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Sturmfeuer

Bei der diesjährigen Regatta vor Helgoland verschwindet ein Junge aus seinem Segelboot. Kurz darauf ereignet sich an den Klippen ein unerklärlicher Todesfall. Polizistin Anna Krüger ist sich sicher: So viele Unglücke in so kurzer Zeit können kein Zufall sein. Entgegen den Erkenntnissen des LKA und den Ansichten ihres Vorgesetzten Paul ermittelt Anna weiter. Dabei stößt sie auf ein tragisches Geheimnis, das weit zurückreicht - bis zu den höllischen Bombennächten von 1945, in denen die Inselbewohner ihre Heimat verloren.

"Auch der zweite Erzberg-Krimi hat Leinwandqualitäten, ist aber zunächst mal absolut lesenswert."
Südwest Presse

"Eine spannende Lektüre für den Sommerurlaub." Zwei nach Eins (Radio Bremen)

"Tim Erzberg hat ein düsteres, beklemmendes Kammerspiel geschaffen"
Brigitte (über Hell-Go-Land)


  • Erscheinungstag: 05.03.2018
  • Aus der Serie: Anna Krüger
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677219
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Die Augen des Alten starrten sie an, als hätte er den Teufel selbst gesehen. Es war nicht einfach Angst oder Panik, es war der blanke Horror, der sich im Blick des Alten widerspiegelte. Mit weit aufgerissenen Augen stand er vor ihr, am ganzen Leib zitternd. Er atmete so schwer, dass Anna dachte, er würde im nächsten Moment einen Herzinfarkt haben. Schweiß stand auf seiner Stirn, während er stammelte: »Ich hab ihn gesehen. Hab ihn. Gesehen. Ja. Ich … ich …« Dann brachte er kein Wort mehr hervor, sondern nur noch einen kaum hörbaren, seltsamen, ganz hohen Ton. Anna stellten sich die Nackenhaare auf. Sie spürte, wie sich eine Gänsehaut über ihren ganzen Körper breitete, als der Ton lauter wurde und lauter und immer noch lauter. Ein Kreischen, ein gellender Schrei, so irrsinnig wie die Fratze des Mannes, der ihr gegenüberstand und sich mit beiden Händen zitternd an der Theke der kleinen Polizeistation festkrallte und sie nur immerzu mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, nein, durch sie hindurchstarrte, als blicke er ans Ende der Welt, ins Herz aller Dinge: in die Mitte der Hölle.

Paul war in der Tür erschienen, die entsicherte Waffe im Anschlag. Anna schaffte es, ihm zu signalisieren, dass der Alte vielleicht verrückt war, aber offenbar nicht gewalttätig. Auch wenn sie es nicht sicher wusste. Als der Mann Luft holen musste, warf Paul sich auf ihn und packte ihn von hinten mit festem Griff um Brustkorb und Arme. Falls er mit Gegenwehr gerechnet hatte, musste er überrascht sein. Statt um sich zu schlagen, sackte der Alte in sich zusammen und zog Paul mit auf den Boden. Wäre es ihnen in diesem Augenblick gelungen, die unsichtbare Mauer zu durchdringen, die sie von ihm trennte, vielleicht hätten sie den Albtraum aufhalten können.

1

Die weißen Segel leuchteten in der grellen Sonne. Wie ein Stapel Papier, der über die sanften Wellen der Nordsee verstreut im Wind flatterte. Sie blähten sich alle in eine Richtung, strebten der Insel entgegen, schräg stehend, von ihren wackeren Begleitern mit aller Kraft am Seil gehalten. Kaum größer als Seifenkisten, wurden die Boote von der sachten Brise in die Nordreede getrieben und mit ihnen ihre Kapitäne: die jüngsten und tapfersten. Kinder. Zehnjährige! Manche noch jünger. Allein auf Segelbooten in der Nordsee. Es war eine Besonderheit, die Helgoland für einige Tage im Hochsommer zum Mekka der Juniorskipper und ihrer ehrgeizigen Eltern machte: die Regatta der Jüngsten in der Bootsklasse der »Optimisten«, um den Opti-Cup nach Hause zu tragen.

Kopfschüttelnd und staunend stand Anna Krüger neben ihrem Kollegen Paul Freitag und betrachtete die Szenerie. »Sie segeln wie alte Hasen.«

»Eher wie alte Seebären«, sagte Paul und warf einen Blick durch den Feldstecher. Er sah aus wie einer der Väter, die drüben an den Westkajen standen, ihre Jungs beobachteten und sie anfeuerten, obwohl die jugendlichen Wassersportler in ihren winzigen Schaluppen sie nicht hören konnten. Selbst wenn sie sie hätten hören können, hätten sie vermutlich nichts mitbekommen. Es kostete unvorstellbare Anstrengungen, allein da draußen mit dem Boot gegen eine Konkurrenz zu bestehen, die keine Angst kannte und nur darauf fieberte, den Cup zu gewinnen. »Letzter Tag heute, was?«, fragte der Kapitän des Halunder Jets, der vor ein paar Minuten erst angelegt hatte und nun glänzend am Pier lag. »Letzter Tag«, bestätigte Paul und reichte ihm sein Fernglas.

»Mutige Jungs sind das. Ich würde meinen nicht alleine durch die Nordsee skippern lassen.«

»Dass ausgerechnet Sie das sagen, überrascht mich.«

Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Viel zu gefährlich.«

»Aber hier, so nah bei der Insel …«

»Gibt hier auch Untiefen. Riffe. Strömungen. Die Nordsee ist kein Badeteich.« Er gab ihm den Feldstecher zurück.

»Ich kann Sie verstehen«, sagte Anna. »Ginge mir genauso.«

Der Kapitän tippte sich an die Kappe und murmelte: »Ich werd dann mal wieder.« Er wandte sich ab und ging sein Schiff inspizieren. »Ja«, sagte Paul. »Ich muss auch meine Runde machen. Du hältst die Stellung?«

Anna nickte. »Klar. Ich bin hier, wenn was ist.« Sie sah ihrem Kollegen nach, der sich aufs Fahrrad schwang und kurz darauf an den Hummerbuden entlang davonfuhr. Hinter ihrer Stirn pochte ein penetranter Schmerz, der sich dort seit einigen Tagen festgesetzt hatte. Sie würde ihn ignorieren. Sie musste ihn ignorieren.

Er war so stolz auf seinen Sohn. Mit zehn Jahren hatte der Junge ein Gefühl für das Material, für den Wind und für das Wasser, wie man es sonst nur bei erwachsenen Seglern kannte. Vielleicht würde er bei diesem Cup nicht auf dem Podest landen. Aber spätestens beim nächsten Mal war der Junge so weit. Das spürte Nils Michelsen. Er wusste es einfach. Nils junior war der geborene Skipper. Im Moment lag er mit seiner Nussschale auf Rang fünf. Wahrscheinlich würde der Bursche aus Rendsburg noch an ihm vorbeiziehen. Er hatte eine gute Technik und die nötige Brutalität, Nils am Ende noch abzudrängen. Die hatte sein Sohn nicht. Noch nicht. Nils war einfach ein Guter. Dagegen war nichts zu sagen. Allerdings würde er irgendwann einen gewissen Killerinstinkt entwickeln müssen, um ganz nach vorne zu kommen. Aber er hatte ja noch Zeit. Das hier war der erste ernsthafte Test. Und er lief gut. Sehr gut.

»Welcher ist Ihrer?«, fragte ein Mann, der neben ihm stand.

»Startnummer siebzehn«, erwiderte Michelsen, und er merkte, dass er es mit deutlichem Stolz sagte.

»Darf ich mal?« Der Mann deutete auf Michelsens Feldstecher.

»Sicher. Bitte.«

»Danke.«

Der Wind hatte zugelegt. Mindestens eine halbe Windstärke, eher eine ganze. Michelsen hatte ein gutes Gespür dafür. Die ganze Flotte von Kleinbooten lag jetzt auf Steuerbord und bog in die letzte Kehre. In zwei, drei Minuten würden sie auf die Ziellinie zulaufen: die Einfahrt der Binnenreede. Das Licht war so hell, dass Michelsen seine Augen mit der Hand schützen musste. Im Moment konnte er das Boot von Nils gar nicht genau ausmachen. Lag er auf Platz vier? Oder war er weiter zurückgefallen? Für ein paar Augenblicke wurden die Schaluppen von anderen Booten verdeckt. Dann schossen die ersten herein. Die Startnummer vier. Die Acht. Dreizehn. Vierzehn. Zwei. Zwanzig. Sechzehn. Achtundzwanzig. Sechs. Verdammt, wo blieb Nils? Hatten sie ihn so kurz vor Schluss noch massenweise überholt? Michelsen nahm den Feldstecher wieder an sich und fixierte die Hafeneinfahrt. Zweiundzwanzig. Dreißig. Achtzehn. Elf. Zwölf. Fünf. Eins. Wo war die Siebzehn?

»Welcher war noch mal Ihrer?«, fragte der Mann. Doch Michelsen hörte ihn gar nicht mehr. Denn ihm war klar, dass längst alle eingelaufen waren. Alle außer Nils. Keine Siebzehn. Und ihm war in diesem Augenblick auch klar, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste.

»Was heißt ›weg‹?«

»Der Junge ist verschwunden, Mann!«

»Okay. Noch mal so, dass ich es verstehe. Die Kinder laufen in den Hafen ein, sie ziehen ihre Boote an Land – und dann? Fehlt eines? Bleibt das Boot im Wasser, oder steht es irgendwo herum, und nur der Junge ist weg?« Pauls Blick folgte den jungen Seglern, die ihr Gerät aus dem Wasser gezogen hatten und es nun – das Boot hatte Rollen – den Weg hoch Richtung Hummerbuden zogen, weil die Boote drüben am Westhafen trockengedockt wurden.

»Er ist noch draußen, Mann«, schrie ihn Kielhorn an, weiß vor Wut oder Panik. Kielhorn, der von allen Veranstaltern wahrscheinlich der abgebrühteste war.

»Sie meinen, er ist noch auf dem Meer? Und das Boot?«

»Keine Ahnung! Wir müssen sofort noch mal raus. Die Begleitboote haben schon beigedreht und suchen.« In dem Moment knackte es in Kielhorns Walkie-Talkie. »Ja? – Okay. – Nein. – Dann fahr du auf der Strecke zurück, Dieter soll rüber zur Düne, wir gehen auch gleich raus und fahren nach Norden an den Klippen lang.« Kielhorn steckte das Funkgerät weg und lief los. »Könnt ihr so viele Männer wie möglich oben auf die Klippen schicken?«, rief er über die Schulter zu Paul Freitag zurück. »Wenn sie irgendwas sehen, sollen sie sofort Bescheid geben!« Ohne Pauls Antwort abzuwarten, sprang er in ein bereitstehendes Motorboot und gab dem Steuermann ein Zeichen, sofort abzulegen. »Ich benachrichtige die Seenotrettung!«, brüllte Paul hinterher. Was er noch im Laufen tat. Die Nummer war in seinem Handy eingespeichert, das Schiff lag leider gerade nicht im Hafen, sondern war wer weiß wo. »Wir sind in zwanzig Minuten da«, beschied ihn der diensthabende Vormann. Zwanzig Minuten. Genug Zeit, um zwanzig Mal zu ertrinken. Und selbst ein guter Schwimmer machte es draußen auf See oft nicht mehr als zehn Minuten. Auch wenn der Seegang gering war und die Lufttemperatur hoch: Das Meer war kalt. Und die Kälte lähmte. Sie lähmte die Glieder. Die Kräfte. Den Willen.

Zum Glück hatten die Jungs alle Schwimmwesten an. Wenn wirklich einer von ihnen gekentert war, dann würde er nicht gleich hinabgezogen, selbst wenn er bewusstlos im Wasser lag. Und die Westen waren so konstruiert, dass sie ihren Träger automatisch auf den Rücken drehten, wenn er ohnmächtig wurde. Außerdem waren sie weithin sichtbar. Hektisch wählte Paul die Nummer von Anna Krüger. »Anna? Wir brauchen Beobachtungsposten oben auf den Klippen. So viele wie möglich. In jeder Richtung. Eines der Opti-Kinder ist draußen geblieben. – Keine Ahnung. Hoffentlich nicht. Wenn er nur vom Kurs abgekommen ist, mach ich drei Kreuze. – Ja. Gut. – Ich schicke dir so viele Leute zum Funkturm hoch, wie ich auftreiben kann. – Danke.« Auf Anna war Verlass. Sie würde die Leute koordinieren. Die Frage war, wie schnell er welche mobilisieren konnte.

Aus der Entfernung sah er seine Kollegin schon den Invasorenpfad hochhasten, als sich endlich das Schulsekretariat meldete. »Frau Pflug? Gott sei Dank. Freitag hier. Wir brauchen sofort so viele Leute wie möglich an den Klippenrändern, um Ausschau zu halten. Einer der Opti-Segler wird vermisst. Können Sie eine Durchsage machen und Ihre Schüler zum Funkturm rausschicken? – Bitte! – Es geht hier um das Leben eines Kindes!« Er spürte, wie das Blut in seinen Ohren rauschte. Aus irgendeinem Grund fühlten sich seine Beine taub an. »Danke«, flüsterte er, ehe er sich, halb stolpernd, für einen winzigen Moment auf den Boden setzte und sich die Hand aufschlug. Zu schnell. Er war zu schnell gelaufen. Die Hitze. Der Kreislauf. Er kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich, spürte, wie sein Puls wieder kam, hörte auch wieder, was um ihn herum geschah. Der Kapitän des Halunder Jets stand neben ihm. »Alles in Ordnung, Paul?«

Paul Freitag nickte. Schluckte. »Einer der Jungs ist nicht reingekommen.« Der Kapitän kapierte schneller als er. »Abgängig? Wir legen sofort ab. Kann ich dich alleine lassen?«

»Kannst du. Danke.« Paul sah dem Kapitän hinterher, der ein gedrungener, eher behäbiger Mann war, aber nun mit einer Geschwindigkeit auf sein Schiff stürmte, als sei der Leibhaftige hinter ihm her. Gut, wenn der Jet mitsuchte. Der Katamaran war mit Abstand das schnellste Schiff hier draußen, konnte einen größeren Radius bedienen als die Motorboote, die sich inzwischen in größerer Zahl draußen vor der Insel befanden und mit allem, was sie hatten, in jede Richtung ausschwärmten. Paul wischte sich über die Stirn, dachte nach, was er tun konnte, da klingelte das Handy. Kielhorn. »Ja?«

»Wir haben es.«

»Was für ein Glück! Und dem Jungen geht es gut?«

»Das Boot.«

»Das Boot? Was meinen Sie damit?«

»Wir haben das Boot«, brüllte Kielhorn am anderen Ende. »Von dem Kind fehlt jede Spur.«

Innerhalb weniger Minuten standen Beobachter rund um die ganze Insel oben auf den Klippen wie die Zinnen auf einer Burgmauer. Manche hatten Ferngläser bei sich, andere beschirmten ihre Augen mit der Hand und blickten aufs Meer hinaus und hinab in die Tiefe. Bis zu vierzig Meter hoben sich die majestätischen Felsen des Oberlands aus dem Meer. Sich ganz nach vorne an den Rand zu wagen, war an vielen Stellen durchaus ein gefährliches Unterfangen. Mehr als einmal hatte Anna Angst, sie könnten womöglich ein Leben retten, indem sie ein anderes opferten. Inzwischen war ganz Helgoland von unzähligen Booten umgeben, die jeden Quadratmeter Meeresoberfläche absuchten, als ginge es um einen Golfball und nicht um ein Kind mit Schwimmweste, das man ja weithin sehen musste. Allein, man sah es nicht. Niemand sah es. Immer wieder wanderte auch Annas Blick hinaus aufs Wasser und hinab zum Fuß der Klippen, stets bereit, das Schreckliche zu entdecken: einen zerschmetterten Körper, der von den Wellen wieder und wieder an den Fels geschleudert wurde oder der sich langsam auf eine der schmalen Sandbänke schob, um dort zwischen Seetang, Müll und Möwen liegen zu bleiben, bis sich jemand zu ihm abgeseilt hatte. Doch weder sie noch einer der anderen Beobachter entdeckte den Jungen. Die ganze Schule stand draußen auf den Klippen. Die Idee von Paul war gut gewesen. So schnell hätte niemand sonst so viele Helfer auf die Beine bringen können. Und dennoch: Solange keiner eine Entdeckung machte, war das alles vergebens. Und je mehr Zeit verging, umso tödlicher wurde die Gewissheit, dass der Junge nicht auftauchen würde. Trotz all der Menschen, die nach ihm suchten. Trotz der Boote und Schiffe draußen. Trotz der Seenotrettung, die inzwischen Nordnordwest kreuzte und dem Halunder Jet, der jenseits der Schwesterinsel Düne das Meer absuchte.

17. April, 22.08 Uhr

»Er ist kein zuverlässiger Bote.«

»Er ist der Einzige, den wir haben.«

»Ich traue ihm nicht.«

»Dafür gibt es keinen Grund. Er hat die Operation von Anfang an unterstützt.«

»Vielleicht ist es ja das. Vielleicht traue ich ihm nicht, weil er von Anfang an nie gezweifelt hat.«

»Hast du etwa gezweifelt? Hast du?«

»Ja. Jeden Augenblick. Du etwa nicht?«

»Nein. Nie.«

»Entweder bist du ein Held oder ein Dummkopf.«

»Das hängt wahrscheinlich vom Ergebnis ab.«

»Da magst du recht haben.« Er blickte durch das winzige Fenster hinaus. »Wo bleibt er denn?«

»Er wird jeden Moment da sein.«

»Wird er das?«

»Das wird er.«

»Gebe Gott, dass du dich nicht täuschst.«

2

»Ich kenne ihn«, sagte Anna. »Er ist einmal in Henry’s Hummerbude hineingekommen auf der Suche nach seinem Bruder.«

Paul Freitag nickte. »Jeder kennt ihn. Fritjof. Er ist ein armes Schwein. Ein psychisches Wrack, seit er fünf Jahre alt war.« Er seufzte. »Das macht der Krieg aus Menschen. Ruinen.«

»Ich wusste gar nicht, dass du so ein Poet bist«, sagte Saskia, und es war offenbar nicht ironisch gemeint. Saskia Berneking war die Neue auf dem Revier. Sie war für Annas Geschmack von allem etwas zu viel: zu jung, zu attraktiv, zu sehr an Paul interessiert. Und an anderen Männern. Allen anderen Männern, wie es schien.

Paul schüttelte den Kopf. »Da ist nichts Poetisches dran. Es ist einfach nur bitter.«

»Und du bist sicher, er hat nicht wirklich was gesehen?«

»Was sollte er gesehen haben? Nein, Fritjof fantasiert. Seit über siebzig Jahren sieht er dieselben Dinge. Und sie finden alle in seinem Kopf statt.« Seufzend stand der Leiter des kleinen Polizeipostens auf und trat ans Fenster. »Der Alte ist versorgt. Was jetzt viel wichtiger ist: Was ist aus dem Jungen geworden?«

Anna zog die Akte zu sich, die Paul angelegt hatte. Obenauf lag ein Bild von dem Zehnjährigen: Nils Michelsen junior. Netter Junge. Blond. Sommersprossen. Große braune Augen, etwas vorstehende Schneidezähne. Leichte Segelohren. Aber durchaus ein hübsches Kind. »Junior?«

»Weil sein Vater genauso heißt«, erklärte Paul.

»Die genaue Position, wo das Boot gefunden wurde …«

»Hat uns Kielhorn gleich durchgegeben. Die Stelle und alles, was in der Nähe liegt, haben die zentimeterweise abgesucht. Bis rüber zur Düne.« Er atmete schwer. »Nichts.«

»Es scheint dich mitzunehmen, Paul«, sagte Saskia mit gefühlvoller Stimme.

»Ein Zehnjähriger!« Er drehte sich um. Seine Augen schimmerten. »Meine Tochter ist neun. Wenn ich mir vorstelle, dass sie da draußen bleibt …«

»Vielleicht finden sie ihn ja noch.«

»Ich weiß nicht, ob ich mir das wünschen soll.«

»Also hör mal …«, warf Saskia ein, doch Paul schüttelte den Kopf. »Er kann nicht mehr leben, verstehst du? Niemand würde nach so langer Zeit noch leben. Entweder ist er ertrunken oder an den Klippen erschlagen worden.«

»Er könnte an den Strand der Düne getrieben sein«, schlug Saskia vor.

»Das würde erstens die Strömung nicht zulassen«, erklärte Paul. »Und zweitens wäre er dann längst gefunden worden. Nein, Saskia, der Junge ist tot.«

Anna schob die Akte wieder zurück. »Hoffentlich finden wir ihn bald«, sagte sie leise. »Es ist wichtig für die Familie.«

»Ja«, seufzte Paul. »Das ist es. Gewissheit ist immer wichtig.«

»Müssen wir die Kollegen von der Kripo verständigen?«

Paul schüttelte den Kopf. »Ich hab schon mit Kiel telefoniert. Die sehen keinen Anlass für Ermittlungen. Das war ein Unfall. Unmittelbar vorher ist der Junge ja noch im Rennen gewesen. Tausend Zeugen. Und die Anforderungen an die Teilnehmer sind so extrem, dass sowieso keiner eine Hand freihätte, um einen Rivalen aus dem Boot zu stoßen. Ganz abgesehen davon, dass es rein technisch kaum geht.«

Anna stand auf und ging hinüber zur Kaffeemaschine. »Was mich wundert: Die müssten auf ihren Booten doch alle gesichert sein.«

»Ja«, sagte Paul. »Das hab ich auch gefragt. Aber Kielhorn sagt, viele machen das nicht, weil sie sich nicht retten können, falls das Boot kentert und sie daran festgebunden sind.«

»Macht Sinn«, stimmte Saskia zu. »Wer schwimmen kann, ist vermutlich ohne Seil sicherer.«

»Schwimmen können die alle«, erklärte Paul und nahm Anna die Tasse aus der Hand, die sie ihm hinhielt. »Danke.«

»Und die Eltern?«, fragte Anna, während sie sich wieder setzte.

»Sind natürlich am Boden zerstört. Das heißt: der Vater. Die Mutter ist nicht dabei.«

Anna hatte es übernommen, nach Dienstschluss noch einmal im Klinikum vorbeizusehen. Der Alte lag friedlich in seinem Bett und schlief. Sie hatten ihm ein Beruhigungsmittel gegeben. Er sah aus wie der Großvater, den Anna nie gehabt hatte: freundlich, gütig, weise. Unvorstellbar, dass er sie vor wenigen Stunden noch zu Tode erschreckt hatte. Die Fratze, mit der er in der Polizeistation aufgetaucht war, schien einem gänzlich Fremden zu gehören. Als wohnten zwei Seelen in seiner Brust. Dr. Jekyll und Mr. Hyde.

Anna zog einen Stuhl heran und setzte sich zu ihm. Durch das Fenster fiel ein letztes schwaches Leuchten des Abendhimmels. Eine friedliche Stimmung lag über Helgoland, und Anna war dankbar, dass sie hierher zurückgekehrt war. Es war ihr schwer genug gefallen. Und am Anfang war es unerträglich gewesen. Doch jetzt war sie endlich angekommen. Fühlte sich eins mit der Insel, auf der sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte. Wollte, konnte sich nicht mehr vorstellen, an einem anderen Ort zu leben. Trotz Stalin, ihrem persönlichen Folterknecht, dem Monstrum, das in ihrem Schädel hauste und in ebenso unregelmäßigen wie unberechenbaren Abständen versuchte, sie zu zerstören. Medizinisch gesehen war es zweifellos eine Migräne. Psychologisch mochte man es als posttraumatische Belastungsstörung betrachten, wie man Anna in den zurückliegenden Monaten mehrmals erklärt hatte. Persönlich gesehen war Stalin schlicht ein niemals endender Albtraum, den sie durchleben musste und seit einiger Zeit – genau genommen, seit sie begonnen hatte, ihn als eigenes Wesen zu sehen – wie ein Actionspiel der harten Sorte betrachtete. Der ganz harten Sorte. Aber Anna war ja auch hart geworden. Sie hatte sich angewöhnt, ihr ganzes Wesen in verschiedene Teile aufzuspalten und jedem Teil eine eigene Existenz zuzugestehen: Es gab die freundliche, unkomplizierte Anna Krüger, die ebenso umgänglich war wie oberflächlich. Es gab die verschlossene Anna, deren Geheimnisse im Verborgenen blieben. Die toughe Anna Krüger, die ihren Job machte und sich allem und jedem entgegenstellte wie ein Fels, unbeeindruckbar und kantig. Und es gab natürlich auch die sanftmütige, romantische, verletzliche Anna – die Anna, die niemand jemals kennenlernen würde. Die den Flug der Möwen liebte und das Glühen der roten Felsen im Sonnenlicht. Sinéad O’Connor und Jasmintee. Diese Anna Krüger ging niemanden etwas an, sie hielt sie vor Dritten verborgen und erlaubte ihr nur, hervorzukommen, wenn sie sicher war, dass niemand sie entdeckte.

Das müde Leuchten der Abendsonne begann zu erlöschen. Der Nachthimmel würde nun schnell über die Insel kriechen. So wolkenlos, wie es die letzten Wochen gewesen war, würde auch diese Nacht kühl und sternenklar werden. Ein leises »Pling« riss Anna aus ihren Gedanken. Eine Nachricht.

Alles okay?

Paul. Seit sie an ihren ersten Tagen auf Helgoland beinahe ums Leben gekommen wäre, war er zum Kontrollfreak geworden. Alles okay, schrieb sie zurück und steckte das Handy wieder weg.

»Ich habe ihn gesehen«, sagte der alte Mann auf dem Bett so unvermittelt, dass Anna zusammenzuckte.

»Wen … wen haben Sie gesehen?«, fragte sie, als sie sich gefasst hatte. Der Alte war ganz ruhig. Seine Augen hatte er weiterhin geschlossen. Vielleicht fantasierte er? Vielleicht schlief er und träumte nur. Redete im Schlaf.

»Er war wieder dort.« Die Stimme des Alten war müde und brüchig. Aber seine Worte waren klar und deutlich.

»Wer?«, fragte Anna mit möglichst ruhiger Stimme, doch ihr Herz klopfte heftig. »Und wo?«

»Er … ist … gar nicht tot.« Mit einem Mal ging sein Atem schneller. Er schien sich aufzuregen. Anna stand auf und trat neben ihn, um herauszufinden, ob er tatsächlich wach war. Behutsam legte sie die Hand auf seinen Arm, um ihn nicht zu erschrecken. »Wer war dort?«, wiederholte sie und beugte sich ein klein wenig näher zu ihm.

In dem Moment ging die Tür auf, und die Krankenschwester trat herein. »Gibt es ein Problem?«, fragte sie vordergründig freundlich.

»Überhaupt nicht«, beeilte sich Anna zu sagen. »Es ist alles in Ordnung.« Sie nickte zu dem alten Mann hin. »Ist er bei Bewusstsein?«

Die Krankenschwester trat ans Bett, schob Annas Hand beiseite und griff nach dem zitternden Arm des Mannes, um seinen Puls zu messen. Sie musterte die Polizistin. »Sie sollten jetzt gehen, er regt sich auf.«

»Ich habe ihn … gesehen«, murmelte der Alte und öffnete die Augen. »Er ist … gar nicht tot.«

»Beruhigen Sie sich, Herr Hagedorn.« Die Krankenschwester nahm eine Pille aus ihrer Kitteltasche und schob eine Hand unter seinen Kopf. »Jetzt trinken wir mal ein Glas Wasser und schlucken eine Tablette. Mund auf!« Der Alte gehorchte und ließ sich die Tablette auf die Zunge legen. Vom Nachttisch nahm die Schwester ein Glas mit Wasser und führte es an seine Lippen. Einen Augenblick lang zögerte der Alte, seine Augen suchten die Polizistin, kurz schien er sich zu sträuben. Doch mit der Routine vieler Jahre renitenter Patienten zwang die Schwester ihn mit sanfter Gewalt, zu trinken und die Medizin zu schlucken. »So ist es gut, Herr Hagedorn. Und jetzt schlafen wir wieder ein bisschen.« Sie ließ seinen Kopf auf das Kissen zurückgleiten und wandte sich zu Anna um. »Sie sind ja immer noch da.«

»Ich gehe jetzt.«

»Ich begleite Sie hinaus.« Widerwillig ließ Anna sich von der Frau auf den Flur eskortieren. Sie fragte sich, ob die Maßnahmen der Klinik überhaupt vom Gesetz gedeckt waren. »Hat der Mann sein Einverständnis erteilt?«

»Einverständnis? Wozu?«

»Zu der Behandlung«, sagte Anna. »Zur Art der Behandlung.«

Die Krankenschwester zog eine Augenbraue in die Höhe. »Fragen Sie Ihren Kater auch, ob er geimpft werden will?«

Anna atmete scharf ein. »Schwester …«

»Monika.«

»Schwester Monika, Sie bringen mich jetzt bitte zu Doktor Bause.« Ihr Blick ließ keinen Zweifel daran, dass sie mit dem Vorgehen der Schwester nicht einverstanden war und dass die Szene eben ein Nachspiel haben würde.

Ob Doktor Bause jemals eine andere Miene aufsetzte als die, mit der ihn Anna Krüger seit ihrer ersten Begegnung kannte? Skepsis und Überheblichkeit spiegelten sich darin, Ablehnung und Kalkül. Sie konnte den Mann nicht leiden. Aber als Chef des Insel-Klinikums war er hier eine Instanz. Sie würde also wohl oder übel immer wieder mit ihm zurechtkommen müssen. »Wenn ich Sie richtig verstehe, üben Sie Kritik an unserer Arbeit, Frau Krüger?« Er nahm seine Brille ab und putzte sie am Revers seines Kittels.

»Darum geht es gar nicht, Doktor Bause«, erklärte Anna und versuchte, nicht allzu unfreundlich zu klingen.

»Sondern?«

»Ich frage mich nur, ob der Behandlung des Patienten Fritjof Hagedorn das nötige Einverständnis zugrunde liegt.«

»Sie fragen sich? Oder Sie fragen mich?«

»Ich frage Sie.«

»Und wessen Einverständnis wäre das nach Ihrer Meinung?«

»Das des Patienten natürlich.« Anna konnte nicht umhin, den Arzt zu mustern, während sie die Worte aussprach. Doch Bause war so abgebrüht, wie ein Mediziner in leitender Position nur sein konnte. Er setzte in aller Ruhe seine Brille wieder auf, beugte sich vor, verschränkte die Hände und sagte so ruhig, als spräche er mit einem kleinen Kind: »In Fällen der Unzurechnungsfähigkeit können Sie nicht das Einverständnis des Patienten einholen. Da erfordert der hippokratische Eid bei akuter Gefahr sofortiges Handeln. Und wenn Sie besonderes Verantwortungsbewusstsein haben, dann holen Sie das Einverständnis der nächsten Angehörigen ein.«

»Was Sie sicherlich getan haben?«

»Sicher. Das haben wir. In dem Fall das der Tochter, bei der der Patient ja auch lebt.«

»Und diese Tochter …«

»Ist studierte Psychologin und betreut ihren Vater seit vielen Jahren liebevoll und fürsorglich.«

»Verstehe.« Anna sah ein, dass es hier nichts zu kritisieren gab. Der Arzt hatte nicht anders handeln können. Obwohl ihr die Medikation fragwürdig erschien. Weshalb musste ein Patient, wenn er ruhig war, noch ruhiger gestellt werden? Bause hatte ein Lächeln aufgesetzt, während seine Augen eisig auf Anna starrten. »Sonst noch etwas?«

»Nein«, entgegnete sie. »Ich danke Ihnen für die Auskunft.«

»Immer gerne. Einen schönen Abend noch.«

Keine zwei Minuten später stand Anna wieder vor dem Klinikum und blickte hinüber zum Hafen. Einige der Boote waren beleuchtet. Sie hatten bis jetzt gesucht und kamen nun nach und nach herein. In der Nacht hatte es keinen Sinn. Lebend würden sie den Jungen ohnehin nicht mehr finden. Wenn sie ihn überhaupt jemals fanden. Was für eine Katastrophe. Was für ein Tag.

Aus der Ferne konnte Anna die Stimme des Veranstalters hören. Heiser schrie er jeden an, der auch nur in seine Nähe kam. Klar, Kielhorn stand enorm unter Druck. Wenn die Geschichte von dem verschwundenen Jungen erst einmal die Runde machte, konnte er mit seinem Opti-Cup einpacken. Wer würde sein Kind noch in die Nordsee auf Regatta schicken, wenn das Meer es sich womöglich holte.

Anna liebte das Meer. Aber sie fürchtete es auch. Es war eine Liebe aus respektvoller Distanz. Absurd eigentlich an einem Ort, der sich letztlich durch die Allgegenwart von Wasser definierte. So klein, so verletzlich war die Insel, die weit draußen in der Deutschen Bucht lag. Und doch war sie der eine Fels, der so manchem Schiffbrüchigen das Leben gerettet hatte. Dem Jungen aber offenbar nicht. Vermutlich hatte ihn die Strömung abgetrieben. Vielleicht würde man ihn irgendwo anders finden. Bleich und aufgedunsen. Das, was von ihm übrig war. Sommersprossen, dachte sie. Er hatte Sommersprossen. Und braune Augen.

Anna brachte es nicht über sich, einfach nach Hause zu gehen. Nicht nachdem, was an diesem verdammten Tag geschehen war. Sie würde noch ein wenig über die Klippen gehen. Natürlich war es sinnlos und würde nichts bringen. Aber irgendwie hatte sie das Gefühl, sie sei es dem Jungen schuldig, noch einen letzten Blick übers Meer und die Felsen hinabzuwerfen. An diesen Sommertagen, wenn in der Abendstimmung die Hitze vom roten Stein der Insel abstrahlte, lag manchmal eine melancholische Stimmung über Helgoland. So jedenfalls empfand es Anna. Da niemand sie daheim erwartete, lief sie oft noch eine Runde über das Oberland, vorbei am Leuchtturm und hinüber zur Langen Anna, die den markanten Pfeiler bildete, der seit Menschengedenken den Elementen trotzte und nach dem Anna benannt worden war.

So tat sie es auch an jenem Abend, an dem sich zuerst noch einige Menschen auf den Pfaden, die die von Kratern übersäte Oberfläche der Insel durchzogen, zeigten, müde von der Suche nach dem Jungen, frustriert von der Ergebnislosigkeit, schockiert von der Erkenntnis, dass ein unschuldiges Leben von der See geholt worden war und niemand es gesehen hatte. Anna spürte, wie die Hilflosigkeit der Situation auch an ihrem Herzen nagte. Und wie Stalin aus seinem Winkel kroch, um sie zu bestrafen, obwohl sie doch völlig unschuldig war.

Da stand sie, die Lange Anna, stolz und zerbrechlich. Ein Wunder, dass es den Felsen noch gab, dass er all die Sturmfluten der Jahrhunderte und den Bombenterror der Briten überlebt hatte. Ein Trost für Anna, die sich diesem steingewordenen Zeugnis der Grausamkeiten so unendlich verbunden fühlte, weil er sie nicht nur an ihre eigenen Verletzungen erinnerte, sondern vor allem daran, dass auch sie immer noch im Leben stand. Etwas, das nicht selbstverständlich war.

»Man kann sich nicht an ihr sattsehen, was?«, sagte plötzlich jemand, der sich neben sie gestellt hatte, ohne dass sie ihn kommen gesehen hätte. Es war Doktor Rückert, Annas alter Englischlehrer, dessen schmale Gestalt über einen Stock gebeugt stand, wie Anna erschrocken feststellte. War er schon so gebrechlich?

»Wer weiß, wie lange es sie noch gibt.«

»Oh, diese Felsnadel wird uns alle überleben.« Der alte Mann nickte versonnen. »Die steht schon so lange, die hat schon so viel mitgemacht …«

Anna schenkte ihm ein Lächeln, obwohl die Kopfschmerzen langsam heftiger wurden. »Ich hoffe, Sie haben recht, Doktor Rückert.«

»Ich geh dann mal weiter. Auf Wiedersehen, Anna.«

»Auf Wiedersehen.« Sie blickte ihm hinterher, wie er trotz Stock bemerkenswert zügig den Klippenrandweg Richtung Schule lief. Wie alt mochte er sein? Siebzig? Er hätte auch gut für achtzig durchgehen können. Seufzend warf Anna noch einen Blick auf ihre steinerne Namensvetterin und nahm dann ihrerseits den Weg in die andere Richtung, über die östliche Seite der Klippen, wo der Blick über die Düne schon ein Blick in die Nacht zu werden begann. Die Segel- und Motorboote waren längst alle im Hafen. Von der Düne blitzten ein paar Lichter herüber, einige beleuchtete Bojen und die Frachter, die draußen auf Reede lagen, bildeten Fixpunkte in der tiefen Dämmerung. Und es wurde kälter. Deutlich kälter. Das ging auf der Insel unglaublich schnell. Der Wind nahm alle Wärme, die noch in der Luft lag, mit sich, und der Fels kühlte aus.

Ehe sie auf die Schrebergärten stieß, die sie mied, wann immer sie konnte, bog Anna vom Weg ab und marschierte quer übers freie Gelände, zwischen den gigantischen Bombentrichtern hindurch, die der Krieg hinterlassen hatte, hinüber Richtung Leuchtturmstraße. Rechts lag ihre alte Schule, links ging es zur Kirche – und zum Friedhof, über den sie direkt zu dem Haus kam, in dem sie sich eine Wohnung genommen hatte. Und das war auch ihre Strecke: über den Friedhof. Wo sie einen Moment an Leos Grab stehen bleiben würde. Sie bückte sich und riss ein paar halb vertrocknete Wiesenblumen ab, die sie an sein Kreuz legen würde. Leos Kreuz. Denn Leo war für sie auf dieser Insel der Anfang und das Ende. Mit ihm hatte alles Glück und alles Unglück für Anna begonnen, mit seinem Tod hatte ihr Leben allen Sinn verloren, und dennoch hatte er ihrer Rückkehr auf die Insel einen Sinn gegeben.

Da sich sonst niemand um das Grab kümmerte, kam sie ein-, zweimal die Woche vorbei und legte Blumen an sein Kreuz. Ein Symbol dafür, dass er in ihr lebendig war. Und es immer bleiben würde. »Hi«, sagte sie leise. »Schwere Zeiten. Ein Junge ist über Bord gegangen. Keine Chance, dass er noch gefunden wird. Lebend.« Sie fuhr mit den Fingerspitzen zärtlich über das Holzkreuz, als könnte er es spüren. »Er war erst zehn.«

Leo war sechzehn gewesen, als ihn ein paar Gleichaltrige die Klippen hinabgestoßen hatten. Er hatte keine Chance gehabt, es zu überleben. Vielleicht, wenn man ihn gleich gefunden hätte … Aber ohne jemanden, der Hilfe rief? Dabei hatte es einen Augenzeugen gegeben. Marten. Annas späteren Kollegen. Nur dass der es nicht gewagt hatte, irgendjemandem etwas zu sagen.

Stalin bohrte inzwischen mit all seiner Gehässigkeit in Annas Gehirn. Der Schmerz verlief senkrecht, als hätte ihr jemand einen Nagel durch die rechte Seite der Schädeldecke getrieben, der bis in den Kiefer hinabreichte. Sie brauchte ihre Tabletten. Sie musste nach Hause. »Bye«, flüsterte sie und wandte sich ab. Da sah sie ihn. Er stand hinter der Ecke des Kirchengebäudes. Nur der Kopf ragte um die Ecke. Anna hätte ihn beinahe nicht wahrgenommen. Umso tiefer durchfuhr sie der Schreck, als sie ihn dort schließlich sah. Klein. Er mochte ihr vielleicht bis zur Brust reichen. »Hallo?«, hörte sie sich selbst sagen und machte einen Schritt auf ihn zu. Schon war der Kopf verschwunden. »Hallo?« Hastig stolperte Anna über zwei Gräber hinter ihm her, auf die Ecke des Kirchengebäudes zu. »Du! Bleib stehen!« Die Haare. Die Augen. Das war er! Er musste es sein! Schon war Anna an der Kirche angekommen und hörte ihre eigenen Schritte im Kies. Ein Blick um die Ecke: Der Kleine lief hinüber zur Friedhofsmauer, sie konnte ihn genau erkennen. »Bleib stehen! Ich tu dir nichts!« Mit wenigen Sätzen war Anna drüben und sah ihn gerade noch um die Ecke Richtung Rekwai abbiegen. Sie glaubte schon, ihn verloren zu haben, da sah sie etwas weiter entfernt einen Schatten zwischen den Häusern hindurchhuschen. Er will Richtung Unterland! schoss es ihr durch den Kopf. In der Richtung lag die Treppe, die vom tiefer gelegenen Teil der Insel herauf zum Oberland führte. Anna ignorierte den dröhnenden Schmerz in ihrem Schädel und rannte hinterher. Warum blieb er nicht stehen? Es war nur der Bruchteil eines Gedankens, aber ja, wer wusste schon, was das Kind erlebt hatte. Er hatte Angst. Vor ihr? Egal. Sie musste ihn erwischen. Noch drei Häuser, dann war sie an der Treppe. Noch zwei. Ja, dort vorne erkannte sie schon den Anfang der Treppe. Wenn sie jetzt schnell war, dann … Sie flog förmlich zum ersten Absatz hinunter, wo der Weg einen Knick machte. Um Atem ringend, blieb sie stehen und blickte hinunter. Ein paar Meter weiter teilte sich der Weg in zwei Richtungen auf. Links ging es Richtung Nordosthafen, rechts zum Fahrstuhl und dem Durchgang Richtung Binnenreede. In den meisten Häusern brannte Licht. Vereinzelt waren Spaziergänger zu sehen, Touristen, die noch einen Abendspaziergang machten. Einheimische, die in die Kneipe gingen oder nach Hause. Leben. Doch der Junge war verschwunden. Weg. »Weg!«, keuchte Anna, als würde irgendjemand ihr zuhören. Sie drehte sich um die eigene Achse. Er war weg. Der Junge war verschwunden. Nils Michelsen. Denn das war er gewesen. Ohne jede Frage.

»Du hast was?«

»Ich hab den Jungen gesehen, Paul«, sagte Anna. Sie spürte immer noch ein leichtes Zittern am ganzen Körper. Wenn man denkt, dass jemand tot ist, wenn man sicher davon ausgeht, und dann steht er plötzlich lebend vor einem, dann ist das wie ein elektrischer Schlag. So jedenfalls empfand Anna Krüger es jetzt, da sie im dunklen Schlafzimmer ihrer kleinen Wohnung stand und aus dem Fenster hinunter auf den Friedhof blickte, als würde der Junge jeden Moment wieder dort auftauchen, während sie versuchte, Stalin in ihrem Kopf niederzuringen.

»Bist du sicher?« Es war mehr als deutlich zu hören, dass Paul ihr nicht glaubte. »Vielleicht hast du einen anderen Jungen gesehen. Hat er denn was gesagt?«

»Nein. Ich wollte mit ihm reden. Aber er ist weggelaufen.«

»Und du bist ihm nicht hinterher?«

»Bin ich, Paul. Aber ich hab ihn nicht erwischt. Der Kleine war flink. Und es war auch schon fast dunkel.«

»Es war schon fast dunkel«, wiederholte Paul. Klar. Wer würde schon ein Kind vom anderen in der Dunkelheit sicher unterscheiden können. »Was hatte er denn an?«

»Keine Ahnung. Er war … dunkel angezogen.«

»Keine Rettungsweste also?«

»Nein, natürlich nicht.« Natürlich nicht? Warum eigentlich? Als der Junge verschollen war, hatte er eine angehabt.

»Hör mal, Anna«, sagte Paul. »Vielleicht sah der Junge dem vermissten Kind ähnlich. Aber wenn du nicht mal mit ihm sprechen konntest, wenn wir nicht wissen, wo er hin ist …«

»Schon klar, Paul. Du hast recht. Wir können nichts machen.« Konnte es sein, dass sie sich im Zwielicht des spärlich beleuchteten Kirchhofs geirrt und ein anderes Kind gesehen hatte?

»Doch. Wir tun, was wir können«, erklärte Paul. »Der Junge wird sowieso vermisst. Er wurde den ganzen Tag gesucht. Wenn wir morgen eine offizielle Vermisstenmeldung aufnehmen, werden wir weiter nach ihm suchen. Bis wir ihn gefunden haben. Hoffentlich.«

»Hoffentlich«, sagte auch Anna ganz leise.

»Und dir geht es gut?« Eine Frage, so harmlos. Und doch versetzte sie Anna einen Stich. »Alles okay«, sagte sie gepresst.

»Ich meine: die Kopfschmerzen und so …« Er glaubte ihr nicht. Auch wenn er es nicht aussprach, Anna spürte, dass er sich überlegte, ob sie sich das mit dem Jungen nicht unter einer Migräneattacke zusammengesponnen hatte. »Meinem Kopf geht es gut, Paul«, antwortete sie, vielleicht etwas schroffer als beabsichtigt. »Ich leide an Migräne, nicht an Halluzinationen.«

»Entschuldige«, sagte Paul schnell. »So habe ich das nicht gemeint.«

Ein kurzes Schweigen. »Schon klar«, erwiderte Anna, bemüht, versöhnlich zu klingen, obwohl der Verdacht sie getroffen hatte. »Alles gut.«

»Okay. Dann gute Nacht.«

»Gute Nacht, Paul.« Sie legte auf. Wahnvorstellungen. Es hätte sie nicht überrascht, wenn Stalin sie irgendwann in den Wahnsinn getrieben hätte. Vielleicht würde es dann wirklich mit Halluzinationen beginnen. Eines Tages. Aber nicht jetzt. Sie wusste, was sie gesehen hatte. Nachdenklich wanderte ihr Blick über den nächtlichen Friedhof. Aber der war leer. Niemand mehr, der die Toten suchte. Nur das Bild des Jungen, der dort drüben am Kirchengebäude gestanden hatte, das hatte sich in Annas Gehirn eingebrannt. Sie konnte es noch genau sehen. Und es war der vermisste Junge.

Nils Michelsen war ein gut aussehender Mann. Drahtig, mit hoher Stirn und strahlend blauen Augen, würde er unter anderen Umständen zweifellos einen willensstarken Eindruck machen. Doch angesichts der Situation, in der er sich befand, wirkte er zerbrechlich und notdürftig um Haltung bemüht. Paul war der Richtige, um das Gespräch mit ihm zu führen. Anna saß als Protokollantin dabei. Denn auch wenn alle wussten, dass der Junge verschwunden war, bedurfte es doch immer noch einer förmlichen Vermisstenanzeige, um weitere polizeiliche Maßnahmen zu rechtfertigen.

Dürr, das waren die Fakten. Nichts, was sie nicht längst gewusst hätten. Ja, zum Teil wussten sie sogar mehr als der Vater des Jungen. Beispielsweise, dass man einen Turnschuh gefunden hatte. Im Hafen. Die Hohlräume in der Plastiksohle hatten ihn an der Oberfläche gehalten. »Kennen Sie Nils’ Schuhgröße?«, fragte Paul.

Der Mann zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht. Mein Gott, er war zehn. Ist zehn …« Tränen schwammen in seinen Augen. »Was hat man da für eine Schuhgröße?«

Paul nickte Anna zu, die einen Strich in das betreffende Feld machte. »Es wurde ein Schuh gefunden. Wir würden ihn Ihnen gerne zeigen, damit Sie uns sagen, ob er von Ihrem Sohn stammt.« Ohne eine Antwort von Nils Michelsen senior abzuwarten, stand der Polizeiobermeister auf, ging in den Nebenraum und holte einen durchsichtigen Beutel mit einem Kinderturnschuh. Puma. Weiß mit blauem Streifen. »Ist der von Nils?«

Der Mann schluckte. Nickte. Biss die Zähne zusammen und nickte abermals. »Ja«, sagte er dann mit rauer Stimme. »Sieht aus wie die von Nils.«

»Gut.« Paul stellte den Turnschuh beiseite. Dann beugte er sich etwas vor und versuchte es mit seinem einfühlsamsten Blick. »Ich muss Sie das fragen, Herr Michelsen. Hatte Ihr Sohn Probleme?«

»Probleme? Was meinen Sie damit?« Der Mann rückte mit seinem Stuhl etwas zurück. »Was soll ein Zehnjähriger für Probleme haben? Fragen Sie mich als Nächstes, ob er Feinde hatte?« Seine Stimme war jetzt gereizt, und er blickte abwechselnd zu Paul und zu Anna, als müsste er sich gegen eine heimtückische Unterstellung wehren.

»Nein, Herr Michelsen, das hatte ich nicht vor. Worauf ich hinauswill, ist: Gab es etwas, das Nils belastet hat? Vielleicht hatten Sie mit ihm geschimpft? Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Kind wegläuft, weil es sich ungerecht behandelt fühlt.«

»Er ist nicht weggelaufen, Mann!« Nils Michelsen stand auf und stemmte sich mit den Händen auf die Schreibtischplatte. Die Luft in der kleinen Polizeistation war plötzlich elektrisiert. Der Vater des Jungen schien mit einem Mal mit einer ungeheuren Energie geladen. »Bitte setzen Sie sich doch wieder«, sagte Paul so ruhig, wie er nur konnte. Er deutete auf Michelsens Stuhl. Zögerlich setzte der Mann sich wieder hin. »Aber er hätte aus dem Boot springen und an Land schwimmen können …« Mit beiden Händen gebot er seinem Besucher, die Ruhe zu bewahren. »Es wäre nun einmal nicht die schlechteste Variante, oder? Wenn wir ehrlich sind, wäre das wohl etwas, was wir uns nur wünschen könnten. Angesichts der möglichen Alternativen. Habe ich recht, Herr Michelsen?«

Der Mann nickte. Nach einem kurzen Zögern sagte er: »Nils hatte keine Probleme. Nicht, dass ich wüsste. Ich habe nicht mit ihm geschimpft, es gab keinen Streit – und ich weiß auch sonst nichts, das ihn … belastet hätte. Nicht wirklich.«

»Gut.« Paul nickte. Nicht wirklich? Er blickte kurz zu Anna, die einen entsprechenden Vermerk in ihrem Protokoll machte, und wandte sich dann wieder seinem Gast zu. »Auch das muss ich Sie fragen, Herr Michelsen: Hat Ihr Sohn einmal erwähnt, dass er von zu Hause weggehen möchte?«

»Ich bitte Sie, er ist zehn!«

Paul regte sich nicht, sein Blick ruhte auf dem Vater.

»Nein. Hat er nicht.«

»Hat er irgendwelche Medikamente genommen?« Er hob die Hand. »Und ehe Sie das falsch verstehen: Es bestünde ja die Möglichkeit, dass er seine Medikamente nicht genommen hat, ohnmächtig wurde und aus dem Boot gefallen ist. Zum Beispiel.«

»Verstehe«, flüsterte der Mann und sah sich Hilfe suchend in der kleinen Polizeistation um. »Nein. Er musste keine Medikamente nehmen. Er war ein gesunder, glücklicher Junge, der allen zeigen wollte, wie toll er segeln kann.«

»Natürlich. Das ist er.« Anna hörte sehr wohl, dass Paul nicht die Vergangenheitsform benutzte. Und sie hoffte inständig, dass er dem Vater damit nicht falsche Hoffnungen machte.

Elsbeth Schneider kam aus dem Nebenraum und sah gerade noch die Tür hinter dem gebrochenen Mann zufallen. »Schlimme Sache«, murmelte sie. Paul seufzte tief. »Das können Sie laut sagen.«

»Müssen wir es der Kripo melden?«

»Ich habe Kiel schon Bescheid gegeben. Die sehen aktuell keinen Grund, Ermittlungen aufzunehmen. Wir schicken nachher einfach die Protokolle nach Pinneberg. Sollen die sehen, ob sie sie dann noch mal weiterleiten.«

Anna reichte ihre Unterlagen an die Sekretärin weiter. »Danke.«

Elsbeth Schneider nickte. Sie mochte Anna Krüger, nicht nur, weil sie so einen schweren Einstand bei ihrer Rückkehr auf der Insel gehabt hatte. Und Anna mochte Frau Schneider – nicht nur, weil sie nie Fragen stellte, die sie nichts angingen. Elsbeth Schneider war vermutlich die diskreteste Sekretärin, die man haben konnte. Und damit genau richtig auf dem Posten. »Soll ich sie dann rüberschicken?«

»Gerne«, sagte Paul. »Aber lassen Sie mich noch mal einen Blick drauf werfen, ob alles vollständig ist oder ob wir noch was ergänzen sollten.«

»Sicher, Herr Freitag.« Elsbeth Schneider war die Einzige in der kleinen Polizeistation, mit der sich alle siezten und die ihrerseits alle siezte. Die Polizisten waren traditionell vom ersten Tag an beim Du. »Hast du eine Ahnung, wo Saskia bleibt?«, fragte Paul. Denn in der Tat hätte sie längst zum Dienst erscheinen sollen.

»Nein«, sagte Anna. »Hab sie heute noch nicht gesehen.« Saskia hatte es irgendwie geschafft, sich das Obergeschoss eines kleinen Häuschens direkt am Hafen zu mieten. In jeder Hinsicht die perfekte Lage. Und sie hatte sich diese zwei Zimmer mit Küche und Bad in einer Mischung aus Hippie-Studenten-WG und Wohnmagazin-Style eingerichtet: sehr lässig und trotzdem von kühler Eleganz. Die Kollegen waren zur Housewarming-Party eingeladen gewesen. Und obwohl Saskia erst zwei Wochen auf der Insel gewesen war, hatten die Gäste auf den paar Quadratmetern wie die Ölsardinen gestanden. Vor allem auf dem Balkon, der eine einzigartige Aussicht auf den Hafen bot und mit aufblasbaren Poolmöbeln bestückt war. »Soll ich mal anrufen?«

»Ja, bitte.« Paul stand auf und ging hinüber in die Teeküche. Doch schon einen Augenblick später stand er wieder in der Tür und blickte unentschlossen in den Raum.

»Alles okay?«

»Sie suchen heute wieder.«

»Klar. Das würde ich auch erwarten, wenn es mein Sohn wäre.«

Paul nickte. »Lebend werden sie ihn nicht mehr finden.«

»Ja. Das ist leider ziemlich ausgeschlossen.« Es sei denn, er ist doch irgendwo auf der Insel unterwegs, dachte Anna. So wie der Junge gestern Abend. Den sie gesehen hatte. Vielleicht. Wenn sie es sich nicht nur eingebildet hatte. Stalin war über Nacht etwas in den Hintergrund getreten, auch wenn er sie die längste Zeit am Schlafen gehindert hatte. Doch das war sie gewöhnt. Manchmal lag sie Stunden wach und unterhielt sich mit ihm. Ihrem Feind. Ihrem Folterknecht. Dem Terroristen in ihrem Kopf, der sie bei lebendigem Leib zerstückelte. Jedenfalls ihr Gehirn.

»Was ist?« Paul musterte Anna neugierig.

»Ach, ich musste nur an den Jungen von gestern Abend denken.« Sie holte tief Luft. »Das war schon gruselig.«

»Hm.« Er ging wieder zu seinem Schreibtisch, nahm seine Kappe, setzte sie auf und stellte fest: »Zurzeit ist ziemlich vieles gruselig, finde ich. Ich geh jetzt mal raus und sehe nach, wie es um die Suche steht. Erledigst du die Tour?« Zweimal am Tag machten die Polizisten eine Runde über die ganze Insel.

»Wird gemacht, Chef.« Anna versuchte es mit einem Zwinkern. »Paul.« Und er schenkte ihr ein Lächeln.

17. April, 22.30 Uhr

Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. »Wer da?«

»Macht schon auf, bevor mich jemand sieht!«

Die Riegel vor der Tür hätten vermutlich Panzern standgehalten. Aber die Tür selbst war ein Witz. »Endlich! Wo bist du so lange geblieben?«

»Ich konnte nicht gut die Strandpromenade entlanglaufen. Außerdem ist das Zeug schwer.«

»Lass sehen.«

Sie legten das Paket vorsichtig in die Mitte des Raumes und wickelten es aus.

»Die sind viel zu klein.«

»Zu klein? Weißt du, wie schwer es ist, so was zu transportieren, ohne dass es jemand bemerkt? Noch größer und ich hätte unsere Freunde gleich darum bitten können, dass sie mir tragen helfen.«

»Schon gut, kannst dich beruhigen. Unsere Nerven liegen alle blank.«

»Denkst du, sie haben was bemerkt?«

»Kann ich mir nicht vorstellen. Sie würden doch sofort zuschlagen. Die warten doch nicht, bis wir die Operation durchgezogen haben.«

»Vielleicht beobachten sie uns? Wollen herausfinden, wer noch mitmacht?«

»Glaub mir, das würden sie auch auf andere Weise herausbekommen.«

»Ich werde kein Wort sagen. Kein Wort. Lieber sterbe ich.«

»Ha! Das wirst du. Beides. Erst wirst du ihnen alles sagen. Und dann wirst du trotzdem sterben. Und soll ich dir noch etwas verraten? Du wirst gerne sterben. Du wirst sogar darum betteln!«

3

Ein weiterer knochentrockener Tag versengte die Insel. Der Wind sorgte dafür, dass man es nicht so stark spürte. Aber die Wiesen waren braun, die Bäume verloren bereits ihre Blätter, und die Wasserversorgung wurde langsam zum Problem. Natürlich fragten sich alle, ob das bereits eine Auswirkung der Klimaerwärmung war. Einige Scherzbolde nannten Helgoland inzwischen »die Osterinsel«. Die Dürre wäre nicht die erste Katastrophe gewesen, die die Insel heimsuchte. Nach apokalyptischen Sturmfluten und höllischen Bombenangriffen schien der langsame Tod durch Austrocknung geradezu gnädig.

Die Beobachtungsposten waren verschwunden. Draußen auf dem Wasser kreuzten ein paar Segeljachten und natürlich die beiden Motorboote der Wasserwacht. Aber niemand stand mehr auf den Klippen, um nach dem Jungen Ausschau zu halten. Fast niemand. Nur am äußersten nordöstlichen Zipfel starrte ein Mann in die Ferne. Der Vater, den Anna auf der Polizeistation kennengelernt hatte. Anna lenkte das Dienstfahrrad zu ihm hin und blieb in einiger Entfernung stehen. Sie stieg ab und trat behutsam neben ihn. »Es tut mir unendlich leid, dass wir ihn nicht finden konnten«, sagte sie und folgte seinem Blick über die Wellenkämme hinaus aufs offene Meer.

Er schwieg. Was sollte er auch sagen. Alles an ihm schrie förmlich vor Schmerz. Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander. Dann drehte sich Anna zu ihm hin. »Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, lassen Sie es mich wissen.« Sie nahm ihre Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie ihm. Seine Hand zitterte. Auch seine Mundwinkel zitterten, wie Anna bei einem Blick in sein Gesicht feststellte. »War er das erste Mal dabei?«

»Ja«, erwiderte der Mann und atmete schwer. »Ich könnte mich auf der Stelle hier runterstürzen, wenn ich daran denke, dass … dass ich ihn … Wozu das alles?« Er schlug die Hände vors Gesicht. »Ich bin schuld. Ich … bin … schuld!«

»So dürfen Sie nicht denken, Herr Michelsen«, sagte Anna leise und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Es macht den Schmerz nur größer. Und es bringt nichts für Ihren Sohn.«

Er nickte und wandte sich ab. Atmete tief durch und bemühte sich um Haltung. »Soll ich Sie begleiten?«, fragte Anna und deutete auf den Weg.

»Nein, lassen Sie. Ich gehe lieber allein. Danke.« Und im nächsten Augenblick wankte er mit unsicheren Schritten davon.

Vom Süden her konnte Anna den Halunder Jet auf die Insel zuhalten sehen, rot leuchtend in der grellen Mittagssonne. Sie stapfte wieder hinüber zum Fahrrad und drehte ihre Runde zu Ende. Wenn die Fähre anlegte, war es üblich, dass die eingeteilten Kollegen vor Ort waren. Nicht, dass es oft Anlass zu polizeilichen Maßnahmen gegeben hätte. Aber wenn auf einmal Hunderte Menschen auf dem kleinen Eiland ankamen, auf dem ohnehin nur tausend Einwohner lebten, dann war das immer eine sensible Situation.

Als Anna wenig später an den Westkajen ankam, machte das Schiff gerade fest. Es würde noch ein paar Minuten dauern, bis die Passagiere ausstiegen. Saskia stand schon vor Ort und plauderte mit zwei Männern der Mannschaft. Sie hatte das Haar offen, nur von der nach oben geschobenen Sonnenbrille gehalten, sodass ihre blonden Locken im Wind flatterten. Die Matrosen konnten gar nicht wegsehen von ihr. Weshalb sie die Dienstwaffe angelegt hatte, erschloss sich Anna nicht. Es war eigentlich nicht üblich, bewaffnet an den Hafen zu gehen, wenn es keinen Anlass dazu gab. Vermutlich wollte Saskia nur cool wirken. Und das tat sie auch. Cool und sexy. Anna konnte die Hormone der beiden Kerle förmlich bis ans Ende des Kais riechen.

Der Kapitän trat über die Gangway, grüßte knapp, indem er die Hand an die Mütze hob und sah sich um. Er schien immun gegen Saskias Attraktivität. Als er Anna erblickte, kam er auf sie zu. »Moin.«

»Moin, Käpt’n. Wie war die Überfahrt?«

»Bei der See«, sagte er und deutete auf das Meer, das so glatt dalag wie ein Baggersee. »Und? Haben Sie ihn gefunden?«

Anna schüttelte den Kopf. »Nein. Leider.«

»Dachte ich mir. Traurig das.«

»Schrecklich.« Der Kapitän war ein guter Typ. Machte kein großes Aufhebens um seine eigenen Angelegenheiten und interessierte sich für andere. »Danke, dass Sie beim Suchen geholfen haben. Ich hoffe, das hat Ihnen keine Probleme beschert.«

Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Gibt immer ein paar Idioten, die meinen, ihr Termin in Hamburg wäre wichtiger als das Leben eines Kindes. Aber sonst … Meine Reeder sind ja auch keine Unmenschen.«

»Klar. Trotzdem.«

Die beiden betrachteten die Passagiere, die nun nach und nach aus dem Bauch des Halunder Jets kamen. »Wie viele heute?«, fragte Anna.

»Knapp fünfhundert.«

Das waren keine schlechten Zahlen. Das Schiff konnte fast sechshundert Passagiere aufnehmen. Aber komplett voll war es selten. In der Hochsaison war es nah dran, so wie an diesem Tag. Außerhalb der Saison oft halb leer. Aus den Augenwinkeln erkannte Anna Nils Michelsen, der an ihnen Richtung Pier vorbeieilte. »Der Vater«, sagte sie leise und nickte in seine Richtung.

»Gott«, seufzte der Kapitän. »Der arme Mann.«

»Ja.«

Eine Frau entstieg dem Jet, groß, aufrecht, ganz in Schwarz, mit großer Sonnenbrille und streng zurückfrisiertem Haar. Sofort war Anna klar, dass das Frau Michelsen sein musste. Als sie das Schiff verlassen hatte, blieb sie stehen, den Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Nils Michelsen trat auf sie zu, berührte sie an der Schulter. Der Wind trug seine Stimme zu Anna, ohne dass sie hätte verstehen können, was er sagte. Die Frau drehte sich zu ihm, blieb einen Moment reglos, ihn unverwandt anstarrend – und schlug ihm dann so unvermittelt ins Gesicht, dass sein Kopf zur Seite gerissen wurde. Für einen kurzen Augenblick erstarrte die Szenerie am Hafen. Auch die Matrosen und Saskia schienen wie eingefroren. Alle Augen hatten sich auf die beiden gerichtet und sahen, wie die Frau ein weiteres Mal zuschlug. Und noch einmal. Der Mann bewegte sich nicht vom Fleck, sondern ließ die krachenden Ohrfeigen über sich ergehen. Saskia aber fiel nach dem dritten Schlag der Frau in den Arm und zwang sie mit erstaunlicher Autorität, sofort aufzuhören, ohne dass sie selbst dazu hätte mehr Gewalt anwenden müssen als unbedingt nötig.

»Herr Michelsen?«, fragte Anna, die hinzugeeilt war. »Ist alles in Ordnung?«

Der Mann blickte nicht auf. Aber er nickte. »Alles in Ordnung. Danke.« Er sagte es leise, ganz leise.

»Ihre Frau?«

Wieder ein Nicken.

»Brauchen Sie Hilfe?«

»Nein. Ich wüsste nicht, wie Sie mir helfen sollten.« Er hob den Kopf. Die linke Seite seines Gesichts war feuerrot. »Wir gehen jetzt ins Hotel.« Dann drehte er sich um und schritt langsam hinüber Richtung Hafenpromenade.

Saskia ließ die Hände der Frau in Schwarz los und trat etwas zurück. »Danke«, flüsterte die Frau und ging dann langsam hinter ihrem Mann her. Wie eine Prozession folgten ihr die noch verbliebenen Passagiere der Fähre, die stehen geblieben waren. Ein Leichenzug, dachte Anna. Sie sind ein Leichenzug, ohne es zu wissen.

Sie hatte noch etwas Zeit bis zu ihrer Verabredung in Henry’s Hummerbude und spazierte am Binnenhafen entlang zu den Ostkajen. Man konnte ziemlich weit rauslaufen auf diesen Hummerscheren, mit denen sich die Insel ins Meer schob. Wenn Sie über den Hafen schaute, blickte sie genau auf die Stelle, an der die kleinen Opti-Segler um die Ecke gekommen waren. Jetzt war es schon fast dunkel. Aber am helllichten Tag gab es dort nicht die kleinste Möglichkeit, sich zu verbergen – und auch keine Stelle, an der ein Körper hätte unbemerkt bleiben können. Selbst die Betonklötze, die überall entlang der Hafenanlagen aufgeschüttet waren, um die Wellen zu brechen und die Insel gegen Sturm und Gezeiten zu schützen, waren dort drüben harmlos. Anna war so oft dort gewesen, sie kannte praktisch jeden Meter. Jeder hätte den Jungen gesehen, auch wenn ein paar Boote ungünstig in der Sicht standen. Er hätte doch entdeckt werden müssen!

Hatten sie die Besitzer der Boote angesprochen? Hatten sie sie befragt? War jemand auf den Booten gewesen? Änderte es etwas? Nein. Natürlich nicht. Der Junge war bis jetzt nicht mehr aufgetaucht. Lebend würde ihn niemand mehr finden, egal, wo sie suchten.

Es war nicht viel los am Hafen. Die meisten Touristen waren heutzutage nur noch Tagesausflügler, die am Nachmittag wieder auf die Fähre gingen und die Insel mit ihrer Abreise wieder in einen Dornröschenschlaf versinken ließen – bis am nächsten Tag die nächste Fuhre Gäste kam, über den Klippenrandweg stolperte, durch die Gassen schob, etwas zollfreies Zeug kaufte, um dann ebenfalls wieder schnell das Weite zu suchen. Kein Wunder, anders als vor hundert Jahren und anders als Sylt oder Rügen war die Insel heute nicht mehr in, zehrte im Grunde nur noch vom Ruhm einer glanzvollen Vergangenheit. Oder einer düsteren – je nachdem, was man suchte.

Auf einer Bank am Binnenhafen saß ein alter Mann. Erst als sie schon fast vorüber war, erkannte Anna in ihm Fritjof Hagedorn. Er starrte stumm aufs Wasser. Vielleicht auch an die gegenüberliegende Kaimauer, die Anna selbst gerade noch betrachtet hatte. »Guten Abend, Herr Hagedorn«, sagte sie und stellte sich neben ihn. »Geht es Ihnen wieder besser?«

Der alte Mann bewegte zwar leicht den Kopf, aber er sah sie nicht an und antwortete auch nicht.

»Ich habe Sie in die Klinik gebracht«, erklärte Anna. »Mit meinen Kollegen. Anna Krüger von der Polizei. Ich habe Sie auch besucht im Krankenhaus.«

»Er versteht Sie nicht«, hörte Anna eine Stimme in ihrem Rücken. Sie wandte sich um und sah sich einer Frau gegenüber, die ihr schon gelegentlich über den Weg gelaufen war. Es fiel nicht schwer, sich vorzustellen, dass sie die Tochter des Alten war. Sie hatte den gleichen, leicht verhärmten Zug um die Mundwinkel und die gleichen dunklen Augen. Sie sah nicht unsympathisch aus. »Frau Hagedorn?«

»Geest. Aber Sie haben schon richtig geraten: Ich bin seine Tochter.«

»Krüger, von der Polizeidienststelle hier.«

Frau Geest nickte und schob sich dann demonstrativ an Anna vorbei, um sich zu ihrem Vater zu setzen und so den Abstand zwischen ihm und der Polizistin zu vergrößern. »Er braucht jetzt Ruhe«, sagte sie. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie ihn nicht mehr ansprechen.«

Wieder fiel Anna auf, wie sehr es sie störte, dass über den Mann bestimmt wurde. »Sind Sie sicher, dass er das nicht selbst sagen kann? Ich würde ihn gerne selbst fragen.«

Anders als erwartet, reagierte die Frau nicht abwehrend. »Ihre Haltung gefällt mir«, sagte sie. »Die Selbstbestimmung eines Patienten ist ein hohes Gut.« Sie beugte sich zu ihrem Vater hin, nahm seine Hand, drückte sie und sprach behutsam auf ihn ein: »Papa, das ist eine gute Frau. Sie ist von der Polizei und hat sich um dich gekümmert. Kannst du ihr sagen, dass du jetzt ein bisschen Ruhe brauchst?«

Fritjof Hagedorn drehte den Kopf zu Anna und schaute sie einen Moment unverwandt an. Dann nickte er ganz langsam, aber deutlich, wobei er nach dem zweiten Nicken das Kinn auf der Brust ließ und den Kopf nicht mehr hob, sondern scheinbar traurig auf die Planken zu seinen Füßen starrte.

»Danke«, sagte Anna leise. »Tut mir leid, wenn ich aufdringlich war.«

»Sie haben es gut gemeint, Frau Krüger«, sagte die Tochter des Mannes. »Ich kann das schon verstehen. Aber ich muss meinen Vater schützen. Auch vor sich selbst.«

»Was fehlt ihm denn? Wenn ich fragen darf …«

Frau Geest stand auf und bedeutete Anna, ein paar Schritte von der Bank wegzugehen. »Er hat schreckliche Dinge gesehen«, erklärte sie, als sie einige Meter entfernt standen. »Als Fünfjähriger hat er den Krieg miterlebt. Die Bombennacht 1945, als die ganze Insel in Schutt und Asche fiel.«

Anna kannte die Geschichte gut. Jeder Halunder kannte sie. Es war das ewige Inferno, das auf der Insel haftete: Unmittelbar vor Kriegsende hatten die Alliierten Helgoland in einem unvorstellbaren Dauerbombardement in die Hölle verwandelt. Es war buchstäblich nichts mehr auf ihrer Oberfläche übrig geblieben, während die Bewohner sich in die unterirdischen Bunkeranlagen gepfercht hatten und viele dem Irrsinn verfallen waren. »Verstehe«, sagte Anna. »Er saß im Fels und musste das alles mit anhören.«

Die Frau nickte. »Und sein Bruder war nicht dort. Der hatte draußen gespielt und es nicht in den Bunker geschafft.«

»Oh Gott!«

»Man hat ihn nie gefunden.«

Natürlich nicht. Das Kind musste im Bombenhagel zerfetzt worden sein. Etwas anderes war in dem Fall gar nicht vorstellbar. »Ich bin Ihrem Vater schon einmal begegnet. Letzten Winter. Da war er auch wie von Sinnen und hat geschrien, dass er weg wäre. Ich nehme an, er meinte seinen Bruder?«

»Ja«, seufzte Frau Geest. »Er denkt immer noch, er müsste ihn retten. Manchmal denkt er auch, er hätte ihn gesehen. Aber er kann auch nicht genau sagen, wann und wo er ihn gesehen hat. Diese Ausbrüche kommen normalerweise nur bei schweren Gewittern und bei Sturm.«

»Bei Sturm?«

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