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Viscount und Verführer
Erscheinungstag: | Di, 01.12.2015 |
Bandnummer: | |
Seitenanzahl: | 320 |
ISBN: | 9783733766191 |
E-Book Format: | ePub oder .mobi |
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Top-titel
Die gute Tochter
"Lauf!", fleht ihre große Schwester Samantha. Mit vorgehaltener Waffe treiben zwei maskierte Männer Charlotte und sie an den Waldrand. "Lauf weg!" Und Charlie läuft. An diesem Tag. Und danach ihr ganzes Leben. Sie ist getrieben von den Erinnerungen an jene grauenvolle Attacke in ihrer Kindheit. Die blutigen Knochen ihrer erschossenen Mutter. Die Todesangst ihrer Schwester. Das Keuchen ihres Verfolgers.
Als Töchter eines berüchtigten Anwalts waren sie stets die Verstoßenen, die Gehetzten. 28 Jahre später ist Charlie selbst erfolgreiche Anwältin. Als sie Zeugin einer weiteren brutalen Bluttat wird, holt ihre Geschichte sie ganz ungeahnt ein.
"Die gute Tochter" ist ein Meisterwerk psychologischer Spannung. Nie ist es Karin Slaughter besser gelungen, ihren Figuren bis tief in die Seele zu schauen und jede Einzelne mit Schuld und Leid gleichermaßen zu belegen.
"Die dunkle Vergangenheit ist stets gegenwärtig in diesem äußerst schaurigen Thriller. Mit Feingefühl und Geschick fesselt Karin Slaughter ihre Leser von der ersten bis zur letzten Seite."
Camilla Läckberg
"Eine großartige Autorin auf dem Zenit ihres Schaffens. Karin Slaughter zeigt auf nervenzerfetzende, atemberaubende und fesselnde Weise, was sie kann."
Peter James
"Karin Slaughter ist die gefeiertste Autorin von Spannungsunterhaltung. Aber Die gute Tochter ist ihr ambitioniertester, ihr emotionalster - ihr bester Roman. Zumindest bis heute."
James Patterson
"Es ist einfach das beste Buch, das man dieses Jahr lesen kann. Ehrlich, kraftvoll und wahnsinnig packend - und trotzdem mit einer Sanftheit und Empathie verfasst, die einem das Herz bricht."
Kathryn Stockett
„Die Brutalität wird durch ihre plastische Darstellung körperlich spürbar, das Leiden überträgt sich auf den Leser.“
(Hamburger Abendblatt)
„Aber es sind nicht nur die sichtbaren Vorgänge und Handlungen von guten oder schlechten Individuen, die die (…) Autorin penibel genau beschreibt. Es sind vor allem die inneren, die seelischen Abläufe, die überzeugen.“
(SHZ)
„Das alles schildert Slaughter mit unglaublicher Wucht und einem Einfühlungsvermögen, das jedem Psychotherapeuten zu wünschen wäre.“
(SVZ)
„Die aktuelle Geschichte um die Quinns ist eine Südstaaten-Saga der besonderen Art, von der ihr nicht weniger erfolgreiche Kollege James Patterson sagt, sie sei ‚ihr ambitioniertester, ihr emotionalster, ihr bester Roman. Zumindest bis heute‘.“
(Focus Online)
„Die Autorin hat hier ein ausgezeichnetes Buch vorgelegt, dass mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt hat.“
(Krimi-Couch.de)
„Es gibt Bücher, bei denen man das Atmen vergisst. Die Romane der amerikanischen Schriftstellerin gehören dazu. So auch dieser Pageturner. (…) Karin Slaughter versteht es meisterhaft, glaubwürdige Charaktere zu erschaffen und ihre Leser fortwährend zu überraschen.“
(Lebensart)
„Atmosphärisch dichter Thriller über die sozialen Gespinste einer Kleinstadt, psychologisch sehr stimmig, mit vielen Schichten und Überraschungen.“
(Bayrischer Rundfunk)
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WIDMUNG
Für Jim und Beth Hobart und das Märchen, das sie wahr werden ließen. Herzlichen Glückwunsch zur Hochzeit!
Eine Liebe wie die eure beflügelt Schriftstellerinnen wie mich.
Danke, dass ihr mir so hervorragende Inspiration bietet!
1. KAPITEL
Gute Manieren sind nicht unbedingt ein Beweis für eine gute Abstammung. Merkwürdigerweise gilt dies sowohl für Gentlemen als auch für Pferde.
Leitfaden für den vollkommenen Butler und Kammerherrn von Richard Robert Reeves
Alles begann mit Lady Findercombes mächtigem Busen.
Nachdem sie weder mit einer vornehmen Herkunft noch mit Schönheit gesegnet war, sah Miss Lucilla Trent es mit Entzücken, als sie im zarten Alter von sechzehn Jahren eine Figur entwickelte, die man nur als „überaus weiblich“ bezeichnen konnte.
Lucilla, die für romantische Gefühle nicht viel übrig hatte, war hocherfreut, als diese weibliche Figur die Aufmerksamkeit des alten Lord Findercombe erregte. Der verlebte alte Junggeselle war so verzückt, dass er alle Vorsicht in den Wind schlug und um Lucillas Hand anhielt. Dabei focht ihn weder die mangelnde Mitgift an noch dass sie auf dem linken Auge schielte.
Mr. und Mrs. Trent waren natürlich begeistert. Selbst wenn Lucilla Lord Findercombe alt und langweilig fand, so verfügte der Bräutigam doch über gute Verbindungen, wurde überallhin eingeladen und stattete sie großzügig mit Nadelgeld aus. Viele meinten, sie seien das perfekte Paar.
Nach der Heirat überschüttete Lord Findercombe seine Frau mit schweren Broschen und Halsbändern, die ihre schönsten Attribute betonten. Die Kombination von üppigem Busen und glitzernden Juwelen war in der Gesellschaft bald ein wohlvertrauter Anblick.
Alles war gut – bis zum großen Ball der Hearsts, der jedes Jahr zwei Wochen vor Saisonbeginn stattfand. Das Anwesen der Hearsts lag einen halben Tagesritt von London entfernt, und so bot sich das Ereignis für die creme de la creme der Gesellschaft als ideale Station auf der Rückreise in die Stadthäuser an.
Inzwischen war der Ball schon Tradition geworden, in den großen Salons und dem eindrucksvollen Ballsaal drängten sich die Gäste. Jedes Jahr eilte Lady Hearst von Gast zu Gast und sammelte und verteilte den Klatsch, gleich einer Biene, die einen bunten Garten bestäubt.
Der große Ball der Hearsts galt normalerweise als Musterbeispiel einer gut geplanten und durchweg unterhaltsamen Veranstaltung, eine Tatsache, die Lady Hearst ungemein freute. Dieses Jahr jedoch klappte nicht alles wie geplant, im Gegenteil: Binnen einer Stunde drohte der Ball aus dem Ruder zu laufen.
Das wunderbare Orchester, das Lady Hearst engagiert hatte, litt an Fieber, so dass sie im letzten Augenblick ein kleines Quartett aus dem Ort verpflichten musste, das sich kaum für einen großen, übervölkerten Ballsaal eignete. Danach bemerkte sie, dass die langen Stoffbahnen, mit denen sie den Ballsaal hatte ausschmücken lassen, einen merkwürdig muffigen Geruch verströmten, was sie allerdings erst dann entdeckte, als es schon zu spät war, sie wieder abzunehmen. Doch die schlimmste Katastrophe betraf das Eis.
Wegen des ungewöhnlich milden Wetters war es in der großen Eingangshalle wärmer als üblich gewesen, und so war all das wunderbare Eis, das sie extra aus London hatte kommen lassen, noch vor Ankunft des ersten Gastes dahingeschmolzen. Und dabei hatte sie sich so auf dieses Eis gefreut: Die einzelnen Portionen waren wie Admiral Nelson an Bord der Victory geformt, zu Ehren der glorreichen Schlacht von Trafalgar, die zurzeit in aller Munde war.
Und nun schmolzen Hunderte von kleinen Admirälen vor sich hin. Schlimmer noch: Der Arm mit dem Degen, den er drohend gegen die Kehle eines verängstigten Franzosen gerichtet hatte, war ganz abgefallen und ruhte nun auf dem Gesicht des bezwungenen Gegners, was dem Ganzen eine etwas kannibalistische Note verlieh.
Der echte Admiral Nelson hatte im Krieg tatsächlich einen Arm verloren, und nun befürchtete Lady Hearst, ihre Gäste könnten sie für unsensibel oder gar für unpatriotisch halten. Ihre Ängste stellten sich als durchaus berechtigt heraus, denn im Lauf des Abends ertappte sie nicht eine, sondern gleich drei gehässige Damen dabei, wie sie sich dergleichen zuflüsterten.
Der Ball war insgesamt gut besucht, also kein kompletter Reinfall, doch die Stimmung erschien zäh und lustlos. Die Gäste langweilten sich, und das war das Schlimmste, was einer Gastgeberin passieren konnte, schlimmer noch als eine Feuersbrunst oder ein tödlicher Unfall. Das hätte zumindest interessanten Gesprächsstoff abgegeben.
In diese teilnahmslose Atmosphäre platzten nun Lord und Lady Findercombe. Es war schon nach Mitternacht, und Lady Hearst hatte ihren Platz am Eingang längst verlassen. Als sie jedoch das lebhafte Gedränge an der Tür bemerkte, eilte sie mit ihrem Gatten herbei, um zu sehen, wer gekommen war und eine derartige Unruhe verbreitete. Lady Hearst erreichte die Tür als Erste und sah sich den Findercombes gegenüber, die den Mittelpunkt einer rasch wachsenden Gruppe bildeten.
„Wir“, erklärte Lord Findercombe mit zornbebender Stimme, „wurden ausgeraubt!“
Im Nu war die Langeweile der letzten vier Stunden vergessen.
„Lieber Himmel“, meinte Lord Hearst über das Stimmengewirr hinweg, „Lord Findercombe, wie ist das denn passiert?“
Seine Lordschaft wandte sich an seine Gattin. „Lucilla, zeig’s ihnen.“
Lucilla band die Schleife an ihrem Hals auf, riss den Mantel auf und offenbarte ihr tief ausgeschnittenes Kleid. Ihr herrliches Dekollete lag zur Betrachtung bereit, und die gesamte Aufmerksamkeit der Gäste richtete sich darauf.
Einen Augenblick lang verstummte jedes Gespräch.
Lady Hearsts Wangen röteten sich. Ein schon recht alkoholisierter Gentleman beugte sich vor, linste in den Ausschnitt und sagte: „Also, ich find’, die sehen doch prima aus. Alle beide.“
Gelächter brandete auf.
Lord Findercombe bedachte den jungen Stutzer mit einem vernichtenden Blick. „Doch nicht ihr Busen, Sie Dummkopf. Ihre Juwelen! Alle weg! Ein Straßenräuber hat uns überfallen und ausgeraubt!“
„Nicht zu fassen!“, rief Lord Hearst aus.
„Ja, und der Schurke besaß auch noch die Frechheit, Lucilla anzubieten, sie dürfe eine ihrer Broschen behalten, wenn sie ihm einen Kuss gäbe!“
Besorgt blickte Lady Hearst auf Lucilla. Doch die jüngere Frau wirkte nicht im Mindesten entrüstet, im Gegenteil: Um ihre Lippen spielte ein leises, sehr geheimnisvolles Lächeln. Plötzlich wirkte Lucillas unattraktives Gesicht sogar irgendwie hübsch und sinnlich.
Die versammelte Gästeschar summte vor Aufregung. Immer mehr Leute drängten in die Eingangshalle und reckten die Hälse, um zu sehen, wer da gerade sprach. Lady Hearst wäre vor Freude beinahe geplatzt. Jetzt waren die Ballgäste sicher froh, eingeladen worden zu sein. Herrlich!
Sie drängte sich nach vorn durch und hängte sich bei Lucilla ein. „Ach, Sie armes Kind! Was haben Sie dann nur gemacht?“
„Gemacht?“ Lucillas Lächeln geriet nicht ins Wanken. Langsam hob sie die linke Hand. Auf der Handfläche prangte eine riesige Smaragdbrosche.
Lady Hearst brach in Gelächter aus und umarmte Lucilla.
„Ach, was für ein freches Ding Sie doch sind. Ein Kuss für eine Brosche!“
Lucilla sah auf die Brosche, Staunen im Blick. „So einen Straßenräuber habe ich noch nie gesehen. Seine Stimme …“ Lucilla schloss kurz die Augen. Sie lächelte immer noch. „Sie war so volltönend, glatt wie Seide. Und tief. Eine solche Stimme habe ich noch nie gehört. Und er war so kultiviert, so attraktiv, so höflich …“
„Meine Liebe!“, rief Lady Hearst aus. „Ihr Straßenräuber war niemand anderer als Gentleman James!“
Lucilla riss die Augen auf. „Wer?“
„Gentleman James – oder Gentleman Jack, wie manche ihn nennen – ist der hiesige Schurke. Er überfällt aber nur die ganz Reichen.“
„Gentleman James?“, gurrte eine Dame und riss die Augen auf. „Ist das ein böser Mann?“
„Ich glaube nicht“, versetzte Lady Hearst. „Er scheint recht kultiviert, und bisher hat er noch keiner Seele etwas zuleide getan.“
„Das stimmt“, pflichtete ihr Lord Hearst bei. „Es heißt, er sei ein wahrer Teufel mit dem Degen, und schießen kann er auch hervorragend.“
Lord Findercombe ballte die Fäuste und ließ sich zu einem ziemlich rätselhaften „Ha!“ hinreißen.
„Der Gentleman hat einwandfreie Manieren“, fuhr Lady Hearst fort und ignorierte Lord Findercombes Ausbruch. „Manche sagen, er sei der illegitime Sohn eines Adeligen.“
„Was auch immer“, zürnte Lord Findercombe, „der Rüpel hat es verdient, am Galgen zu baumeln!“
„Gar nicht so einfach“, erklärte Lord Hearst. „Bisher hat ihn noch keiner erwischen können, obwohl viele es schon versucht haben. Er kommt, fordert und verschwindet spurlos.“
„Er soll groß sein“, meinte Lady Hearst. „Sehr groß, mit schwarzem Haar und …“
„O nein“, widersprach Lucilla. Sie errötete und sah ihren Gatten verstohlen unter den Wimpern hervor an. „Der Räuber war nicht groß. Aber ich konnte einen Blick auf seine Augen werfen. Sie waren so blau wie …“
„Lucilla!“
Alle wandten sich dem offenkundig zutiefst schockierten Lord Findercombe zu. „Natürlich war er groß! Sehr groß sogar! Und seine Augen waren gr…“
„Unsinn. Gentleman Jack war eher klein, und seine Augen waren blau. Du, mein Lieber, hast zu viel getrunken.“
Lord Findercombe riss den Mund auf, und seine Augen quollen schier aus den Höhlen.
„Du hast schon richtig gehört“, beharrte Lucilla. „Du warst betrunken. Du hast zu Hause noch zwei Gläser Whisky getrunken. Und in der Kutsche hast du dauernd an deiner Taschenflasche genippt.“
Lord Findercombe lief puterrot an. „Ich bin nicht betrunken, und das weißt du ganz genau!“
Seine Gattin hob darauf nur die Brauen. Die Zuschauer fragten sich, ob Lord Findercombes zornentbrannte Reaktion vielleicht doch vom Alkohol befeuert wurde.
Lord Findercombe schien sich dessen durchaus bewusst. „Du, meine Liebe, hast eine Menge zu erklären.“
Lucilla bekam schmale Lippen. „Und was genau willst du damit sagen?“
„Was ich damit sagen will“, herrschte Lord Findercombe sie an, „ist, dass du recht schnell bereit warst, diesen Mann zu küssen, und das nur wegen einer kleinen Brosche.“
„Es ist keine kleine Brosche, es ist eine sehr große Brosche. Und warum sollte ich ihn nicht küssen? Er riecht wenigstens nicht nach Zwiebeln!“
Lord Findercombe versteifte sich. „Mein Arzt hat mir empfohlen, Zwiebeln zu essen, weil sie meiner Verdauung guttun!“
„Deiner Verdauung mögen sie ja guttun, aber anderweitig sind sie nicht gerade zuträglich!“
Die Gäste begannen zu kichern, und auch Lady Hearst musste sich abwenden, um ein höchst unziemliches Schmunzeln zu verbergen.
Lord Findercombes Gesicht verfärbte sich so dunkelrot, dass man befürchten musste, er könnte jeden Augenblick explodieren. „Es war ein Fehler, so bald nach dieser Katastrophe hierher zu kommen. Wir haben uns beide noch nicht wieder gefasst.“
„Das mag für dich gelten, mein Lieber, aber mir geht es gut. Hervorragend. Tatsächlich habe ich mich noch nie so gut gefühlt, nachdem ich jetzt endlich einen echten Gentleman kennenlernen durfte!“ Lucilla legte den Mantel ab und reichte ihn einem wartenden Lakaien. Dann wandte sie sich um und hängte sich bei Lady Hearst ein. „Mylady, dürfte ich um ein Gläschen Ratafia bitten? Ich bin direkt am Verdursten!“
„Aber natürlich, meine Liebe“, versicherte Lady Hearst lächelnd. „Hier entlang, bitte. Sie müssen mir alles über Ihr furchtbares Erlebnis erzählen!“
Neidisch sahen die anderen Gäste zu, wie Lady Hearst Lucilla zum Büfett führte, während Lord Findercombe laut lamentierend in der Eingangshalle zurückblieb. Nachdem dieses Spektakel nach einer Weile aber doch langweilig wurde, kehrten die Gäste einer nach dem anderen in den Ballsaal zurück.
Zu Lord Hearsts Kummer wurde Findercombe nicht müde, den Verlust der Juwelen seiner Frau zu beklagen, bis oben an der Treppe ein Gentleman erschien.
„Westerville“, sagte Hearst erleichtert.
Der so angesprochene Herr lächelte und kam lässig die Treppe herunter. In seinem Mantel mit den vielen Schulterkragen und den spiegelblanken Reitstiefeln wirkte er wie der Inbegriff des modebewussten Gentlemans. Er war auf beinahe klassische Weise attraktiv, groß und breitschultrig. Unten an der Treppe blieb er stehen und betrachtete die beiden älteren Lords leicht belustigt.
Lord Hearst eilte auf ihn zu. „Westerville! Brechen Sie schon auf?“
„Dringende Geschäfte rufen mich nach London.“
„Verflixt! Wenn Sie bloß noch eine Woche bleiben könnten! Die Gegend hier eignet sich hervorragend zur Jagd.“ Findercombe räusperte sich lautstark.
Hearst zuckte zusammen. „Ach, du lieber Himmel. Jetzt hätte ich es beinahe vergessen. Lord Findercombe, kennen Sie Viscount Westerville?“
„Nein“, erwiderte Findercombe gereizt. „Will ihn im Moment auch nicht kennenlernen. Ich bin noch viel zu erregt, um …“
„Er ist ein feiner Kerl“, erklärte Hearst und strahlte den Neuankömmling an. „Reitet hervorragend hinter der Meute.“
Der Viscount grinste, und seine weißen Zähne blitzten. „Hearst, wenn ich könnte, würde ich bleiben, aber ich muss nach London, um mein Erbe zu beantragen. Sobald ich die Sache geregelt habe, hoffe ich, dass ich Ihnen dieses braune Jagdpferd abkaufen kann.“
Hearst lachte herzhaft. „In dem Fall begeben Sie sich am besten postwendend nach London.“
Der Viscount verbeugte sich. „Das werde ich.“ Sein amüsierter Blick richtete sich auf Findercombe. „Lord Findercombe, Sie wirken ein wenig erregt. Ist etwas passiert?“
„O Gott, ja“, erwiderte Hearst. „Ein Straßenräuber hat die arme Lady Findercombe überfallen und sie zu einem Kuss gezwungen. Schlimmer noch, die kleine Hexe sah aus, als hätte sie die Sache genossen!“
„Hearst!“, bellte Lord Findercombe. „Wie können Sie es wagen anzudeuten, dass Lady Findercombe … dass sie … wie können Sie nur sagen …“
„Na, na!“, brummte Hearst und betrachtete seinen Freund ein wenig nervös. „Ich habe doch nur gesagt, dass sie so aussah. Gut möglich, dass sie es ganz widerlich fand und nur aus Höflichkeit so tat, als gefiele es ihr.“
„Meine Frau ist noch ziemlich jung“, sagte Findercombe und warf seinem Gastgeber einen zornglühenden Blick zu. „Sie weiß noch nicht, was ihr gefällt und was nicht. Als sich der Kerl ihr aufdrängte, war sie völlig entsetzt …“
„Aufdrängte?“ Der Viscount runzelte die Stirn. In dem dämmrigen Licht wirkten seine Augen ungewöhnlich silbergrün. „Der Mann hat sich ja anscheinend wie ein Schuft verhalten.“
„Allerdings“, erklärte Findercombe mit Nachdruck. „Er hat sich meiner Gattin auf höchst unritterliche Weise genähert.“
Der Viscount spitzte die Lippen; in seinem Blick lag düsterer Spott. „Es überrascht mich, dass Sie den Mann nicht zur Rechenschaft gezogen haben. Oder haben Sie es getan?“
„Hätte ich, wenn der Feigling nicht weggelaufen wäre! Aber ehe ich mich noch fassen konnte, war er mit meinem Geld über alle Berge!“
„Ja“, meinte der jüngere Mann nachdenklich, „es ist ja auch schwierig, die Fassung wiederzuerlangen, wenn man auf dem Boden der eigenen Kutsche kauert.“
Lord Hearst stieß unwillkürlich einen Schrei aus, als er das hörte, doch Findercombe blinzelte nur, den Blick fest aufs Gesicht des Viscounts gerichtet. „Wie können Sie denn wissen, dass ich mich auf dem Boden meiner Kutsche versteckt habe?“
Der Viscount lächelte sanft. „Ihre Knie sind schmutzig.“ Der ältere Lord beugte sich vor. „Ach. Das. Ich bin zu Boden geglitten in der Hoffnung, den Mann abzulenken von … nicht dass es eine Rolle spielte, denn ich hatte meine Pistole nicht dabei. Das wird nicht noch einmal vorkommen!“
„Natürlich nicht“, erwiderte der Viscount beruhigend. „Ein schreckliches Erlebnis, aber zum Glück ist es ja jetzt vorbei“, sagte Hearst in seiner herzhaften Art. „Westerville, Sie haben heute Abend noch einen weiten Weg vor sich, deswegen werden wir Sie nicht länger aufhalten. Schreiben Sie, wenn Sie für meine Braune bereit sind, ich lasse sie Ihnen dann vorbeibringen.“
„Danke, Mylord, das werde ich tun.“
„Das hoffe ich!“ Hearst öffnete die Tür zur Bibliothek. „Kommen Sie, Findercombe! Kosten Sie von meinem Portwein. Einen besseren kriegen Sie nirgendwo. Westerville hat ihn höchstpersönlich aus Frankreich mitgebracht.“ Er nickte Westerville zu und schloss dann die Tür hinter sich.
Der Viscount grinste. Leise pfeifend verließ er das Haus und begab sich zu der bereitstehenden Kutsche.
„Da sind Sie ja, Master Jack“, sagte ein mächtiger, rothaariger Schotte mit erleichtertem Seufzen. „Ich wart schon ’ne ganze Weile.“
Christian James Llevanth, Viscount Westerville, zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, Willie. Ich wäre früher gekommen, aber drinnen gab es einen kleinen Zwischenfall.“
„Aye“, stimmte Willie augenzwinkernd zu. „Ich hab gesehen, wie der Herr mit seiner Lady ankam. Was für’n Schlappschwanz!“
„Allerdings“, stimmte Christian zu. „Ich fand, er …“
In diesem Moment kam eine adrette Gestalt in nüchternem schwarzem Rock und makellos gebügelten Butlerhosen um die Kutsche herum. Der große, dünne und elegante Mann verneigte sich vor Christian. „Ah, Mylord. Ich habe Sie gar nicht gehört.“
„Ich bin auch gerade erst gekommen, Reeves“, erwiderte Christian. Der Butler befand sich erst seit zwei Monaten in seinen Diensten, und es fühlte sich immer noch ein wenig merkwürdig an. Nach all den Jahren, in denen er nur Willie zur Gesellschaft gehabt, in Tavernen gelebt und sich nirgends länger als notwendig aufgehalten hatte, war er plötzlich von Reeves und einer ganzen Schar Dienstboten umgeben und wohnte in einem luxuriösen Haus in London. Und all das gehörte ihm sogar!
Er lächelte den Butler an. „Ich entschuldige mich für meine Verspätung. Auf dem Ball hat es ein kleines Drama gegeben.“
Willie schnaubte amüsiert. „Aye, ein kleines Drama! Anscheinend wurde die Kutsche irgendeines hochnäsigen Gentlemans überfallen …“
Christian sah Willie warnend an und hoffte gleichzeitig, dass der scharfsichtige Butler es nicht bemerkt hatte.
Reeves’ Aufmerksamkeit war indes noch auf den armen Willie gerichtet. „Erzählen Sie mir doch ein wenig mehr über den hochnäsigen Gentleman. Woher wollen Sie denn wissen, dass er über ein derartiges, ah, Naturell verfügt?“ Willie trat von einem Fuß auf den anderen und warf Christian einen wilden Blick zu.
Christian erbarmte sich seiner. „Reeves, wir sollten aufbrechen. Sagen Sie doch dem Burschen …“
„Mylord“, unterbrach der Butler missbilligend, „gibt es vielleicht etwas, was Sie mir sagen möchten? Etwas über den Gentleman, der dieses Haus vor nicht allzu langer Zeit mit der Nachricht betreten hat, er sei überfallen worden?“
„Nein.“
Reeves seufzte. „Eines Tages kommt die Abrechnung.“
„Ach, jetzt aber mal halblang“, erklärte Willie. „Wir haben uns doch bloß ein bisschen amüsiert. Kein Grund, gleich am Rad zu drehen.“
„Ich drehe nicht am Rad“, erklärte Reeves streng. „Lord Westerville hat soeben ein riesiges Vermögen geerbt. Es besteht keinerlei Notwendigkeit mehr für derlei Zwischenfälle.“
„Niemand hat behauptet, sie seien notwendig“, versetzte Christian. „Aber sie machen ziemlich Spaß.“
Willie lachte in sich hinein. „Die Lady war richtig spitz, stimmt’s, Master Jack?“
Reeves zuckte zusammen. „Mein lieber Willie, bitte versuchen Sie doch wenigstens, Seine Lordschaft mit seinem Titel anzureden.“
„Pah“, murrte Willie und putzte sich die Nase am Ärmel ab. „Fällt mir nicht ein, Master Jack Mylord zu nennen, wenn wir unterwegs auf der freien Landstraße sind.“ Reeves sah Christian resigniert an. „Mylord, als Ihr Vater mich beauftragt hatte, nach seinem Tod nach Ihnen zu suchen, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass Sie einem so gefährlichen Handwerk nachgehen.“
Christians Lächeln erstarrte. Um überleben zu können, musste man sich konzentrieren, klaren Kopf behalten. Selbst jetzt noch überkam ihn heiße Wut, wenn jemand seinen Vater erwähnte – oder war es Trauer? Jedenfalls war es eine mächtige Empfindung, bei der er sich gleichzeitig stark und unendlich schwach fühlte. Er biss die Zähne zusammen. Wenn er den Mörder seiner Mutter finden wollte, musste er sich daran gewöhnen, den Namen seines Vaters zu hören. Einst hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht als genau das: den Namen seines Vaters zu hören. Doch diese Zeiten waren lang vorbei.
Christian fing Reeves’ nachdenklichen Blick auf. „Wenn mein Vater gewollt hätte, dass ich einer einträglicheren Beschäftigung nachgehe, hätte er sich zu Lebzeiten etwas mehr um mich und meinen Bruder kümmern sollen. Er hat uns kaum beachtet, daher kann ich es kaum glauben, dass er auf dem Sterbebett tatsächlich an uns gedacht haben soll.“
Reeves seufzte. „Wenn Sie mir gestatten wollen, es zu erklären …“
„Es spielt keine Rolle. Ich will das Vermögen; ich werde es dazu nutzen, die Suche nach dem Mann voranzutreiben, der Mutter verraten hat und für ihren Tod verantwortlich ist. Das ist alles, was wirklich zählt.“
Willie spuckte auf die Erde. „Rache“, sagte er genüsslich.
„Rache hat noch keinem gutgetan“, erklärte Reeves kühl.
„Ach was. Wie können Sie das behaupten? So macht man es in den Highlands.“
Reeves schüttelte den Kopf. „Mylord, ich flehe Sie an, Gentleman James aufs Altenteil zu schicken, wo er zur Legende werden kann, genau wie er es verdient. Es nützt Ihnen schließlich nichts, wenn Sie erwischt und ins Gefängnis geworfen werden.“
Christian wusste, dass Reeves recht hatte. Und trotzdem … Bevor er den Titel erlangt und Aussicht auf ein Vermögen erhalten hatte, hatte er nie gedacht, dass sein Herz an der Straßenräuberei hing. Er hatte die pechschwarzen, kalten Nächte, die erregende Ungewissheit einer jeden Begegnung durchaus genossen. Doch der eigentliche Grund, warum er es so befriedigend fand, glaubte er, war der Umstand, dass er jemanden überlistete, der reicher war als er, reicher und mächtiger. In Wahrheit triumphierte er über jemanden wie seinen Vater. Jemanden, der kalt, arrogant und gefühllos war.
In letzter Zeit war Christian der Verdacht gekommen, dass er die Straßenräuberei auch noch aus anderen Gründen genoss. Da war einmal die schmerzliche Freiheit, die damit einherging. Die Erregung, die sich jedes Mal aufs Neue einstellte, wenn er und Willie sich einer Kutsche näherten. Das Gefühl, wenn er die Lippen einer leidenschaftlichen Frau unter den seinen spürte, so wie heute.
Er lächelte. Oft genug hatten ihm die vornehmen Ladies, von denen er einen Kuss errungen hatte, ohne Wissen ihrer Gatten oder Liebhaber auch noch andere Pfänder überreicht – Ringe, Bänder, Dinge, die ihm Zutritt zu den Boudoirs der größten Damen von ganz England verschaffen hätten können – und es manchmal auch taten.
Nun war er selbst ein Lord und hatte ohne Weiteres Zugang zu ebenjenen Boudoirs. Er war den Damen nun ebenbürtig, er gehörte nun auch zur creme de la creme der Gesellschaft.
Christian grinste. „Reeves, mein Wort darauf, dass Willie und ich unseren letzten Ritt unternommen haben. Gentleman James gehört ab sofort der Vergangenheit an.“
„He, Moment mal!“, protestierte Willie. „Das geht doch nicht!“
„O doch“, erwiderte Reeves und blickte Willie missbilligend an. „Sie, Master William, sollten sich lieber damit befassen, welche Stellung Sie im neuen Haushalt Seiner Lordschaft einzunehmen gedenken. Lord Westerville braucht ab sofort keinen Komplizen mehr, der ihm das Pferd hält, während er mit den Pistolen herumfuchtelt.“
Christian lachte, als er Willies empörte Miene sah. „Ruhig Blut, Willie, mein Bester. Erzähl Reeves doch von deinem neuen Auftrag, nur zu.“
Willies Miene hellte sich auf. „Aye, genau! Und wenn wir heut Nacht nicht mehr auf die Jagd gehen, dann schaue ich am besten zu, dass ich mich um meine neuen Pflichten kümmere, was?“
„Nimm das Pferd. Ich erwarte dich in einer Woche zurück.“
„Bälder, Chef!“ Willie warf Reeves einen harten Blick zu und ging danach würdevoll davon.
„Wohin ist Master Willie jetzt wieder unterwegs?“, fragte Reeves.
„Ach, fragen Sie lieber nicht so genau nach.“
Der Butler seufzte. „Ich habe befürchtet, dass Sie das sagen könnten.“ Er nickte einem Lakaien zu, der außer Hörweite bereitstand. Der Mann eilte herbei, um den Schlag zu öffnen und die Treppe herunterzulassen. Christian stieg in die Kutsche, gefolgt von Reeves, und kurz darauf schwankte die Kutsche über die zerfurchte Straße.
Reeves erkundigte sich: „Mylord, darf ich fragen, wie Sie den Mann entlarven wollen, der Ihre Mutter verraten hat?“
„Ich weiß, wer meine Mutter verraten hat: der Duke of Massingale. Aber ich brauche weitere Beweise.“
Reeves hob die Brauen. „Der Duke lebt sehr zurückgezogen.“
„Deswegen plane ich, mir Zutritt zu verschaffen, indem ich seiner Enkelin den Hof mache.“
Reeves schwieg eine ganze Weile. „Demnach war sie an dem gemeinen Verrat beteiligt?“
„Nein. Als meine Mutter starb, war sie ja noch ein Kind.“ Christian sah die Missbilligung im Blick des Butlers. „Ich habe über zwanzig Jahre gewartet, um das Unrecht zu sühnen, das meiner Mutter angetan wurde. Jetzt werde ich mich rächen, egal wie.“
Reeves seufzte. „Ja, Mylord, ich sehe, dass Sie fest entschlossen sind. Und ich muss sagen, angesichts Ihres bisherigen Berufslebens finde ich es ein wenig beklemmend, wie wenig Sie für unsere Gesetze übrig haben.“
„Getötet habe ich noch niemanden.“
„Von seinem Dienstherrn hört man so etwas immer wieder gerne. Bitte seien Sie nicht verärgert, wenn ich Sie von Zeit zu Zeit bitte, diese Aussage zu wiederholen. Ich finde diese Worte beruhigend.“
Christian lachte und lehnte sich in die Polster zurück. Es würde all seiner Gewandtheit bedürfen, um sich Zutritt zum Haushalt des Dukes zu verschaffen. Aber wenn er erst einmal in London war und ein paar Wochen damit verbracht hatte, der Enkelin den Hof zu machen …
„Rache“, sagte Christian leise vor sich hin. Das Wort verschmolz mit dem Knarren des ledernen Geschirrs und dem Donnern der Pferdehufe.
Mit grimmigem Lächeln blickte Christian hinaus in die pechschwarze Nacht. In der Ferne blinkten Lichter und winkten ihn voran. Ja, Rache. London mit all seinen Einwohnern sollte sich lieber vorsehen.
2. KAPITEL
Ein wahrer Gentleman weiß mit einer einfachen Geste die mannigfaltigsten Gefühle auszudrücken. Diese Form der Kommunikation funktioniert stets zuverlässig, außer natürlich bei den weiblichen Anverwandten, sei es Mutter, Gattin oder andere. In diesem Fall kann man sich gar nicht ausführlich genug mitteilen, ob man nun ein Gentleman ist oder nicht.
Leitfaden für den vollkommenen Butler und Kammerherrn von Richard Robert Reeves
Massingale House unterschied sich grundlegend von den anderen alten Landsitzen in Devon: Das Herrenhaus litt weder an Hausschwamm noch an qualmenden Kaminen, die Türen klemmten nicht, die Dielen knarrten so gut wie nie, und den Treppengeländern war jede enervierende Wackelei fremd. Kurzum, es war, wie der Butler gern zur Haushälterin sagte, ein sehr stilles Haus.
Abgesehen von Seiner Gnaden natürlich.
Gerade in diesem Augenblick hörte man die laute Stimme des Duke of Massingale durch die schwere Bibliothekstür dröhnen, gefolgt vom unmissverständlichen Klirren einer an die Tür geschleuderten Teetasse.
„Puh!“, sagte der neue Lakai.
Jameson, der Butler, warf dem Mann einen ausdruckslosen Blick zu. Der Butler stand schon seit über fünfzehn Jahren in Diensten des Herzogs und sah es nicht gern, wenn das Personal abschätzige Bemerkungen über die Herrschaft machte. Diese Pflichtübung war einzig und allein den höheren Dienstboten vorbehalten.
Zum Glück für den Lakaien trat in der Bibliothek nun eine längere Pause ein, während der man auf dem Treppenabsatz leichtfüßige Schritte hörte.
Jameson nahm sofort Habachtstellung an. Mit zornigem Funkeln verwies er die beiden Lakaien an ihren Platz an der Eingangstür. Ohne sich bewusst zu sein, dass ihr Auftreten eine sich entfaltende Szene unterbrochen hatte, kam Lady Elizabeth die Treppe hinunter, wobei sie ein Gähnen unterdrückte. Ihr blondes Haar leuchtete im Schein der Morgensonne. Als sie den Butler erblickte, lächelte sie. „Guten Morgen!“
Sie war mittelgroß und von sanft gerundeter Gestalt, besaß braune Augen mit dichten Wimpern und einen breiten, sinnlichen Mund. Lady Elizabeth war es gewohnt, dass man ihr sagte, sie sehe aus wie ihre Mutter, die verstorbene Schwiegertochter des Herzogs, die einst eine gefeierte Schönheit gewesen war. Da diesem Kompliment stets ein trauriger Seufzer und der inbrünstige Wunsch folgten, Lady Ellens Seele möge in Frieden ruhen, schenkte sie ihm nie allzu viel Beachtung.
Jenseits der Tür zur Bibliothek erhob sich wieder einmal die Stimme des Dukes, begleitet vom trockenen Geräusch einer Zeitung, die in winzige Stücke gerissen wurde.
Lady Elizabeth verzog scherzhaft das Gesicht. „Ach herrje. Weswegen muss Großvater sich denn heute so aufregen?“
Jameson lächelte. Für sämtliche Mitglieder des großen herzoglichen Haushalts war die Enkelin des Duke of Massingale wie ein Sonnenschein, wobei das nicht bedeutete, dass sie in ihren Pflichten als Hausherrin irgendwie nachlässig gewesen wäre. Wie Jameson einmal zur Haushälterin Mrs. Kimble sagte: Wenn Lady Elizabeths Augen diesen gewissen Blick zeigten und ihr Kinn sich in diesem gewissen Winkel in die Luft reckte, hatten Widerworte keinerlei Sinn, egal wie sonnig ihr Lächeln sein mochte. „Mylady, ich fürchte, die Schuld liegt bei der Morning Post. Heute fand sich darin mehr als nur ein bisschen Tory-Begeisterung.“
„Ah, das würde Großvater allerdings in üble Stimmung versetzen.“
Vor der Eingangstür war ein Geräusch zu hören, und der Lakai beeilte sich, die Tür zu öffnen. Herein kam eine schöne rotblonde Dame in einer langen rosa Pelisse und einem modischen, mit Borten besetzten Hut. Sie war klein, kaum fünf Fuß groß, von elfenhaftem Wuchs und mit einem fein geschwungenen Mund gesegnet. Begleitet wurde sie von Lord Bennington, einem großen, dunklen Gentleman mit düsterer Miene und verhülltem Blick.
„Charlotte!“, rief Beth und küsste ihre Stiefmutter auf die Wange.
Charlotte lächelte. Obwohl sie ein gutes Stück älter als ihre Stieftochter war, sah man ihr das nicht an. Tatsächlich wirkten die beiden Frauen eher wie Schwestern, auch wenn Charlottes Schönheit weniger eindrucksvoll war als die von Elizabeth.
„Beth, es überrascht mich, dich um diese Stunde auf den Beinen zu sehen“, sagte Charlotte mit ihrer weichen Stimme und zog sich die Handschuhe aus. Trotz ihrer sanften Art haftete ihr etwas Panisch-Wildes an, als könnte sie bei der leisesten Aufregung in tausend Stücke zerspringen.
Beth blickte ihre Stiefmutter forschend an, um ihre augenblickliche Stimmung zu erfassen. Gleich darauf entspannte sie sich. Charlotte wirkte an diesem Morgen recht gefasst, ein Umstand, über den sich alle Bewohner im Haus freuen würden.
Beth lächelte ihre Stiefmutter an. „Normalerweise würde ich noch im Bett liegen, doch Großvater ließ mich rufen.“
„So früh? Aber es ist kaum sieben Uhr. Was will er denn?“
„Ich weiß nicht, ich war noch nicht bei ihm. Ich bin gerade nach unten gekommen, und er war …“
Eine weitere Tasse klirrte gegen die Tür, und gleich darauf erhob sich ein mächtiges Donnerwetter, in dem nur die Worte „Wilde“, „Radikale“ und „verloren“ auszumachen waren. Charlottes Lächeln erlosch. „Ah, die Zeitung.“
Lord Bennington blickte zur Tür und verzog das Gesicht. „Massingale weiß einfach nicht, was sich für einen Mann in seiner Stellung gehört.“
Beth sah zu den Dienstboten. Ihre Mienen wirkten ausdruckslos, obwohl sie Lord Benningtons Kommentar doch gehört haben mussten. Beth mochte Bennington nicht, obwohl er der engste Freund ihres Vaters gewesen war. Um zu verhindern, dass der streitbare Lord weitere abschätzige Bemerkungen vor den Dienstboten machte, sagte Beth ruhig: „Lord Bennington, wie schön, Sie zu sehen.“
Er verbeugte sich schwerfällig. „Lady Elizabeth.“
„Guten Morgen. Bleiben Sie zum Frühstück?“
Er warf Charlotte einen Blick zu und sagte dann auf seine kurz angebundene Art: „Nein, heute Morgen leider nicht. Auf mich warten wichtige Aufgaben.“ Er verbeugte sich vor Charlotte, die neben ihm stand und die geflochtenen Henkel ihres Retiküls durch ihre Finger gleiten ließ, eine nervöse Angewohnheit, die sie sich erst in letzter Zeit angeeignet hatte.
Beth hatte immer angenommen, die empfindsame Konstitution ihrer Stiefmutter rühre vom Tod ihres Ehemanns, Beths Vater, her. Auch einige Dienstboten bestätigten, dass sich Lady Charlotte danach sehr verändert habe. Beth erinnerte sich daran, dass es an manchen Tagen nach dem Tod ihres Vaters den Anschein hatte, als könnte Charlotte gar nicht mehr aufhören zu weinen.
Das lag natürlich Jahre zurück. Nun hatte Charlotte neben einigen schlechten auch viele gute Tage, und es war schön zu beobachten, wie Lord Bennington sich ihrer annahm. Mit ihm auszugehen schien ihr gutzutun, und auch wenn Beth den wichtigtuerischen Lord nicht sonderlich mochte, konnte sie sich vorstellen, dass Charlotte seine anmaßende Art als Schutz vor den Unannehmlichkeiten der Außenwelt empfand.
Bennington sah Charlotte stirnrunzelnd an. „Ich brauche dich sicher nicht daran zu erinnern, dass das Stück um sieben beginnt. Von hier braucht man eine Stunde nach London …“
„Ich halte mich ab fünf bereit.“ Charlotte machte eine weit ausholende, übertriebene Geste. „Keine Sorge, ich lasse dich nicht warten.“
„Hoffentlich nicht. Hamlet ist eines meiner Lieblingsstücke.“ Er setzte den Hut wieder auf. „Guten Tag, Lady Elizabeth. Charlotte.“ Damit drehte er sich um und marschierte zur Tür hinaus.
Mit rosigen Wangen wandte Charlotte sich zur Treppe. „Beth, ich hoffe, es macht dir nichts aus, aber ich glaube, ich werde heute Morgen auf meinem Zimmer frühstücken.“
„Natürlich nicht“, erwiderte Beth sofort. „Jameson, würden Sie sich bitte darum kümmern, dass Lady Charlotte ein Tablett aufs Zimmer gebracht wird?“
„Jawohl, Mylady.“
„Und, Jameson“, fügte Charlotte hinzu und hielt auf dem Weg nach oben noch einmal inne, „Dr. Neweston wollte heute Morgen eine neue Flasche Arznei vorbeibringen. Würden Sie mir bitte sagen, wenn er da ist? Ich möchte mit ihm reden. Ich schlafe in letzter Zeit nicht gut, vielleicht kann er mir ein stärkeres Mittel verschreiben.“
„Jawohl, Mylady.“
Beth runzelte die Stirn. „Charlotte, das wusste ich ja gar nicht. Kann ich vielleicht irgendetwas …“
„Nein, nein! Dr. Neweston kennt meine Stimmungen. Er wird schon wissen, wie er mich wieder in Ordnung bringt. Du bist diejenige, um die man sich Sorgen machen müsste. Ich wünsche dir viel Glück bei Massingale. Er ist recht unleidlich geworden.“
„Vermutlich liegt es am warmen Wetter. Er hasst die Hitze.“
„Man kommt schon nicht leicht mit ihm aus, wenn er guter Stimmung ist. Aber missgelaunt …“ Charlotte erschauerte. „Nun, du kennst ihn am besten. Ich bin in meinem Zimmer, wenn du mich brauchst.“ Mit einem nervösen Winken lief Charlotte die Treppe hinauf und verschwand.
Beth seufzte, als ihr Großvater erneut zu brüllen begann und diesmal die ganze Zeitung zum Teufel wünschte. „Jameson, bringen Sie bitte eine frische Kanne Tee in die Bibliothek. Und neue Tassen.“
„Jawohl, Mylady.“ Der Butler räusperte sich. „Mylady, bitte verzeihen Sie, wenn ich mich einmische, aber ich fürchte, Lady Charlotte hat recht. Ich stehe nun seit beinahe fünfzehn Jahren in Diensten Seiner Gnaden, und mir scheint auch, dass er sich in letzter Zeit stark verändert hat.“
Beth hielt inne, das Lächeln immer noch im Gesicht. „Finden Sie?“
Jameson nickte. Sein schmales Gesicht war voller Sorgenfalten.
Auf Charlottes Meinung gab Beth nicht allzu viel, die glaubte dauernd, dass sie und alle, die in ihrer Nähe weilten, an dieser oder jener Krankheit litten. Doch wenn Jameson andeutete, ihrem Großvater gehe es nicht gut, Jameson, der Großvater genauso gut kannte wie Beth, wenn nicht noch besser …
Ihr schmerzten bereits die Wangen, doch sie lächelte immer weiter. „Seine Gnaden ist einfach müde, das ist alles.“
Ihre Stimme war viel schärfer, als sie beabsichtigt hatte. Einen langen Augenblick schwiegen sie beide. Dann verneigte Jameson sich und sagte ausdruckslos: „Ich bringe den Tee, Mylady.“
Was ist nur mit mir los, fragte Beth sich, als sie die Bibliothek betrat. Normalerweise fuhr sie die Dienstboten nie an. Vermutlich lag es an der frühen Stunde. Ja, genau, das war das Problem, sie war viel früher aufgestanden als sonst, und das ganze Gerede, dass ihr Großvater krank sei, hatte sie aufgeregt.
Vor dem dicken Teppich blieb sie stehen und sah ihren Großvater an. Er saß am Kamin, die Schultern eingesunken, in ein warmes Tuch gehüllt. Einen Augenblick leuchtete seine Gestalt im Feuerschein auf. Er war dünn und ausgemergelt, sein dichter weißer Haarschopf stand wild wie eh und je in die Höhe. Abwesend starrte der alte Herr ins Feuer.
Liebevoll lächelte Beth ihn an. Ihre Beunruhigung schwand. Laurence Jeremy Charles Westover, der Duke of Massingale, war ein zäher alter Mann. Im zarten Alter von zwanzig Jahren hatte er Titel, Stellung und zahllose mit hohen Hypotheken belastete Besitzungen geerbt. Ein schwächerer Mann wäre versucht gewesen, den Kopf in den Sand zu stecken und so zu tun, als wäre alles in Ordnung, solange das eben ging. Doch Laurence Jeremy Charles Westover war nicht schwach. Eigentlich war er sogar unbezwingbar.
Er war kein direkter Nachfahr, sondern stammte aus einer Seitenlinie. Die vornehmere Seite der Familie hatte ihn übersehen und ignoriert, bis die übrigen männlichen Anverwandten von einer Grippewelle dahingerafft wurden. Der ton lachte spöttisch, als der Name des neuen Herzogs bekannt gegeben wurde; es hieß, er entstamme einer einfachen Familie aus Yorkshire, die Mutter sei die Tochter eines deutschen Buchbinders, der Vater, ein schlecht bezahlter Pfarrer, sei entfernt mit den Westovers verwandt.
Der neue Duke ließ sich nicht entmutigen. Er mochte ja der Sohn einer Buchbindertochter und eines armen Pfarrers sein, aber er wusste, wie man sparte und ein Geschäft führte. Binnen Monaten hatte er die jahrhundertelange Misswirtschaft besiegt, und in wenigen Jahren hatten die Besitzungen ihren früheren Glanz und Reichtum wiedererlangt.
Ältere Mitglieder des ton erklärten ätzend, dass sie den neuen Herzog nie akzeptieren würden – Titel hin oder her, er war ein Bürgerlicher, sogar ein Geschäftsmann. Doch die jüngeren Mitglieder – vor allem die mit heiratsfähigen Töchtern – sahen die Sache gänzlich anders, schließlich war der Duke of Massingale reich wie Krösus und unverheiratet. Unter diesen Umständen konnte man eine Menge Fehler übersehen. Und so wurde der neue Duke samt seiner freimütigen, unverblümten Art in der Gesellschaft akzeptiert.
Beth trat ein paar Schritte vor, bis sich ihr Großvater ihr zuwandte. Sofort knickste sie. „Sie haben mich rufen lassen, Euer Gnaden?“
Die Hand fest um den Stock mit dem silbernen Knauf geklammert, warf der Großvater ihr unter weißen Brauen einen finsteren Blick zu. „Geh mir doch mit deinen Gnaden, du bist doch kein Dummkopf. Setz dich.“
Beth grinste und ließ sich ihm gegenüber nieder, wobei sie einen interessierten Blick auf die Scherben vor dem Kamin blickte. „Sind die von unserem neuen Delfter Service?“
Er sank noch weiter in sich zusammen. „Blödes blaues Zeug.“
„Vielleicht sollten wir die vergoldeten Sachen nehmen, die könntest du höchstens eindellen, aber nicht zerbrechen. Allerdings möchte ich mir nicht vorstellen, wie der Kaminschirm nach einem weiteren Angriff aussieht.“
Ihr Großvater sah sie erbost an. „Ich hätte ja überhaupt kein Geschirr werfen müssen, wenn in dieser verdammten Zeitung nicht so ein Unsinn gestanden hätte.“ Finster musterte er das zerfetzte Papier neben seinem Ellbogen. „Dummköpfe.“
„Ich weiß nicht, warum du die Zeitung überhaupt liest. Du regst dich doch sowieso nur darüber auf.“
„Man muss auf dem Laufenden bleiben, das ist wichtig. Wir sind hier mitten auf dem Land.“ Empört blickte er auf seine gichtigen Beine. Laufen konnte er zwar noch, aber nur kurze Wege und nur mit Hilfe seines Stocks.
Beth beugte sich vor und tätschelte ihm die Hand. „Großvater, ich sehe es nicht gern, wenn du dich so aufregst. Wir mögen nicht in London sein, aber wenn man dir zuhört, könnte man meinen, wir wären in einem Nonnenkloster begraben.“
„Wir könnten auch genauso gut in einem Kloster leben“, versetzte er missmutig. „So abgeschieden, wie wir sind.“
„Ja.“ Beth seufzte und nahm eine traurige Pose ein. „Ich bin darüber wirklich sehr betrübt. Ich habe nichts weiter zu tun, als den Haushalt zu führen und die Dienstboten zu beaufsichtigen, und das in einem Haus voller Bücher, die man lesen, Pferde, die man reiten, Beete, die man bepflanzen, und Stickarbeiten, die man vollenden könnte, um nur einige der vielen Dinge zu nennen, mit denen man sich beschäftigen kann. Es ist wirklich eine Last, aber ich gebe mein Bestes.“
Er sah sie an. „Bist du jetzt fertig?“
Sie zwinkerte ihm zu. „Nein. Ich habe auch noch dich und Charlotte zur Gesellschaft, und dafür bin ich sehr dankbar.“
Obwohl er ihre Antwort offensichtlich missbilligte, konnte er seine Zuneigung nicht ganz verbergen. „Ich bin froh, dich bei mir zu haben, keine Frage, aber ich will nicht, dass du dich hier vergräbst und dein Leben verschwendest.“ Ihr Großvater zog sich das Tuch fester um die Schultern, und in seiner Miene spiegelten sich widerstreitende Gefühle. Seine Stirn war gerunzelt, die Lippen presste er zu einer dünnen Linie zusammen. Schließlich warf er ihr einen besorgten Blick zu. „Deswegen habe ich dich rufen lassen. Beth, du verdienst einen Ehemann, jemanden, der sich um dich kümmert, wenn ich nicht mehr bin.“
Einen Augenblick lang konnte sie ihn nur anstarren. Auch wenn ihr Großvater dergleichen öfter einmal im Vorübergehen erwähnt hatte, hatte er es nie so direkt angesprochen. „Wie kommst du denn jetzt darauf?“
Seine Miene verfinsterte sich, und er begann rastlos an der Decke zu zupfen, die über seinen Schoß gebreitet lag. „Ich habe in letzter Zeit viel nachgedacht. Ich habe nicht gut für dich gesorgt. Dein Vater hätte nicht gewollt, dass du hier verschimmelst.“
„Ich verschimmele doch nicht! Ich bin hier vollkommen glücklich.“
„Woher willst du wissen, ob du mit einem Ehemann nicht noch glücklicher wärst?“
„Woher willst du wissen, ob du mit einer zweiten Ehefrau nicht noch glücklicher wärst?“
Er runzelte die Stirn. „Das ist nicht dasselbe! Ich bin einundachtzig!“
„Nun, ich bin fünfundzwanzig, und ich weiß genau, was ich will und wann. Es ist nicht nötig, dass du dich in mein Leben einmischst, vielen Dank.“
Missmutig betrachtete er sie. „Du könntest es doch zumindest probieren.“
Sie seufzte. „Vielleicht hast du recht. Soll ich heute die Bewerber prüfen? Eigentlich wollte ich ja zu einem Picknick gehen, aber das kann ich wohl auf morgen verschieben.“
„Versuch nicht, dich mit einem Witz hier herauszumogeln, junge Frau! Eigentlich hättest du an deinem siebzehnten Geburtstag debütieren müssen, aber dein Onkel Redmond war ja so dumm, ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt an irgendeiner albernen Kinderkrankheit dahinzuscheiden. Und dann folgte ihm auch noch Cousine Gertrude, und wir mussten schon wieder Trauer tragen.“
„Wirklich unverschämt von den beiden, ich muss schon sagen. Wie ich sie hasse!“
Ihr Großvater bedachte sie mit einem matten Blick. „Du bist ganz schön frech, was?“
„Nur bei dir“, murmelte sie lächelnd.
„Ha!“ Doch diesmal erwiderte er ihr Lächeln nicht. Stattdessen strich er stirnrunzelnd die Decke auf seinem Schoß glatt.
Die Uhr tickte laut, und von draußen drang das laute Jubilieren der Vögel herein. Normalerweise wäre Beth damit zufrieden gewesen, still dazusitzen und den Tag zu genießen, doch nach Jamesons merkwürdigen Bemerkungen ertappte sie sich dabei, wie sie ihren Großvater unter den Wimpern hervor beobachtete.
Er war tatsächlich etwas mehr in sich zusammengesunken als sonst, und auch die tiefen Augenringe konnte man nicht leugnen. Die größten Sorgen bereitete ihr indes der leichte Blaustich, den seine ohnehin schon blasse Gesichtsfarbe aufwies.
„Beth, ich habe einen Entschluss gefasst“, erklärte ihr Großvater abrupt. „Und ich dulde keine Widerrede. Es wird Zeit, dass du in die Gesellschaft eingeführt wirst.“
Beth blinzelte. „Großvater! Ich bin zu alt! Ganz London würde mich auslachen.“
„Unsinn! Du magst schon etwas älter sein, aber niemand, der dich ansieht, würde das glauben. Du bist mein einziges Enkelkind. Der Titel wird an diesen Dummkopf Theakeham übergehen, aber du wirst alles andere erben, auch dieses Haus.“
„Du kannst das Haus nicht einfach vom Titel trennen!“
„Ich bin einundachtzig, und ich kann das machen, was ich will“, erklärte er störrisch. „Dein Vater hätte den Titel und das Haus erben sollen. Wenn er das doch nur hätte erleben können.“
Sie hörte das leise Zittern in der Stimme ihres Großvaters und tätschelte ihm die Hand. „Mir fehlt Vater auch.“
Der alte Mann umfasste ihre Hand und warf seiner Enkelin einen fast wilden Blick zu. „Er hätte das auch gewollt, Beth. Ich hätte mich längst darum kümmern müssen, aber …“ Er senkte den Blick. „Ich werde keine Ruhe geben, ehe du nicht mindestens eine Saison mitgemacht hast.“
Das entschlossene Glitzern in seinen Augen beunruhigte Beth zutiefst. Es war ihm todernst damit, beinahe als wäre dies seine letzte Gelegenheit …
Sie wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Seit dem Tod ihres Vaters hatte ihr der Duke of Massingale die Eltern ersetzt, er war ihr Mentor, ihre Familie, ihr Freund. Sie sah auf die Hand ihres Großvaters hinab, die sich um die ihre schloss. Sie war weiß, dick geädert und wirkte erstaunlich zerbrechlich. Wann war es geschehen, wann war ihr Großvater so schwach geworden?
Sie biss sich auf die Lippen, um die Tränen zurückzudrängen. Plötzlich war ihr klar, dass sie ihn nicht enttäuschen durfte. Sie wollte nicht nach London, aber wenn es ihn glücklich machte und beruhigte … Für sie bedeutete es schließlich kein allzu großes Opfer. Eine Saison in London zog nicht unweigerlich eine Heirat nach sich. Und das war das Einzige, was sie wirklich nicht wollte.
Wenn sie ihrer Pflichten hier in Massingale House ledig wäre, könnte sie echte Freiheit kosten, vielleicht ein bisschen reisen und eigene Abenteuer erleben. Ein Ehemann könnte diesen Plänen nur allzu hinderlich sein.
Trotzdem … wenn es ihren Großvater glücklich machte, konnte es nicht schaden, so zu tun, als sähe sie sich nach einem geeigneten Ehekandidaten um.
Anscheinend hatte er ihre Kapitulation gespürt, denn er seufzte dankbar. „Du wirst die belle der Saison sein.“
„Dazu bin ich viel zu alt.“
„Unsinn. Als ich deine Großmutter kennengelernt und geheiratet habe, war sie in deinem Alter. Gott segne sie.“ Die Züge ihres Großvaters wurden weich, als er zu dem Bildnis über dem Kamin blickte. Die Frau darauf war groß und schlank und trug eine kostbare rote Seidenrobe. Ihre blonden Haare waren mit Blumen geschmückt. Sie war eine schöne Frau, mit herzförmigem Gesicht und liebevollem Ausdruck.
„Ich habe deine Großmutter auf den ersten Blick geliebt.“ Er lächelte zu dem Bildnis hinauf.
Die Tür ging auf, und Jameson trat mit dem Teetablett ein. Beth legte den Finger auf die Lippen und nickte zum Tisch. Leise stellte der Butler das Tablett auf einem Beistelltischchen ab und zog sich zurück.
Beth goss zwei Tassen Tee ein und platzierte eine in der Nähe ihres Großvaters.
Der riss sich offenkundig widerstrebend von dem Gemälde los und hob die Tasse mit einem leisen Klirren an. Er zwinkerte seiner Enkelin über den Rand der Tasse hinweg zu. „Ich muss sagen, eigentlich hatte ich von dir ein wenig Widerspruch erwartet.“
„Von mir? Widerspruch?“
Er lachte. „Mit dem Herkommen hast du dir jedenfalls schon mal Zeit gelassen. Ich dachte, du hättest erraten, weswegen ich dich rufen ließ.“
„Nein. Leider war ich keineswegs so weitblickend. Ich habe einfach nur gelesen. Wenn ich gewusst hätte, dass du hier unten sitzt, Geschirr an die Wand wirfst und mein gesellschaftliches Debüt planst, wäre ich aus dem Fenster geklettert und in den Stall gezogen.“
Ihr Großvater schmunzelte in sich hinein. „Freches Ding.“
„Schrulliger alter Mann“, erwiderte sie und lächelte ihn heiter an.
Um seine Lippen zitterte es. „Ach, Beth, bestimmt gefällt es dir in London, du wirst schon sehen. Bei deinem Aussehen und deiner Lebhaftigkeit, ganz zu schweigen von der Mitgift, die ich dir aussetzen werde, werden dir sämtliche Dukes, Earls und Viscounts die Tür einrennen.“
Klirrend stellte sie die Teetasse ab. „Eine Mitgift?“
„Natürlich bekommst du eine Mitgift!“
Beth seufzte. Woran lag es nur, dass auch der einfachste Plan nie wirklich einfach war? Bei der Vorstellung, ganze Heerscharen von Verehrern auf den Fersen zu haben, erbebte sie unmerklich. Sie würde schon sehr geschickt vorgehen müssen, um diesem Anreiz die Zugkraft zu nehmen. „Zumindest wird es Charlotte guttun, als meine Anstandsdame mitzukommen. Sie wird …“
„Nein.“ Die Miene ihres Großvaters wurde störrisch. „Deine Stiefmutter wird damit nichts zu schaffen haben.“
„Du bist viel zu streng mit der armen Charlotte.“
Ihr Großvater hatte Charlotte noch nie gemocht. Beth konnte sich gar nicht vorstellen, warum nicht, normalerweise war er in seinem Urteil nicht so hart.
„Ich verdamme den Tag, an dem dein Vater diese Frau geheiratet hat. Für diese Position war sie schließlich überhaupt nicht geeignet. Und jetzt sieh sie dir an, wie sie schamlos mit diesem Mann flirtet …“ Missbilligend presste er die Lippen zusammen.
„Charlotte ist schon sehr lang Witwe. Vater hätte nicht gewollt, dass sie allein bleibt. Sie scheint recht glücklich über Lord Benningtons Artigkeiten, und zumindest das hat sie doch verdient.“
„Bennington! Pah! Dem traue ich nicht. Ich traue keinem von beiden!“
„Als Vater noch lebte, war Charlotte ihm herzlich zugetan. Du selbst hast mir erzählt, dass sie ihn in seinen letzten Monaten so hingebungsvoll gepflegt hat, dass sie selbst krank wurde …“
„Ich will nicht mehr darüber reden.“
Beth seufzte. Als ihr Vater starb, war sie noch klein gewesen, doch sie erinnerte sich an Charlottes verhärmte Miene und dass die Frau praktisch im Krankenzimmer gelebt hatte. Nach seinem Tod war Charlotte selbst bettlägerig geworden und erst nach Monaten wieder aufgestanden. Wenn Dr. Neweston nicht gewesen wäre, läge Charlotte vermutlich immer noch im Bett. „Großvater, Charlotte hat nicht …“
„Kommt Dr. Neweston noch zu ihr?“
Beth runzelte die Stirn. „Ja. Heute bringt er ihr ihre Medizin vorbei.“
„Gut. Und jetzt genug von Charlotte, ich will nicht mehr von ihr reden. Beth, du wirst dich so bald wie möglich in unserem Londoner Stadthaus etablieren. Deine Cousine Beatrice kehrt in die Stadt zurück, um dir als Anstandsdame zu dienen.“
„Cousine Beatrice?“
„Sie ist genau die Richtige für diese Aufgabe. Sie ist ein bisschen älter als du, aber doch noch so jung, dass sie über genügend Energie verfügt, um mit dir durch London zu ziehen. Ich habe ihr vor einem Monat geschrieben, aber sie war mit ihrem Ehemann auf dem Kontinent unterwegs. In zwei Wochen kehrt sie nach London zurück.“
„Dann habe ich also zwei Wochen …“
„Nein. Du fährst morgen nach London. Du musst dir neue Kleider machen lassen, Schuhe kaufen, all das frivole Zeugs. Bis Beatrice kommt, wird Lady Clearmont dich begleiten.“ Er ließ Beth gar keine Zeit zu protestieren, sondern begann mit atemberaubender Geschwindigkeit, ihr Anweisungen zu Banken und Konten zu erteilen.
Als er innehielt, um Atem zu schöpfen, warf sie rasch ein: „Großvater, meine Kapitulation hat ihren Preis.“ Misstrauisch hob er eine Augenbraue.
„Ich gehe nach London, aber nur für diese Saison, egal ob ich einen Ehemann finde oder nicht.“
Ihr Großvater ließ die Schultern hängen. „Du bist ein schwieriges Kind.“
„Und du bist ein schwieriger alter Mann, deswegen verstehen wir uns auch so gut. Du musst mir versprechen, dass du nicht mehr von Ehemännern anfängst, wenn ich diese Saison hinter mich gebracht habe. Nie wieder.“
„Und wenn ich nicht einverstanden bin?“
„Dann gehe ich überhaupt nicht nach London. Stattdessen bleibe ich zu Hause und hege und pflege dich, bis du um Gnade winselst.“
Seine Miene verfinsterte sich. „Es könnte dir nichts schaden, wenn du dir einen Ehemann suchtest.“
„Ich habe doch gesagt, dass ich gehe“, erklärte Beth und lachte. „Damit wirst du dich zufriedengeben müssen. Also, wie war das mit dem Bankwechsel?“
Widerstrebend begann der Herzog, ihr zu erklären, wie er die Finanzierung ihrer Reise organisiert hatte, doch im Verlauf der Ansprache gewann seine Begeisterung wieder die Oberhand.
Beth hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie würde nach London fahren, damit ihr Großvater beruhigt sein konnte, eine Horde geldgieriger Verehrer, die nur auf ihre Mitgift aus waren, würde sie hingegen nicht dulden. Unmöglich. Während der Herzog ihr also seinen Plan auseinandersetzte, begann Beth, selbst einen zu schmieden.
Genau vier Wochen später betrat Beth den glitzernden Ballsaal der Smythe-Singletons, wo sie sofort die kleine Gruppe Gentlemen entdeckte, welche alle Neuankömmlinge ungeduldig beäugten.
Leise vor sich hin fluchend, wandte sie sich ab, damit sie sie nicht entdeckten.
„Wie bitte?“, fragte Lady Clearmont und gähnte hinter ihrem Fächer.
Beth setzte ein Lächeln auf. „Hier ist es ziemlich heiß, nicht wahr? Ich frage mich, ob es im Kartenzimmer wohl kühler ist.“