlor er die Geduld und
beschloss, ein Gespräch mit ihr anzufangen – so oder so.
Er wollte ihre Unterschrift, und dann würde er schnellstens
verschwinden. Doch kaum war er aufgestanden und hatte sich den Staub
vom Hosenboden abgeklopft, als sich seine Nackenhaare sträubten.
Er
fühlte sich beobachtet. Von wem, wusste er nicht, aber da hier
außer Tonya niemand wohnte, wie er in Erfahrung gebracht hatte,
waren die Möglichkeiten begrenzt.
Langsam
wandte er den Kopf. Und erstarrte.
Keine
zwei Meter von ihm entfernt stand ein gewaltiger Schwarzbär auf
den Hinterbeinen – ein wahres Monster und vermutlich sehr, sehr
hungrig. Mit einem einzigen Tritt oder Prankenhieb könnte dieser
Riese ihn umbringen. Und er gab ein tiefes Knurren von sich, das
nichts Gutes verhieß.
Jeder
Muskel in Websters Körper spannte sich. Nur weg hier! sagte sein
Instinkt. Je schneller, desto besser. Er wollte gerade lossprinten,
als er jemanden hinter sich spürte.
"Nicht
bewegen", sagte seine unfreundliche Gastgeberin mit leiser,
ruhiger Stimme direkt hinter ihm. Er hatte weder sie noch den Bären
kommen hören.
Jetzt
hörte er ohnehin nichts anderes als das drohende Knurren des
Tieres und das Rauschen des Bluts in seinen Ohren. Und obwohl sein
erster Impuls Flucht gewesen war, musste er nun erkennen, dass er
unfähig war, sich zu rühren. Der Bär mit seinen Furcht
erregenden Zähnen und messerscharfen Krallen musterte ihn mit
seinen großen kohlschwarzen Augen und schnüffelte laut.
"Haben
Sie etwas Essbares bei sich?"
Ohne
den Blick von dem schwarzen Ungeheuer zu nehmen, das in ihm
offensichtlich die Vorspeise zu seinem Abendmenü sah, versuchte
Webster nachzudenken. "Nein. O ja, doch. After Eight." Er
hatte die Packung am Flughafen aus einem Automaten gezogen.
"Holen
Sie sie ganz, ganz langsam heraus. Keine hastigen Bewegungen. …
Ja, so ist es gut. Und jetzt werfen Sie sie ein paar Meter weit weg.
Gut. Heben Sie nun langsam die Hände, die Handflächen nach
außen, damit er sieht, dass sie leer sind."
Webster
gehorchte schweigend. Der Bär schnüffelte ein letztes Mal,
dann trabte er davon, um sich die Leckerei zu holen. Erstaunlich
geschickt riss das Tier die Packung auf, verschlang die dünnen
Schokoladenplätzchen und trottete einen Pfad entlang zu einem
der Näpfe mit Hundefutter, die Tonya am Rand der Lichtung
platziert hatte.
Erst
jetzt konnte Webster wieder Luft holen. Er brachte sogar ein Lächeln
zu Stande. "Überlebenslektion Nummer eins", erklärte
er und schaute in Tonyas düstere Miene. "Nie zwischen einem
Bären und seinem Pausensnack stehen. Außer, man möchte
der Snack sein."
Der
Scherz entspannte ihn, aber bei Tonya blieb er wirkungslos.
"Lektion
Nummer zwei: Lektion eins wird nicht wiederholt." Sie ging um
ihn herum und die Treppe zur Veranda hinauf, wobei sie in Richtung
Straße wies. "Oscar ist der Erste aus der Bärentruppe,
die sich innerhalb der nächsten Stunde ihren Abendimbiss holen
wird. Nicht alle sind so freundlich wie er. Wenn ich Sie wäre,
würde ich mich aus dem Staub machen, solange ich noch kann. Zur
Schnellstraße und zur Zivilisation geht es dort entlang."
Webster
starrte die zufallende Tür an. Er fuhr sich durchs Haar und
stellte beschämt fest, dass seine Hand zitterte.
"Amüsieren
wir uns nicht prächtig, Tyler?" murmelte er und stapfte
ebenfalls die Treppe hoch, nachdem er sich hastig überzeugt
hatte, dass der Bär sich in die andere Richtung davongemacht
hatte.
Nein,
er amüsierte sich überhaupt nicht. Man hatte ihn aus New
York weggescheucht, er war stundenlang in einem Müllkübel
auf Rädern in fremder Landschaft umhergeirrt, um dann auf eine
schlecht gelaunte Frau in Wanderstiefeln zu stoßen, die ihn
widerstrebend vor einem hungrigen Bären gerettet hatte.
Das
war alles andere als lustig. Während er zunächst nur leicht
irritiert war, hatte er jetzt endgültig die Nase voll. Es lag
nicht allein daran, dass er sich hier nicht in seinem Element fühlte.
Auch nicht daran, dass Miss Wildnis so abweisend war und nicht einmal
sein Angebot hören wollte. Es lag an der Tatsache, dass sie
diejenige war, die das Kommando führte. Das war er nicht
gewohnt.
Das
ging ihm gewaltig an die Substanz.
Dies
war ihr Terrain, so viel stand fest. Führungsetagen,
Schlafzimmer, elegante Restaurants, die Börse – das war
sein Gebiet. Unbefestigte Landstraßen, Blockhütten, Wald,
so weit das Auge reichte, das alles interessierte ihn nicht, und
lebendige Bären schon gar nicht. Oder barsche Absagen.