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Hell-Go-Land

Als Buch hier erhältlich:

Ein roter Fels im sturmgepeitschten Meer. Darauf Deutschlands abgeschiedenster Polizeiposten. Hier ist ihre neue Dienststelle. Hier war ihr Zuhause. Bis der Albtraum über Anna Krüger hereinbrach. Kaum jemand weiß von ihrer Rückkehr nach Helgoland. Doch schon an ihrem ersten Arbeitstag erwartet sie eine grausame Überraschung, die Anna klarmacht, dass es keine Flucht vor der Vergangenheit gibt. Nicht für sie. Nicht an diesem Ort.

"Hell-Go-Land ist so atmosphärisch dicht, wie man es sich von einem Krimi nur wünschen kann. Der Fall ist etwas Besonderes, die Aufklärung logisch, die Konstruktion perfekt und der Stil fesselnd"
Frauke Kaberka, dpa

"Tim Erzberg beschert Polizistin Anna Krüger und uns schlaflose Nächte"
BUNTE

"Tim Erzberg [...] hat ein düsteres, beklemmendes Kammerspiel geschaffen, das sehr lange rätselhaft bleibt."
BRIGITTE 21/2016

"Megaspannend!"
Andrea "Kossi" Kossmann

"Hell-Go-Land vereint die archetypische Konfrontation zwischen Mensch und Natur mit einem überzeugenden Personeninventar und einem klassischen whodunit-Plot, der den Leser lange rätseln lässt. Das Ganze unter Umständen, die nicht anders als mit dem Wort klaustrophobisch zu beschreiben sind... Dieses Buch hätte ich doch recht gerne geschrieben. "
Stephan M. Rother


  • Erscheinungstag: 13.11.2017
  • Aus der Serie: Anna Krüger
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959671392

Leseprobe

Tim Erzberg

Hell-Go-Land

Roman

HarperCollins®

HarperCollins® Bücher

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by HarperCollins

in der HarperCollins Germany GmbH

Copyright © 2016 by Tim Erzberg

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Redaktion: Thorben Buttke

Coverabbildung: plainpicture/C. Müller, Artwork/Montage: Cornelia Niere

ISBN eBook 978-3-95967-603-8

www.harpercollins.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

TAG 1

Freitag, 29. Januar, 16:11 Uhr, 54° 11' nördliche Breite, 7° 53' östliche Länge, Windstärke 8, West/Südwest

Das Meer lag vierzig Meter unter ihr. Doch sie konnte es in jeder Pore ihrer Haut spüren, schmeckte das Salz auf ihren Lippen. Es war alles durchdringend und unbezwingbar. Mit der Macht der Urgewalten donnerten die Wellen an den tiefroten Felsen. Die Gischt bäumte sich turmhoch über dem Wasser auf, der Lärm war überwältigend. Wenn sie hier in die Tiefe stürzte, würde sie nie gefunden werden. Alles andere war unvorstellbar. Und doch stimmte es nicht. Man fand die Körper wieder. Irgendwann. Fast immer.

In den späten Nachmittagsstunden waren Tag und Nacht nicht mehr zu unterscheiden, alles verschwamm in einer gnadenlosen Düsternis. Aber sie liebte diese Stimmung. Es war wie ein Mantel, der sie umhüllte und nahezu unsichtbar machte: Niemand war unterwegs bei diesen Witterungsverhältnissen. Alle verkrochen sich in ihren Häusern, schlossen die Läden, sperrten den Sturm aus. Und Anna. Doch davon wussten die wenigsten. Denn sie war erst am Vortag wieder zurückgekehrt. Freiwillig, ja, aber nicht ohne Ängste. Schon als vor sechs Wochen das Angebot gekommen war, den offenen Posten in der kleinen Polizeistation zu übernehmen, waren die Bilder von damals wieder vor ihr aufgetaucht. Und als sie dann auf der Fähre stand und die Insel sich aus dem Nebel herausgeformt hatte, hatte Anna fest damit gerechnet, dass die Kopfschmerzen wiederkommen würden.

Doch sie waren nicht gekommen. Bis jetzt. Bis zu dem Moment, in dem sie hinabgeblickt hatte in das tiefgraue Meer und den wütenden Schaum. Eisig war es und sah doch aus, als würde es dort unten von einem Höllenfeuer zum Kochen gebracht. Im Augenblick der Begegnung mit dem zornigen Gott des Meeres waren sie aufgeflammt, hatte es hinter ihren Augen zu pochen begonnen. Zunächst hatte es sich angefühlt, als packe eine eisige Faust ihren Sehnerv und zöge ihn mit Gewalt in den Schädel. Dann schien das Blut zu pulsieren und gegen die Schläfen zu drücken. In wenigen Minuten würde sie zu nichts mehr fähig sein, vielleicht nicht einmal dazu, wieder zurückzugehen und sich ins Bett zu legen. Tränen rannen ihr über die Wangen, vielleicht des Schmerzes wegen, vielleicht aus Wut und Enttäuschung. Doch sie hatte es ja gewusst. Und es war gekommen, wie sie es erwartet hatte. Alles, alles war wieder da. Nichts hatte sich verändert.

Doch. Sie.

Katarina Loos durchsuchte die Taschen der Hosen und Hemden, ehe sie sie in die Waschmaschine gab. Das gehörte zu ihren Aufgaben und war manchmal ganz interessant. Einmal hatte sie in einer Windjacke eine Karte eines Clubs in Hamburg gefunden. Dass alleinstehende Herren solche Etablissements aufsuchten, war ihr klar. Doch in dem Fall war sie überrascht. Und sie fragte sich, ob das eine Folge der Trennung von seiner Frau war – oder vielleicht eine Ursache dafür. Immerhin hatte sie ihn vor einigen Jahren so plötzlich verlassen, dass selbst Katarina Loos verblüfft war: Sie kannte ihre Arbeitgeber, vor allem diejenigen, für die sie schon längere Zeit tätig war; manchmal kannte sie sie besser, als irgendjemand vermuten konnte. Deshalb sah sie Krisen auch schon mal, bevor sie überhaupt offen ausbrachen. Diese Krise hatte sie nicht kommen sehen. Katarina Loos war, wie jede Woche, am Mittwoch zur Arbeit erschienen, hatte ihren Kittel angezogen und sich die Sachen zum Bügeln hergerichtet, da war Dr. Strecker plötzlich im Hauswirtschaftsraum aufgetaucht und hatte gesagt: „Meine Frau hat mich übrigens verlassen, Frau Loos. Aber keine Sorge, für Sie ändert sich nichts. Sie kommen bitte weiterhin wie bisher und kümmern sich um das Haus. Vielleicht werde ich Sie gelegentlich bitten, etwas zu kochen. Aber dafür macht ein Einpersonenhaushalt ja sonst weniger Arbeit, nicht wahr?“

Sie hatte nur genickt. Das hatte ihr die Sprache verschlagen. Nie wieder hatten sie über Frau Strecker gesprochen. Katarina Loos hatte auch nichts von einer Scheidung gehört oder davon, wohin die Frau gegangen war. Seltsam war ihr vorgekommen, dass alle ihre Sachen noch monatelang im Haus geblieben waren. Alle Kleidung, auch die Unterwäsche, aller Schmuck und die Kosmetika. Die Schuhe. Die Papiere (es gab eine stets verschlossene Schublade an Frau Streckers Schreibtisch, die sich aber mit dem Schlüssel von Dr. Streckers Schreibtisch ebenfalls öffnen ließ). Alles war noch da gewesen, zunächst. Nur die Frau war weg. Bis eines Tages auch der größte Teil ihrer Sachen verschwunden war. Doch auch dazu hatte der Doktor nichts gesagt, und Katarina Loos sprach es von sich aus nicht an. Eine gute Haushaltshilfe dachte mit – und sie dachte sich ihren Teil.

In einer der Hosentaschen steckten ein paar Münzen, die sie nachher im Flur auf die Kommode legen würde. Eine der nachtblauen Socken war dreckverkrustet. Katarina Loos seufzte und nahm sie mit zum Waschbecken. Die würde sie vorbehandeln müssen. Sie gab ein wenig Waschpulver darauf und drehte den Wasserhahn auf. In was um alles auf der Welt war der Doktor getreten, ausgerechnet er, der immer so sorgfältig war. Als sie die Socke unters Wasser hielt, stockte ihr der Atem: Der Fleck, der ihr auf dem Stoff schwarz oder zumindest dunkelbraun erschienen war, er färbte das Wasser tiefrot. Wie Blut.

„Gut, dass Sie erst am Montag anfangen“, sagte Dr. Strecker. Routiniert nahm er die Kanüle von der Spritze und warf sie in den Papierkorb unter dem Schreibtisch. „Zwei Tage Ruhe und Sie sind wieder fit.“

„Es ist Migräne, Doktor Strecker“, sagte Anna. „Das kann eine Woche dauern oder länger.“

„Kann. Muss aber nicht. Ich habe Ihnen ein starkes Mittel gegeben. Das wird den Schmerz nicht ganz beseitigen. Sie werden immer noch einen dumpfen Druck im Kopf spüren. Aber Sie werden schlafen können. Und das sollten Sie auch.“

Anna nickte. Der Arzt meinte es gut. Ob er auf der Insel überhaupt gelegentlich Migräne behandeln musste? Vielleicht. Vielleicht auch nicht, bei den paar Einwohnern. Und selbst wenn: Diese Krankheit war ein Schicksal, nicht therapierbar, man musste die Attacken einfach durchstehen. Und das würde sie. Natürlich. Auch diesmal. Sie wollte sich hochkämpfen, doch der Arzt legte ihr mit sanftem Druck seine Hand auf die Schulter. „Lassen Sie mal, ich finde schon raus. Machen Sie die Augen zu und denken Sie an was Schönes.“

Anna war dankbar, dass er sich umwandte und seine Tasche packte. So sah er nicht, wie ihr erneut die Tränen in die Augen schossen. An was Schönes denken. Wie gerne hätte sie das getan. Doch seit sie den Fuß auf die Insel gesetzt hatte, konnte sie an nichts anderes mehr denken als an damals. Einen Moment lang zog das Handy ihre Aufmerksamkeit auf sich. Eine Nachricht blinkte auf:

Willkommen. Genieße diese Woche.

Sie versuchte, den Absender zu erkennen, was vor lauter Kopfschmerzen kaum noch möglich war, doch die Nummer schien ihr völlig unbekannt. Egal. Sie wollte ohnehin nur noch ihre Ruhe haben.

„So“, sagte der Arzt. „Ich bin weg. Gute Besserung.“ Nur ganz entfernt hörte sie noch, wie die Tür ins Schloss gezogen wurde, das Mittel wirkte unglaublich schnell. Und schon war sie in einen willenlosen Schlaf gesunken, aus dem sie nur von Zeit zu Zeit aufschreckte, wenn sich seine Augen aus den diffusen Träumen heraushoben, diese wunderschönen grauen Augen, über die sich der trübe Schatten des Todes gelegt hatte.

TAG 4

Montag, 1. Februar, 6:36 Uhr, 54° 11' nördliche Breite, 7° 53' östliche Länge, Windstärke 9, West

Am Montag hatte sich der Schmerz gerade so weit zurückgezogen, dass Anna, wenn sie sich Mühe gab, nicht ganz absonderlich auf andere Menschen wirkte. Sie hatte den Wecker auf sechs Uhr dreißig gestellt und hätte beinahe verschlafen. Immer noch wirkten die Medikamente spürbar nach. Sie dämpften den Schmerz und verursachten leichten Schwindel. Vor allem jedoch hatte Anna das Gefühl, als wäre ihr Sichtfeld eingeschränkt. Aber das konnte auch von der Migräne selbst kommen, die sich immer noch hinter dem Schleier der Betäubung in ihrem Schädel festkrallte.

Sie würde das jetzt durchziehen. Es war mehr als freundlich gewesen, dass man ihr diese Stelle angeboten hatte. Immerhin hatte sie nur ein paar Jahre Berufserfahrung. Da war die stellvertretende Leitung der Polizeidienststelle Helgoland ein großer Vertrauensvorschuss. Nun gut, es gab natürlich auch nur drei ständige Beamte und ein oder zwei Hilfskräfte. Trotzdem, sie war dankbar, und sie wollte ihren Job gut machen. Sie würde ihn gut machen. Und deshalb würde sie an diesem Montag auch Punkt acht Uhr zum Dienst erscheinen, egal ob sie zu fünfzig Prozent einsatzfähig war oder nur zu vierzig.

Gleich nach ihrer Ankunft am Donnerstag war sie bereits einmal kurz vorbeigegangen, doch da hatte sie nur Polizeiobermeisteranwärter Marten David Weber angetroffen. Es war ein eher gezwungener Small Talk über alte Zeiten gewesen: Marten war zwei Klassen unter ihr zur selben Schule gegangen. Immerhin war sie ziemlich überrascht gewesen, woran er sich noch erinnern konnte. Ihre Zahnspange, die weißen Jeans, die sie zwei Sommer lang buchstäblich jeden Tag getragen hatte (und die tatsächlich ziemlich sexy gewesen waren), ihre Lieblingsfächer, natürlich Leo … „Du bist jedenfalls der Richtige, um bei der Polizei zu arbeiten, Marten“, hatte sie gesagt, als das Gespräch auf Marten gekommen war. „Dein Gedächtnis ist ja der reinste Polizeicomputer. Wenn hier mal was passiert, müssen wir nur dich losschicken, um die Zeugenaussagen aufzunehmen.“

„Wenn hier mal was passiert?“ Marten hatte gelacht. „Hier passiert nichts. Das weißt du doch, Anna. Helgoland ist so aufregend wie ein toter Fisch im Watt.“

Helgoland. Das einzige Land mit fast hundert Prozent Selbstmordrate. Denn wer hierblieb, brachte sich ums Leben. Hier gab es nichts, was es wert gewesen wäre, auf der Insel zu versauern. Das Klima war zwei Drittel des Jahres fies und menschenfeindlich. Es gab keine Konzerte (wenn man mal vom Inselfest im Juli und der Kurmusik im Pavillon absah), kein Theater, nicht mal ein richtiges Kino. Die Kneipen waren von Touristen verseucht oder, wie jetzt außerhalb der Saison, geschlossen oder Säufertreffs. Nichts an der Insel war jung, und nichts war so alt, dass man es mit Stolz betrachtet hätte. Außer vielleicht der Insel selbst. Dass es sie noch gab, war ein Wunder. Gegen all die Sturmfluten und all die Bomben hatte sich der Fels in der Nordsee gehalten, zerbrochen zwar in zwei Teile und übersät mit Kratern, aber doch unverrückbar, stur wie die Menschen, die auf ihm hausten. Wie Anna, für die es wenige Gründe gegeben hatte, zurückzukehren, aber viele Gründe dagegen.

Sie hatte sich zuerst gewundert, dass sie das Angebot nicht sofort abgesagt hatte. Wollte sie sich wirklich antun, all die alten Wunden wieder aufzureißen, wollte sie ihr bisschen Leben, das sie sich im tausendmal größeren Hamburg erkämpft hatte, an der Gangway einer Nordseefähre zurücklassen, um auf dieses armselige Eiland zurückzukehren? Wofür sollte sie das? Eine Nacht lang hatte sie wach gelegen und sich gefragt, weshalb es sie dorthin zog. Dann hatte sie es gewusst: Sie wollte ihre eigene Vergangenheit überwinden, um endlich eine Zukunft haben zu können. Und dazu musste sie sich den Schatten stellen, die über ihrem Leben hingen.

Marten war ein Lichtblick. Er sah zwar aus wie ein Zwitterwesen aus Mensch und Klabauter, klein, schief, linkisch, aber er lachte sie an, auch an diesem Montag, an dem Anna Krüger ihren Dienst antrat. Sie war gerädert von den zurückliegenden Tagen und noch mehr von den Nächten, fühlte sich etwas wackelig auf den Beinen, aber sie war verdammt noch mal eine Helgoländerin, und sie würde das jetzt durchziehen. Es mochte eine verrückte Anwandlung gewesen sein, zur Polizei zu gehen, es mochte eine Schnapsidee gewesen sein, sich auf den freien Posten der Polizeidienststelle ihrer Heimatinsel zu melden. Aber jetzt, da sie sich dafür entschieden hatte, würde sie so geradlinig sein, wie es die Halunder waren. Und wer konnte schon sagen, ob es nicht wirklich die beste Therapie war, endlich ihre bösen Geister in den Griff zu bekommen oder sich wenigstens von ihnen zu befreien.

„Moin, Marten“, rief sie, fröhlicher, als sie war.

„Moin, moin“, entgegnete der Kollege und hob die Hand an eine nicht vorhandene Dienstmütze. „Schon wieder eingelebt?“

„Kennst du ja, Marten. Wer von der Insel kommt, ist nie wirklich weg.“

„Klar“, sagte der junge Mann und lächelte verständnisvoll. „Helgoland nimmst du immer mit, egal wohin du gehst.“ Er hatte ja keine Ahnung, wie schrecklich recht er damit hatte.

„Chef schon da?“

„Sag bloß nicht Chef zu ihm. Sonst schickt er dich umgehend zurück aufs Festland.“

„Sondern?“

„Hm?“

„Wie soll ich zu ihm sagen?“

„Wir sind hier alle per Du“, hörte sie eine Stimme hinter sich. Als sie sich umdrehte, stand ein ungewöhnlich großer und vor allem ungewöhnlich gut aussehender Mann in der Tür, unter dessen dichten, dunklen Brauen fast schwarze Augen funkelten. „Und ich bin übrigens Paul. Paul Freitag.“ Er streckte ihr seine kräftige Rechte hin, die sich angenehm trocken und warm anfühlte. Anna räusperte sich. „Anna“, erwiderte sie. „Freut mich.“

„Uns auch“, sagte der Dienststellenleiter und nickte ihr bekräftigend zu. „Dann zeig ich dir mal den Laden.“

Anna war früher nie hier gewesen, trotz der Ereignisse, die ihr ganzes Leben verändert hatten. Aber dafür hatte es im Grunde auch keinen Anlass gegeben. Das Gebäude war, wie alle anderen Zweckgebäude auf der Insel, schlicht und funktional, um nicht zu sagen: ziemlich hässlich. Zwei Stockwerke, wobei sich die entscheidenden Räumlichkeiten im Erdgeschoss befanden. Ein Büro mit drei Schreibtischen. Ein Besprechungsraum, den Marten seltsamerweise „Vernehmungsraum“ nannte und der eigentlich nur die Verlängerung des Büros war. Der Waffenschrank, in dem sorgsam verschlossen die Dienstpistolen aufbewahrt wurden. „Benutzt ihr die auch mal?“

„Nur, wenn wir den Flaschenöffner nicht finden“, witzelte Marten.

„Ist Gott sei Dank nicht nötig“, erklärte Paul. „Ich glaube, ich bin einmal mit der Dienstwaffe zum Hafen rüber, als es eine gewalttätige Auseinandersetzung unter einigen russischen Matrosen gab.“

„Und, musstest du sie einsetzen?“

Paul schüttelte den Kopf. „Eine Einladung auf eine Flasche Wodka schien mir wirksamer.“

Sogar eine kleine Arrestzelle gab es im rückwärtigen Teil. „Schon mal jemand hier eingesperrt gewesen?“, fragte Anna, die sich kaum vorstellen konnte, dass es dazu jemals Anlass gab auf einem Eiland mit nur gut tausend Einwohnern.

„Öfter, als man denkt“, entgegnete Paul mit ernster Miene. „Natürlich keine Einheimischen. Die Insulaner können wir nach Hause bringen und bei ihren Frauen abliefern, wenn sie zu voll sind, um den Weg alleine zu finden.“ Klar, dachte Anna, in der dunklen Jahreszeit sind hier einige Häuser vor allem Ausnüchterungszellen für frustrierte Ehemänner. „Also hauptsächlich Touristen?“

Paul nickte. „Hauptsächlich Touris, ja. Wenn sich die Fähre weigert, Sturzbetrunkene zu transportieren. Oder wenn einer auf der Überfahrt randaliert hat. Ab und zu mal ein Taschendieb, der sich am Hafen zwischen die alten Damen gemischt hat und dumm genug war, beim Bezahlen in der Kneipe eine Blümchengeldbörse zu zücken. So was.“

Anna nickte. Klar. Wie alles auf Helgoland: harmloser Kleinkram. „Und wer macht das Büro?“, fragte sie Paul. „Ich meine Telefon, Koordinierung, Dienstpläne verwalten und so was?“

„In der Saison bekommen wir üblicherweise einen Azubi zugeteilt“, erklärte Marten. „Und es gibt noch Frau Schneider.“

„Für zwei halbe Tage die Woche“, murmelte Paul, und es war unschwer zu hören, dass er das für absolut unzureichend hielt.

„Aber heute ist keiner von ihren Tagen“, schloss Anna haarscharf, doch Marten schüttelte den Kopf. „Schwer vergrippt. Schon seit Anfang letzter Woche.“

Paul seufzte. „Sie ist noch krankgeschrieben für diese. Mal sehen, wann sie wieder auftaucht. Aber momentan gibt es auch nicht wirklich viel zu tun. Wir dachten übrigens, du nimmst den Tisch hier.“ Der Dienststellenleiter klopfte auf eine der lichtgrauen Kunststoffplatten. Rechner, Bildschirm, Tastatur, Maus mit Pad, Stiftebecher ohne Stifte, ein Stapel Papiere – und ein kleines Päckchen. „Post hast du auch schon“, erklärte Marten und klang ein wenig amüsiert.

„Post? Du meinst Arbeit.“

„Nee, nee“, stellte Paul fest. „Wir sind ja hier keine Unmenschen. Außerdem, das wirst du bald feststellen, arbeiten wir uns hier nicht zu Tode.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wenn wir ehrlich sind.“

Tatsächlich stand auf dem Päckchen zwar die Adresse der Dienststelle, aber auch klar und deutlich ihr Name: Anna Krüger. „Komisch“, sagte sie. „Wer weiß überhaupt schon, dass ich hier angefangen habe.“ Sie nahm das Päckchen zur Hand, das kaum größer als eine Zigarettenschachtel war. Es fühlte sich ganz leicht an. Nun war sie doch neugierig. Unterlagen von der Personalabteilung auf dem Festland konnten es nicht sein, dafür war es zu klein. Bestellt hatte sie zwar ein paar Sachen, aber an ihre neue Privatadresse, und auch nichts, was so klein gewesen wäre. Außerdem trug es den Poststempel von Helgoland, wie sie mit einem Blick auf die Briefmarke feststellte. Es war gut zugeklebt, sie musste die Schere nehmen, um das Packband zu lösen. Kurioserweise war es tatsächlich eine Zigarettenschachtel, die sich unter dem Packpapier fand. Einen Moment zögerte sie, sie wusste selbst nicht, warum. Marlboro. Sie nahm den Geruch von Tabak wahr. Doch es hatte sich eine andere Note daruntergemischt. Als sie die Schachtel öffnete, spürte sie, wie sich die Haare an ihren Armen aufstellten.

„Uhh“, sagte Marten. „Das sieht verdammt doch nach Arbeit aus.“

Windstärke 8 oder 9 ist für Helgoländer keine große Sache. Was auf dem Festland als schwerer Sturm beurteilt würde, gilt am nordwestlichsten Ende der Deutschen Bucht allenfalls als kräftige Brise. Doch die schwere See ist in jedem Winkel des Eilands zu hören und an vielen Stellen auch zu spüren. Der Fels in der Nordsee gleicht einem Schiff im unberechenbaren Meer. Vor dreihundert Jahren hat der Sturm die Insel in zwei Teile zerbrochen. Seither ragen die Trümmer noch verletzlicher aus den heimtückischen Wassern auf, nordöstlich die Düne, flach und schutzlos, westlich die Hauptinsel: Oberland, Unterland und Mittelland. Von einer winzigen Landebahn für kleinere Flugzeuge auf Düne abgesehen, besteht die einzige Verbindung zwischen Helgoland und dem Festland aus einigen Fähren, die in den Saisonmonaten Touristen, Waren und die Post bringen und den Inselbewohnern ermöglichen, der Abgeschiedenheit zu entfliehen. In den harten Monaten Oktober bis März steuert nur eine einzige Fähre zweimal pro Woche den Südhafen an. Ihr Heimatstandort ist Cuxhaven. Sie nimmt auf dem Weg zur Insel auch noch Windstärke 9 in Kauf, auf der Rückfahrt mitunter sogar Windstärke 10: Orkan. Wenn ein Sturm im zweistelligen Bereich vorausgesagt ist, läuft sie das Eiland aber nicht mehr an. Es sind die Zeiten, in denen zwar die sturmgewohnten Helgoländer ihren Geschäften fast ebenso nachgehen wie bei jeder anderen Witterung, in denen sie aber allein auf der Welt sind, abgeschnitten von allem, ohne Verbindung zu Wasser oder zu Luft. Denn natürlich kommt bei Orkan auch kein Flugzeug mehr nach Düne, und sogar das Übersetzen zwischen den zwei Inselteilen wird ab einem bestimmten Wellengang so gefährlich, dass die Einwohner davon Abstand nehmen.

Der Wetterbericht für die nächsten Tage sagte einen Orkan voraus. Wer die Nordsee kennt, weiß, dass sich das Wetter schnell und heftig ändern kann. In den letzten Tagen war Westwindtrift eingetreten. Das bedeutete, dass er ein Tief mit sich führte. Die Ausläufer hatten Regen gebracht, nun kam der Wind aus Südwest, und die Temperaturen gingen deutlich zurück. Die nächste Fähre würde nicht kommen, vielleicht auch die übernächste nicht. Gemeindeverwaltung und Polizei richteten sich darauf ein, Ausgangssperren zu verhängen. Was wie die Maßnahme eines totalitären Regimes klingt, ist eine Schutzmaßnahme für die Bevölkerung. Denn immer wieder werden Menschen durch Sturmböen vom Felsen in den Abgrund gedrängt und stürzen in den Tod. Gleichwohl nehmen die Halunder Ausgangssperren nicht sonderlich ernst. Die Alten nicht, weil sie denken, auf sich selbst aufpassen zu können, die Jungen nicht, weil sie glauben, dass ihnen schon nichts passieren wird. Und die Polizei nicht, weil sie weiß, dass sich niemand darum kümmert.

Der Schock war wie eine Therapie gewesen. Augenblicklich war die Migräne verschwunden. Anna merkte es erst, als sie mit den beiden Kollegen in der Praxis eingetroffen war und vorsichtig die Treppen hochstieg. Vorsichtig, weil sie mit einer hinterhältigen Schwindelattacke rechnete. Doch da war kein Schwindel mehr. Das Adrenalin hatte den Feind in ihrem Kopf weggespült. Und nun standen sie in dem überraschend dunklen Behandlungszimmer von Dr. Strecker, das makabre Präsent zwischen sich auf dem Labortisch.

„Sicher, dass es nicht einfach nur ein böser Scherz ist und nur so aussieht wie das, was wir denken?“ Paul hatte sich entschlossen, aus dem Fenster zu schauen. Er hatte genug gesehen.

„Böser Scherz?“, sagte Dr. Strecker trocken. „Vielleicht. Aber nicht so, wie Sie das meinen. Es ist, was es ist. Dazu muss man kein Pathologe sein.“

„Vielleicht stammt er von einem Schwein“, schlug Marten vor, dessen Wangen glühten, während Pauls fahl waren, als würde er jeden Augenblick umkippen.

Der Arzt schüttelte den Kopf. „Schweine haben Klauen. Außerdem, wie viele Schweine gibt es auf der Insel. Nein, es ist, was es ist. Ein menschlicher Daumen.“

Anna nickte. Noch einmal blickte sie durch die große, beleuchtete Lupe, die Dr. Strecker über die Schale gezogen hatte, in der das Objekt lag. Klein, gekrümmt, eher grau als rosig, eigentlich von ganz ähnlicher Farbe wie Pauls Gesicht. Ein unwirklicher Moment. Sie spürte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Das Ding sonderte einen ganz leichten, aber umso perfideren Geruch ab. „Kann man sagen, ob er von einem lebenden oder von einem toten Menschen stammt?“, wollte sie wissen.

„Sie meinen, ob der Mensch noch lebte, als ihm der Daumen abgetrennt wurde? Nein. Nicht mit Sicherheit. Es gibt Blutspuren. Von daher können wir sicher sein, dass er nicht an den Strand gespült worden ist oder längere Zeit draußen herumlag.“

„Frau oder Mann?“, wollte Paul wissen.

„Auch das lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Ich würde eher auf einen Mann tippen, denn der Nagel sieht nicht sehr gepflegt aus, und insgesamt wirkt der Daumen eher grob. Aber das ist keine medizinische Aussage.“

Paul nickte stumm. Marten atmete schnell, ihm war die Aufregung anzumerken. Anna überlegte, wie man noch mehr über das „Objekt“ herausfinden könnte. „Lässt sich etwas zum Alter sagen? Ich meine, wie alt der Mensch ist, zu dem der Daumen gehört.“

Dr. Strecker schüttelte den Kopf. „Erwarten Sie keine Wunder. Vielleicht bietet das Labor im Klinikum noch etwas mehr Möglichkeiten der Analyse, keine Ahnung. Mit den Mitteln, die ich hier in der Praxis habe, kann ich Ihnen bei der Faktenlage nicht sehr viel mehr sagen, als Sie selbst sich ausrechnen können. Menschlicher Daumen, vor vermutlich einigen Tagen abgetrennt, vermutlich von einem lebenden Menschen, und zwar durch eine scharfe Klinge. Ob es sich dabei um ein Amputationsmesser oder ein japanisches Kochwerkzeug gehandelt hat, wer weiß das schon.“

„Was könnten uns die Kollegen vom Klinikum sagen?“, wollte Anna wissen.

„Ich weiß es nicht. Einen DNA-Test werden die auch nicht dahaben. Die Blutgruppe bestimmen?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es wirklich nicht.“

„Sollten wir das Ding ins Klinikum bringen?“, fragte Marten, als sie wieder vor der Praxis standen. Unausgesprochen waren sie sich einig, dass es eine Schnapsidee gewesen war, den Daumen einem Hausarzt vorzulegen. Andererseits war das Inselklinikum natürlich auch ein Witz. Es war zwar für die Notfallversorgung erste Wahl, aber darüber hinaus keine ernst zu nehmende medizinische Instanz, wenn man vom Spezialgebiet Neurologie absah. Vielleicht war es auch das, was Anna bewogen hatte, ausgerechnet nicht das Klinikum vorzuschlagen, sondern den einzigen Arzt, den sie auf der Insel kannte – seit Freitag.

Paul schüttelte unwirsch den Kopf. „Bringt nichts“, knurrte er. „Strecker hat recht, die werden uns auch nichts sagen können, was uns wirklich weiterbringt. Wir nehmen das Objekt wieder mit und machen uns endlich an die Arbeit.“

„Wenn wir die Blutgruppe wüssten, könnten wir den Kreis der Personen eingrenzen“, warf Anna ein.

Paul hob die Hände. „Also bitte. Marten, du bringst den Daumen zum Klinikum und findest heraus, ob die mehr sagen können. Anna, du kommst mit mir zurück zur Station.“

Der Rest des Tages hatte aus Recherche bestanden. Marten war nach kurzer Zeit ohne weitere Erkenntnisse wieder in der kleinen Polizeistation aufgetaucht und hatte den Daumen in der „Asservatenkammer“ verstaut, wie er den Kühlschrank nun nannte. Anna hatte bereits eine Akte angelegt und dabei festgestellt, dass die Aktenpflege auf diesem Außenposten im Meer alles andere als mustergültig war. Kaum ein Vorgang, der einen Berichtsbogen hatte, wenig, das mit einem Abschlussbericht versehen gewesen wäre. Keinerlei klare Zuständigkeiten. Aber vielleicht brauchte es dergleichen auf einem so winzigen Flecken auch nicht.

Da niemand auf dem Revier aufgetaucht war, hatten sie genügend Zeit gehabt. Paul hatte mit Pinneberg telefoniert, die das Objekt geschickt haben wollten und nicht einzusehen schienen, dass ohne Fähr- und Flugverbindung nichts geschickt werden konnte. Für ein Einschalten der Kriminalpolizei sei es zu früh. Solange niemand einen Daumen vermisste, sei nicht einmal klar, ob überhaupt eine Körperverletzung vorliege. Nach mehreren Gesprächen mit verschiedenen Dienststellen hatte Paul den Hörer auf die Gabel geknallt und sich zu dem Ausruf „Vollidioten!“ hinreißen lassen.

Marten hatte eine Tafel angelegt, als ginge es darum, einen Killer zu suchen. Dabei konnte natürlich nicht einfach von einem Gewaltverbrechen ausgegangen werden. Erst einmal war die Frage: Wer zum Teufel hatte einen Daumen verloren. Die andere Frage stellte Marten ganz nebenbei, fast als wollte er sie nicht aussprechen: „Wieso schickt das gerade dir jemand?“

Anna starrte nach draußen in einen bleigrauen Himmel, vorbei an Martens Tafel, auf der er mit dicken roten Strichen Stichworte notiert hatte. „Ja“, sagte sie. „Wieso. Keine Ahnung. Offensichtlich ein Willkommensgruß.“

„Netter Willkommensgruß“, erwiderte Paul und ließ seinen Blick auf Anna liegen, so als könnte er sie allein dadurch schützen, dass er sie nicht mehr aus den Augen ließ. Sie hatten etwas sehr Sanftmütiges, diese Augen, etwas beinahe Verletzliches, dachte Anna, als sie seinem Blick begegnete.

„Also war es jemand, der wusste, dass du hier anfangen würdest.“

„Das können viele sein“, warf Paul ein. „Freunde, Bekannte, Einheimische, die dich an Land gehen sehen haben, Kollegen vom Festland …“

„Du denkst, irgendein Polizeibeamter in Pinneberg hat sich übergangen gefühlt und deswegen einen Daumen aus der Asservatenkammer geklaut, um ihn Anna hinterherzuschicken? Was kommt dann als Nächstes? Ne Leiche aus der Kühlkammer?“

„Wir wissen erst mal überhaupt nichts, Marten.“ Zu Anna gewandt stellte Paul klar: „Das ist hier eine Dorfpolizei, kein Morddezernat. So was ermitteln wir hier praktisch nie. Uns fehlt auch völlig die technische Ausrüstung.“

„Wir müssen das Ding aufs Festland schicken“, stellte Marten fest. Anna stand auf und trat ans Fenster. Wenn man ein wenig wartete, konnte man von Zeit zu Zeit die Gischt über dem Südhafen aufspritzen sehen, helles Grau vor dunklem. „Nein“, sagte sie. „Erst strengen wir uns selbst mal ein bisschen an.“ Sie nahm Martens Stift und trat an die Tafel. Dort standen bisher nur die Punkte: Daumen, männlich (vermutl.), lebendig/tot?, Poststempel Helgoland (Freitag), Inselbewohner. Hinter den letzten Punkt setzte sie die Klammer (vermutl.). „Wieso soll es ein Inselbewohner sein?“, fragte sie. „Es kann doch ebenso gut ein Besucher gewesen sein, der die Post in einen Briefkasten hier geworfen hat.“

„Einen der zwei Briefkästen“, korrigierte Paul und klang beinahe amüsiert.

„Am Freitag ist keine Fähre mehr gekommen“, erklärte Marten.

„Und was, wenn der Absender den Brief am Donnerstagabend eingeworfen hat? Wann wäre er dann abgestempelt worden?“

Die beiden Männer blickten sich an. „Am Freitag“, murmelte Marten.

„Du überprüfst, ob die Postkästen vor oder nach Ablegen der letzten Fähre zum letzten Mal geleert wurden“, wies Paul seinen Kollegen an.

„Kann also sein, dass es ein Inselbewohner war“, sagte Anna. „Muss aber nicht. Wenn wir eines sicher sagen können, dann, dass es ein perverses Schwein sein muss, das solche Post verschickt. Wer so was tut, ist auch im Stande, sich selber einen Daumen abzuhacken, nur um jemandem das Leben zur Hölle zu machen.“

„Denkst du das wirklich?“ Paul stellte sich neben sie und folgte ihrem Blick. In den Duft seines Aftershaves hatte sich eine Note von Schweiß gemischt. Paul stand unter Stress. Um seine Mundwinkel hatte sich ein harter Zug gebildet. Das war nicht die Art von Polizeiarbeit, die ein Beamter von seinem Posten auf einer kleinen Nordseeinsel erwartete. „Ich kann mir keinen vorstellen, der zu so was fähig wäre.“

Anna sah ihn von der Seite her an. Wie ahnungslos er war. Dachte er wirklich, nur, weil sie auf einer kleinen Insel lebten, wären die Menschen hier besser als anderswo? „Jedenfalls dürfen wir nichts ausschließen“, erklärte sie und zeichnete einige Spiegelstriche an die Tafel. „Das ist, was wir herausfinden müssen: War es ein Unfall, oder war es eine Straftat? Wenn es eine Straftat war, war es Körperverletzung oder Störung der Totenruhe?“

„Wäre nur eine Ordnungswidrigkeit“, warf Marten ein.

„Stimmt nicht. 168 StGB. Knast bis drei Jahre“, stellte Paul klar.

„Oder Geldstrafe“, ergänzte Anna.

Marten verdrehte die Augen. „Wenn es ein Objekt aus der Asservatenkammer ist, was dann?“

„Dann ist es Diebstahl“, erklärte Anna trocken. „Also gehört auch noch Diebstahl auf die Liste.“ Sie machte eine zweite Reihe von Spiegelstrichen. „Außerdem müssen wir herausfinden, ob es in der Umgebung der Briefkästen jemanden gibt, dem ein Daumen fehlt.“

„Alle, die auf Helgoland leben, leben in der Umgebung eines Briefkastens.“ Marten blickte hinüber zu der Karte der Insel, die neben der Eingangstür hing.

„Wenn er überhaupt von einem Lebenden stammt“, brummte Paul, dem die Entwicklung der Sache ganz offensichtlich kein Vergnügen bereitete.

„Richtig. Wir müssen auch in den Pathologien und in den Leichenkammern der Friedhöfe und Krankenhäuser fragen – wenn sich herausstellen sollte, dass es der Daumen eines toten Menschen ist.“

„Und wie grenzen wir das ein?“ Es war überdeutlich, dass dem Leiter der kleinen Polizeidienststelle die ganze Angelegenheit zunehmend unheimlich wurde. „Schleswig-Holstein? Norddeutschland? Ganz Europa?“

Anna versuchte es mit einem Kompromissvorschlag: „Zumindest in den nächstliegenden größeren Kommunen können wir mal nachfragen. Das heißt, wir könnten die Zentrale in Pinneberg darum bitten.“

„Dazu müssen wir das Ding erst mal dorthin schicken.“ Zumindest diese Tatsache schien Paul eine gewisse Genugtuung zu verschaffen. „Marten, du machst Fotos von der Verpackung und vom Inhalt und bereitest es dann für den Versand vor. Ich bin froh, wenn der verflixte Daumen weg ist.“

„Geht klar, Chef“, erwiderte der junge Mann mit den wasserblauen Augen. „Wird aber noch ’ne Weile im Kühlschrank liegen, schätze ich.“ Er nickte zum Fenster hin. „Stärke 9, da kommt keine Fähre. Und die nächsten Tage soll’s eher noch heftiger werden.“

Die Facebook-Seite von Bettina Strecker war seltsam. Der Account existierte zwar noch, aber sie selbst hatte vor zwei Jahren zuletzt etwas gepostet oder kommentiert. Danach hatten nur noch ein paar Posts von anderen auf ihrer Seite stattgefunden, bis am 23.12. des vorletzten Jahres zum letzten Mal ein Eintrag vermerkt war. Ausgerechnet. Ein Tag vor Heiligabend. Schon zu Weihnachten hatte niemand mehr gute Wünsche geschickt. Die wenigen Freunde, die sie bei Facebook hatte, waren verstummt. Sie selbst blickte von ihrem Profilbild wie aus einer anderen Welt. Schöne Augen und ein verhärmter Zug um die Mundwinkel. Alles in allem keine sehr attraktive Frau, aber eine selbstbewusste. Ein wenig kühl vielleicht.

Katarina Loos versuchte, im Internet mehr über sie herauszufinden. Es gab einen Apothekerkongress, an dem sie mal teilgenommen hatte, das war Jahre her. Da war sie auf einem Foto abgebildet. Aber sonst: Tausend Bettina Streckers – nicht jedoch die Frau des Doktors, jedenfalls nicht auf den ersten paar Dutzend Seiten, die die Suchmaschine anzeigte. Katarina Loos trennte die Verbindung. Sie traute den Betreibern des Hotels nicht: Vielleicht würden sie ja ihre Recherche, die sie über den hauseigenen Internetanschluss betrieb, nachverfolgen. Es sähe nicht gut aus, wenn sie der Frau ihres Arbeitgebers nachspionierte, auch wenn es dafür gute Gründe gab. Das Haus Stewens war eine der einfachen Unterkünfte auf der Insel. Nachdem Katarina Loos nicht mehr weggekommen war, hatte sie sich ein Zimmer genommen. Aber natürlich musste sie auf ihr Geld achten. Jede Übernachtung kostete sie hier so viel, wie sie an einem halben Tag bei Dr. Strecker verdiente. Normalerweise würden ihr ein paar Tage extra auf Helgoland nichts ausmachen, aber nicht bei Sturm und Kälte. Zum wiederholten Mal überlegte sich Katarina Loos, ob sie den Job nicht endlich aufgeben sollte. Als sie noch für Familie Fischer geputzt hatte, hatte sich die Fahrt auf die Insel noch einigermaßen gelohnt. Aber die Fischers waren aufs Festland gezogen, und nun hatte sie nur noch eine einzige Arbeitsstelle auf Helgoland. Der Doktor konnte sich auch jemanden von der Insel suchen, der bei ihm putzte. Oder er sollte selbst putzen.

Sie mied die Süderstraße. Natürlich mied sie sie. Lieber ging sie den Umweg über die Frachtstraße und den Klippenrandweg, um sich erst an der Bremerhavener Straße zwischen die Häuser zu bewegen. Irgendwann würde sie zweifellos auch in der Süderstraße zu tun haben, das brachte der Job nun einmal mit sich. Aber solange sie sich von diesem verhassten Ort fernhalten konnte, würde sie es tun, auch wenn sie aus der Ferne das Haus genau erkannte. Für jeden anderen mochte es sich in nichts von der Einfältigkeit der aufgereihten Gebäude unterscheiden, ihr stach es ins Auge wie ein bizarres Monstrum. Sie wandte den Blick ab und starrte aufs Meer hinaus, den feuchtkalten, salzigen Wind im Gesicht. Schnee hatte sich in den leichten Regen gemischt, der seit dem frühen Nachmittag über die Insel fegte.

Einige Male hatte Anna das Gefühl, sie würde verfolgt oder beobachtet. Doch wenn sie sich umdrehte, wenn sie stehen blieb und den Blick über das Unterland schweifen ließ, dann war da nichts und niemand, der sich für sie zu interessieren schien. Im Gegenteil: Die Helgoländer hatten sich in ihre Häuser verkrochen, keine Menschenseele ließ sich sehen. Der Wettervorhersage nach würden sie morgen vermutlich eine Ausgangssperre verhängen müssen. Doch die Wahrheit war, dass die Inselbewohner sie längst einhielten. Kaum jemand ging in diesen Tagen noch freiwillig vor die Tür.

Nach Westen hin war in der Ferne das Flackern eines Gewitters zu erkennen. Anna vergrub den Kopf noch etwas tiefer im Kragen und beeilte sich, nach Hause zu kommen. Einen Moment zögerte sie, als sie in den Kirchweg einbog. Sie hatte es bisher vermieden, auf den Friedhof zu gehen. Das hieß, sie hatte es bei ihrer Ankunft am Donnerstag vermieden und war stattdessen den Klippenrandweg bis ganz ans nördliche Ende entlanggelaufen. Das war eindeutig der bessere Ort, sich zu erinnern. Am Wochenende hatte sie in ihrer Migräne gedämmert und kaum gewusst, wo sie war. Trotzdem hatte sie ein schlechtes Gewissen. Das Haus, in dem sie eine Wohnung gemietet hatte, lag fast genau gegenüber der Kirche und dem Friedhof. Wenn sie aus dem Fenster blickte, konnte sie die Grabsteine erkennen – wenn auch nicht seinen, der war jenseits der Kirche. Vermutlich hätte sie die Wohnung sonst gar nicht beziehen können. „Entschuldige“, murmelte sie. „Ich schaff das jetzt nicht.“ Sie würde morgen kommen. Ganz bestimmt.

Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Ein Husten? Sie suchte demonstrativ die Schlüssel in den Taschen ihres Parkas und blickte sich unauffällig dabei um. Niemand war zu sehen. Nur ein Schatten, der an der Ecke zur Von-Aschen-Straße auf den Gehweg fiel, schien ihr seltsam unpassend, als stünde hinter der Mauer ein Mensch. Aber das mochte täuschen, denn das Licht, das noch von Westen her auf die Insel fiel, war trüb und diffus.

Mit zitternden Händen sperrte sie auf und drückte die Tür hastig hinter sich zu. Sie schloss für einen Moment die Augen und atmete durch. Wieder fiel ihr der seltsame Geruch dieses Hauses auf, eine Mischung aus Moos und Moder. Sie würde Duftkerzen aufstellen müssen oder ihn mit irgendetwas anderem überdecken müssen, sonst würde sie sich irgendwann wie in einem Grab vorkommen. Für einen winzigen Augenblick kam ihr der Gedanke in den Sinn, es könnte was mit dem Friedhof gegenüber zu tun haben. Ihr Lehrer in der Polizeiausbildung hatte mit besonderem Genuss von einem Fall erzählt, den er „Ahnenbrühe-Fall“ nannte, da ging es um Grundwasser, das von einem nahe gelegenen Friedhof verseucht worden war. Schnell wischte sie den Gedanken beiseite und machte Licht. Ihre Wohnung war im Obergeschoss, die Tür hätte sie wahrscheinlich mit dem kleinen Finger aufsperren können, so altertümlich waren die Schlösser. Die Wohnungstür hatte einen Milchglaseinsatz. Anna fragte sich, ob das Haus früher ein Einfamilienhaus gewesen war. Die alte Dame, die jetzt im Erdgeschoss wohnte und der das Gebäude gehörte, war immerhin eine angenehme Nachbarin: Sie war so schwerhörig, dass Anna sich keine besondere Mühe würde geben müssen, Musik oder Filme leise zu machen.

Eher instinktiv trat sie ans Fenster und blickte hinab auf die Straße. Außer einer tief vermummten Gestalt, die gerade den Friedhof betrat, die Hände in den Taschen vergraben, die Kapuze ins Gesicht gezogen, war niemand unterwegs. Anna hatte das unbestimmte Gefühl, den Mann schon einmal gesehen zu haben. Oder die Frau? Auf die Entfernung war das nicht sicher zu bestimmen.

Sie zog die Vorhänge zu und knipste das Licht an. Die Wohnung war trostlos. Sie hatte sie möbliert gemietet. Kein vernünftiger Mensch zog mit neuen Möbeln nach Helgoland, der Umzug hätte ein Vermögen verschlungen. Seufzend zog sie sich aus und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie viele Menschen schon in dem Bett gestorben waren, in das sie sich nachher legen würde, wie viele Ehen an ihrem Frühstückstisch oder auf dem Sofa gescheitert waren. Zwei Zimmer, Küche, Bad mit Blick auf den Friedhof. Mit Blick nach Nord/Nordwest. Mit Blick auf Annas Trauma. Es war kein Zufall, dass sie ausgerechnet hier gelandet war.

Aus der Dusche kam ein schwaches Rinnsal, das kaum den Rücken bedeckte. Doch Anna hatte das Wasser ganz heiß aufgedreht und genoss die Wärme, die ihren Körper durchrieselte. Nach den Jahren auf dem Festland war sie den schneidenden Wind und die alles durchdringende Feuchtigkeit auf der Insel nicht mehr gewohnt. Sie meinte schon eine leichte Erkältung heranziehen zu spüren. Aber vielleicht konnte sie das noch mal wegbügeln. Nach dem Einstand heute wäre ein Krankheitsausfall das Letzte, was sie brauchen konnte. Sie würde sich früh schlafen legen und ein Aspirin einwerfen. Und morgen würde sie so aufgeräumt zum Dienst erscheinen, als sei nichts gewesen.

Katastrophe. Ich hatte ja nicht erwartet, dass meine Rückkehr großartig sein würde. Aber dass mir irgendein Vollidiot ein Willkommenspäckchen schickt, das wie ein Mafia-Gruß aussieht, Mann … Das Verrückte ist, dass mir das geholfen hat. Die letzten drei Tage war ich wie durch den Fleischwolf gedreht. Natürlich wieder die Migräne. Wahrscheinlich finden sie eines Tages raus, dass es ein Tier ist, ein Parasit, so wie ein Bandwurm. Im Gehirn. Ich werde ihm einen Namen geben. Stalin. Er heißt ab jetzt Stalin. Mein Folterknecht hat jetzt einen Namen. Stalin, ich erkläre dir hiermit den Krieg.

Dr. S. weiß nicht, ob der Daumen von einem lebenden Menschen stammt oder von einem toten. Kann beides sein, sagt er. Auch Unfall oder Amputation aus medizinischen Gründen hält er für möglich. Ich bin aber sicher, er stammt von einem Lebenden. Es war zu viel Blut dran. Aber wem soll das Ding gehören? Wenn es ein Helgoländer wäre, dem er fehlt, dann wüsste Dr. S. das. Er ist einer von drei Ärzten auf der Insel. Und so was erzählt man sich unter Kollegen. Außerdem haben wir ja bei den anderen auch nachgefragt.

Jedenfalls hat das Schwein, das ihn mir geschickt hat, geschafft, dass man meinen Amtsantritt hier nie vergessen wird. Und dass wir den Sekt nicht getrunken haben, den Paul in den Kühlschrank gelegt hatte. Gott sei Dank. Sekt! Was kommt als Nächstes – Marshmallows? Jetzt liegt neben der Flasche ein menschlicher Daumen, mir wird schon schlecht, wenn ich nur daran denke.

Draußen ist Sturm. Hab ich vermisst. Auf dem Festland wissen die gar nicht, was Sturm ist. Das wird hier noch um einiges kräftiger werden. Ich kann es spüren.

Anna legte den Stift weg und schloss die Augen. Sie konnte ihn sehen. Immer. Wenn sie nur die Augen schloss und an ihn dachte, tauchte er vor ihr auf. Sein sanftmütiger Blick. Das unbezähmbare blonde Haar. Manchmal spürte sie, wie er seine Hand auf ihre Wange legte. Seine warme, kräftige Hand. Die einzige, die … Anna spürte, wie sich Tränen in ihr hochkämpften. Es war alles zu viel gewesen in den zurückliegenden Tagen. Der Umzug. Die Schmerzen. Das verfluchte Willkommenspräsent …

Auf dem Handy war eine Nachricht eingegangen:

Das war doch ein schöner Einstand. So kann es weitergehen. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Tag um Tag.

Absender: die unbekannte Nummer.

Über dem Papierkram war es wieder spät geworden. Dr. Claus Strecker hasste die Bürokratie, mit der in Deutschland die Ärzte drangsaliert wurden, und er hasste die monatliche Steuervoranmeldung, die er mit sich schleppte wie einen Klotz am Bein. Seit zwei Stunden hätte er zu Hause sein können oder im Fährhaus zum Abendessen. Er klappte den Kragen hoch, als er aus der Tür seiner Praxis trat, und zog den Kopf ein, sperrte hinter sich ab und wandte sich Richtung Oberland um, da stieß er beinahe mit einer Frau zusammen, die die Straße herunterkam. „Katarina?“

„Oh, Herr Doktor“, sagte Katarina Loos und wischte eine Haarsträhne beiseite, die ihr der Wind in die Stirn geweht hatte. „Guten Abend.“

„Was machen Sie denn hier?“

„Ich bin am Freitag leider nicht mehr zurück aufs Festland gekommen“, erklärte sie und zog den Mantel etwas fester um den Leib. „Der Sturm …“

„Natürlich. Natürlich. Das tut mir leid. Und wo sind Sie jetzt untergekommen? Bei den Fischers?“

Katarina Loos schüttelte den Kopf. „Die Fischers sind doch vor ein paar Jahren nach Kiel gezogen.“

„Dann waren Sie am Freitag nur meinetwegen auf Helgoland?“

Die Putzfrau nickte. Überrascht stellte Claus Strecker fest, dass sie, wenn sie nicht ihren Hausarbeitskittel trug, eigentlich ganz gut aussehend war. „Ich habe mir ein Zimmer im Haus Stewens genommen“, sagte sie und verdrehte ein klein wenig die Augen, lächelte aber dazu.

Dr. Strecker räusperte sich. „Das ist bestimmt eine gute Unterkunft. Aber Sie zahlen für den Aufenthalt ja mehr, als Sie für die Arbeit bei mir bekommen haben.“

Katarina Loos zuckte mit den Achseln. „Dafür habe ich einen Kurzurlaub auf Helgoland.“

Der Arzt lachte. „Sie haben jedenfalls Humor“, stellte er fest. „Wissen Sie was? Holen Sie doch Ihre Sachen und nehmen Sie sich ein Zimmer bei mir, Sie wissen ja, ich habe mehr Platz als nötig für einen Menschen.“ Er zögerte kurz. „Und wenn Sie mögen, dann lade ich Sie zum Essen ein. Ich wollte gerade ins Fährhaus gehen. Oder haben Sie schon gegessen?“

„Nein, habe ich nicht.“ Beschämt blickte Katarina Loos zu Boden. „Aber ich weiß nicht, ob ich das annehmen kann.“

„Können Sie, Katarina, können Sie“, sagte Dr. Strecker etwas gönnerhaft. „Sonst muss ich ja ein schlechtes Gewissen haben, da Sie meinetwegen hier festsitzen.“

„Also, wenn Sie wirklich meinen …“

„Das tue ich. Sie holen Ihre Sachen, und wir sehen uns in ein paar Minuten im Fährhaus.“ Er nickte ihr zu und stemmte sich mit kräftigen Schritten gegen den Wind, ohne das feine Lächeln zu sehen, das über Katarina Loos’ Gesicht huschte.

Die Nachricht. Anna sah in der Liste des Handys nach. Da! Am Freitag hatte sie sie bekommen.

Willkommen. Genieße diese Woche.

Von einer unbekannten Nummer. Und jetzt wieder. Dieselbe Nummer. Sie hatte schon gar nicht mehr daran gedacht. Der erste Willkommensgruß war in einem Nebel aus Schmerz und Selbstmitleid versunken und – bis jetzt – nicht wiederaufgetaucht. Doch nun … Anna legte das Handy weg, setzte sich an den Küchentisch und legte das Gesicht in die Hände. War es eine Drohung? Nein, so klang es nicht. Und doch war die Botschaft bedrohlich. Auge um Auge, Zahn um Zahn, das verwies ganz klar auf Gewalt. Gewalt, die einem Menschen angetan wurde. So wie … einen Daumen abschneiden? Konnte es da einen Zusammenhang geben? Aber wer würde so wahnsinnig sein, seine Telefonnummer zu hinterlassen … Sie zögerte nur kurz, dann tippte sie auf „Wählen“. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis die Mitteilung kam: „Dienst oder Dienstmerkmal nicht möglich.“ Was für ein Satz. Den hatte sie nie verstanden. Seufzend stand sie auf und trat ans Fenster, um in die tiefschwarze Nacht zu starren. Nein, eigentlich war es ihr eigenes Bild, das sie anstarrte, die Spiegelung einer jungen Frau in der Glasscheibe. Einer ratlosen, aber keinesfalls mutlosen Frau. Wenn es einen Zusammenhang gab, würde sie ihn herausfinden, das stand fest. Wenn es keinen gab … dann waren die Nachrichten umso seltsamer. Sie ergaben schlicht keinen Sinn. „Tag um Tag“, flüsterte sie ihrem eigenen Spiegelbild zu. „Was immer das zu bedeuten hat.“ Sie drehte sich um. Das Tagebuch lag immer noch auf dem Tisch. Behutsam nahm sie es und tat es zurück in die Schublade der Küchenkommode. Das Tagebuch. Es war ihr Medium. Die Verbindung zu ihrem eigenen Leben – zumindest zu dem Teil ihres Lebens, der ohne das Tagebuch vermutlich für immer verloren gegangen wäre und der doch zugleich alles war, woraus sie ihre Kraft zog. Denn Kraft hatte sie. Sie fand sie immer wieder. Ihre Kraft wurde gespeist von der Erinnerung, von den stummen Zwiegesprächen mit Leo und vom Hass. Vom Hass auf das Schicksal, das ihr ein ungerechtes Leben zugeteilt hatte und dem sie sich nicht geschlagen geben würde. Nie.

„Du Schwein. Das wirst du büßen.“

„Vielleicht. Aber das war es wert.“

„Ich habe Durst. – Warum tust du mir das an?“

„Das fragst du im Ernst?“

„Damit kannst du nicht durchkommen.“

„Da bin ich mir nicht einmal sicher. So, wie die Dinge liegen, kann es sein, dass man niemals Näheres herausfinden wird.“

„Soll das heißen, du willst mich umbringen? He? – Ich hab dich was gefragt!“

„Jetzt ganz ruhig, ja?“

„Was ist das?“

„Nur eine Kanüle. Sehr harmlos. Es wird nicht einmal wehtun.“

„Und dann? Spritzt du mir ein Gift?“

„Aber nein. Es ist wirklich nur eine Kanüle, nichts weiter.“

„Mach mich los, und ich sage niemandem, was passiert ist.“

„Wirklich? Das ist ein sehr vernünftiges Angebot. Aber es hat keinen Vorteil für mich.“

„Ich werde schweigen! Ich schwöre es!“

„Du wirst schweigen, da hast du recht. Aber dazu muss ich dich nicht losmachen.“

„Mach mich los! Sofort!“

„Jetzt bitte ganz ruhig, sonst wird es wehtun. – Gut. Das ging doch ganz einfach, nicht wahr? Gleich bekommst du was zu trinken.“

„Ich … Herrgott noch mal! …“

„Bitte, nicht das. Wenn dich einer nicht hört, dann er. Dich nicht.“

TAG 5

Dienstag, 2. Februar, 7:46 Uhr, 54° 11' nördliche Breite, 7° 53' östliche Länge, Windstärke 9, West/Südwest, Regen

Sie hatte sich gerade den Lidstrich gezogen, da klingelte ihr Handy. Es war Marten. „Guten Morgen, Anna. Bist du schon unterwegs?“

„Ich wollte in fünf Minuten aus dem Haus gehen. Was ist passiert?“

„Vielleicht nichts.“

„Vielleicht?“

„Na ja, du hast Post bekommen.“

„Geht es jetzt um den Daumen? Gibt es was Neues?“

„Es geht nicht um den Daumen“, sagte Marten zögernd.

„Wie? Worum geht es dann?“

Sie hörte ihn atmen. „Um ein neues Päckchen“, sagte er schließlich. „Es lag vorhin hier vor der Tür.“

Anna zögerte. Ihr Bild im Spiegel schien plötzlich ganz durchsichtig, ganz zerbrechlich. „Und es war wieder an mich adressiert?“

„Anna Krüger, Ringstraße 1, Helgoland.“

„Scheiße.“ Vielleicht hatte sie es gesagt. Vielleicht auch nur gedacht. Sie spürte, wie eine kalte Hand nach ihrem Herzen griff. Sollte das hier ein Albtraum werden? Konnte es sein, dass jemand ihre Rückkehr auf die Insel für sie zur Hölle machen wollte? Hatte sie einen Feind, einen kranken Stalker, einen … Ein wenig fühlten sich ihre Beine an, als wollten sie nachgeben. Doch Anna drückte den Rücken durch und holte tief Luft.

„Paul ist auch schon hier“, erklärte Marten. „Er schlägt vor, dass wir es öffnen. Wenn du einverstanden bist. Ich meine, von wegen Postgeheimnis und so.“

Sie würde den Lidstrich noch einmal neu machen müssen. In zwei dunklen Streifen flossen Tränen über ihre Wangen. „Klar“, sagte sie leise. „Macht es auf.“

„Okay“, erwiderte Marten. „Okay. Machen wir.“ Wieder zögerte er. „Übrigens“, sagte er dann. „Es ist größer als das letzte Päckchen.“

Schweißgebadet stand Anna in der Tür und starrte auf ihre Kollegen. Niemals zuvor war sie den Weg und die Stufen hinab zum Mittelland so schnell gelaufen. Die Panik hatte sie beflügelt, nein, hatte sie wie eine Peitsche über die Insel getrieben. Und nun rang sie um Atem und hielt sich am Türrahmen fest, um nicht vor lauter Erschöpfung umzukippen. „Und?“, presste sie hervor.

Paul konnte sich ein süffisantes Grinsen nicht verkneifen. „Hast du Sport gemacht?“, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen. Dankbar wankte Anna zu einem der Stühle und ließ sich darauf niedersinken. Wenn er so reagierte, war das Entwarnung. Kein neuer makabrer Gruß, kein neues perfides Geschenk. Gott sei Dank. Sie pumpte Luft durch ihre Lungen, versuchte ein Lächeln und schüttelte den Kopf. „Und ich dachte schon …“

„Wir auch“, sagte Marten, der neben ihr stand, obwohl sie ihn vorher gar nicht bemerkt hatte. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und klopfte mit den Fingern ihren Oberarm. „Wir auch. Aber dann war’s doch nur eine süße Aufmerksamkeit.“ Anna sah zu ihm auf und folgte seinem Blick hinüber zu ihrem Schreibtisch. Dort stand ein Marmeladenglas, hübsch mit einem stoffbezogenen Deckel drapiert und einem offenbar handgeschriebenen Etikett. Misstrauisch betrachtete sie das Präsent, stand auf und ging hin. „Hausgemachte Götterspeise“, hörte sie hinter sich Martens Stimme. „Warum schickt mir nie jemand so was.“

Es dauerte ein wenig. „Anna?“, sagte Paul und kam einen Schritt auf sie zu. Doch sie reagierte nicht. „Alles okay?“, meldete sich Marten zaghaft. Erst nach einer langen Reihe von Augenblicken, in denen die Stimmung in dem kleinen Polizeibüro merklich gekippt war, drehte sich Anna Krüger zu ihren Kollegen um, die Lippen weiß, die Augen in eine unbestimmte Ferne gerichtet. „Vielleicht schickt dir nie jemand so was, weil du es am Ende noch essen würdest.“ Sie vergrub das Gesicht in den Händen und atmete tief durch. „Wer von euch hat es geöffnet?“, fragte sie dann.

„Ich“, sagte Marten. „Aber wieso …?“

„Es ist Blut, Marten. Ein Glas voll Blut.“

Voll Befremden blickten die beiden Männer auf das Einmachglas, das hübsch und harmlos auf dem Schreibtisch stand. Konnte es wirklich sein? „Im Ernst, Anna, ich denke, du siehst Gespenster“, erklärte Paul schließlich und trat auf den Tisch zu. Doch noch ehe er nach dem Glas greifen konnte, hatte Anna seine Hand gepackt. „Du fasst es nicht an. Nicht einfach so. Seine Fingerabdrücke sind drauf“, sagte sie und nickte zu Marten hin. „Deine müssen nicht auch noch dazukommen. Ich möchte, dass das Glas im Labor untersucht wird.“

Paul seufzte. „Die Sache mit dem Daumen hat dir scheinbar ziemlich zu schaffen gemacht, und das kann ich verstehen, ehrlich. Aber jetzt siehst du Gespenster. Wieso sollte dir jemand ein Glas voll Blut schicken?“

„Wieso sollte mir jemand einen menschlichen Finger schicken?“

Schweigen. Der Regen prasselte in unregelmäßigen Böen gegen das Fenster, je nachdem, wie der Wind drehte. „Wir können es nicht ins Labor schicken“, stellte Paul nüchtern fest. „Keine Fähre.“ Er sah sie an, als versuchte er zu ergründen, was in ihrem Kopf vor sich ging. „Und schon gar kein Heli oder Flugzeug – abgesehen davon, dass wir nicht nach Düne kommen bei dem Seegang.“ Auf der Nebeninsel Düne gab es einen Flughafen für kleine Maschinen, Flughafen war beinahe zu viel gesagt. Wenn es eilig war, in medizinischen Notfällen oder zu Rettungszwecken, war das die schnellste und beste Verbindung zum Festland. Oder eben der Helikopter, dessen Landeplatz nur ein paar Schritte von der Polizeistation entfernt lag.

Anna holte ein Paar Einmalhandschuhe und einen Gefrierbeutel aus dem Nebenraum und packte das Glas behutsam ein. Dann stellte sie es in den Kühlschrank und zog die Handschuhe wieder ab. „Ich weiß nicht, was hier gespielt wird“, erklärte sie mit Blick in die verunsicherten Mienen ihrer Kollegen. „Aber es scheint um mich zu gehen, und das tut mir leid. Ich bin nicht hergekommen, um Ärger zu machen.“ Paul hob beschwichtigend die Hände, doch Anna winkte ab. „Keine Sorge, ich mache mir keine Vorwürfe, ich kann ja schließlich nichts dafür. Aber so darf das nicht weitergehen. Ich bin sicher, wenn wir den Inhalt des Glases untersuchen lassen, wird sich herausstellen, dass es menschliches Blut ist.“

„Du denkst an Mord?“ Pauls Augen waren schmal geworden. Er mochte nicht, was er hörte. Er mochte die Konsequenz nicht, die er dahinter vermutete. „Auf Helgoland. Wo jeder jeden kennt und jeder alles über jeden weiß.“ Er klang auf seltsame Weise vorwurfsvoll.

„Es muss nicht Mord sein“, stellte Anna klar. „Man kann ohne Daumen sehr gut weiterleben. Und ein halber Liter Blut ist auch verzichtbar. Aber was kommt als Nächstes? Der andere Daumen? Ein Kopf?“

„Und was sollen wir machen? Kripo spielen?“

Anna zuckte mit den Schultern. „Wo keine Kripo ist, ist die Dorfpolizei die Kripo. Solange wir keine Unterstützung vom Festland bekommen, müssen wir selbst ermitteln.“

„Wenn du mich fragst“, schaltete Marten sich ein, „dann werden wir auch keine Unterstützung vom Festland bekommen, wenn der Sturm vorbei ist und die Fähren wieder gehen. Wir können zwar unser Zeug zur Analyse hinschicken. Aber die werden sich kein Bein ausreißen wegen einem Daumen, der keinem fehlt, oder wegen ein bisschen Blut. Ich meine natürlich, solange kein Gewaltverbrechen vorliegt. Aber dafür gibt es ja keinen Anhaltspunkt. Wir wissen ja nicht mal, ob es Blut ist. Und wenn es Blut ist, dann kann es immer noch von einem Schwein sein oder von einem Huhn oder was weiß ich.“

„Wer weiß“, sagte Paul ruhig. „Man muss ja auch nicht die Kripo sein, um ein paar Dinge herauszufinden. Anna hat recht, wir können nicht einfach nichts tun.“ Seine Skepsis schien verflogen, sein Jagdinstinkt geweckt. Er griff nach dem Telefon.

Das Haus war still. Nur draußen tobte der Sturm. Er klang wie von fern, obwohl es nur Zentimeter waren, die zwischen den ungeheuren Kräften der Natur und dem geschützten Raum des Gebäudes lagen. Und wenn sich die See auftürmte, wie sie das in der Geschichte Helgolands schon öfter getan hatte, dann würde sie wieder gewaltige Felsmassen mit sich reißen – und die Menschen dazu.

Katarina Loos war kein ängstlicher Mensch. Doch das Meer war ihr unheimlich. Sie hatte einmal einen solchen Sturm auf einer Insel erlebt, drüben auf Sylt. Damals war ein Teil des Strands abgerissen und ein Vater mit seinem Kind, die sich das Toben der See angesehen hatten, fortgespült worden. Sie wusste nicht, ob man die beiden jemals wiedergefunden hatte. Nein, Unwetter, Küste, umgeben von Gischt und Wellen, das war nicht ihre Sache.

Doch jetzt, da sie sich unter die warme Bettdecke verkrochen hatte, fühlte sich der Schauder irgendwie auch wohlig an. Man konnte sich vorstellen, dass der Sturm ausgesperrt war und sie hier drinnen warm und geborgen abwarten konnte, bis er vorbei war. Katarina Loos hatte das Gästezimmer bezogen, einen kleinen Raum im Obergeschoss des Hauses, das neben Dr. Streckers Arbeitszimmer lag, gegenüber dem Schlafzimmer. Im Arbeitszimmer brannte schon länger Licht, der Doktor arbeitete früh. Eine Weile lauschte Katarina Loos auf die Geräusche, die sie von dort hörte. Doch das war nur ein gelegentliches Tippen auf der Computertastatur, das Rascheln von Papier, das Knarzen des Schreibtischstuhls, wenn der Arzt sich zurücklehnte oder vorbeugte. Schließlich stand sie auf und schlüpfte in ihre Kleider. Barfuß ging sie hinüber, vielleicht absichtlich etwas leiser als nötig, hielt inne und lauschte. Sie konnte den Arzt atmen hören. Hatte er sie auch gehört? Vorsichtig huschte sie ein paar Schritte zurück und kam noch einmal mit festerem Auftritt. Sie räusperte sich und klopfte gleichzeitig an die sich von selbst öffnende, nur angelehnte Tür. „Herr Doktor Strecker?“

Der Arzt fuhr zusammen, und seine Hand zuckte zur Maus hin und klickte rasch ein paarmal. „Ja, bitte?“

„Entschuldigung, wenn ich Sie störe. Darf ich mir einen Tee machen?“

Strecker nickte, warf noch einmal einen kontrollierenden Blick auf den Bildschirm, obwohl Katarina Loos ihn von der Tür aus gar nicht sehen konnte. „Sicher. Fühlen Sie sich bitte wie zu Hause. Sie müssen mich nicht fragen.“

„Das ist sehr nett. Vielen Dank.“

„Keine Ursache.“

Sie wandte sich um und schloss die Tür, nur um sie einen Augenblick darauf nochmals zu öffnen. Derselbe Effekt. Der Arzt atmete hörbar ein. „Ja?“

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