DER ERSTE TAG
Etwas kitzelte mich, und ich hörte leises Flüstern. Eine sanfte Stimme, doch ich verstand nicht, was sie sagte. Meine Füße zuckten, als wollten sie davonlaufen. Weiche Laken berührten meine Haut.
Ich schlug die Augen auf, doch der Raum war mir fremd. Vom Fenster wehte köstlich klare Luft zu mir herüber. Im Dämmerlicht draußen erkannte ich Berge.
Dann war ich vollkommen wach und erinnerte mich.
Ich war die Frau ohne Namen.
1. KAPITEL
Entspannt ließ sich die Frau auf die knarrende Treppe vor der Veranda sinken. Seit sie ihr Bewusstsein wiedererlangt und man ihr gesagt hatte, sie befände sich in einem Ort namens Lucky Draw in Colorado, hatte sie sich nicht mehr so wohlgefühlt.
Im Augenblick stellte ihr niemand Fragen, und auch ihr eigener Geist gönnte ihr eine Pause. Sie hatte aufgehört sich zu fragen: Wer bin ich? Wo komme ich her? Sucht jemand nach mir?
Sie saß einfach nur da und ruhte sich aus.
Der Anblick des Gartens beruhigte sie, und sie spürte, wie sich in ihrem Inneren etwas regte. Dort drüben müsste Unkraut gejätet werden, und hier könnte sie Tausendschön pflanzen …
Sie stutzte. War das ein Teil des Puzzles, ein Hinweis darauf, wer sie war? Hatte sie einen eigenen Garten? Ermutigt verfolgte sie diesen Gedanken, beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf die Knie.
Sie ließ ihren Blick umherschweifen und stellte sich vor, dass sie die Wilde Mohrenhirse herausriss. Himmel, war das eine Arbeit! Mohrenhirse war mindestens ebenso schwer in Schach zu halten wie Kudzo, dessen Wurzeln sich hartnäckig an den Boden klammerten.
Sie schnappte nach Luft und richtete sich auf. In welchem Teil des Landes kam Kudzo vor?
Die Erinnerung war wie ein leises Wispern. Das Bild eines Gartens tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Sie erhaschte einen Blick auf etwas Blaues, Langstieliges und auf zarte Blüten am Ende eines langen Weges. Verzweifelt bemühte sie sich, das Bild festzuhalten, doch das Mosaikstückchen verblasste bereits.
Ein leises Summen erweckte ihre Aufmerksamkeit. Vielleicht eineinhalb Meter vor ihr schwebte ein Kolibri in der Luft. Er hatte eine hübsche grasgrüne Kehle und suchte unablässig nach Nahrung. Der Anblick des Vogels beruhigte sie und linderte ihre Angst.
Sie musste etwas tun und durfte nicht länger untätig herumsitzen. Vielleicht sollte sie ein paar Blumen für ihren geschäftigen kleinen Freund pflanzen. „Danke“, flüsterte sie und meinte damit den Vogel, den Garten und diesen Morgen. Sie lebte und durfte all das genießen. Es war ein Lichtblick in dem dunklen Loch ohne Erinnerungen, zu dem ihre Vergangenheit geworden war.
Etwas ermutigt erhob sich die Frau, der man den Namen Jane Doe gegeben hatte. Sie trat in das Durcheinander, das einmal ein Garten werden könnte, und schmiedete Pläne, wie sie den ersten Tag in diesem Haus verbringen könnte. Dr. Lincoln – Sam, korrigierte sie sich – hatte darauf bestanden, dass sie in das Apartment über seiner Garage zog, solange sie kein Geld hatte und nicht wusste, wohin sie sich wenden sollte. Das winzige Dorf mit seinen dreihundertfünfundsechzig Seelen war meilenweit von der nächsten Stadt entfernt. Da die Ärzte im Krankenhaus von Denver bis auf die Amnesie keinen Hinweis auf eine Schädigung ihres Gehirns feststellen konnten, hatte man sie entlassen. Ihr war gar nichts anderes übrig geblieben, als Sams freundliches Angebot anzunehmen. Natürlich würde sie nur so lange bleiben, bis sie ihr Gedächtnis wiedergefunden hatte und wieder wusste, wo sie wirklich zu Hause war.
Der Sheriff hatte ihre Fingerabdrücke genommen und ein Foto von ihr gemacht, das er mit der Datenbank der vermissten Personen abgleichen wollte, aber bisher hatte er nichts gefunden. Das war mehr als beängstigend.
Warum sucht niemand nach mir? Bin ich allein? Gibt es niemanden, der sich Sorgen um mich macht?
Ich weiß es nicht. Ich weiß … nichts, dachte sie, aber das war nicht ganz richtig. Ein Blick in den Spiegel hatte ihr gezeigt, dass sie schwarze schulterlange Locken und grüne Augen hatte.
Sie war groß, einen Meter fünfundsiebzig. Nicht zu dürr, aber auch nicht zu dick. Wahrscheinlich war sie Mitte vierzig, und sie hatte keine Kinder geboren. Das hatte Sam ihr mitgeteilt.
Ihre Nägel waren lang und glatt. Frauen, die viel im Garten werkelten, hatten gewiss nicht so sorgfältig manikürte Fingernägel. Wahrscheinlich arbeitete sie also nicht mit den Händen. Saß sie bei ihrer Arbeit viel am Schreibtisch? Im Krankenhaus hatte man festgestellt, dass sie eine schnelle Auffassungsgabe hatte. Sie war gut in Mathematik, verstand ein wenig Spanisch und ein paar Brocken Französisch.
Ihre Prellungen waren immer noch nicht vollständig verheilt. Sie hatte sich gegen den Angreifer gewehrt, zumindest hatte der Sheriff ihr das erklärt. Unter ihren Fingernägeln hatte man fremde Hautzellen gefunden. Sechs Tage lag sie im Koma, nachdem der Angreifer ihr einen Schlag auf den Kopf versetzt hatte. Vermutlich hatte man sie ausgeraubt und sie anschließend ohne Tasche und ohne Auto am Rand einer einsamen Straße in der Wüste liegen gelassen.
„Guten Morgen!“ Sam kam mit zwei Bechern in der Hand um die Ecke. „Nimmst du irgendetwas in deinen Kaffee?“
„Woher soll ich das wissen?“ Sie rang sich ein Lächeln ab. „Tut mir leid.“
Er hob die Schultern und reichte ihr einen Becher. „Irgendwann wirst du es wieder wissen. Du wirst dich vielleicht nie an Einzelheiten des Überfalls erinnern, aber mit der Zeit wird der Rest deiner Erinnerung wiederkehren.“
„Aber du kannst es mir nicht versprechen.“
„Nein“, erwiderte er. „Aber hier kannst du in aller Ruhe gesund werden. Es gibt keinen Grund zur Eile“, sagte er mit sanfter Stimme.
Plötzlich fühlte sie sich unwohl, weil sie nur einen Baumwollschlafanzug trug und darüber einen alten Herrenpullover, den sie an einem Haken neben der Tür entdeckt hatte. „Ich sollte mich besser umziehen.“
„Meinetwegen nicht.“
Sam zwinkerte ihr zu, und seine schokoladenbraunen Augen lachten sie freundlich an. Sie waren das Erste, woran sie sich nach dem Aufwachen erinnerte. Er war nicht sehr viel größer als sie, ein Bär von einem Mann, dem alle Menschen Respekt und Zuneigung entgegenzubringen schienen, sowohl in Denver als auch in Lucky Draw. Was hätte sie in den ersten entsetzlichen Tagen nur ohne ihn getan, als sie begriff, wie allein sie war? Sie hatte in ihm keinen Mann gesehen, sondern einen Freund, der ihr Schutz und Hilfe bot.
Doch Sam war ein Mann, und sie war auf der Hut, als wäre sie bereits gebunden. Sie warf einen Blick auf ihre linke Hand, der Ringfinger war leer.
„Du kannst dir nicht sicher sein“, sagte er, als könnte er ihre Gedanken lesen. „Ein Ring lässt sich schließlich abnehmen.“
Sie lächelte. „Warst du schon einmal verheiratet, Sam?“
„Ich? Nein. Ich habe nie die Richtige gefunden.“ Er wühlte in seinen Taschen. „Vielleicht wird der Kaffee dadurch etwas genießbarer. Ich habe richtigen Zucker und Süßstoff, diese roten und blauen Päckchen …“
„Kein gelbes?“
Sie starrten sich an.
„Ich liebe den Süßstoff aus den gelben Päckchen“, sagte sie, und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Und Sahne.“
„Habe ich es dir nicht gesagt, Jane? Die Erinnerung wird wiederkommen.“
„Kurz bevor du kamst, habe ich mich an Kudzo erinnert, Sam. Wo wächst dieses Teufelszeug?“
„Das fragst du mich? Ich kann gerade mal Gras von Bäumen unterscheiden.“ Er runzelte die Stirn. „Ich glaube, es kommt hauptsächlich im Süden vor. Das würde auch zu deinem Akzent passen.“
„Ich habe einen Akzent?“ Bis zu diesem Moment waren ihr die Unterschiede in Sams und ihrer Aussprache nicht aufgefallen.
„Vielleicht bist du ja ein Rose aus Georgia oder eine Magnolie aus Mississippi“, sagte er lächelnd.
„Oder ein Bauerntrampel.“
„Nein.“ Er ergriff ihre Hand. „Erstens hast du keine Schwielen oder Blasen. Deine Hände sind lilienweiß wie bei einer Dame.“ Er runzelte die Stirn und betrachtete ihre Finger genauer. „Es kann sein, dass du Gitarre gespielt hast, wenn auch nicht in letzter Zeit.“
„Wie kommst du darauf?“ Sie hielt sich die Finger vors Gesicht.
„Fühl mal. An den Spitzen ist die Haut etwas härter. Gitarrenspieler haben Schwielen an der linken Hand, von den harten Saiten.“
Ohne nachzudenken und mit geschlossenen Augen bewegte sie die Finger und spürte in sich hinein, ob sich etwas in ihr regte.
Nichts. Sie ließ die Schultern hängen.
„Hey“, sagte er leise. „Setz dich nicht unter Druck. Dein Gehirn ist noch nicht dazu bereit.“
Ich bin bereit, wollte sie schreien, aber was konnte Sam schon dafür?
„Ich muss in die Klinik, aber ich könnte ein paar Termine verschieben, wenn du möchtest, dass ich hierbleibe. Du kannst mich auch gerne begleiten.“
„Nein.“ Sie blickte auf und unterdrückte die aufsteigenden Tränen. „Es wird schon gehen. Danke, dass du mich hier wohnen lässt, Sam. Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte.“
„Du bist nicht allein, Jane. Erhol dich in aller Ruhe und werd wieder gesund.“ Er machte eine Pause. „Soll ich dir irgendetwas mitbringen, wenn ich wiederkomme?“
Meinen Namen, dachte sie. Ich bin nicht Jane. Sie lächelte und schüttelte den Kopf. „Danke für den Kaffee. Ich wünsche dir einen schönen Tag.“
Er zögerte. „Kommst du auch wirklich zurecht?“
„Aber ja. Mach dir keine Sorgen.“
Das würde sie schon tun, sodass es für sie beide reichte.
Parker’s Ridge, Alabama
Wenn du auf der Couch schlafen kannst, kann ich das auch!
James Parker band die geschmackvolle Krawatte zu einem perfekten Knoten, doch der Gedanke an die Frau mit den wilden schwarzen Locken, die sein Leben vor mehr als fünfundzwanzig Jahren auf den Kopf gestellt hatte, ließ ihn innehalten. Die Frau, die nie das tat, was man von ihr erwartete, genau wie in jener Nacht, als sie ihren ersten großen Streit hatten. Er war hinausgestürmt, um auf der Couch zu schlafen.
Sie war ihm nachgerannt.
Oh Bella. Was ist mit uns passiert? Wann kommst du wieder?
Er ließ die Schultern sinken, während er sein Spiegelbild anstarrte. Er war nicht mehr fünfundzwanzig wie bei ihrem lächerlichen Streit, dessen Grund ihm längst entfallen war. An die anschließende Versöhnung konnte er sich noch sehr gut erinnern. Sie hatten viel gelacht in jener Nacht, als sie ihr Lager auf dem Fußboden im Wohnzimmer aufgeschlagen und überall Kerzen angezündet hatten. Bella fürchtete, sie würden langweilig und spießig werden, wenn sie vergaßen, welche Leidenschaft sie zusammengebracht hatte.
Zärtlich hatte sie mit ihren schlanken Fingern seinen Kiefer nachgezeichnet. Ihre grünen Augen funkelten. Genau dieses Funkeln hatte ihn vom ersten Moment an verhext. Wie ein Wirbelwind war sie in sein wohlgeordnetes Leben geplatzt und hatte seine Familie mit ihrer unbändigen Freiheitsliebe in Aufruhr versetzt. Selbst seine Freunde waren schockiert und fasziniert zugleich. Er hatte es nie bereut und nie etwas anderes gebraucht als sie.
Der sechsundvierzigjährige Geschäftsmann, dessen Bild er im Spiegel sah, war zwar immer noch schlank und durchtrainiert. Sein blondes Haar war noch voll und kräftig, doch er hatte schon lange nicht mehr so viel gelacht wie in jener Nacht auf dem Wohnzimmerteppich, und seine wilde verrückte Isabella Rosaline schien das Lachen im Laufe der Jahre ebenfalls verlernt zu haben.
Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken.
„Daddy, warum ist Mama nicht zu Hause?“ Seine Tochter Cele hielt sich nicht lange mit Höflichkeitsfloskeln auf. „Was hat sie zu dir gesagt? Ist alles in Ordnung?“
Er schwieg. Was sollte er darauf antworten? Ich weiß es nicht, weil sie nicht angerufen hat. Weil sie versucht zu entscheiden, ob sie mich verlässt.
„Sie braucht etwas Ruhe, Schatz. Ich rechne nicht damit, etwas von ihr zu hören, bevor sie nach Hause kommt.“ Wenn sie nach Hause kommt. Wie lange willst du mich im Ungewissen lassen, Bella? Ich habe Mist gebaut, okay. Aber …
„Sie ist seit zwei Wochen weg. Was ist mit ihrer Arbeit? Sie hatte ein paar große Geschäfte am Laufen. Wie kann sie es sich leisten, einfach wegzubleiben?“
Er hörte, wie sie tief Luft holte.
„Ist wirklich alles in Ordnung, Daddy?“
Cele mochte vielleicht mit doppeltem Tempo durchs Leben sausen, aber sie hatte eine gute Intuition. Genau wie ihre Mutter.
„Natürlich, Schatz. Sie hat nur zu viel gearbeitet, das ist alles.“ Zumindest das entsprach der Wahrheit. Bella, die Hausfrau und Mutter, hatte sich in eine gepflegte und Respekt einflößende Immobilienmaklerin verwandelt, in eine äußerst erfolgreiche noch dazu. Doch er vermisste das Hippiehafte an ihr, auch wenn ihre unkonventionellen Ansichten und Einstellungen in seiner Welt oft genug für hochgezogene Augenbrauen gesorgt hatten.
Wann hatten die Veränderungen angefangen? Warum hatte er es nicht schon früher bemerkt?
„Es passt nicht zu ihr, Daddy. Ich habe Angst, dass etwas passiert ist.“
Die Worte seiner Tochter brachten das Unbehagen auf den Punkt, das ihn quälte. Krampfhaft umklammerte er den Telefonhörer.
Er war so mit dem Gedanken an seine Schuld und dem Durcheinander in seinem Inneren beschäftigt gewesen, dass er gar nicht daran gedacht hatte, dass es noch einen anderen Grund für Bellas Abwesenheit geben könnte – neben der Tatsache, dass sie wütend auf ihn war.
„Ich bin mir sicher, dass es ihr gut geht“, sagte er.
„Aber sie geht nicht ans Handy.“
Das stimmte, aber er hatte geglaubt, sie würde nur ihn ignorieren. Er war beinahe erleichtert gewesen, dass sie sich nicht meldete, weil er keine Ahnung hatte, was er sagen sollte. Nicht, nachdem sie auf diese Weise auseinandergegangen waren.
Jetzt bekam er doch ein mulmiges Gefühl. „Hat sie auch nicht bei der Arbeit angerufen?“ Er hatte dort nicht nachgefragt, weil er fürchtete, dass ihre Assistentin wusste, warum Bella ihn verlassen hatte.
„Kein einziges Mal. Langsam mache ich mir Sorgen.“
Cele war dreiundzwanzig Jahre alt und kaum einen Meter fünfundfünfzig groß, doch ihre Körpergröße stand in keinem Verhältnis zu ihrer Willensstärke. Jetzt klang seine außerordentlich begabte und energiegeladene Tochter allerdings eher wie ein achtjähriges Mädchen.
Er stellte sich ihre knabenhafte Gestalt vor, das kurze blonde Haar und die karamellbraunen Augen. „Ich bin sicher, dass alles in Ordnung ist, mein Schatz, aber ich werde versuchen, deine Mutter zu erreichen.“ Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Allein der Gedanke, Bella könnte verletzt sein, war unerträglich.
„Gehst du zur Polizei?“
Er wollte diesen Vorschlag als albern abtun, überlegte es sich aber anders. „Ja, aber das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Wahrscheinlich liest sie ein gutes Buch und hat vergessen, das Telefon einzuschalten. Du kennst sie doch.“ Einen Moment konnte er sich lebhaft vorstellen, wie sie mit untergeschlagenen Beinen dasaß und ganz in eine Geschichte eintauchte. Allerdings hatte sie sich schon seit Monaten für nichts anderes als für ihre Arbeit Zeit genommen.
Eine riesige Faust schien sein Herz zu umklammern, und Furcht stieg in ihm auf. Was, wenn sie nicht nur wütend, sondern womöglich verletzt war? Bella! Wo bist du?
„Ich rufe dich später an, Schatz.“
„Ich rede mit Cam.“ Celes Stimme zitterte, doch sie hatte sich schnell wieder im Griff. „Vermutlich hast du recht, und später werden wir darüber lachen. Eine weitere von Mamas Geschichten.“
„Genau.“ Bellas unkonventionelles Benehmen und ihr einzigartiger Blick auf die Welt war eine niemals versiegende Quelle für schillernde Anekdoten, doch sie war schon lange nicht mehr so spontan gewesen.
Ein riesiger Knoten schien seine Kehle zuzuschnüren, und er musste sich immer wieder sagen, dass er allen Grund zu der Hoffnung hatte, dass Bella sich einfach nur irgendwo versteckte und schmollte.
Die Bella, in die er sich verliebt hatte, schmollte nicht. Sie tobte, fluchte auf zwei Sprachen und schmetterte Teller an die Wand. Anschließend warf sie ihre üppige Mähne zurück und kehrte laut singend die Scherben zusammen. Erst in den letzten Jahren war Bella zahm geworden und hatte aufgehört zu singen. Er hatte es lange nicht bemerkt.
„Ich muss jetzt los. Wir telefonieren später noch einmal.“ James legte auf, wartete ein paar Sekunden und wählte erneut.
Er wurde sofort zu ihrer Mailbox weitergeleitet. Schon wieder.
„Bella … Liebes …“ Seine Stimme erstarb, und beinahe hätte er aufgelegt. „Es tut mir leid. Wirklich. Ruf wenigstens die Kinder an, bitte!“ Er hielt inne und schloss die Augen.
„Ich liebe …“ Der Piepton schnitt ihm das Wort ab. Er umklammerte den Hörer, bis seine Knöchel weiß waren. Bitte, lass sie gesund und in Sicherheit sein. Bitte, lass ihr nichts geschehen sein.
Er holte tief Luft, riss sich zusammen und wählte erneut.
„Ich möchte meine Frau als vermisst melden.“
2. KAPITEL
Als sie aus dem Bad kam, wollte Jane ihr Haar zu einem Knoten hochstecken, doch dann ließ sie die Arme sinken und betrachtete sich im Spiegel. Unbändige wilde Locken umspielten ihr Gesicht. Warum sollte sie diese Pracht verstecken? Sie hob die Haare an und ließ sie wieder fallen. Probeweise schüttelte die den Kopf und sah zu, wie die Ringellocken auf und ab wippten.
Ich liebe dein Haar. Es ist einfach herrlich!
Ihre Augen weiteten sich. Sie wirbelte herum, um den Mann zu suchen, dessen Stimme sie gehört hatte, aber sie war allein. Zitternd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper. Wo war er, der Mensch hinter dieser Stimme? Existierte er wirklich oder hatte ihr Verstand ihr einen Streich gespielt?
Warum sucht niemand nach mir? Ich will nicht die Frau ohne Namen bleiben!
Sie schlang die Arme noch fester um sich und versuchte sich zu erinnern. Sollte ein Name nicht so wichtig sein, dass man sofort spürte, wenn man den richtigen hörte?
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich, obwohl Sam ihr geraten hatte, es nicht zu erzwingen. Wer bin ich? Wie lautet mein Name?
Mit aller Kraft wandte sie ihre Gedanken anderen Dingen zu, ließ sie entspannt dahingleiten und nur flüchtig mit ihren Erinnerungen in Kontakt treten. Langsam begann sie, sich in kleinen Kreisen zu drehen, wobei sie leicht schwankte. Dabei summte sie, zu Beginn leise, dann immer lauter. Sie streckte die Arme aus und drehte sich im Sonnenlicht. Schließlich tanzte sie hinaus auf die Veranda und in den Garten, bis die warmen Strahlen ihren Kummer linderten und sie daran erinnerten, dass sie lebendig war, auch wenn sie allein war. Es war ein neuer Tag, frisch und unverdorben.
„Bella!“
Mitten in der Bewegung hielt sie inne. „Was haben Sie gesagt?“
Eine ältere Frau beobachtete sie von der Veranda aus. „Bella. Das ist italienisch für Schönheit. Sie sind bildschön, wenn Sie im Morgenlicht tanzen, Signora.“ Lächelnd trat sie von der Veranda in den Garten. „Ich bin Luisa Ruggino. Sie müssen Jane sein.“
Sie war Sams Haushälterin. Jane hörte ihren Puls in den Ohren pochen. Vermutlich lag es an der ungewohnten Anstrengung, dass sie sich so leicht im Kopf fühlte. „Nein.“
„Aber Dr. Sam …“
„Ich meine, ja, man nennt mich Jane, aber so heiße ich nicht wirklich.“
„Das glaube ich auch nicht. Jane ist ein viel zu langweiliger Name für eine so lebhafte Frau wie Sie. Sie sollten übrigens kräftige Farben tragen.“
Jane blickte an sich herunter und musterte das alte Kleid. Es war eine Spende aus der Kleiderkammer der Kirche, ein verwaschenes blaues Ding, das ihr fast bis zu den Knöcheln reichte und über der Brust zu eng war. Es war alles andere als modisch, aber im Krankenhaus hatte man sie aus ihren eigenen Sachen herausgeschnitten.
„Ich möchte lieber meinen eigenen Namen wiederhaben.“
„Suchen Sie sich doch einfach einen aus, bis Sie sich erinnern. Unwissenheit kann manchmal auch ein Vorteil sein. Wenn Sie wollten, könnten Sie jetzt ganz neu anfangen.“
Diese Bemerkung stimmte sie nachdenklich. Sie konnte den Verlust ihrer Identität, eines Lebens und eines Zuhauses beweinen, oder sie konnte die Gelegenheit nutzen, die sich nur wenigen Menschen jemals bot. Keine Vergangenheit und keine Familie hielt sie fest. Die Knie wurden ihr weich. Sie hatte vielleicht keine Kinder, aber gab es denn niemanden, der auf sie wartete?
Ich liebe dein Haar. Es ist einfach herrlich!
„Ich will wissen, wer ich war und wer ich bin.“
Die alte Frau schnalzte mit der Zunge. „Das werden Sie, wahrscheinlich viel zu bald. Verschwenden Sie diese kostbaren Tage nicht, in denen Sie so frei sind, wie nur wenige Menschen es je sein können!“ Sie deutete auf das Haus. „Kommen Sie. Wir werden herausfinden, ob Sie kochen können. Außerdem kommen Sie dabei nicht auf dumme Gedanken. Wir werden ein Stück von dem Puzzle suchen, und dabei können wir uns auch gleich einen passenden Namen für Sie ausdenken.“ Lächelnd zwinkerte sie ihr zu. „Es sei denn, Sie möchten noch ein bisschen in der Sonne tanzen.“
„Nein“, erwiderte sie hastig. „Ich habe lieber etwas zu tun.“
„Eine gute Antwort.“
Die glatte rote Kugel in ihrer Hand fühlte sich wunderbar an. Jane hielt sie an ihre Nase und roch daran, dann wandte sie sich um. „Das ist eine frisch gepflückte Tomate.“
„Sie kennen sich also mit Nahrungsmitteln aus. Mögen Sie auch Gartenarbeit?“
„Ich glaube.“ Zögernd runzelte sie die Stirn. Jetzt war der Moment, in dem sie ihr neues Ich erschaffen konnte. „Ja.“
Luisa nickte. „Buena. Jetzt machen wir eine Marinarasoße. Wissen Sie, wie man Tomaten schält?“
Wie ein kleiner Vogel legte Luisa ihren Kopf schräg und musterte sie neugierig aus dunklen Augen. Jane runzelte die Stirn.
„Egal. Hier …“ Luisa reichte ihr einen großen Topf. „Füllen Sie ihn mit Wasser, und bringen Sie es zum Kochen. Dann legen Sie die Tomaten ein, zwei Minuten hinein …“
„… und anschließend in kaltes Wasser“, unterbrach Jane sie. „Dann lässt sich die Haut ganz leicht abziehen.“ Sie hätte jubeln können.
Luisa erwiderte ihr Lächeln. „Aha. Sie sind also tatsächlich eine Köchin.“
„Bin ich das?“ Ihre Freude verschwand abrupt. „Was nützt mir das? Dadurch weiß ich immer noch nicht, ob mich irgendjemand vermisst.“
„Dass Ihr jungen Leute es aber auch immer so eilig habt.“
„Jung?“ Jane betrachtete ihre Hände. „So richtig jung bin ich ja wohl nicht mehr.“ Sie ließ die Arme sinken. „Warum ist mir das passiert, Luisa? Bin ich ein schlechter Mensch? Ist das irgendeine Strafe?“
„Sie sind in der Tat noch ziemlich jung, wenn Sie nicht wissen, dass es keine einfachen Antworten im Leben gibt.“
„Aber …“ Der Protest erstarb auf ihren Lippen. Diese Frau war so freundlich zu ihr, und zum Dank dafür überschüttete sie Luisa mit unmöglichen Fragen.
Fang so an, wie du weitermachen willst. Sie hatte keine Ahnung, wo dieser Rat herkam, aber sie erkannte die ihm innewohnende Weisheit. Vielleicht würde ihre Erinnerung wiederkehren, zumindest hoffte sie es. Falls nicht, wollte sie dann zu einer unzufriedenen und undankbaren Frau werden?
Luisa hatte nicht ganz unrecht.