1. KAPITEL
Während der Zug aus London den Tamar überquerte, spürte Rhianna, wie sich das unangenehme Kribbeln in ihrem Bauch in handfeste Panik verwandelte.
Ich sollte das nicht tun, dachte sie verzweifelt. Ich habe kein Recht, bei dieser Hochzeit dabei zu sein – in der Kirche von Polkernick zu stehen und Carrie dabei zuzusehen, wie sie mit Simon vermählt wird.
Sie hätte sich fernhalten sollen, das wusste sie eigentlich schon, als die Einladung kam. Immerhin hatte man ihr bereits unmissverständlich klar gemacht, dass sie nicht willkommen war.
Warum sitze ich also in diesem Zug? fragte sie sich. Warum habe ich mich auf diese Reise gemacht?
Seit die Verlobung bekannt gegeben worden war, hatte Rhianna sich vor der offiziellen Einladung gefürchtet und im Geiste schon eine schriftliche Entschuldigung vorformuliert, um sich von Anfang an als Brautjungfer auszuschließen.
Doch dann rief Carrie unerwartet an und verkündete, sie würde nach London kommen, um für ihre Aussteuer einzukaufen. Sie wollte Rhianna unbedingt zum Lunch treffen.
„Du musst einfach kommen, Süße!“, rief sie aufgeregt und lachte übermütig. „Es ist vermutlich die letzte Gelegenheit, nachdem Simon diesen Job in Kapstadt angenommen hat. Wer weiß, wann wir das nächste Mal nach England zurückkehren …“
„Kapstadt?“ Rhianna bemerkte den scharfen Klang ihrer Stimme und räusperte sich schnell. Dann fuhr sie betont unbeschwert fort: „Ich hatte ja gar keine Ahnung, dass ihr vorhabt … im Ausland zu leben.“ Niemand hatte ihr etwas davon gesagt!
„Ach, das war überhaupt nicht so geplant“, erklärte Carrie fröhlich. „Ein Bekannter von Raoul eröffnet dort ein neues Geschäft und hat Simon ein Angebot gemacht, das er unmöglich ausschlagen konnte.“
Raoul …
Stumm wiederholte Rhianna seinen Namen, und ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Natürlich sorgte Raoul dafür, dass Simon in sicherer Entfernung untergebracht wurde, wo er keinen Schaden mehr anrichten konnte.
Quer über Kontinente und Ozeane zog Raoul die Fäden, damit alle nach seiner Pfeife tanzten. Unter anderem seine geliebte jüngere Cousine Carrie, die nun mit dem Mann, den sie ihr ganzes Leben lang verehrte, vor den Altar treten sollte.
Das perfekte Paar, dachte Rhianna, und ihr Hals wurde unangenehm eng. Nichts durfte und nichts würde dazwischenkommen.
Sie hätte Ausflüchte erfinden müssen, um diesem Mittagessen zu entkommen, andererseits freute sie sich darauf, Carrie wiederzusehen. Allerdings musste Rhianna sich zusammenreißen, nichts Falsches zu sagen, während ihre Freundin über Simon und die Hochzeitspläne plauderte. Kein einziges, verräterisches Wort durfte Rhianna über die Lippen kommen, kein falscher Blick, keine Andeutung.
Es war hart gewesen, Carrie gegenüberzusitzen, während sie freudestrahlend von ihrem Glück berichtete. Mit nur einem einzigen Satz hätte sie die Vorfreude der jungen Frau in einen regelrechten Albtraum verwandeln können. Simpel, aber unvorstellbar!
„Du wirst also zu unserer Hochzeit kommen, hoch und heilig versprochen?“, bettelte Carrie. „Damit bringst du die nötige Portion Verstand in den gesamten Ablauf, Süße! Ein Fels in der Brandung, an den ich mich klammern kann, denn das werde ich bitter nötig haben“, fügte sie hinzu und schauderte. „Die Schwiegermütter umkreisen sich schon in stummer Angriffslust, und ich befürchte, es wird ein blutiges Ende nehmen.“
Dem konnte Rhianna nur zustimmen. Aber um der Feier fernzubleiben, hätte sie Gründe anführen müssen, von denen die Braut niemals etwas erfahren durfte. Vor allem, weil Carrie ihre Freundin war. Die erste wirkliche Freundin, die Rhianna je gehabt hatte und die ihr jene Zuneigung entgegenbrachte, die auf Gut Penvarnon schwer zu finden war.
Carrie war für Rhianna da gewesen, und Simon, natürlich. Damit hatten die Probleme begonnen.
Und jetzt war Carrie hier, um sich in aller Unschuld von ihrer geliebten Freundin versichern zu lassen, dass keine zehn Pferde Rhianna davon abhalten konnten, zur Hochzeit zu erscheinen. Allerdings waren zehn Pferde nichts gegen die unendliche Macht des arroganten Raoul Penvarnon, gegen dessen ausdrücklichen Willen sich Rhianna auf ihre verhängnisvolle Reise begeben hatte!
Seine Verärgerung hing über ihr wie eine dunkle Gewitterwolke. Es fühlte sich an, als würde er immer noch direkt neben ihr stehen und ihr drohen: „Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!“
Allein beim Gedanken daran wurde Rhiannas Mund trocken, und sie griff hastig nach der Mineralwasserflasche vor sich.
Reiß dich zusammen! ermahnte sie sich. Du bist nur für drei Tage in Cornwall, höchstens vier. Nach der Hochzeit verschwindest du einfach – dieses Mal für immer.
Außerdem würde Raoul vermutlich gar nicht persönlich vor Ort sein. Vielleicht war er längst wieder in Südamerika in der Annahme, dass seinen Wünschen auch während seiner Abwesenheit bedingungslos Folge geleistet wurde.
Die übrigen Bewohner des beeindruckenden Familienlandsitzes waren sicherlich nicht begeistert von ihrem Besuch, aber niemand würde so unhöflich sein und es ihr zeigen. Rhiannas Lippen verzogen sich zu einer schmalen Linie. Keiner würde mehr auf sie herabschauen und sie wie einen Eindringling behandeln. Dieser Teil ihres Lebens gehörte endgültig der Vergangenheit an, und Rhianna wollte dafür sorgen, dass sich daran auch nichts änderte.
Sie war nicht länger die unscheinbare Nichte der Haushälterin, mit der sich Caroline Seymour zum Leidwesen der gesamten Familie angefreundet hatte.
Jetzt war sie Rhianna Carlow, Schauspielerin und aktueller Star der preisgekrönten Serie Castle Pride. Eine unabhängige Frau mit einem eigenen Leben und einer eigenen Wohnung, die es nicht länger nötig hat, sich im Schlussverkauf oder aus dem Altkleidercontainer einzukleiden. Und all das hatte Rhianna niemandem außer nur sich selbst zu verdanken.
Sie war erfolgreich, und die Leute erkannten sie auf der Straße. Noch vor wenigen Stunden – als sie in Paddington in den Zug gestiegen war – hatte sie bemerkt, wie einige der Fahrgäste sich unauffällig anstießen, in ihre Richtung zeigten und miteinander tuschelten.
Aus Erfahrung wusste sie, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis der Erste sie nach einem Autogramm oder nach der Erlaubnis fragte, mit ihr ein Foto machen zu dürfen. Lächelnd würde sie sich den Wünschen ihrer Fans fügen, so wie sie es immer tat, damit die Menschen erkannten, wie liebreizend und charmant sie war.
Eine weitere professionelle Kostprobe ihres beruflichen Könnens. Das war noch der einfache Teil im Leben einer Rhianna Carlow.
Aber übermorgen würde es all ihre schauspielerische Fähigkeit in Anspruch nehmen, schweigend dazustehen und dabei zuzusehen, wie Carrie Simons Ehefrau wurde. Mit jeder Faser ihres Körpers wollte sie hinausschreien: Nein, das darf nicht sein! Ich werde es nicht zulassen! Das muss sofort aufhören – zum Wohle aller!
Aber würde sie es übers Herz bringen, aufzustehen und die grausame Wahrheit auszusprechen? Nur um dann das Licht der Hoffnung in Carries Augen erlöschen zu sehen, sobald ihr klar wurde, wie schändlich Simon sie betrogen hatte?
Carrie war immer ein Sonnenschein gewesen, mit hellblonden Haaren und einem bildhübschen Gesicht. Sie strahlte von innen und hatte die dunkelhaarige Rhianna, die Außenseiterin, wie einen kleinen Mond in ihren Orbit gezogen. Durch ihre Wärme war Rhianna buchstäblich zum Leben erwacht und für die abweisende Kälte ihrer Tante und die Feindseligkeit der übrigen Bewohner von Penvarnon House entschädigt worden.
Sie konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als sie mit ihren zwölf Jahren frierend und unglücklich vor dem Haupthaus gestanden hatte. Mit einem tonnenschweren schlechten Gewissen, weil sie gerade die strikte Regel ihrer Tante missachtete, die ihr verbot, sich frei auf dem Grundstück zu bewegen. Rhiannas Zuhause war eine kleine Wohnung, eingebaut in die früheren Stallungen. Zum Spielen dufte sie nur in das Stallgebäude und auf den umliegenden Hof gehen.
„Dass du hierbleiben darfst, ist ein riesiges Zugeständnis von Mrs. Seymour, und dafür musst du immer sehr dankbar sein“, hatte Tante Kezia sie ermahnt. „Und die Bedingung ist: Du verlagerst deine Aktivitäten in die Nähe deiner Unterkunft, nicht darüber hinaus! Verstanden?“
Nein, hatte Rhianna voller kindlicher Rebellion gedacht.
Sie verstand nicht, warum ihre Mutter gestorben war, oder warum sie nicht in London bei Mr. und Mrs. Jessop bleiben durfte, die ihr Unterstützung angeboten hatten. Rhianna konnte nicht begreifen, wieso ihre Tante sie an einen Ort brachte, wo niemand sie haben wollte, am wenigsten ihre Tante selbst. Hier war Rhianna vom Rest der Welt und von allem, was sie kannte, abgeschnitten.
Dabei wollte sie gar nicht ungehorsam sein, doch die leer stehenden, dunklen Stallungen waren keine besonders reizvolle Umgebung für ein junges Mädchen, und das offene Tor, das auf die gepflegten Rasenflächen des Haupthauses führte, wirkte absolut unwiderstehlich auf sie.
Nur ein schneller, verbotener Blick, nahm sie sich vor. Danach wollte sie das Gatter wieder schließen, und niemand würde etwas davon erfahren.
Also folgte sie dem Kiesweg und fand sich schließlich auf der Hintertreppe des Hauses wieder. Über den seitlichen Rasen kamen zwei Kinder etwa in ihrem Alter auf sie zugestürmt. Das Mädchen erreichte sie zuerst und lief lachend die Stufen hinauf.
„Hallo, ich bin Carrie Seymour, und das hier ist Simon. Hat deine Mutter dich zum Kaffeetrinken mitgebracht? Das ist doch langweilig! Wir wollten gerade runter in die Bucht. Komm lieber mit uns mit!“
„Ich kann nicht“, presste Rhianna hervor und hatte fürchterliche Angst vor den Schwierigkeiten, in die sie sich gebracht hat. „Ich dürfte gar nicht hier sein. Meine Tante hat mir gesagt, ich soll bei den Ställen bleiben.“
„Deine Tante?“, fragte das Mädchen und machte eine kleine Pause. „Oh, dann bist du bestimmt Miss Trewints Nichte? Ich habe gehört, wie Mummy und Daddy über dich geredet haben.“ Wieder zögerte sie etwas, dann hellte sich ihr Gesicht plötzlich auf. „Aber du kannst doch nicht die ganze Zeit auf dem Hof bleiben, ohne dort was machen zu können. Das ist albern. Komm mit Simon und mir mit! Ich regle das schon mit Mummy und Miss Trewint, du wirst sehen.“
Und auf wundersame Weise war das Carrie tatsächlich gelungen. Vermutlich mit einem engelsgleichen Lächeln in Verbindung mit gnadenloser Sturheit – wie üblich. Fröhlich hatte sie darauf bestanden, dass Rhianna im Haupthaus lebte und sie beide Freundinnen wurden. Ende der Geschichte.
Und der Beginn einer anderen … Allerdings hatte damals noch keiner von ihnen eine Ahnung davon. Eine Geschichte von Geheimnissen, Betrug und Unglück – ohne Happy End.
Ich hätte bei den Ställen bleiben sollen, dachte Rhianna jetzt ernüchtert. Dort wäre ich sicherer gewesen.
Aber an diesem Tag ging sie mit hinunter ans Meer, planschte barfuß im kristallklaren Wasser und war zum ersten Mal seit Wochen wieder ein richtig glückliches Kind. Sie nahm an, Simon – der ein paar Jahre älter war – wäre Carries Bruder, doch weit gefehlt!
„Mein Bruder? Himmel, nein! Wir sind beide Einzelkinder, genau wie du“, erklärte Carrie unbeschwert. „Und er ist eigentlich nur ein Tourist. Eine von den Ameisen!“ Lachend wich sie aus, als ihr Simon mit grimmiger Miene einen Stoß versetzen wollte.
„Was meinst du damit?“, fragte Rhianna verwundert.
Simon schnitt eine Grimasse. „So nennt man hier die Menschen, die nicht in Cornwall leben, sondern nur für die Ferien herkommen. Und weil im Sommer so viele Besucher an die Küste kommen, bezeichnen die Einwohner sie als Ameisenplage. Auf mich trifft das aber nicht wirklich zu, weil wir ein eigenes Haus in der Nähe besitzen und unser halbes Leben hier verbringen.“
„Deshalb müssen wir uns auch wochenlang am Stück mit ihm rumschlagen“, jammerte Carrie übertrieben.
Aber so jung sie auch waren, instinktiv wusste Rhianna, dass Carrie es nicht ernst meinte und Simon schon längst das Zentrum ihres kleinen Universums war.
Am Ende der Osterferien würden die beiden auf ihre Eliteinternate zurückkehren, während Rhianna die örtliche Schule in Lanzion besuchte.
„Ich freue mich schon auf die langen Sommerferien“, rief Carrie begeistert. „Dann ist das Wasser in der Bucht ganz niedrig, und wir können jeden Tag schwimmen oder picknicken, und bei schlechtem Wetter gehen wir einfach in die Hütte.“
Damit meinte sie das große Holzhaus, das direkt am Strand stand. Darin befanden sich nicht nur jede Mende Sonnenliegen, Stühle und Auflagen, sondern auch ein großzügiger Wohnzimmerbereich mit eingebauter Küchenzeile, Schlafsofa und riesigem Esstisch. Der alte Ben Penvarnon, Raouls Vater, hatte sogar Stromleitungen verlegen lassen.
„Es wird großartig“, versprach Carrie mit einem hinreißenden Lächeln auf den Lippen. „Ich bin wirklich froh, dass du hier eingezogen bist.“
Selbst Tante Kezias offensichtliches Missfallen und die Tatsache, dass Carries Mutter, Moira Seymour, Rhianna bei den wenigen Begegnungen, die sie hatten, völlig ignorierte, konnten Rhiannas wachsendes Wohlbefinden nicht stören. Sie entspannte sich zunehmend und fühlte sich mehr und mehr zu Hause.
Aber noch immer trauerte sie um ihre Mutter, umso mehr, nachdem Tante Kezia verboten hatte, den Namen Grace Carlow in ihrer Gegenwart zu erwähnen. Jedes Gespräch über Rhiannas Mutter war tabu. Es gab keine Fotos oder andere Erinnerungsstücke – selbst das gerahmte Bild von der Hochzeit ihrer Eltern wurde ihr weggenommen und in einer Schublade verstaut.
Wenigstens gefiel Rhianna die neue Schule, und am Ende des Schuljahres bekam sie sogar eine Rolle in einem Theaterstück der Schülergruppe. Die Aufführung sollte nach intensiven Proben dann kurz vor Weihnachten stattfinden.
Doch leider hatte Tante Kezia etwas dagegen. „Du wirst nichts dergleichen tun!“, bestimmte sie eisern. „Ich lasse nicht zu, dass du dich in den Vordergrund drängst, denn so etwas bringt nur Ärger. Und davon hatten wir in der Vergangenheit weitaus genug“, fügte sie voller Bitterkeit hinzu. „Einmal abgesehen von dem ganzen Quatsch mit Miss Caroline. Und das, nachdem ich dir eindeutige Anweisungen gegeben habe!“ Geräuschvoll holte sie Luft. „Denk bitte immer daran, dass du hier nur geduldet wirst, Mädchen, und halte dich möglichst im Hintergrund! Kaum zu glauben, dass Mrs. Seymour dir erlaubt hat, in ihrem Haus zu leben.“
„Penvarnon House gehört doch gar nicht ihr“, widersprach Rhianna. „Carrie hat mir erzählt, dass der eigentliche Besitzer ihr Cousin Raoul ist. Aber der ist die meiste Zeit im Ausland, er reist als Bergbauspezialist durch die ganze Welt, und oft lebt er in Südamerika, weil er dort Ländereien besitzt. Carries Eltern passen für ihn auf das Anwesen auf. Sie sagt, wenn er irgendwann heiraten sollte, müssen sie sich eine andere Bleibe suchen.“
„Miss Caroline redet eindeutig zu viel“, antwortete ihre Tante grimmig. „Auf jeden Fall werde ich ein Wörtchen mit deiner Lehrerin sprechen. Und du schlag dir diesen Schauspielblödsinn aus dem Kopf – ein für alle Mal!“
Trotz Rhiannas tränenreicher Proteste war ihre Tante zur Schule gefahren.
„Du Arme“, bedauerte Carrie ihre Freundin, nachdem sie erfahren hatte, was geschehen war. „Dauernd ist sie so gemein zu dir. War sie schon immer so?“
Rhianna schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht“, sagte sie unglücklich. „Zum ersten Mal bin ich ihr bei Mummys Beerdigung begegnet. Da hat sie mir gesagt, dass sie zu meinem Vormund bestimmt worden ist und ich bei ihr leben sollte. Davor habe ich nicht einmal zu Weihnachten oder zum Geburtstag etwas von ihr gehört. Und man hat ihr angemerkt, dass sie nicht begeistert von dem Gedanken war, mich zu sich zu nehmen.“ Sie seufzte. „Und hier bin ich auch nicht wirklich willkommen. Ich wünschte, mir würde einfach mal jemand sagen, was ich eigentlich falsch gemacht habe.“
„Es liegt nicht an dir“, versicherte Carrie ihr. „Da bin ich mir ganz sicher.“
Rhianna biss sich auf die Lippe. „Du hast einmal gesagt, du hättest gehört, wie deine Eltern über mich gesprochen haben. Erzählst du mir, worum genau es dabei ging?“
Carries Gesicht lief rot an. Nach einer kurzen Pause sagte sie: „Das ist schon so lange her. Ich bin mir nicht sicher, dass ich es noch richtig in Erinnerung habe. Außerdem hätte ich sowieso nicht lauschen dürfen“, setzte sie kleinlaut hinzu. „Und ich halte es für besser, wenn du es von deiner Tante direkt erfährst.“
„Sie weigert sich aber, über diese Themen zu reden“, erklärte Rhianna verzweifelt und sah ihre Freundin flehentlich an. „Oh, bitte, Carrie! Ich muss endlich wissen, wieso mich jeder abzulehnen scheint.“
Carrie seufzte gequält. „Nun gut. Ich habe also im Erker gesessen und gelesen, als meine Eltern plötzlich in den Salon kamen. Sie haben mich nicht bemerkt, und meine Mutter sagte gerade, sie könne nicht fassen, dass Kezia Trewint die Dreistigkeit besitzt, ein fremdes Kind ins Haus zu holen. Mein Vater war der Meinung, dass deine Tante wohl keine andere Wahl gehabt hätte. Er riet dann meiner Mutter, nicht übereilt zu reagieren, weil man kaum eine Haushälterin finden würde, die so gut und tüchtig wie deine Tante ist.“
Sie schluckte ein paar Mal. „Danach meinte er, du wärst doch nicht schuld an der Situation. Man könne dich nicht für Dinge verantwortlich machen, die deine Mutter lange vor deiner Geburt getan hat. Meine Mutter solle das einfach akzeptieren. Daraufhin erklärte Mum, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fiele und gefragt, was wohl Raoul dazu sagen würde wenn er je davon erführe. Mein Vater hat versucht, sie zu beruhigen, aber vergeblich. Also ist er in seinen Golfclub gefahren.“
Tränen standen Carrie in den Augen. „Es tut mir so leid, Rhianna. Ich hätte mir das niemals anhören dürfen. Aber als ich dich kennenlernte, habe ich mich so gefreut, und ich fand es schade, wie einsam und verloren du wirktest. Ich fand, dass mein Vater recht hat. Nur jetzt befürchte ich, ich habe alles viel schlimmer gemacht.“
„Nein“, sagte Rhianna langsam. „Nein, das hast du nicht. Versprochen! Es ist nur … Ich wollte es wirklich wissen.“ Sie legte den Kopf in den Nacken. „Außerdem haben sie nicht recht. Meine Mutter war eine wundervolle Person.“
Und bildschön war sie auch, dachte Rhianna. Mit dunkelbraunen, glänzenden Haaren, die laut ihres Vaters die Farbe von Mahagoni hatten. Ihre grünen Augen veränderten die Form, wenn sie lachte.
Rhiannas Haare waren eher rotbraun.
Sie schluckte. „Nach Daddys Tod hat sie sich einen Job als Betreuerin gesucht. Und die Menschen, um die sie sich gekümmert hat, liebten sie alle. Es gab nur positive Rückmeldungen. Und Mrs. Jessop sagte einmal, wenn meine Mum sich nicht ständig um andere gekümmert hätte, wäre ihr vielleicht früher aufgefallen, dass etwas mit ihrer eigenen Gesundheit nicht stimmte. Dann hätte sie zum Arzt gehen können, bevor es … zu spät war.“ Ihre Stimme zitterte leicht. „Du siehst also, das muss ein Missverständnis sein. Anders kann ich mir das nicht erklären.“
Tröstend legte Carrie ihr eine Hand auf die Schulter. „Bestimmt hast du recht“, sagte sie, doch in ihren Augen blitzten deutlich Zweifel auf. Immerhin musste es einen Grund für den lieblosen Umgang von Kezia Trewint mit ihrer einzigen lebenden Verwandten geben.
Unwillkürlich kam Rhianna der Tag in den Sinn, an dem ihr Raoul Penvarnon zum ersten Mal begegnet war. Es war ein heißer, stickiger Augusttag gewesen, an dem die Sonne der Erde so nah zu sein schien, dass man sie mit den Händen berühren konnte.
Carrie, Simon und Rhianna waren nun schon fast ein Jahr lang befreundet und verbrachten jede freie Minute zusammen. An diesem Tag waren sie am Strand, tobten gemeinsam im Meer, und Rhianna konnte sich als beste Schwimmerin von allen Dreien beweisen. Irgendwann wollte Simon zurück nach Hause, da seine Eltern zum Abendessen Besuch von Freunden erwarteten.
Trotz der Hitze machten sie wie immer ein Wettrennen hinauf zur Klippe. Gegen Simons lange Beine hatten die beiden Mädchen für gewöhnlich kaum eine Chance, aber an diesem speziellen Nachmittag verlor er einen seiner neuen Turnschuhe und blieb stehen, um sich danach zu bücken. Das gab Carrie und Rhianna einen unverhofften Vorsprung, und Kopf an Kopf ging der Wettlauf zwischen den beiden weiter, bis Carrie strauchelte. Lachend und völlig außer Atem erreichte Rhianna das Ziel und prallte dabei mit einem hochgewachsenen, kräftigen Mann zusammen, der sie an den Schultern packte, als Rhianna erschrocken einen Schritt rückwärts stolperte: „Was haben wir denn da? Einen flüchtigen Eindringling? Das hier ist Privatgrund!“
Entsetzt starrte sie in das Gesicht des Fremden, in seine starren, eisblauen Augen und auf den harten, verkniffenen Mund. Für einen Sekundenbruchteil wirkte der Mann leicht amüsiert, doch dann betrachtete er nur ausdruckslos ihre zerzausten Locken, die ein hübsches, überraschtes Gesicht umrahmten.
„Hi“, sagte sie schlicht. „Ich bin Rhianna Carlow. Und ich lebe hier.“
Er atmete scharf ein und ließ sie los. Beinahe angewidert trat er einen Schritt zurück. „Ach ja“, murmelte er kaum hörbar. „Das Kind. Hätte ich fast vergessen.“
„Raoul!“ Carrie hatte sie eingeholt und warf sich dem Mann in die Arme. „Wie großartig! Niemand hat mir gesagt, dass du vorbeikommst.“
„Es sollte eine Überraschung sein“, antwortete er und erwiderte ihre Umarmung mit etwas mehr Zurückhaltung. Dann fügte er an Rhianna gewandt hinzu: „Scheint der richtige Tag für Überraschungen zu sein.“
Noch jemand, der etwas dagegen hat, dass ich hier bin, dachte sie.
Dann stieß Simon zu ihnen, und seine Ankunft lenkte die Aufmerksamkeit von Rhianna ab. Kurz darauf kam Moira Seymour über den perfekt getrimmten Rasen auf sie zu, gekleidet in kühle, blaue Seide und mit einem riesigen Strohhut auf dem Kopf.
„Simon, mein Lieber“, flötete sie schon von Weitem. „Deine Mutter hat angerufen und gefragt, wo du bleibst. Carrie, Liebling, zieh dich bitte um zum Essen!“ Sie warf einen flüchtigen Blick auf Rhianna. „Und ich bin sicher, junge Dame, deine Tante findet auch irgendetwas für dich.“
Dies war die erste Bemerkung, die Mrs. Seymour je direkt an Rhianna gerichtet hatte. Und das auch nur, um Rhiannas untergeordnete Position als Anhängsel des Personals deutlich zum Ausdruck zu bringen. Einen Eindringling hatte Raoul Rhianna genannt, und vermutlich wusste er zu dem Zeitpunkt nicht, wie recht er damit hatte. Unerwünscht und ungeliebt.
Meine erste richtige Schauspielrolle, dachte Rhianna verbittert. Eine, die mich mein Leben lang verfolgen wird – wo immer ich auch hingehe, was immer auch geschieht.
Raoul Penvarnon.
Seine Person war es, die sie mit der unliebsamen Vergangenheit verband, und diese Verbindung wollte Rhianna so schnell wie möglich kappen.