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Nacht der Sünde
Erscheinungstag: | Sa, 30.04.2016 |
Bandnummer: | |
Seitenanzahl: | 320 |
ISBN: | 9783733767792 |
E-Book Format: | ePub oder .mobi |
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Ein Teil von ihr
Mutter. Heldin. Lügnerin. Mörderin?
Im Bruchteil einer Sekunde kann sich dein Leben für immer verändern….
Du hast die Nachrichten gesehen, über die Gewalt in dieser Welt den Kopf geschüttelt und weitergemacht wie immer. Nie könnte dir so etwas passieren, dachtest du.
Andrea Oliver erlebt das Entsetzlichste. Einen Amoklauf. Was sie noch mehr schockiert: Ihre Mutter Laura entreißt dem Angreifer ein Messer und ersticht ihn. Andrea erkennt sie nicht wieder. Offenbar ist Laura mehr als die liebende Mutter und Therapeutin, für die Andrea sie immer gehalten hat. Sie muss einen Wettlauf gegen die Zeit antreten, um die geheime Vergangenheit ihrer Mutter zu enthüllen, bevor noch mehr Blut vergossen wird …
Laura weiß, dass sie verfolgt wird. Und dass ihre Tochter Andrea in Lebensgefahr ist …
»Dieser Thriller wird Sie um den Schlaf bringen. Für Slaughter-Fans ist „Ein Teil von ihr“ ein absolutes Lese-Muss.«
ok!
»Wie immer hat Slaughter … keine Scheu, Verbrechen in all ihrer Brutalität und Grausamkeit zu schildern. […] Daneben aber beweist sie ebenso viel Gespür für die Zerrissenheit, für Sehnsüchte und Ängste, für starke Gefühle und damit verbundene innerliche Eruption, kurz: für die Komplexität ihrer Charaktere.«
dpa
»Karin Slaughters „Ein Teil von ihr“ liest sich als moderne Geschichte über komplizierte Vereinigte Staaten von Amerika, in der charakteristische Merkmale des American Way of Life ebenso aufscheinen wie der Mythos vom Grenzland.«
krimi-couch.de
»Provokanter und raffinierter als alles, was sie zuvor geschrieben hat.«
vol.at
»Eine spannende Lektüre bis zum Schluss.«
SpotOnNews
»Fesselnd von der ersten bis zur letzten Seite.«
Magazin-frankfurt.com
»Karin Slaughter gilt völlig zu Recht als eine der besten Krimi-Autoren der USA. Ihre Geschichten fesseln von Anfang bis Ende.«
IN
»Karin Slaughter zählt zu den talentiertesten und stärksten Spannungsautoren der Welt.«
Yrsa Sigurðardóttir
»Jeder neue Thriller von Karin Slaughter ist ein Anlass zum Feiern!«
Kathy Reichs
»Karin Slaughter bietet weit mehr als unterhaltsamen Thrill.«
SPIEGEL ONLINE über »Pretty Girls«
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1. KAPITEL
London, 1817
Flammenden Schwertern gleich zuckten Blitze über den dunklen Himmel, und aus den riesigen Wolkengebirgen fielen erste Regentropfen. In weiter Ferne war Donnergrollen zu hören, doch das Geräusch, das sich in der leeren, finsteren Straße deutlich vernehmen ließ, war der Klang schneller Schritte.
Die junge Frau zitterte bei jeder Bewegung in ihren dünnen Halbstiefeln aus Ziegenleder. Die schmutzigen Röcke behinderten sie, drohten sie zu Fall zu bringen, während sie in eine dunkle Seitenstraße hastete, um nicht dem Licht der Laternen auf der breiten Hauptstraße ausgesetzt zu sein. Ihr langes Haar war zu einer wilden Mähne zerzaust, und Entsetzen stand in ihr bleiches Antlitz geschrieben, als sie sich kurz umdrehte, dann weitereilte, die Fäuste geballt und die Zähne zusammengebissen. Ihr Atem ging schwer.
Mit einem leisen Seufzer, einem Schluchzen beinahe, bog sie in eine stockfinstere Gasse ein, wo sie sich sofort in die dunkle Nische eines Hauseingangs presste, um für niemanden sichtbar zu sein. Dort stand sie vollkommen reglos, nur ihre Brust hob und senkte sich heftig nach der Anstrengung. Du darfst dich nicht rühren. Nicht einmal Luft holen.
Sie waren ihr dicht auf den Fersen.
Die Reiter kamen gleich einem Sturm heran – genauso gnadenlos und so unentrinnbar wie das immer stärker werdende Unwetter. Weitere Donner ließen die Fensterläden des dunklen Gebäudes, an dessen Eingang sie sich verbarg, erbeben. Eng schmiegte sie sich an die Mauer, versuchte, sich so klein wie möglich zu machen, denn als das Grollen verebbte, war überdeutlich ein anderes Geräusch zu hören – leiser zwar, aber weitaus furchteinflößender.
Klipp-klapp, klipp-klapp, klipp-klapp.
Der gleichmäßige Rhythmus der Hufschläge war so laut geworden, sie konnten nicht mehr weit sein. Voller Angst schloss Becky Ward die Augen, und Tränen rannen ihr über die Wangen. In der engen Gasse kamen ihr die Laute noch bedrohlicher vor: das Knarzen des geölten Leders, das Scheppern von Klingen, Gewehren, Piken, Pistolen – Waffen, für die sie nicht einmal eine genaue Bezeichnung kannte.
Dabei waren die Reiter nicht geschickt worden, um sie zu töten. O nein. Der Prinz wollte, dass man sie bei lebendigem Leibe zu ihm brachte. Falls sie überhaupt eine Chance hatte, dann nur jetzt.
Mit einer raschen Geste, ehe ihre Verfolger an der kleinen Gasse vorüberkamen, zog sie ihren schlammbedeckten Rocksaum zurück. Bebend stand sie in der feuchten Wärme dieser Sommernacht, mit angehaltenem Atem, wie gelähmt, als, nicht weit von ihrem Versteck entfernt, die Pferde anhielten.
Die Männer waren ihr ganz nahe, und als erfahrene Spurensucher wussten die Kosaken das. Prinz Michail Kurkow hatte vier seiner besten Soldaten nach ihr ausgeschickt. Und sollte ihr Auftrag scheitern, so standen ihm noch weitere Späher zur Verfügung. Von ihrem Platz aus konnte sie deren Umrisse ausmachen. Große, bedrohlich wirkende Männer mit kunstvoll gedrehten Schnurrbärten. Die kampferprobten Kosaken trugen dunkelgraue Mäntel über weiten Hosen, Beine und Füße steckten in schwarzen Reitstiefeln. Die Gesichter unter den fremdartigen Helmen waren gebräunt und wirkten von einem Leben im Sattel lederig, die schmalen Augen kühl und gefühllos. Es hieß, sie wären Nachkommen der Hunnen.
Einer von ihnen hob den Kopf und atmete tief ein, als wollte er auf diese Weise ihre Witterung aufnehmen, während die anderen sich umsahen und sich leise in einer Sprache unterhielten, die sie nicht verstand. Sie schluckte schwer, als die Reiter sich aufteilten, um jeweils zu zweit nach ihr zu suchen. Das erste Paar ritt weiter, während die beiden anderen auf ihren kräftigen Pferden wendeten und sich beeilten, wieder die breite, von Laternen erhellte Durchgangsstraße zu erreichen, wie immer sie heißen mochte. Oxford Street – Piccadilly? Becky war nicht ganz sicher. Als die Reiter fort waren, lehnte sie sich erschöpft zurück und sank gegen die verschlossene Tür hinter ihr.
Einen Moment lang gestattete sie sich, die Augen fest zu schließen.
Wieder um Haaresbreite entkommen.
Nach vier solchen Tagen, immer auf der Flucht, gehetzt von Stadt zu Stadt, während sie in südlicher Richtung auf dem Weg nach London war, wusste sie nicht mehr, wie lange sie das noch aushalten konnte. Den ganzen Tag über hatte sie noch nichts gegessen, und vor Erschöpfung war ihr schwindelig. Nur die Furcht schien sie wach zu halten, doch es brachte auch keine Erleichterung, die Augen zu schließen. Sofort erschien wieder das schreckliche Bild vor ihren Augen, das Verbrechen ihres mächtigen Cousins. Wie hatte Michail so etwas tun können – kaltblütig einen Mann umbringen?
Am schlimmsten war, dass sie sich zum Teil mitverantwortlich fühlte. Wenn ich nur nicht versucht hätte, mich einzumischen ...
Sie erschauerte und riss die Augen wieder auf, und ohne es zu merken tastete sie nach der kleinen Muschel, die sie an einem Band um den Hals trug. Das letzte Geschenk ihres Vaters verlieh ihr wieder ein wenig Mut. Es muss weitergehen.
Sie musste den Duke of Westland erreichen, ehe die Kosaken sie fanden.
Als Lord Lieutenant des westlichen Teils von Yorkshire war es die Pflicht Seiner Gnaden, gegen Michail vorzugehen, da der Mord sich in seinem Zuständigkeitsbereich zugetragen hatte. Wegen der hohen Position ihres Cousins hatte Becky gar nicht erst versucht, sich mit einem Vertreter niederen Ranges der englischen Krone abzugeben. Nur ein sehr mächtiger Mann würde es wagen, sich gegen den Prinzen zu stellen. Dessen Mutter war Russin, doch vor Kurzem hatte er von ihrem Großvater den Titel eines Earls geerbt. Der alte Westland jedoch war bekannt für seinen Mut und seine Integrität. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass er Michail der Gerichtsbarkeit zuführen würde – vorausgesetzt, es gelang ihr, ihm von dem Verbrechen zu berichten.
Sie wusste, wie schnell Aristokraten ihre oftmals oberflächlichen Urteile fällen konnten. Nach vier Tagen auf der Flucht glich sie mehr einer Bettlerin als einer Lady, daher war sie nicht sicher, ob man sie wirklich empfangen würde. Die Vorstellung, an der Tür abgewiesen zu werden, erschien ihr schrecklich. Dann erinnerte sie sich daran, dass Westland ihren Großvater gekannt hatte. Zwar waren die beiden eher politische Gegner gewesen als Verbündete, aber der Name ihres Großvaters würde den Duke dazu bringen, sie anzuhören.
Unglücklicherweise war sie nie zuvor in ihrem Leben in London gewesen und hatte keine Ahnung, wie sie zum St. James’s Square gelangen sollte, wo, wie sie gehört hatte, das Stadthaus des Duke lag. Die Kosaken, die ihr auf den Fersen waren, erleichterten die Sache nicht gerade, denn Michail würde auf keinen Fall zulassen, dass Becky sein brutales Verbrechen verriet. Nein, er hatte ganz andere Dinge mit ihr vor.
An unterwürfige Leibeigene gewöhnt, war der Prinz besessen von der Vorstellung, sie sich untertan zu machen. Mit einer Hand an ihrer Kehle hatte er ihr unmissverständlich ins Ohr geraunt, womit er ihren Ungehorsam bestrafen würde. Ich werde dich lehren, mir zu gehorchen. Durch Großvaters Tod war er ihr rechtmäßiger Vormund geworden, aber Michail befand sich in einem schweren Irrtum, wenn er glaubte, sie würde ihm gehören wie ein Möbelstück. Lieber würde sie sterben, als sich dem brutalen Gewaltakt zu unterwerfen, den er ihr angedroht hatte. Der Gedanke daran trieb sie weiter.
Sie schlüpfte aus ihrer Türnische, bewegte sich vorsichtig dorthin, wo die Gasse auf die größere Straße stieß, und schaute angestrengt nach links und rechts. Die Kosaken waren fort. Noch einmal blickte sie prüfend um sich, bog in die beleuchtete Straße ein und setzte ihren Weg fort, indem sie sich dicht an den Häuserwänden hielt.
Sie hoffte, dass es nicht mehr weit war, denn ihre Füße schmerzten, und sie war halb verhungert. Nun kam sie an vielen kunstvoll angelegten Vorgärten vorbei. Zumindest schien diese elegante Gegend weitaus sicherer zu sein als die schmutzigen Viertel, die sie bei Sonnenuntergang durchquert hatte. Jetzt allerdings war es nach Mitternacht und zu dunkel, um die Straßenschilder an den Häusern erkennen zu können. Sie versuchte, sie zu lesen, so gut sie es vermochte, wohl wissend, dass sie sich aufgrund ihrer großen Erschöpfung leicht in dem Labyrinth dieser weitläufigen und verwirrenden Stadt verirren konnte.
Wie sehr sie den weiten Himmel über Yorkshire vermisste und erst recht die stillen Moore! Vor allem aber vermisste sie ihr Bett.
Plötzlich durchzuckte ein Lichtblitz den Himmel. Becky fuhr erschrocken zusammen und zog die olivfarbene Pelerine fester um sich. Die drohenden Wolken hoch oben schienen bereit zum Angriff. Sie wusste, sie musste sich irgendwo unterstellen; jetzt weiterzugehen, war sinnlos. Am klügsten wäre es, sich irgendwo für den Rest der Nacht vor den Kosaken und dem nahenden Sturm in Sicherheit zu bringen.
Am Morgen, wenn es hell war, würde sie die Straßenschilder wieder entziffern können. Sie könnte sogar nach dem Weg fragen – nicht, dass sie damit bisher viel Glück gehabt hätte. Seufzend betrachtete sie ihre zerknitterte, schmutzige Kleidung.
Durch ihr schäbiges Äußeres hatten alle respektabel aussehenden Leute, die sie ansprechen wollte, sie abgewiesen und waren möglichst rasch davongegangen, in der Annahme, sie wollte betteln – oder Schlimmeres. Wie es schien, spielte die äußere Erscheinung in der Stadt eine weitaus größere Rolle als in ihrem Dorf in Buckley-on-the-Heath. Von einem gut gekleideten Mann, der alt genug war, um ihr Vater sein zu können, hatte sie sogar ein besonders abscheuliches Angebot bekommen, als sie an ihm vorüberging.
Erschrocken angesichts der zweideutigen Worte, war sie davongelaufen. Erst später hatte sie erkannt, dass eine junge Frau, die nach Einbruch der Dunkelheit allein in London unterwegs war, grundsätzlich für eine Dirne gehalten wurde. Deshalb war niemand bereit gewesen, ihr zu helfen.
Selbst der herzlose Schmuckhändler, dessen Laden sie nach ihrer Ankunft in der Stadt zuerst aufgesucht hatte, schien zu demselben Urteil gelangt zu sein. Als sie ihm ängstlich den großen Rubin gezeigt hatte, den sie unter ihrer Kleidung verborgen trug, und sich nach dessen Wert erkundigte, hatte er sie von oben bis unten gemustert, als vermutete er, sie hätte den Stein gestohlen. Er hatte Papiere sehen wollen, und von so etwas hatte Becky noch nie etwas gehört. Außerdem hatte sie ihr Zuhause fluchtartig verlassen müssen. Es war keine Zeit mehr gewesen, um Geld, etwas zum Essen oder Kleidung zum Wechseln mitzunehmen, ganz zu schweigen von irgendwelchen Papieren. Dann hatte sie verstanden, was der Lump im Sinn gehabt hatte – sie zu beschwindeln.
Nur einen kurzen Blick hatte er auf den Stein geworfen und ihr dann gesagt, dass es sich um eine Fälschung handelte. Becky war außer sich gewesen. Er mochte sie für ein Mädchen vom Lande halten, aber dumm war sie nicht.
Seit zweihundert Jahren befand sich der „Rose of Indra“ in ihrer Familie. Es war das einzige Erbstück, das ihre kaltherzigen Verwandten ihr nicht hatten wegnehmen können, und verkörperte die Hoffnung, ihr Heim und ihr Dorf vor Michail zu retten. Eine Fälschung, also wirklich! Empört war sie hinausgestürmt und hatte beschlossen, sogleich den Duke of Westland aufzusuchen. Er würde ihr helfen müssen, für den kostbaren Schmuck einen fairen Preis zu bekommen, und zudem dabei, Michail für seine Verbrechen anzuklagen. Sie hoffte nur, dass Westland sie nicht so ansehen würde wie alle anderen in dieser Stadt. Denn wenn es dazu kam, dass auch er sie fortschickte, dann wusste sie keinen Ort mehr, zu dem sie gehen konnte.
Doch sie wollte über eine solche Möglichkeit nicht weiter nachdenken. Irgendwie würde sie überleben. Leute aus Yorkshire, so sagte sie sich, waren ebenso selbstsicher wie sie Fremden gegenüber misstrauisch waren. Sie würde wunderbar zurechtkommen, so wie ihre Mutter es sie gelehrt hatte.
Doch wenn sie ehrlich war, dann wuchs tief in ihrem Innern allmählich die schreckliche Gewissheit, dass sie sich in einer hoffnungslosen Lage befand. Michail war zu mächtig, verfügte über zu gute Verbindungen und war zu reich. In den letzten Tagen hatten seine kampferprobten Krieger sie beinahe erwischt. Je erschöpfter sie wurde, desto mehr war sie davon überzeugt, dass ihr bald ein Fehler unterlaufen würde – ein Fehler, den sie teuer bezahlen müsste, mit ihrer Freiheit, ihrem Zuhause –, ganz zu schweigen von ihrer Tugend. Ich hasse diese Stadt. Ich werde hier sterben.
Mühsam kämpfte sie gegen diesen Anflug von Verzweiflung an, fuhr sich mit der Hand durch das wirre Haar und zwang ihre Gedanken, sich auf das nächstliegende Problem zu konzentrieren: einen Unterschlupf für die Nacht zu finden, ehe der Sturm seinen Höhepunkt erreichte. Sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Die Baumwipfel hinter den Mauern, die die Gärten der reichen Londoner Einwohner umgaben, schwankten und raschelten im Wind, und die Luft war schwer vom nahenden Regen.
Die Arme verschränkt, zwang sie sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen und den müden Blick über die ordentlich gepflasterten Straßen der Gegend, in der alle zu schlafen schienen, schweifen zu lassen. Überall gab es baumbestandene Plätze und Laternen, die blassgelbe Lichtkreise verbreiteten. Nirgendwo konnte sie hingehen.
Die flachen Fassaden der Stadthäuser hinter den schmiedeeisernen Zäunen boten ihr keinen Schutz. Es hätte ihr nichts ausgemacht, auf dem Boden eines Schuppens zu schlafen, doch die Wege, die zu den hinteren Gebäuden führten, waren abgeriegelt. Für die Enkelin eines Earls gab es hier kein Durchkommen.
Eine Straße hinunter, eine andere hinauf. Sie unternahm einen halbherzigen Versuch, den Zaun vor einem prachtvollen Stadthaus zu überwinden. Im Garten hatte sie eine kleine Laube entdeckt, die ihr gerade recht gewesen wäre, doch zwischen den eisernen Stäben vermochte sie sich nicht hindurchzuzwängen, und über die gefährlichen Spitzen konnte sie noch weniger klettern. Sie ging weiter, bog um eine Ecke und fand sich zu ihrer Überraschung in einem weiteren Garten wieder. Neue Hoffnung stieg in ihr auf. Sie ging hinüber zu dem umzäunten Gelände in der Mitte, las die Kupfertafel und runzelte die Stirn. Verdammt. Es war nicht St. James’s. Auf dem Schild stand „Hanover Square“. Bekümmert sah sie sich um. Sie wusste nicht, in welche Richtung sie jetzt gehen musste.
Der ferne Donner weckte in ihr vage Erinnerungen an die frühe Kindheit, die sie auf See, auf dem Schiff ihres Vaters verbracht hatte. Sie blickte zum Himmel hinauf. Normalerweise gab es nicht viel, vor dem sie sich fürchtete, aber das Donnern des Kanonenfeuers und das Blut, die Schreie und die Zerstörung, die sie damals miterleben musste, hatten in ihr eine lebenslange Furcht vor lauten Geräuschen hinterlassen. Sie hielt ihr Gesicht in den Wind, strich sich das Haar zurück und begann allmählich zu vermuten, dass ihr eine schlimme Nacht bevorstand.
Im selben Moment brach der Sturm los. Es donnerte, Blitze zuckten, und heftiger Regen setzte ein. Erschrocken schrie sie auf, und der plötzliche Wolkenbruch trieb sie weiter voran.
Sie hastete über die Straße und suchte nach einer Möglichkeit, sich unterzustellen. An der Ecke befand sich ein prachtvolles Stadthaus mit einem Portikus, gerahmt von dicken weißen Säulen. Um diese späte Stunde waren sämtliche Fenster dunkel, und sie entschied, dass die Bewohner unmöglich so herzlos sein und etwas dagegen haben konnten, dass sie hier Schutz suchte, bis das Schlimmste vorüber war.
Einen Augenblick später wischte sie sich den Regen aus dem Gesicht und betrachtete von der vorderen Veranda aus den schönen Platz. Das, so dachte sie, müsste für diese Nacht genügen. Die Veranda wurde seitlich von niedrigen Mauern begrenzt, hinter denen sie sich verstecken konnte, falls die Kosaken vorbeikamen. Rechts und links neben der Vordertür standen ein paar spiralförmig gewachsene Büsche in großen Behältnissen aus Stein.
Mit einem erleichterten Seufzer lehnte sie sich an die Mauer, dann ließ sie sich vor Erschöpfung daran nach unten gleiten, bis sie auf dem steinernen Boden saß. Sie zog die Pelerine fester um sich, die Knie an die Brust und schlang die Arme darum, während sie dem Regen zusah und auf seine Geräusche lauschte.
Wie einsam sie sich fühlte. Das ist doch nichts Neues. Mit gerunzelter Stirn kämpfte sie ihr Selbstmitleid nieder, griff in ihre Tasche und zog widerstrebend das letzte Essbare heraus, was sie besaß: ein Pfefferminzbonbon, das sie zufällig bei sich hatte, als sie davongelaufen war. Sie zupfte eine Fluse ab, schob sich die Süßigkeit in den Mund und lutschte sie langsam, damit sie so lange wie nur möglich etwas davon hatte. Ihr Magen protestierte bei diesem mageren Angebot.
Sie warf einen Blick auf den verschlossenen Eingang mit seinem fein gearbeiteten Löwenkopf, der als Türklopfer diente, und dachte an all die Speisen, die da drinnen sein mochten, die weichen, gepolsterten Betten ... Bei diesem Gedanken fühlte sie sich noch elender. Sie lehnte sich an die Mauer und machte nur für einen Moment die Augen zu.
Einschlafen wollte sie auf gar keinen Fall.
Vor einer Stunde etwa hatte der Sturm nachgelassen und war in einen heftigen Regen übergegangen. Verschwommene Lichtkreise um die schmiedeeisernen Gaslaternen entlang der Oxford Street beleuchteten den niedergehenden Wolkenbruch. Die Straßen im West End schienen wie ausgestorben – abgesehen von einer eleganten schwarzen Kutsche, die durch die Nacht fuhr, gezogen von einem Gespann aus Rappen.
Die Stimmung in der Kutsche war heiter, die Insassen zählten zu den höheren gesellschaftlichen Kreisen: große, sportliche und gut aussehende Männer, die in dem Ruf standen, vergnügungssüchtig zu sein. Makellos gekleidet saßen sie auf den seidenbezogenen Polstern und trugen lebhafte Wortgefechte aus.
„Wirst du jetzt endlich aufhören, den verdammten Würfelbecher zu schütteln?“
„Nein! Ich muss die Würfel in Schwung halten, damit ich zurückgewinnen kann, was ich beim letzten Kartenspiel verloren habe. Heute werde ich dein Geld einstecken, mein Freund. Und auch das von dir.“
„Genügt es dir nicht, mir die Geliebte ausgespannt zu haben? Bei der Gelegenheit – wie geht es ihr?“
„Gut, abgesehen davon, dass du sie schrecklich verwöhnt hast. Ein verdammt kostspieliges Frauenzimmer. Sag mir Bescheid, wenn du sie zurückhaben willst.“
„Nein danke.“
Gelächter erscholl. Den vier Bonvivants war das Wetter egal.
Als Frauenhelden, die von vornehmster Abkunft waren und aus Englands besten Familien stammten, nahmen sie sich alle Freiheiten. Jeder von ihnen war an das Leben der Aristokratie gewohnt, wo vom Tage ihrer Geburt an ein Wink genügte, damit eine Schar von Dienstboten alle Wünsche erfüllte. Sie hatten einander als Jugendliche in Eton kennengelernt und waren seither eng befreundet. Trotz der Gefahr, die sie darstellten – zusammen hatten sie etwa fünfzig Duelle ausgefochten, und die Frauen, die sie verführt hatten, ließen sich nicht mehr zählen –, wurden sie von allen hofiert.
Ihre Anwesenheit machte aus einem gesellschaftlichen Anlass ein begehrtes Fest, und ihre Missbilligung bedeutete Ausschluss.
An diesem Abend hatten sie Lady Everley mit ihrer späten Ankunft erfreut. Der Ball bei den Everleys war einer der letzten dieser Saison, ehe die Londoner Gesellschaft sich auf ihrer unermüdlichen Suche nach Vergnügungen für den Rest des Sommers nach Brighton begeben würde.
Nachdem sie den Ball gerade lange genug beehrt hatten, um die Gerüchte anzuheizen und mit ihren Aufmerksamkeiten ein paar naive Debütantinnen an den Rand einer Ohnmacht zu bringen, hatten sie ihre Gläser geleert, sich verbeugt und sich mit der einstudierten Haltung größter Langeweile verabschiedet, die natürlich zum größten Teil nichts als Attitüde war.
Wieder unter sich, ließen sie ihre zur Schau gestellte Langweile und ihr sonstiges Getue beiseite und begaben sich zu Lord Draxingers Stadthaus am Hanover Square, um den Rest der Nacht beim Karten- und Würfelspiel zu verbringen.
Hinter ihnen kam noch eine weitere Kutsche mit ähnlich vergnügungswilligen Männern, aber der Earl wollte als Erster eintreffen, um sich zu vergewissern, dass seine Bediensteten wach waren und auch bereit, seine Freunde mit der üblichen Gastfreundschaft zu bewirten.
Später in der Nacht würden sie dann gewiss noch ein paar Dirnen kommen lassen.
Lord Alec Knight kannte den Ablauf, denn es war immer derselbe.
Der Anführer der Gruppe hörte kaum dem ausgelassenen Wortwechsel seiner Freunde zu, sondern sah durch das Fenster der Kutsche auf die regennassen Straßen hinaus, die dunkel und leer dalagen.
Alec konnte nicht einschätzen, was an diesem Abend nicht mit ihm stimmte. Wäre er davon überzeugt gewesen, dass er sich zu Hause wohler fühlen würde, wäre er dorthin gegangen. Doch er ahnte, sein Elend würde ihn auch an diesem Ort verfolgen.
„Würfelst du heute mit uns, oder hast du dem Glücksspiel noch immer abgeschworen?“ Eine Pause folgte. „Hallo? Knight?“ Jemand stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen und schreckte ihn damit aus seinen Überlegungen.
Ein wenig zerstreut drehte Alec sich zu Fort um. „Hm?“
„Was ist heute los mit dir?“, rief Drax aus. „Du benimmst dich schon seit Tagen so merkwürdig.“
„Ja“, stimmte Rush zu, der schwarzhaarige Erbe eines Marquis. „Heute hatte ich bei Angelo’s die Befürchtung, du würdest Blakewell aufschlitzen, so wie du ihn mit dem Degen behandelt hast.“
„Wenn er nicht lernt, besser zu parieren, werde ich das beim nächsten Mal auch tun.“
„Was ist mit Harrington? Ihn hättest du auch beinahe umgebracht.“
Alec lachte spöttisch. „Seine Beinarbeit ist entsetzlich.“
„Du musst ihm zugutehalten, dass er es versucht hat. Du bist zu schnell für ihn.“
„Dann sollte er sich nicht mit mir messen wollen.“ Alec zuckte die Achseln und wandte sich ab.
„Jesus!“ Rush lachte. „Es war doch nur eine Übung, Knight.“ „Lass ihn in Ruhe, Rush. Er hat wieder eine seiner Stimmungen“, meinte Fort.
„Nein, habe ich nicht.“
„In den letzten Tagen ist er dauernd in dieser Stimmung.“ „Ich bin in keiner verdammten Stimmung!“
„Was hast du dann? Zahnschmerzen?“
„Woher zum Teufel soll ich das wissen?“, entgegnete Alec. „Wenn ihr mich fragt ...“, Fort wandte sich mit diesen Worten an die anderen und klopfte Alec auf die Schulter, „. braucht er nichts weiter als eine willige Lady – nein, pardon –, ein lüsternes Weibsbild, das ihm ein oder zwei Stunden auf dem Schoß tanzt. Ihm hilft, eine gewisse Miss Carlisle zu vergessen. Ich meine es ernst“, fügte er noch hinzu, als die anderen lachten.
„Glaubst du, ich hätte das bislang nicht versucht?“, erwiderte Alec.
„Wann?“, wollte Rush wissen.
Alec seufzte tief und wandte sich ab.
„Gib’s zu! Seit sie geheiratet hat, lebst du wie ein Mönch, und das sieht dir gar nicht ähnlich, um es vorsichtig auszudrücken.“
Drax beugte sich vor. „Sag uns, was los ist, alter Junge. Wir sind deine Freunde. Herzschmerz?“
„Käme mir nicht in den Sinn. Sie ist glücklich, und ich freue mich für sie. Punkt.“
„Also Probleme mit dem da unten? Klemmt’s irgendwo?“ „Gütiger Himmel, nein! Wirklich, Draxinger, nichts dergleichen.“ Alec runzelte die Stirn unter seinen goldblonden Haaren und versuchte, sich bequem hinzusetzen.
„Er ist keine achtzehn mehr“, mischte sich der stets treue Fort zu seiner Verteidigung ein und zwinkerte mit den haselnussbraunen Augen. „Ich bin sicher, wir alle wissen, dass man nicht ungerüstet in die Schlacht ziehen sollte.“
„Das kann man wohl sagen“, murmelte Alec.
„Was ist es dann?“ Besorgt musterte Drax sein Gesicht.
Alec starrte ihn an und schüttelte schließlich nur den Kopf. Bei jedem Unsinn war er ihr Anführer gewesen, wie also sollte er ihnen erklären, dass ihm in den letzten Tagen ihre ständige Suche nach Vergnügungen unerträglich und sinnlos erschienen war?
Sie alle taten stets dasselbe, doch sollte es so weitergehen? Anders als seine Kameraden hatte er dabei Fehler begangen – ernsthafte Fehler –, verursacht von einem unstillbaren Hunger. Sosehr er auch versuchte, die ständige Suche nach neuen Aufregungen zu unterdrücken – es war ihm bislang nicht gelungen.
Aber unabhängig von diesem Gefühl der Getriebenheit kam es nicht infrage, darüber zu jammern. Alle Welt beneidete ihn und seine Freunde um ihr schillerndes Leben, immer standen sie im Mittelpunkt von Gesellschaften. Von Frauen wurden sie umschwärmt, und Männer wünschten sich, so zu sein wie sie. Sicher war es nur unvernünftig, dass er sich geradezu schmerzhaft nach etwas anderem sehnte. Selbst nach seiner Pechsträhne am Spieltisch besaß er – betrachtete er seine Familie – noch immer mehr Geld als fast jeder andere, und Alec wusste das.
Aber wann war er je vernünftig gewesen?
Seine Freunde warteten auf seine Erklärungen, aber er wollte nicht mit ihnen über seine Ernüchterung sprechen. Vielleicht würde sie von selbst verschwinden, wenn er die Worte nicht laut aussprach. „Zweifellos habt ihr recht“, sagte er schließlich, und die Andeutung eines Lächelns umspielte seine Lippen. „Ich brauche ein wenig weibliche Nähe.“
„Guter Junge! So ist es richtig.“
„Pembertons Frau hat sich dir den ganzen Abend an den Hals geworfen ...“
„Nein, nein, das hier verlangt nach einer Professionellen. Der heutige Speiseplan, Mylord?“
„Hier, trink etwas.“ Drax, dem die Kutsche gehörte, öffnete das Getränkefach neben sich, nahm eine Flasche heraus und reichte Alec feinen französischen Brandy.
Alec nahm die Flasche mit einem Nicken entgegen, trank entschlossen einen Schluck und reichte sie dann an Rush weiter.
„Lasst uns also das Menü für heute Abend planen“, schlug Fort heiter vor. „Zum Horsd’reuvre sollten wir, denke ich, mit den Summerson-Zwillingen beginnen .“
„Ausgezeichnete Wahl“, stimmte Drax zu.
„Und für den ersten Gang scheint die spanische Señorita namens Bianca sehr passend. Sie ist neu, aber ich habe nur Gutes gehört. Dann ist Kate Gossett immer sehr schmackhaft .“
„Himmel, ich liebe sie“, versicherte Rush. „Was sie so in ihrem Mieder hat ...“
„Ein herrlicher Busen, jawohl. Für den zweiten Gang empfehle ich alle vier Wilson-Schwestern .“
„Nein, nein, ich bin ihrer überdrüssig“, widersprach Rush. „Etwas anderes, etwas Neues.“
„Ja“, stimmte Alec leise zu. Etwas Neues.
Während die Freunde weiterhin über Nichtigkeiten stritten, dachte er über ihren Rat nach. Vielleicht hatten sie recht. Vielleicht brauchte er nur eine leidenschaftliche Nacht, denn mehr noch als das Spiel liebte Alec die Lust, dafür lebte er. Nur die Liebe, die mied er wie die Pest.
Nachdenklich trommelte er mit den Fingerspitzen auf seine Lippen und dachte dabei an die lange Liste von erfahrenen käuflichen Frauen und liebeshungrigen Damen der Gesellschaft, die eine wilde Nacht mit ihm als Höhepunkt des Jahres betrachten würden.
Vielleicht ...
Doch selbst die Vorstellung, seinen Gläubigern Hörner aufzusetzen, langweilte ihn, und das war ein sehr schlechtes Zeichen. Der Gedanke an ein weiteres Spiel mit einer abgebrühten Hure drohte seine Stimmungen zurückzubringen.
Niemals hätte er es zugegeben, aber Dirnen verursachten ihm seit seinem Arrangement mit Lady Campion vor einigen Monaten Unbehagen. Gefallene Mädchen erinnerten ihn wohl, so vermutete er, an den Rest seines Gewissens.
Zuerst hatte er über seine Dienste für die reiche Baroness gelacht, damit sogar vor seinen Freunden geprahlt – sie war auf reizvolle Art unersättlich, und, was noch viel besser war, sie glich seine Spielschulden aus. Man hatte anfangs über ihr skandalöses Arrangement die Nase gerümpft, aber natürlich setzte er sich durch. Er war Alec Knight. Er konnte sich alles erlauben.
Anders als seine Freunde Lord Byron und Beau Brummel, die kürzlich ins Exil gegangen waren – der eine wegen eines Skandals, der andere wegen seiner Schulden –, hatte Alec um sein Ansehen gekämpft. Trotz seiner Eskapaden hatte er seinen Platz in der Gesellschaft behaupten können. Stil, Reichtum und Rang machten einen Mann aus, nicht seine Tugend.
Auch seine Familie hatte sich über seine kühne Affäre mit der berüchtigten Baroness empört gezeigt. Aber angesichts der Tatsache, dass das Oberhaupt der Familie, Robert, Duke of Hawkscliffe, ihm die Alimente verweigerte, um in einem letzten Versuch den jüngsten Bruder grundsätzlich zur Räson zu bringen, war ein solches Verhalten nicht weiter überraschend gewesen. Alec weigerte sich jedoch, sich vom Vermögen seiner Familie beherrschen zu lassen. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, auch nur ansatzweise zu bedauern, für Ihre Ladyschaft seinen Ruf aufs Spiel gesetzt zu haben.
Und doch fiel es ihm dieser Tage nicht leicht, in den Spiegel zu blicken. Wusste er doch genau, dass seine Dreistigkeit ihn ein gutes Stück seiner Selbstachtung gekostet hatte – und den Respekt der einzigen Frau, die ihm je etwas bedeutet hatte.
Nach zwanzig Jahren unerschütterlicher Hingabe hatte Lizzie, die beste Freundin seiner jüngeren Schwester, ihm für seinen alten Schulkameraden Devlin Strathmore den Laufpass gegeben. Nicht ohne eine letzte Warnung an Alec, ihren früheren Schwarm, dass er sich nicht ganz der Selbstzerstörung hingeben sollte.
Nun, daran ließ sich jetzt nichts mehr ändern. Lizzie war ein liebes Mädchen, das mit Devlin besser dran war, und Weiteres ließ sich dazu nicht sagen.
Alec hatte sie eher wie eine Schwester geliebt, sodass ihren kleinen Koketterien immer ein Hauch von Inzest anzuhaften schien, und selbst ein Sünder wie er musste irgendwo seine Grenzen ziehen.
Er stützte seinen Ellenbogen an einem der Fenster der Kutsche ab, hob langsam die Hand und wischte mit ihr die Feuchtigkeit vom Glas weg, damit es nicht mehr beschlagen war und er nach draußen schauen konnte.
Strathmore war der Richtige für Lizzie. Das hatte Alec akzeptiert. Sie passten fabelhaft zusammen, waren einander in Liebe zugetan, und der Viscount war bereit, Lizzie auf eine Weise zu lieben, an die Alec kaum zu denken wagte. Es hatte ihm nicht gefallen, sie an seinen Rivalen zu verlieren, aber selbstverständlich hatte er sich schließlich wie ein Gentleman verhalten. Was hätte er auch anderes tun können? Tief in seinem Innern wusste er, er wäre für sie nicht der Richtige gewesen. Er war zu der Ansicht gelangt, für keine Frau der Richtige zu sein.
Ungern dachte er darüber nach. Er wusste nur, dass seit ihrer Heirat sein tief in seinem Inneren sitzender Überdruss noch stärker geworden war. Das Glück der Frischvermählten schien dem Glanz, der über seinem Leben lag, mehr den Anschein eines schlechten Imitats zu verleihen.
Er stützte sein Gesicht in die Hand ab und starrte hinaus in die tiefschwarze Nacht, als er plötzlich zwei Gestalten zu Pferde ausmachte. Neugierig richtete er sich ein wenig auf.
Die Reiter näherten sich Oxford Street aus der entgegengesetzten Richtung, und er bemerkte sie nur, weil sie bei diesem schlechten Wetter und zu der späten Stunde die einzigen Menschen waren, die abgesehen von ihnen unterwegs waren.
Als die Kutsche sich den Männern näherte und schließlich im Schein einer Gaslaterne an ihnen vorbeifuhr, erhaschte Alec einen Blick auf die beiden uniformierten Reiter. Sie wirkten ernst und waren schwer bewaffnet. Anscheinend hielten sie nach jemandem Ausschau, denn sie spähten in jede Gasse, während sie langsam die Straße hinunterritten und angestrengt in die Dunkelheit stierten.
Seltsam, dachte er, doch als er die eigenartige Form ihrer hohen Helme betrachtete, begriff er. Fremde, vermutlich hatten sie sich verirrt. Die Stadt war voller ausländischer Prinzen, Generäle und Würdenträger mitsamt ihrem Gefolge, seit der Krieg beendet war. Englands Verbündete gegen Napoleon erfreuten sich derzeit in der Gesellschaft großer Beliebtheit. Es war zu vermuten, dass die beiden Männer nach Huren suchten.
Er erwog, die Kutsche anhalten zu lassen und ihnen die Richtung zu weisen, doch die fremden Soldaten waren in der regennassen Dunkelheit verschwunden, ehe Alec erkennen konnte, ob es sich um Deutsche, Russen oder Österreicher handelte.
„Stimmt etwas nicht?“, wollte Drax wissen.
„O nein.“ Alec schüttelte den Kopf und schob seine Überlegungen beiseite, entschlossen, sein Interesse erneut auf den nächtlichen Zeitvertreib zu lenken. „Reich mir den Brandy.“
Es dauerte nicht lange, dann erreichte die Kutsche den Hanover Square und hielt vor dem großen, dunklen Stadthaus an der Ecke. Das Haus von Drax war aus rotem Backstein erbaut und vier Stockwerke hoch. Es besaß drei Fensterreihen und unterschied sich von allen anderen Wohnhäusern an diesem Platz durch einen überdachten Portikus am Eingang.
Kaum hatte die Kutsche angehalten, da sprangen die drei Gentlemen auf die Straße, ohne darauf zu warten, dass der Diener ihnen die Tür öffnete.
Tatsächlich – während der Kutscher auf dem Bock die Zügel anzog und der Regen von der Krempe seines Hutes strömte, blieb dem livrierten Diener, der hinten auf dem Wagen stand, kaum Zeit, die Laterne vom Haken zu nehmen und von der regennassen Kutsche zu springen, um dem jungen Earl und seinen Gästen eilig den Weg zu weisen.
Drax schob den Diener beiseite und nahm ihm die Laterne ab. „Kümmern Sie sich nicht um uns, sondern um die Pferde“, befahl er, während er in die Tasche seines Überrocks griff und den Hausschlüssel herausholte.
„Jawohl, Mylord.“
Drax hielt die Lampe hoch und leuchtete den Gästen, damit sie sich nicht verirrten.
Die regennassen Steine wirkten im diffusen Schein der Laterne wie poliertes Ebenholz. Alec ging wie üblich vor Drax, sodass die Dunkelheit vor ihm umso schwärzer wirkte. Daher war er auch derjenige, der beinahe über die weibliche Gestalt fiel, die auf dem Boden schlief.
„Gütiger Himmel!“ Sofort breitete er die Arme aus, damit seine Freunde, die sich vor dem Regen schützen wollten und daher unter das Vordach des Portikus drängten, nicht Gefahr liefen, dasselbe zu tun.
„Ist das die Möglichkeit!“, rief Rush aus, ehe er sich von seinem Erstaunen erholen konnte. „Da siehst du es, alter Junge. Ein Geschenk des Himmels. Nimm es dir. “
„Psst“, flüsterte Fort. „Sie schläft.“
Alec wandte sich stirnrunzelnd an Drax. „Kennst du sie?“
„Nie in meinem Leben gesehen.“ Der Earl schob alle anderen beiseite und kniete dann neben der Gestalt nieder, wobei er die Laterne näher an ihr Gesicht hielt, um sie besser betrachten zu können. „Welch eine Schönheit“, murmelte er.
Schweigend überließ Alec seinen Platz Fort und Rush, die sich nun links und rechts neben Drax niederbeugten. Fort legte den Kopf ein wenig schief und musterte die Schlafende.
„Hübsches Mädchen“, bemerkte er mit der gewöhnlichen Zurückhaltung.
Alec hielt sich im Hintergrund. Großartig. Noch eine Dirne.
Sie schlief tief und fest, atmete ruhig und sah aus wie eine verzauberte Märchenprinzessin, die darauf wartete, dass der Kuss ihrer wahren Liebe sie weckte – abgesehen von dem Schmutzstreifen auf ihrer Wange.
Statt in einem gläsernen Sarg lag sie aber auf dem harten Boden. Der Anblick dieses hübschen jungen Geschöpfs, das sich in solch einer Lage befand, erregte Alecs Mitleid. Die auftauchenden Erinnerungen an seine Nächte mit Lady Campion verursachten ihm ein Schuldbewusstsein, das sich wie das Reiben eines rauen Stoffes auf einer kaum verheilten Wunde anfühlte.
Nein, sie waren nicht sehr verschieden voneinander, er und das schlafende Mädchen dort auf dem Boden. Vielleicht war es diese Erkenntnis, die ihn dazu brachte, Abstand zu wahren – ein unwillkommenes Gefühl von Verwandtschaft. Während die Freunde sich um sie drängten, lehnte Alec sich an die Säule, die sich gegenüber der Schönen befand, und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie ist ein wenig jung, meint ihr nicht?“
Fort, Drax und Rush beachteten ihn gar nicht, sondern begeisterten sich immer mehr für ihr Thema.
„Die Äbtissin muss sie für unsere Geselligkeit geschickt haben“, flüsterte Drax.
„Sie ist ein wenig früh dran.“
Rush lächelte boshaft. „Vielleicht hatte sie es eilig.“
„Also, Alec, alter Junge.“ Fort warf ihm über die Schulter hinweg einen Blick zu. „Wie denkst du über diese Brünette?“
Er betrachtete sie unentschlossen. Das Mädchen war reizend, das ließ sich nicht leugnen. Sie besaß eine milchweiße Haut und Wimpern, so dicht und schimmernd wie schwarzer Samt. Eingehüllt in eine knielange Pelerine, lag sie seitlich auf den nassen Steinen, den Kopf auf einen Arm gebettet, das dunkle Haar ausgebreitet.
„Der Schlaf der Unschuldigen“, säuselte Rush.
„Genau“, stieß Alec hervor.
Nachdenklich betrachtete Fort die Haltung ihres Kopfes. „Bequem kann das nicht sein.“
Das glaubte Alec nun auch nicht. Langsam ließ er seinen Blick über sie hinweggleiten, von den zerzausten Haaren bis zu dem Stück schwarz bestrumpfter Wade, das zwischen den zerschlissenen Stiefeln und dem schmutzigen Rock ihres einfachen hellblauen Kleides sichtbar war. Ein spöttischer Ausdruck erschien in seinen Augen, als er dieses Bild von Unschuld betrachtete, ein Bild der Täuschung, das so verführerisch war wie der Duft eines Parfüms.
Niemand in dieser Welt war wirklich unschuldig. Warum sollte es ihn also interessieren, dass seine Freunde sie ansahen, als wären sie kaum zuvor einem weiblichen Wesen begegnet?
Dann verlor er die Geduld mit ihnen – und mit sich selbst. „Würde einer von euch das Mädchen jetzt wecken, oder wollen wir die ganze Nacht lang hier stehen und sie uns ansehen?“
„Er hat recht. Wir müssen hineingehen. Ich werde meinen Butler dafür bestrafen, dass er dieses süße Geschöpf hier hat warten lassen“, meinte Drax. „Wir sollten beten, dass sie sich nicht den Tod geholt hat.“
„Das wäre wirklich ein Unglück“, stimmte Rush zu. „Verlockendes kleines Ding, nicht wahr?“
„Schwer zu sagen, unter all dem Schmutz“, meinte Alec.
Rush grinste. „Vielleicht sollten wir sie baden.“
„Dabei solltest du ihre Kleider verbrennen, sie riechen sehr scheußlich“, meinte Drax und rümpfte seine lange, gerade Nase.
„Ja, wir werden sie in seidene Laken hüllen.“ Rush bückte sich, um ihr Haar zu berühren, und etwas in Alec zog sich zusammen.
Er runzelte die Stirn. „Warum gibst du ihr nicht gleich ein Zimmer?“
Alle drehten sich um, überrascht von seinem scharfen Ton.
„Ihr werdet sie erschrecken, wenn sie aufwacht und drei Männer erblickt, die sie lauernd betrachten“, erklärte er abmildernd.
„Wir wollen das Mädchen nicht erschrecken“, meinte Rush.
„Was Frauen betrifft, hat Alec immer recht“, erinnerte ihn Fort.
„Ja, überlass das lieber mir, Rush, alter Junge. Du bist ein verdammter Elefant im Porzellanladen.“ Behutsam berührte Drax die zarte Schulter der Schlafenden. „Miss? Hallo, Miss?“ Er schüttelte sie nun ein wenig. „Aufwachen, meine Liebe.“
Gegen seinen Willen sah Alec zu, wie sie die Lider öffnete. Bezauberndes Geschöpf, ja, das musste er einräumen.
In der Art, wie sie müde die Augen aufschlug, lag etwas Verletzliches. Sie bewegte den Kopf, ein wenig auch die Lippen – dann riss sie auf einmal die Augen regelrecht auf. Sie waren strahlend blau, violett beinahe, im Schein der Laterne gleichsam Edelsteine.
„Guten Morgen“, begrüßte Rush sie leise.
Ihre schönen Augen wurden noch größer.
Beim Anblick seiner Freunde, die sich um sie scharten, richtete sich die junge Frau mit einem leisen Aufschrei auf, offensichtlich noch benommen und vom Schlaf verwirrt. Sofort rückte sie an die Wand, und ein verängstigter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht.
Alle drei lachten, aber Alec wusste, dass sie sich fürchtete, halb verschlafen wie sie war und ohne zu verstehen, was hier vor sich ging. Er wusste, er sollte etwas sagen, aber er wollte nichts damit zu tun haben. Schon gar nicht, wenn ihr mitleiderregender Anblick ihm ein Gefühl des Unwohlseins in der Magengegend bescherte. Gelangweilt wollte er sich abwenden, aber er stellte fest, dass ihm das nicht gelang. Stattdessen sah er sie mit wachsendem Verlangen an und zählte die Tage, die vergangen waren, seit er das letzte Mal das Bett mit einer Frau geteilt hatte. Dann seufzte er.
So viel zu seinem Versuch, ein besserer Mensch zu sein.
Als die Müdigkeit von ihr wich und sie wieder klar denken konnte, fand Becky sich umstellt von drei großen, fremden Männern, die sich in der Dunkelheit über sie beugten. Ihre gut geschnittenen Gesichter wurden im flackernden Licht der Laterne zu lüsternen, lauernden Masken wie die Gesichter von Gargoyles, den wasserspeienden Dämonen.
Sie rochen nach Alkohol, und obwohl ihre Sprache kultiviert war, hatte sie Angst vor ihren zudringlichen Blicken und dem erwartungsvollen Lächeln. Sie wusste sofort, was sie wollten. Denselben Ausdruck hatte sie schon früher gesehen – in Michails kalten grauen Augen.
Noch klang ihr die Drohung ihres Cousins in den Ohren, ihr Gewalt anzutun, und Erinnerungsfetzen an dunkle, brutale Träume gingen ihr im Kopf herum, sodass sie sich noch fester mit dem Rücken an die Wand presste, während ihr Herz heftig schlug. „Lassen Sie mich in Ruhe. Ich habe nichts Böses getan.“
„Natürlich nicht, Liebes“, meinte der schlanke Gentleman unmittelbar vor ihr. Er besaß eisblaue Augen und kurzes, hellblondes Haar, das einen rötlichen Schimmer hatte. „Keine Angst. Ich bin Lord Draxinger, und dies sind meine Freunde.“ Er reichte ihr eine schlanke, blasse Hand. „Ich nehme an, du willst mit hineinkommen?“
Sie beobachtete ihn aufmerksam und wollte weder seinem höflichen Benehmen noch seinem gastfreundlichen Angebot trauen.
„Nur nicht so schüchtern, Kleine.“ Der große schwarzhaarige Herr zu seiner Rechten trat vor und streckte die Arme nach ihr aus, als wollte er sie hochheben. „Lass mich dir helfen.“
„Bleiben Sie weg!“, schrie sie, sodass er zurückwich.
Überrascht hielt er inne und zog seine dichten schwarzen Brauen hoch. „Mein liebes Mädchen, ich bin Lord Rushford – bestimmt hast du von mir gehört. Und jetzt komm hinein“, befahl er lächelnd. „Wir werden dafür sorgen, dass du es schön warm hast ...“
„Fassen Sie mich nicht an.“
Die beiden Lords wechselten einen erstaunten Blick, dann brachen sie in Gelächter aus.
„Nun, nun, Liebes, hab keine Angst“, mischte sich jetzt der dritte Mann beruhigend ein. Er hatte katzenhafte Gesichtszüge und dichtes, gewelltes Haar in einem mahagonibraunen Farbton. „Sie wollen nur nett sein.“
„Könnt ihr nicht sehen, dass ihr dem Mädchen Angst macht? Lasst ihr etwas Platz.“
Erst in diesem Moment, da er sprach, bemerkte Becky, dass noch ein vierter Mann in der Nähe war.
Sie hob den Kopf und erblickte hinter den Teufeln mit ihren lüsternen Augen, inmitten des silbrigen Regens, einen goldhaarigen Engel.
Es war ein gefallener Engel.
Sie holte tief Luft, verblüfft von diesem Anblick überirdischer männlicher Schönheit. Nie, in ihrem ganzen Leben nicht, hatte sie dergleichen gesehen.
Ungemein elegant gekleidet, lehnte er mit einer Schulter an einer der Säulen des Portikus, die Arme vor der Brust verschränkt. Er wahrte Abstand, als hätte er Angst vor ihr. Vielleicht war es auch nur Arroganz, als ginge ihn ihre Gegenwart nichts an.
Doch als ihre Augen sich trafen, erschauerte sie.
Groß und muskulös war er und besaß die Figur eines Athleten. Seine rastlose Energie versuchte er hinter einer Haltung höchster Langeweile zu verbergen. Sein fein geschnittenes Gesicht wurde durch hohe Wangenknochen betont sowie ein markantes Kinn – alles war männlich und perfekt.
Vielleicht träumte sie noch, aber durch den Regen schien der Himmel hinter ihm zu glänzen; beinahe erwartete sie, dass Flügel aus seinem Rücken wuchsen. Doch dann fing ihr Puls schneller zu schlagen an, als sie das Verlangen in seinen blauen Augen entdeckte. Der Teufel selbst war einmal ein Engel gewesen. Dieser Mann war die personifizierte Sünde.
Die Gestalt gewordene Versuchung.
„Komm mit uns hinein, meine Liebe“, sagte Lord Draxinger und schreckte sie aus ihren Träumen.
„Ja, trink etwas“, meinte auch Lord Rushford und streckte einen Arm aus, um ihre Wange zu berühren.
Mit einer heftigen Bewegung schlug sie seine Hand weg und sprang auf. „Fassen Sie mich nicht an!“
Der dritte Mann lachte, und Becky warf ihm einen wütenden Blick zu.
„Wisst ihr, ich glaube, sie gefällt mir“, bemerkte Lord Rushford und betrachtete sie eingehend.
Als er sich langsam aus seiner Hocke zu voller Größe aufrichtete, musste Becky den Kopf zurücklegen, um ihm in die Augen zu sehen. Sie fühlte, wie sie erblasste.
Lord Rushford kam näher, und sie wich vor ihm zurück, soweit sie es mit einer Wand im Rücken vermochte. Er stemmte die Arme gegen das Mauerwerk und beugte sich zu ihr hinab. „Sag mir deinen Namen, du unverschämtes Ding.“
„Ruhig, Rush. Du hast ein bisschen zu viel getrunken“, ließ sich der Engel vernehmen, doch der schwarzhaarige Mann wandte seinen Blick nicht von ihr ab.
„Halt dich da raus“, befahl Rushford seinem Freund Alec und nahm ihren Arm.
Sie fühlte sich in die Enge getrieben. Ihr Herz schlug wie wild. „Bitte.“ Sie schluckte angestrengt. „Lassen Sie mich gehen.“
„Nein, nein, das kommt nicht infrage. Du musst mit uns etwas trinken“, sagte Lord Rushford in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Ich bestehe darauf.“ Sein Griff war nicht grob, aber unnachgiebig.
Obwohl sie vom Land stammte, begriff sie doch, dass ihr Schicksal besiegelt sein würde, wenn sie mit diesen Männern das Haus betrat. Während sie zu ihrem Bewacher aufblickte, kehrte die Erinnerung an all die Angst und das Entsetzen der vergangenen Woche zurück. Wut stieg in ihr auf.
Nein, dachte sie, während der Zorn in ihr wuchs. Sie würde das nicht hinnehmen. Das würden sie ihr nicht antun können. Furcht schwächte ihr Denken, doch ihre Instinkte funktionierten noch. Jetzt hieß es kämpfen oder weglaufen. Als Lord Rushford sich näher zu ihr herabbeugte, offensichtlich entschlossen, sie zu küssen, griff Becky ohne Vorwarnung an.
Mit einer plötzlichen Bewegung trat sie vor und stieß ihm das Knie in die Lenden. Er schrie auf und ließ sie los, während er zur Seite stürzte. Gleich darauf drängte sie den Mann mit dem braunen Haar aus dem Weg, und als Lord Draxinger die Hand nach ihrem Ellenbogen ausstreckte und dabei „Na, na, meine Liebe“, murmelte, holte sie aus und versetzte ihm mit aller Kraft einen Kinnhaken.
Dann rannte sie hinaus in die Nacht, so schnell sie konnte – und war sofort bis auf die Haut durchnässt.
Alec war derart erstaunt, dass er nicht sofort reagierte. Selten nur gab es noch etwas, was ihn überraschte, vor allem bei einer Frau, aber der Angriff dieses Mädchens verblüffte ihn völlig. Fort konnte kaum mit Lachen aufhören, zwischendurch rief er: „Bravo, Mädchen!“ Alec war zu nichts anderem fähig, als ihr erstaunt nachzusehen, während zwei seiner Freunde wieder zu Sinnen kommen mussten. Rushford krümmte sich noch immer, während Drax sich stöhnend das Kinn rieb und etwas Blut ausspuckte.
„Das Mädchen hat mir verdammt noch mal fast einen Zahn ausgeschlagen.“
Plötzlich lachte auch Alec laut auf. Gütiger Himmel, dieses Mädchen hatte ihnen eins ausgewischt. Wie viele Frauen hätten nicht gern zugesehen, wie diese großen Verführer so außer Gefecht gesetzt wurden? Alec gehörte nicht zu den Opfern dieses Wirbelwinds, doch auch wenn sie ihn nicht berührt hatte, so hatte sie ihn aus seinen Stimmungen befreit. Schon setzte er sich in Bewegung, ein Lächeln auf den Lippen.
„Wohin willst du?“, rief Fort ihm nach.
„Mich überzeugen, dass es ihr gut geht.“
„Ihr?“, stieß Rush hervor. „Was ist mit uns?“
„Ihr habt es verdient.“
Um sich vor dem Regen zu schützen, kniff Alec die Augen zusammen und erblickte das geheimnisvolle Mädchen, wie es die Straße hinunterlief. „Miss!“, rief er und setzte ihr nach. „Rennen Sie nicht weg, kommen Sie zu uns zurück.“
Sie warf ihm über die Schulter einen erschrockenen Blick zu, lief jedoch weiter. Offensichtlich war sie nicht bereit, ihnen zu trauen. Alec warf den Freunden einen finsteren Blick zu. „Ich sagte euch doch, dass ihr dem Mädchen keine Angst machen solltet.“
Dann fing auch er zu laufen an, und mit seinen langen Schritten würde er sie bald eingeholt haben.
„Vorsicht, alter Junge!“, rief Fort heiter. „Das Mädchen ist gefährlich.“
„Ich liebe die Gefahr“, erwiderte Alec. „Das ist euch doch nichts Unbekanntes.“ Etwaige Vorurteile der jungen Frau gegenüber schob er beiseite. Das Mädchen hatte Temperament. Er musste ihren Namen wissen. Sie bot eine Herausforderung, und Herausforderungen waren in seinem Leben so selten wie Überraschungen. Aber er war nicht nur interessiert, er war auch besorgt – gegen seinen Willen.
Inzwischen war er nicht mehr sicher, ob ihre erste Vermutung gestimmt hatte und sie tatsächlich zu früh gekommen war, vor den anderen filles de joies. Ihre Garderobe sah anders aus, und sie hatte auch nicht nach billigem Parfüm gerochen. Sie hatte kein Rouge getragen, keinen falschen Schmuck, und sie war nüchtern gewesen.
Entweder war sie gerade aufgewacht und hatte deshalb nicht verstanden, warum seine Freunde sie so aufmerksam behandelten, oder es gab einen anderen Grund für ihren naiven Ausbruch.
Alec hatte vor, das herauszufinden. Er musste das Rätsel lösen, etwas Besseres hatte er gerade nicht zu tun.
An der Ecke blieb das Mädchen stehen, offensichtlich wurde sie müde. Sie blickte erst in die eine, dann in die andere Richtung, als wüsste sie nicht, wohin sie gehen sollte. Dann entdeckte sie, dass er ihr folgte. Erschrocken lief sie weiter.
„Lassen Sie mich in Ruhe!“, rief sie ihm mit gellender Stimme zu, obwohl er noch immer ein gutes Stück entfernt war.
„Warte! Ich will nur mit dir reden.“ Er war wieder zum Du übergegangen.
Sie stieß einen angstvollen Schrei aus und floh weiter.
Mit funkelnden Augen beschleunigte Alec seinen Schritt, förderte mühelos diese ungenutzten Kräfte zutage, die er in vielen Jahren des fast täglichen Trainings in Londons besten Fecht- und Boxvereinen erworben hatte. Mit seinen schwarzen eleganten Schuhen durchquerte er tiefe Pfützen. Noch immer war er für den Ballsaal gekleidet, in schwarzer Hose und Frack, doch der Regen hatte schnell seine Schultern und seine Brust durchnässt, ebenso seine weiße seidene Lieblingsweste, und das Haar klebte ihm am Kopf. Er atmete schneller, löste sein Halstuch und warf es fort.
Als er in die Bond Street einbog, fuhr eine Kutsche mit weiteren Gästen, die Drax zu sich eingeladen hatte, an ihm vorüber. Überrascht sahen sie ihn an, doch er achtete nicht darauf, so sehr war er auf die Verfolgung konzentriert.
Er hatte das Gefühl, dass er an diesem Abend nicht mehr auf ein Kartenspiel zu Draxinger zurückkehren würde. Nein, ihm schwebte bereits ein anderes Spiel vor, das ein Mann und eine Frau miteinander spielten. Himmel, wie sehr er das brauchte!
Er hatte zu lange darauf verzichtet. Seit der Mittsommerwende, seit Lizzies Hochzeit mit Strathmore. Nachdem das einzige Mädchen, von dem er immer geglaubt hatte, er würde es heiraten – sobald er irgendwann natürlich dazu bereit sein würde –, ihn abgewiesen hatte, besaß er nicht das Herz, sein Leben als Don Juan weiterzuverfolgen.
Bis jetzt.
Worauf zum Teufel wartete er? Sein Körper sehnte sich nach der Berührung einer Frau. Während er durch den Regen lief, beschloss er, dass dieses Mädchen genauso gut wäre wie alle anderen. Außerdem würde es seiner Eitelkeit schmeicheln, Erfolg zu haben, wo seine Freunde gescheitert waren.
Als sie an einer Reihe von Geschäften vorüberkamen, deren Türen für die Nacht fest verschlossen waren, verlangsamte die junge Frau den Schritt, als würden ihre Kräfte allmählich versagen. Noch einmal warf sie einen angstvollen Blick über die Schulter. Bald hatte er sie eingeholt.
Alec war nun fast auf gleicher Höhe mit ihr. Er war ihr nahe genug, um den Zorn auf ihrem Gesicht zu erkennen.
„Gehen Sie weg, Sie Teufel!“
„Nein“, rief er heiter. Noch kannte sie seinen berüchtigten Eigensinn nicht – und er wusste nicht einmal ihren Namen.
Mit einem Wutschrei hastete sie zur nächsten Ladenfassade und ergriff die einzige Waffe, derer sie habhaft werden konnte.
Sie packte einen Gaslaternenlöscher, zog ihn aus der Halterung an der Wand, fuhr damit herum und richtete ihn auf Alec. „Bleiben Sie weg!“
„Oho!“, lachte er und kam langsam näher. Das Mädchen gefällt mir. „Was willst du damit? Mein Leben auslöschen?“
„Keinen Schritt weiter, sonst schlage ich Ihnen den Schädel ein. Ich werde es tun, das schwöre ich.“
Natürlich gehorchte er nicht, sondern ging noch ein oder zwei Schritte weiter. „Ruhig, Kleines ...“
„Ich bin nicht Ihr Kleines!“ Der Metallstab zischte durch die Luft. Ihr dunkles Haar flog um sie herum, und der schmutzige Rock drehte sich um ihre schlanke Gestalt, als sie mit der Waffe nach seinem Kopf ausholte.
Er duckte sich reflexartig, doch es erstaunte ihn, wie knapp sie ihn verfehlt hatte. Seit Jahren drohten ihm Frauen, ihn umzubringen, aber noch keine hatte es bisher wirklich versucht.
„Was für eine Kraft“, rief er aus und begann wieder zu lachen. Er konnte nicht anders.
Sie wurde rot. „Wagen Sie nicht, mich auszulachen. Ich fürchte mich nicht vor Ihnen. In meinen Adern strömt das Blut von Helden, damit Sie das wissen“, erwiderte sie zornig und versuchte nun, wie Alec nicht ohne Bewunderung feststellen musste, ihn auf diese Weise loszuwerden. „Mein Vater kämpfte an Nelsons Seite bei Trafalgar!“
Er hob die Hände. „Ich ergebe mich. Tu mir nichts.“
„Oh, Sie .“ Ein weiterer Blitzschlag brachte sie zum Verstummen, und sie verbarg sich unter der Markise des Ladengeschäfts.
Alec wollte ihr folgen, musste aber feststellen, dass sie bereits dabei war, den schützenden Unterstand, den sie erobert hatte, zu verteidigen.
Zwar gestattete sie ihm, unter die gestreifte Ladenmarkise zu treten, doch ihre Waffe hielt sie weiterhin einsatzbereit.
Er lächelte ihr zu. „Ist das nicht gemütlich hier?“
Der Regen trommelte auf die Markise, andere Geräusche der Nacht waren nicht mehr zu hören, sie wurden verschluckt.
Unbehaglich wich die junge Frau vor ihm zurück, umfasste die Waffe noch fester und schien mehr als bereit zu sein, ihm bei der ersten falschen Bewegung den Schädel einzuschlagen.
Alec war wachsam und doch hingerissen, obwohl das nichts bedeutete. Er war dafür bekannt, sich sechs- oder siebenmal am Tag zu verlieben. Schöne Augen, dachte er. Er betrachtete sie durch den Regen, im Schein einer fernen Straßenlaterne. Augen voll Feuer und Leidenschaft, und der violette Schimmer war so selten, dass er besonders fasziniert von ihm war. Der Regen hatte ihr dichtes dunkles Haar durchnässt, wodurch der feine Schnitt ihres Gesichts betont wurde. Wassertropfen hingen an ihren Wimpern und benetzten ihre vollen Lippen, sie schienen diese in taugetränkte Rosenblätter zu verwandeln. Eine schmutzige kleine Streunerin und gleichzeitig hinreißend.
Er begehrte sie.
Doch er wagte nicht, ihr das zu sagen, aus Angst um sein Wohlergehen. Tatsächlich lief er Gefahr, wenn er sich weiter über sie lustig machte oder auf andere Weise zu sehr ihren Zorn herausforderte, erschlagen zu werden. Aber er konnte einfach nicht aufhören zu grinsen. Endlich gab es für ihn eine Ablenkung. „Du bist ganz geschickt mit diesem Ding. Hast du je daran gedacht, Kricket zu spielen? Unser Team könnte dich gebrauchen.“
Sie seufzte tief und holte erneut aus. Er bog seinen Oberkörper zurück, und der Laternenlöscher verfehlte um Haaresbreite seine Brust. Er hätte ihn packen können, aber dann wäre sie weggelaufen, und der Spaß hätte ein Ende gefunden.
„Was stimmt nicht mit Ihnen?“, rief sie aus, offensichtlich verärgert, weil sie ihn verfehlt hatte. „Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe?“
„Aber Mademoiselle, ich bin nur gekommen, um mich davon zu überzeugen, dass es Ihnen gut geht – und natürlich, um mich für das grobe Benehmen meiner Freunde zu entschuldigen“, fügte er mit seinem gekonntesten Unschuldsblick hinzu. Dazu lächelte er sie so charmant an, wie es ihm nur möglich war. Aber sie beobachtete ihn misstrauisch, als glaubte sie ihm nicht. „Sie wollten dich nicht ängstigen ...“
„Ich hatte keine Angst!“
„Natürlich nicht.“ Es fiel Alec schwer, angesichts ihres Mutes nicht zu lächeln. „Trotzdem war es nicht sehr nett von ihnen, deinen Schlaf zu stören.“
Drohend hob sie ihre Waffe. „Machen Sie sich schon wieder über mich lustig?“
„Nun, das tue ich nicht“, erwiderte er leise. „Ich flirte mit dir, meine Liebe.“
2. KAPITE