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Catching up with the Carters - In your arms

Als Buch hier erhältlich:

Wenn du deinen Gefühlen folgst …

Athena führt das Leben, von dem viele träumen: Glitzer und Luxus pur. Zusammen mit ihrer Familie dreht sie die angesagte Reality-TV-Show »Catching up with the Carters«. Doch der glamouröse Schein trügt. Hinter den Kulissen gibt es heftige Spannungen, und ihre Mutter lenkt den Carter-Clan mit eiserner Hand. Athena weiß, dass sie etwas unternehmen und die Show verändern muss, denn sonst wird der Ruhm der Untergang ihrer Familie sein. Der neue Produktionsassistent Sam steht ihrem Vorhaben allerdings im Weg und scheint eigene Interessen zu verfolgen. Athena ist entschlossen, sich nicht aufhalten zu lassen – egal, wie sehr Sam ihre Gefühle durcheinanderwirbelt und sie sich wünscht, sich in seinen starken Armen zu verlieren …

Das mitreißende Finale der »Catching up with the Carters«-Reihe

»Ganz großes Kino! Mein Herz gehört ab sofort der Catching up with the Carters-Trilogie und hat somit Gossip Girl abgelöst.« Roxy’s Podcast

»Wer auf der Suche nach ganz viel Glamour, tiefen Gefühlen und herzzerreißender Romantik ist , der ist bei den Carters genau an der richtigen Adresse! Die Catching up with the Carters-Reihe ist ein absolutes Muss in jedem Shelfie!« books.with.jenny


  • Erscheinungstag: 25.10.2022
  • Aus der Serie: Catching Up With The Carters
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745703153

Leseprobe

Für Julie und Adrienn.
Danke, dass ihr Teil meiner Familie seid!

PLAYLIST

Can’t Pretend – Tom Odell

Oceans – Seafret

Lost for Words – Plested

Shiver – Mike Waters

Son – Brolly

Safe and Sound – Electric President

Changes – Hayd

See You Through My Eyes – The Head and the Heart

Clean Eyes – SYML

Something Has to Change – Jack Vallier

If You Were Mine – Joe Dolman

Hoping – X Ambassadors

Best Fake Smile – James Bay

island – Will Heggadon

Tired Eyes – Ryan Keen

entertainment – Corey Harper

The Only Living Thing – Adam French

How to Be Yours – Chris Renzema

I Need You Now – Mighty Oaks

Fever – Mark Ambor

Something To Hold On To – Emily Warren

1. KAPITEL

Athena

Soll ich gehen oder bleiben? Schon mein ganzes Leben stelle ich mir diese Frage, aber eine Antwort scheint es nicht zu geben. Zumindest kann ich sie nicht finden.

Ich habe mich auf den Dachvorsprung unter meinem Fenster zurückgezogen, weil es wegen der Vorbereitungen für den Drehbeginn der nächsten Staffel Catching up with the Carters so unerträglich laut in der Villa ist. Doch nun, während ich hier sitze, vor einer Wand aus undurchdringlichen Bäumen, umgeben von Dunkelheit, kann ich die Stille nicht mehr ertragen. Dieses Dach war mein Rückzugsort. Aber ich war nie allein hier.

Wenn mein Bruder nicht bei mir ist, fühlt sich die Stille, die hier herrscht, wie ein schwarzes Loch an, in das ich zu fallen drohe. Doch vielleicht ist es ja besser, von einem schwarzen Loch verschluckt zu werden, als in das Haus zurückzukehren, das hinter mir liegt.

Ich winkle meine Beine an, damit ich meine Arme um sie schlingen kann. Schon seit Monaten fühle ich mich, als würde ich jeden Moment auseinanderfallen. Vielleicht kann ich es so verhindern. Wenn ich meine Arme nur fest genug gegen meinen Körper presse, wird er schon halten.

Oder?

Noch einige Minuten verharre ich in dieser Position. Der Ort hat seine tröstliche Wirkung verloren, trotzdem kann ich mich nicht dazu bringen, aufzustehen.

Soll ich gehen oder bleiben? Vielleicht ist das Problem nicht, dass ich keine Antwort finden kann. Vielleicht habe ich einfach nur Angst vor dem, was passieren könnte, wenn ich sie mir endlich gebe.

Soll ich gehen oder bleiben? Ich rede mir ein, dass sich diese Frage nur auf diesen Moment bezieht. Ob ich noch ein wenig länger auf dem Dach verweilen oder reingehen soll. Aber die Frage ist so viel komplizierter als das.

Nur langsam löse ich die Arme von meinem Körper. Ich zögere einen Moment. Als würde ich tatsächlich damit rechnen, in meine Einzelteile zu zerfallen. Tue ich nicht. Doch ich weiß nicht, ob ich erleichtert darüber sein soll.

Endlich schaffe ich es, aufzustehen und durch das Fenster zurück in mein Zimmer zu klettern. Ich habe mich zwar bewegt, bin der Antwort auf meine Frage allerdings keinen Schritt näher gekommen. Das Fenster quietscht in seinen Angeln, als ich es hinter mir wieder schließe.

Auf meinem Kingsize-Bett mit der cremefarbenen Bettwäsche steht eine große Tasche. Ich habe sie schon vor Wochen gepackt. Ständig hole ich sie unterm Bett hervor, wo ich sie verstaut habe. Ich starre sie stundenlang an, nur um sie dann doch wieder wegzupacken. Und jedes Mal, wenn ich sie erneut unterm Bett hervorziehe, hängen mehr Staubmäuse an ihr. Mein Mut muss genauso aussehen. Er ist bestimmt von einer dicken Staubschicht überzogen, weil ich ihn so lange nicht mehr benutzt habe.

Adrian und Aphrodite hatten den Mut. Sie sind gegangen. Und was ist mir ohne sie hier noch geblieben außer lähmender Einsamkeit?

Adrian und ich haben früher immer ein Spiel gespielt. Wir haben versucht, das Positive in jeder Situation zu finden. Auch in den besonders verkorksten.

Doch jetzt fällt mir einfach nichts ein.

Wie oft soll ich diese Tasche noch hervorholen und dann unverrichteter Dinge wieder wegpacken? Wie oft soll ich noch von Unabhängigkeit träumen und sie mir doch nicht holen?

Auf einmal kommt Bewegung in meinen Körper. Ich schnappe mir die Tasche, stecke mein Handy in meine Hosentasche und verlasse mit zügigen Schritten mein Zimmer. Sofort empfängt mich wieder der Lärm, der mich an das Summen eines geschäftigen Bienenstocks erinnert. Erst denke ich, dass die vielen fremden Menschen, an denen ich vorbeikomme, meine Flucht vereiteln könnten. Doch niemand sieht mich. In dem Gewusel gehe ich einfach unter. Das sind wohl die Vorteile, wenn man das langweiligste Mitglied der Familie Carter ist, wie die Umfrage einer Klatschzeitschrift ergeben hat.

Ich bin schon fast im Erdgeschoss angekommen, als mich der Klang von Stimmen auf der Treppe innehalten lässt. Ich kann die Personen nicht sehen, trotzdem erkenne ich sofort, wer sich da unterhält.

Ganz langsam wage ich mich weiter voran, bis die Treppe einen leichten Knick macht. Ich stelle die Tasche vor mir ab und werfe einen vorsichtigen Blick um die Ecke.

Mom steht vor ihrem Büro, doch sie ist nicht allein. Meine älteste Schwester Demeter, ihr Ehemann Frederik und ihre Tochter Persephone, die eigentlich alle Poppy nennen, sind bei ihr. Und sie streiten sich lautstark.

»Ich habe gesagt, ich will die Scheidung«, ruft Frederik aus. Dass er in einem Haus voller Menschen ist, die ihn dank seines lauten Organs sehr deutlich verstehen können, scheint ihn nicht zu kümmern.

»Und ich habe gesagt, dass ich vorher mit meiner Mutter sprechen will«, hält Demeter dagegen.

»Ich habe keine Ahnung, was deine Mutter unsere Ehe angeht«, fährt er sie an. Die beiden scheinen nicht nur vergessen zu haben, dass eine gesamte Crew ihnen zuhören kann, sondern auch, dass ihre eigene Tochter direkt neben ihnen steht. Poppy zwirbelt ihre schwarzen Haare zwischen ihren Fingern. Ihr Blick ist starr auf den Boden gerichtet, als könnte sie nicht hören, was ihre Eltern sagen, wenn sie sie nicht anschaut. Poppy ist schon zwölf Jahre alt, aber in diesem Moment, in sich zusammengesunken und kurz davor, in Tränen auszubrechen, sieht sie viel jünger aus. Mein Herz zieht sich bei ihrem Anblick schmerzhaft zusammen.

»Meine Mutter geht alles etwas an, was diese Familie betrifft. Das war dir bewusst, als du mich geheiratet hast«, faucht Demeter. Ich verdrehe die Augen. Seit Aphrodite fort und die Rolle der Lieblingstochter wieder unbesetzt ist, hat sich Demeter voller Enthusiasmus auf diesen Posten gestürzt und will ihn sich jetzt von niemandem mehr streitig machen lassen.

»Dieses Gespräch sollten wir wohl besser in meinem Büro führen. Meint ihr nicht?«, fragt meine Mutter. Sie klingt zwar wesentlich beherrschter als die beiden, allerdings sollte man niemals den Fehler machen, ihren ruhigen Tonfall mit Gelassenheit zu verwechseln. Nur weil Evelyn Carter ihre Befehle selten schreien muss, heißt das noch lange nicht, dass sie deswegen weniger Wirkung zeigen. Ganz im Gegenteil.

Ich mustere Frederik und warte darauf, dass er ihr widerspricht. Aber natürlich tut er das nicht. Gerade eben mag er wütend genug gewesen sein, um die Regeln, die in dieser Familie gelten, kurz zu vergessen. Doch inzwischen scheint er sich wieder besonnen zu haben. Der Ehemann meiner ältesten Schwester senkt sogar leicht den Kopf, als er das Büro meiner Mutter betritt.

Demeter dreht sich noch einmal zu Poppy um, bevor sie ihrem Noch-Ehemann beziehungsweise Fast-Ex-Mann folgt. Wenigstens erinnert sie sich daran, dass ihre Tochter noch da ist. Wenn auch ein bisschen spät.

»Hör auf, an deinen Haaren herumzuspielen«, ermahnt sie Poppy mit einem schneidenden Tonfall, der droht, mich in meine eigene Kindheit zurückzuversetzen. Als Poppy nicht sofort reagiert, schlägt sie ihr auf die Finger. Nun lässt Poppy ihre Strähnen los und sieht ihre Mutter aus großen Augen an. Sie schwimmen in Tränen. Das sehe ich auch aus dieser Entfernung.

»Und steh endlich gerade«, sagt Demeter und richtet Poppys Bluse, die vorher auch schon perfekt gesessen hat. Poppy sagt gar nichts, sie nickt nur mechanisch.

Solche Aussagen sind mir schmerzlich vertraut. Der Klang dieser Worte zupft an einer Saite in mir, die früher immer meine eigene Mutter angeschlagen hat.

»Warte hier auf uns. Mach keinen Unsinn und komm der Filmcrew nicht in die Quere«, sagt Demeter noch, bevor sie ihrer Tochter den Rücken zukehrt und im Büro unserer Mutter verschwindet. Der Knall der zuschlagenden Tür hallt einen Moment nach und wird auch nicht von all den Stimmen, die zu hören sind, verschluckt.

Poppy starrt die geschlossene Tür an. Sie bewegt sich gar nicht. Sie blinzelt nicht einmal. Dann löst sich eine einzelne Träne aus ihrem rechten Auge, die sie sofort fortwischt. Doch das macht auch keinen Unterschied mehr, denn ich habe sie gesehen.

Ich wollte gehen. Ich hatte endlich eine Entscheidung getroffen. Aber wie zur Hölle soll ich es jetzt noch schaffen, meine Tasche zu nehmen und einfach an Poppy vorbeizulaufen, als hätte ich diese Träne niemals gesehen?

Meine Geschwister sind abgehauen, ohne zurückzublicken. Aber was wird aus meiner Familie, wenn ich das Gleiche tue?

Poppy wird genauso aufwachsen wie ich. Nichts wird sich ändern, weil niemand in dieser Villa zurückbleibt, der etwas ändern will. Eine Mutter wird ihre Komplexe an ihre Tochter weitergeben, diese wiederum an ihre Tochter. Wie ein Familienerbstück wird diese Unzufriedenheit von einer Generation an die nächste weitergereicht. Und wo wird es enden?

Mein Herz zieht sich noch enger zusammen, wie ein Schwamm, den mein Körper auswringen will. Vielleicht versucht er so, all den Schmerz loszuwerden, den ich in diesem Moment wieder so deutlich spüre, als würde ich all die Situationen, die ihn ausgelöst haben, noch einmal erleben.

Ich könnte hierbleiben und den Entschluss fassen, etwas zu ändern. Doch das würde nicht leicht werden. Meine Mutter führt dieses Business nach ihren Vorstellungen. Sie wird ihre Einstellungen nicht überdenken, nur weil ich das möchte. Doch sollte ich es deshalb gar nicht erst versuchen?

Unsere Familie hat schon vor langer Zeit aufgehört, eine richtige Familie zu sein. Aber bedeutet das auch, dass sie es nie wieder sein kann?

Vor meinem inneren Auge laufen tausend Szenen gleichzeitig ab, als wäre ich eine Datenbank, in der alle Aufnahmen von Catching up with the Carters gespeichert sind. Meine Geschwister streiten sich heftig über Dinge, die eigentlich keine Rolle spielen. Unsere Mutter zeigt das Foto von Aphrodite und Garett und macht ihre Beziehung ohne Rücksicht auf Verluste öffentlich. Adrian geht, während unsere Mutter ihn anschreit.

Ist diese Familie es überhaupt wert, zusammengehalten zu werden?

Ein stiller Schluchzer ruckt durch Poppys Körper, und dieses Beben findet in meinem ein Echo. Ich stehe schon neben Poppy, bevor ich mich dazu entschieden habe, mein Versteck aufzugeben. Ich habe keine Antwort auf meine tausend Fragen. Aber gerade ist das auch nicht wichtig.

»Hey«, sage ich mit sanfter Stimme. Trotzdem zuckt meine Nichte leicht zusammen. Langsam hebt sie den Blick und sieht zu mir auf.

»Hey«, gibt sie zittrig zurück.

In ihren Augen schimmern noch immer Tränen, aber Poppy hält sie in sich verschlossen, obwohl sie in ihrem Alter noch nicht gelernt haben sollte, dass man seine Tränen nicht jedem anvertrauen darf.

»Deine Eltern streiten viel?«

Sie nickt nur. Ich versuche, ihr ein Lächeln zu schenken, doch es will mir nicht so ganz gelingen. Auch wenn ihr Schmerz viel frischer ist als meiner, ist er doch da und lähmt meine Mundwinkel. Mancher Schmerz verjährt nicht. Er verblasst vielleicht, seine Intensität nimmt ab, doch er lässt so viel von sich zurück, dass man ihn niemals vergessen kann.

»Willst du vielleicht in meinem Zimmer warten, bis sie fertig sind?«, schlage ich vor. »Da ist es ein bisschen ruhiger als hier.«

Poppy wirft einen unsicheren Blick auf die Tür, als könnte ihre Mutter es körperlich spüren, wenn sie nur einen Schritt zur Seite macht.

»Oder wir gucken uns im Wohnzimmer ein bisschen die Vorbereitungen an«, sage ich. »Wenn man alle Leute auf einmal ansieht, wirkt das alles wie ein heilloses Chaos. Aber glaub mir: Wenn du einer Person mit dem Blick folgst, erkennst du, dass die Leute nicht nur durch diese Villa spazieren, um uns auf die Nerven zu gehen.«

»Das weiß ich.« Für den Bruchteil einer Sekunde erscheint ein kleines schüchternes Grinsen auf Poppys Lippen. Obwohl es sofort wieder verschwunden ist, weiß ich doch, dass ich es mir nicht nur eingebildet habe. Also lasse ich nicht locker.

»Was sagst du? Wollen wir raten, wer welche Aufgabe hat? Ich wette, ich kann besser raten als du«, fordere ich sie heraus.

Ein kleines Funkeln taucht in Poppys Augen auf. Sie ist ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. So funktionieren die Gene in dieser Familie. Meine Geschwister und ich sehen auch wie Kopien unserer Mutter aus, die so genau sind, dass sie uns nach ihrem Vorbild ausgedruckt haben muss. Poppy ist genauso wie wir alle unverkennbar eine Carter. Aber die blauen Augen hat sie von ihrem Vater. Und in denen leuchtet nun ganz deutlich ihr Enthusiasmus auf.

»Das wollen wir ja mal sehen«, entgegnet sie. »In meinem Alter hattest du gerade mal ein paar Staffeln der Show gedreht. Ich bin an diesem Set zur Welt gekommen.«

Ich lache auf. »Das stimmt. Du hast das Reality-TV mit der Muttermilch verabreicht bekommen.«

»Eben.« Die tadelnden Worte ihrer Mutter scheint sie vergessen zu haben. Sie werden zurückkommen. Das weiß ich. Aber wenn sie wenigstens für einen kurzen Moment nicht daran denken muss, bin ich schon zufrieden.

»Okay, dann zeig mal, was du draufhast«, sage ich und bedeute ihr, ins Wohnzimmer zu gehen. Wir lassen den Flur hinter uns und treten direkt hinein in das Gewusel. Hier halten sich die meisten Menschen auf. Kabel werden getragen, Möbel verrückt, Absprachen gehalten. Poppy lässt sich aufs Sofa fallen, und ich setze mich neben sie, die gepackte Tasche stelle ich zu meinen Füßen ab.

»Ganz klar ein Set-Runner«, sagt Poppy und deutet auf einen jungen Mann, der kurz ins Wohnzimmer kommt, nur um es eine Sekunde später wieder zu verlassen.

»Wie kommst du darauf?«

»Weil ihm der Schweiß auf der Stirn steht und er sich am schnellsten bewegt. Set-Runner müssen immer jeden Mist besorgen, und zwar sofort, und deswegen sehen sie immer so hektisch aus.«

»Ganz klar ein Punkt für dich«, gestehe ich ein und grinse.

Poppy ruht sich nicht lange auf ihrer Führung aus. Sie deutet gleich auf die nächste Person. Eine Frau, die ich auf Mitte dreißig schätzen würde. »Das ist eine Aufnahmeleiterin«, behauptet Poppy.

»Wieso?«

»Zu ihr kommen alle, um ihr Fragen zu stellen. Alle paar Sekunden. Das liegt daran, dass sie weiß, wo jeder hinmuss.«

»Noch ein Punkt für dich.«

»Du versuchst ja auch gar nicht, einen Punkt zu machen«, erwidert Poppy. Ihr Blick wird ernster, als sie sich mir zuwendet. »Ich weiß, was du hier tust.«

»Was tue ich denn?«, frage ich unschuldig.

Poppy schnaubt. »Du willst mich ablenken, weil du mitbekommen hast, dass meine Eltern sich streiten. Du bist nicht gerade unauffällig.«

Ich verkneife mir ein Grinsen. »Offensichtlich nicht, wenn man mich so leicht durchschauen kann.«

»Kann man«, bestätigt Poppy, doch dann sehe ich, dass auch sie ein Grinsen zu unterdrücken versucht. »Aber ich bin trotzdem froh, dass du mich ablenkst. Es tut gut.«

Ich lächle sie schief an. »Sehr gut. Dann ist mein offensichtlicher Plan ja aufgegangen.« Ich lasse meinen Blick kurz schweifen. »Das Einzige, was wir jetzt noch brauchen, um uns optimal ablenken zu können, sind Süßigkeiten.«

»Viel Erfolg dabei, die in diese Villa zu kriegen«, sagt Poppy. »Deine Mutter hält die vermutlich genauso strikt von diesem Haus fern wie meine Mutter von unserem.«

»Das stimmt«, antworte ich. »Aber es gibt Mittel und Wege.«

Poppy zieht kritisch die Augenbrauen hoch. Als ihre Eltern sich gestritten haben, wirkte sie jünger, als sie ist. Doch jetzt erkenne ich, dass sie ihrem Alter voraus ist. Wenn man in dieser Familie, in dieser Welt, mit so vielen Kameras und noch mehr Erwartungen aufwächst, wird man viel zu schnell erwachsen. »Und die wären?«

»Ich habe ein Geheimnis«, flüstere ich und lehne mich verschwörerisch an sie, obwohl uns sowieso niemand zuhört. »Seit Jahren schnappe ich mir beim Drehbeginn der neuen Staffel einen Produktionsassistenten, flirte mit ihm und lasse mir dann von ihm Süßigkeiten ans Set schmuggeln. Das ist überlebenswichtig. Ohne meine Gummibärchen sind die Drehs unerträglich.«

»Gute Taktik«, sagt Poppy anerkennend. »Hast du sie heute schon angewandt?«

Ich schüttle den Kopf, und Poppy zieht enttäuscht die Mundwinkel nach unten. »Aber das könnte ich jetzt tun.«

Sofort grinst sie wieder.

»Ich brauche nur noch das perfekte Opfer«, stelle ich fest. »Du hast doch bewiesen, dass du einen guten Blick hast. Wen soll ich dazu bringen, uns Gummibärchen zu holen?«

Poppy hat mir gerade noch vorgeworfen, dass sie meinen Versuch, sie abzulenken, durchschaut hat. Doch als sie ihren Blick nun mit konzentriert zusammengekniffenen Augen durch den Raum wandern lässt, bin ich mir ziemlich sicher, dass sie nicht erkannt hat, dass ich sie schon wieder erfolgreich ablenke.

»Der da vorn ist schicker angezogen als alle anderen«, sagt Poppy, nachdem sie sich die Zeit genommen hat, jedes Crewmitglied eingehend zu mustern. »Alle tragen Jeans und T-Shirt, aber er trägt ein weißes Hemd. Er wirkt ein bisschen bemüht.«

Ich folge ihrem Blick und entdecke den Mann, von dem sie spricht. Seine blonden Haare sind ein bisschen durcheinander. Vielleicht weil er nervös ist und sie sich heute schon öfter gerauft hat?

»Er ist auf jeden Fall neu am Set«, meine ich. »Der hat noch nie für die Show gearbeitet.«

»Bist du dir sicher?«, fragt Poppy kritisch. »Hier haben schon sehr viele Menschen gearbeitet.«

Das stimmt. Doch so ein markantes Gesicht wäre mir definitiv aufgefallen.

Das sage ich meiner Nichte aber natürlich nicht.

»Ich bin mir sicher«, sage ich stattdessen nur. »Ich glaube, du hast das perfekte Opfer für unsere Mission ausgewählt.«

»Natürlich habe ich das«, entgegnet Poppy. »Meine Aufgabe ist getan. Nun bist du dran. Hol uns unsere Gummibärchen.«

Ich zwinkere ihr zu und stehe auf. Unser »Opfer« verschwindet gerade aus dem Wohnzimmer, und ich folge ihm. Er läuft durch den Flur und schließlich nach draußen. Auf dem großflächigen Platz vorm Eingang bleibt er stehen. Hier parken auch die Wagen, in denen das Equipment gelagert wird. Doch er macht keine Anstalten, irgendwas auszupacken. Er zieht nur sein Handy aus seiner hinteren Hosentasche und schreibt eine Nachricht.

»Hey«, sage ich, als ich neben ihm zum Stehen komme.

Irritiert blickt er auf und mir ins Gesicht. Wenn man direkt vor ihm steht, sehen seine Züge noch markanter aus. Seine Wangenknochen zeichnen sich deutlich ab, seine Nase ist ein bisschen schief. Erst denke ich, sein Gesicht besteht nur aus Ecken und Kanten. Doch dann muss ich diesen ersten Eindruck revidieren. Seine Lippen sind voll, ein bisschen voller als bei den meisten Männern, die ich kenne. Einzelne Strähnen seiner leicht lockigen Haare hängen ihm in die Stirn und durchbrechen die geraden Linien mit einem sanften Schwung. Und seine Augen haben einen intensiven grünen Farbton, der mich an ruhige, weite Flächen denken lässt, obwohl ich mich nicht daran erinnern kann, solche in meinem Leben schon mal gesehen zu haben.

»Hey«, erwidert er nach einem kurzen Zögern. Es klingt mehr wie eine Frage als eine Begrüßung. Aber das kann ich ihm nicht verübeln. Ich bin schließlich auf einmal unangekündigt vor ihm aufgetaucht und habe ihn dann einen Moment zu lange und eine Spur zu intensiv betrachtet. Und da wäre natürlich auch noch der Faktor, dass die meisten Menschen mich schon mal auf irgendwelchen Online-Promiseiten gesehen haben, bevor sie mir das erste Mal begegnen.

»Du bist neu hier, oder?«, frage ich so locker wie möglich. Der Tonfall gelingt mir, obwohl meine Gedanken sich noch immer um die Linien und Kreise drehen, die ich in seinem Gesicht entdecken kann.

»Ja.« Wieder klingt seine Antwort wie eine Frage, die er nur zögerlich stellen kann, weil sie so heikel ist. Mit sehr langsamen Bewegungen steckt er sein Handy wieder weg.

»Du bist einer der Produktionsassistenten, oder?«, frage ich weiter. Poppy scheint sich den Richtigen ausgesucht zu haben. Dass er in meiner Nähe kaum ein Wort rauskriegt, spricht dafür, dass ich ihn nervös mache. Und das ist in meiner Erfahrung die beste Ausgangssituation, um von ihm zu bekommen, was ich will. Doch wenn ich der Stille die Möglichkeit gebe, sich zwischen uns auszudehnen, fürchte ich, dass er nicht mehr der Einzige sein wird, der nervös ist. Seine Wangenknochen sind einfach zu definiert, um bei seinem Anblick entspannt zu bleiben.

»Ja, bin ich«, erwidert er. Jetzt klingt seine Stimme schon wesentlich fester, und er ist von einsilbigen Antworten auf dreisilbige übergegangen. Er scheint den ersten Schock, den meine Anwesenheit ausgelöst hat, überwunden zu haben.

»Ich bin Athena. Wie heißt du?« Da er an diesem Set arbeitet, ist es mehr als überflüssig, mich vorzustellen. Aber nur weil ich weiß, dass die meisten Menschen meinen Namen kennen, würde es mich nicht weniger egozentrisch machen, wenn ich mich nicht richtig vorstellen würde, wie jeder andere es auch tut.

»Samuel Henderson.« Er nennt mir seinen Vor- und Nachnamen und klingt dabei sehr förmlich. Dieser Tonfall passt auf jeden Fall einwandfrei zu dem weißen, perfekt gebügelten Hemd, das er trägt.

»Freut mich, Samuel Henderson«, sage ich. Nachdem ich seinen Namen ausgesprochen habe, kommt es mir kurz so vor, als würde ich irgendwas damit verbinden. Aber vermutlich bin ich nur schon einmal jemandem begegnet, der so ähnlich heißt. Ihn habe ich noch nie getroffen. Dessen bin ich mir nach wie vor sehr sicher. »Gefällt es dir denn bisher am Set?«

Ich fühle mich ein bisschen so, als würde ich ein Interview mit Samuel Henderson, dem neuen Produktionsassistenten, führen. Aber ich kann ihn nicht direkt darum bitten, Süßigkeiten an das Set zu schmuggeln. Ich weiß nicht, was der Filmcrew gesagt wird, bevor sie hier anfangen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass jedem schnell klar wird, dass hier Regeln gelten, die meine Mutter vorgibt und gegen die man nicht verstoßen sollte. Und ihren Kindern, die perfekte Figuren haben müssen, zuckerhaltige Nahrungsmittel zu beschaffen, ist für Evelyn Carter kein kleines Vergehen.

Aber wenn er neu ist, weiß er vielleicht noch nicht, vor wem er sich fürchten muss.

»Ich bin noch nicht lange genug hier, um das beantworten zu können«, antwortet er und zieht die Augenbrauen zusammen. Inzwischen wirkt er nicht mehr eingeschüchtert. Er wirkt eher … misstrauisch. Seine Haltung verändert sich auch langsam. Auf einmal scheint er aufrechter vor mir zu stehen. Musste ich gerade auch schon aufsehen, um ihm ins Gesicht blicken zu können? Vermutlich. Aber es fällt mir erst jetzt auf. Und ich bin mir nicht mehr ganz sicher, ob ich dieses Gespräch noch so unter Kontrolle habe wie vor einigen Sekunden.

»Gute Antwort«, erwidere ich und versuche weiterhin, freundlich zu lächeln, aber irgendwie fällt es mir auf einmal schwerer. Er mustert mich, als könnte er nicht nur meine Lippen sehen, sondern auch deutlich erkennen, warum ich dieses Lächeln aufgesetzt habe.

»Dann kann ich ja erleichtert sein.« Den Sarkasmus kann ich deutlich aus seiner Stimme heraushören.

»Was?«, frage ich irritiert. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich seine Aussage nicht verstehe, weil er sich missverständlich ausgedrückt hat oder weil mich sein Gesichtsausdruck so irritiert hat, dass ich meine Gedanken nicht mehr ordnen kann.

»Ich kann erleichtert sein, weil du meine Antwort für gut befindest«, erklärt er. Der Sarkasmus dominiert noch immer unmissverständlich seine Tonlage.

»Okay«, setze ich mit einem lang gezogenen O an. Ich habe keine Ahnung, wie ich auf diesen definitiv ironisch gemeinten Satz reagieren soll. Also entscheide ich mich, ihn einfach zu ignorieren. »Ich wollte dich um einen Gefallen bitten.« Eigentlich hatte ich nicht vor, so schnell auf den Punkt zu kommen. Doch dieses Gespräch läuft so gar nicht, wie ich erwartet habe. Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll, weil der Kerl mich ansieht, als könnte ich nur das Falsche sagen. Also sage ich am besten nur noch das Nötigste.

»Einen Gefallen?«, fragt er. Das Misstrauen, das ich schon an seinem Gesichtsausdruck ablesen konnte, liegt jetzt auch in seiner Stimme. Wenn er die Augenbrauen so zusammenzieht und den Mund zu einer schmalen Linie zusammenpresst wie jetzt, sind die Kanten in seinem Gesicht noch schärfer. Inzwischen sehen sie aus, als könnte man sich an ihnen schneiden.

»Einen Gefallen«, wiederhole ich und verschränke die Arme vor der Brust, weil ich es einfach nicht lassen kann. Mit Flirten hat unsere Unterhaltung ohnehin schon längst nichts mehr zu tun. Aber was schiefgelaufen ist, obwohl ich diese Routine schon seit Jahren durchziehe, kann ich noch nicht eindeutig sagen. Und das lässt die Unsicherheit in mir weiter wachsen. Bevor sie so groß ist, dass ich keinen geraden Satz mehr herausbekomme, setze ich zu einer Erklärung an. Doch ich kann nicht mal meinen Mund öffnen, da fällt er mir schon ins Wort.

»Warum sollte ich dir einen Gefallen tun? Wir kennen uns gerade mal seit ein paar Minuten.«

»Warum nicht?«, halte ich dagegen. »Du wirst in den nächsten Monaten an diesem Set arbeiten. Willst du dich nicht mit einer Carter gut stellen?«

»Vielleicht. Aber wenn dann mit der richtigen.«

Ich kann meinen Mund gerade noch daran hindern, aufzuklappen. Ich möchte es vermeiden, dass man mir meine Überraschung so deutlich ansehen kann wie einem Cartoon-Charakter.

»Der richtigen?«, frage ich kritisch nach und ziehe die Worte dabei in die Länge.

»Um was für einen Gefallen handelt es sich denn?«, stellt er eine Gegenfrage, als hätte er mich gar nicht gehört.

»Ich wollte dich fragen, ob du mir Gummibärchen mitbringst.« Ich fixiere ihn und sehe ihm direkt in die Augen. Blickkontakt bringt die meisten Menschen aus dem Konzept. Aber ihn nicht. Er hält meinem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken, stand. »Also gar nicht so ein großer Gefallen«, füge ich hinzu und hasse es, dass ich dabei ein bisschen wie ein störrisches Kind klinge.

Seine Lippen verziehen sich zu einem spöttischen Grinsen und offenbaren mir, dass ihm mein Unterton nicht entgangen ist. Dann verschränkt auch er die Arme vor der Brust. »Wenn es keine große Sache wäre, müsstest du mich nicht fragen. Du könntest sie dir einfach selbst holen beziehungsweise holen lassen. Athena Carter geht ja vermutlich nicht selbst in den Supermarkt.«

Er sagt nicht direkt, was er denkt, aber das muss er auch nicht. Ich kann so deutlich hören, dass er mich für eine verwöhnte Göre hält, als hätte er es tatsächlich ausgesprochen.

Ich würde ihm ja gern klarmachen, dass er ein völlig falsches Bild von mir hat. Aber ich kann mich tatsächlich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal einen Fuß in einen Supermarkt gesetzt habe. Das liegt vor allem daran, dass einkaufen zu gehen nicht gerade entspannend ist, wenn einem hinter dem Regal mit der Milch gleich mehrere Papparazzi mit gezückten Kameras auflauern oder Fans einen verfolgen, während man nach den richtigen Tampons sucht. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass meine Mutter Leute dafür bezahlt, für uns einkaufen zu gehen. Ich schreibe alles, was ich brauche – solange es nicht ungesund ist –, auf einen Zettel in der Küche, und am nächsten Tag ist es da. Ihm das zu erklären würde sein Bild von mir aber sicherlich nicht ändern.

»Ich nehme an, irgendjemand in diesem Haus will nicht, dass Süßigkeiten gekauft werden. Und ich kann mir vorstellen, wer das ist.«

»Die richtige Carter«, sage ich, obwohl ich es gar nicht aussprechen wollte.

»Und mit der werde ich mich in meiner ersten Woche ganz sicher nicht anlegen. Daran wird dein Wimpernaufschlag auch nichts ändern können.«

»Wimpernaufschlag?« Ich ziehe meine Augenbrauen hoch.

»Du brauchst nicht so zu tun, als wüsstest du nicht, worauf ich hinauswill. Dich interessiert es doch nicht im Geringsten, wie ich heiße, was ich am Set mache und ob es mir hier gefällt. Du wolltest mir nur das Gefühl geben, es würde dich interessieren, damit ich tue, was du willst.«

Er hat recht. Trotzdem will ich ihm widersprechen. Seine ganze Ausstrahlung löst diesen Impuls aus.

»Du scheinst es nicht zu mögen, wenn du nicht bekommst, was du willst«, stellt er nüchtern fest. Komischerweise ärgert mich dieser Tonfall noch mehr als der sarkastische. Es kommt mir so vor, als würden seine Sätze über meine Haut fahren und sie aufkratzen, meine Nerven freilegen. Schon das leichte Zucken seiner Mundwinkel reicht aus, um eine explosive Mischung aus Wut, Gereiztheit und Unbehagen in meinem Inneren hervorzurufen. »Du bist es vielleicht auch nicht gewöhnt.«

Ich schnaube. Ich konnte es einfach nicht mehr unterdrücken. »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich darauf erwidern soll.« Ich habe es längst aufgegeben, eine Rolle zu spielen. Ich versuche, nicht mehr zu lächeln, besonders freundlich zu klingen – oder mit den Wimpern zu klimpern. Er würde es sowieso durchschauen. Und ich habe auch keine Lust mehr, so zu tun, als würde ich mit ihm flirten wollen.

»Überrascht mich nicht«, murmelt Samuel Henderson in sich hinein. Trotzdem spricht er immer noch deutlich genug, dass ich jedes Wort verstehen kann.

»Entschuldigung?«, entfährt es mir. Die explosive Mischung in meinem Inneren lässt meine Stimme anschwellen. »Ich bestreite nicht, dass ich nett zu dir war, weil ich dich darum bitten wollte, mir Süßigkeiten ans Set zu schmuggeln. Das ist aber noch lange kein Grund, so verdammt unfreundlich zu sein.«

»Nicht?« Ich weiß auch nicht mehr, warum mich seine Augen mal an ruhige, weite Flächen haben denken lassen. Gerade lösen sie alles andere als ruhige Gefühle in mir aus. »Warum sollte ich freundlich zu einem Menschen sein, der mich benutzen will?«

»Benutzen?« Gemeinsam mit dem Wort stoße ich auch ein kleines, gehässiges Lachen aus. »Ich wollte dich um eine Tüte Gummibärchen bitten. Nicht um Kokain.«

Ich mache einen Schritt zurück. Erst jetzt wird mir klar, dass wir die ganze Zeit viel zu nah voreinander gestanden haben.

»Vielleicht hättest du mich als Nächstes nach Kokain gefragt«, stellt er fest.

»Weil Gummibärchen eine Einstiegsdroge sind?« Ich schüttle den Kopf. »Glaub nicht alles, was du über diese Familie in den Medien liest. Du könntest einen falschen Eindruck bekommen.«

»Bisher scheint mein Eindruck der Wahrheit zu entsprechen«, erwidert er. Erneut spricht er das, was er denkt, nicht direkt aus. Trotzdem kann ich es deutlich hören.

»Dein Eindruck von mir«, sage ich und versuche, dabei so nüchtern zu klingen wie er, obwohl mir das schwerfällt, wenn ich daran denke, wie mich die Welt sieht – Samuel Henderson eingeschlossen. »Vielleicht wird dich ja die Arbeit an diesem Set lehren, dass der Schein trügen kann. Menschen, die sich von dem täuschen lassen, sind blind.«

Diesmal antwortet er nicht sofort. Er starrt mich einen Moment an, als würde auf einmal ein anderer Mensch vor ihm stehen. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Ich kenne ihn gerade mal ein paar qualvolle Minuten. Seinen Gesichtsausdruck kann ich noch nicht richtig einschätzen.

»Und noch ein Tipp für deine Arbeit am Set«, sage ich und deute dabei auf seinen Oberkörper, weil ich es einfach nicht lassen kann. »Ich bin nur zu dir gekommen, um dich nach Gummibärchen zu fragen, weil ich dachte, dass du ein leichtes Opfer wärst. Dein Outfit lässt dich viel zu bemüht aussehen. Wenn alle anderen Crewmitglieder T-Shirt tragen, wirkt der Kerl im Hemd nicht professioneller, sondern nur unsicherer. Mit schicker Kleidung macht man erst Eindruck, wenn sie zur eigenen Position passt.«

Ich setze ein Lächeln auf, das so zuckersüß ist, dass es meine Zähne schmerzen lässt. Dann drehe ich mich um und laufe ins Haus zurück. Samuel Henderson lasse ich einfach auf dem Parkplatz stehen.

Erst als ich ihn nicht mehr ansehe, spüre ich, dass mein Herz rast. Und das scheint es schon eine ganze Weile zu tun, denn es fühlt sich so seltsam verkrampft, fast schon überanstrengt an. Adrenalin vermischt sich in meinen Adern mit meinem Blut. Mein Körper stellt sich an, als wäre ich gerade vor einem wütenden Bären davongerannt. Diese Reaktion ist mehr als übertrieben. Ich habe mich nur mit einem Kerl gestritten, mit dem ich mich vermutlich nie wieder unterhalten werde. Und weil ich eine Carter bin, ist mir schon vor Jahren klar geworden, dass die meisten Menschen mir viele Vorurteile entgegenbringen, ohne mich jemals getroffen zu haben. Das gehört dazu. Es ist nichts Neues. Wieso fühlt es sich dann so an?

Poppy sitzt immer noch auf dem Sofa, genau dort, wo ich sie zurückgelassen habe, und sieht mich mit einem breiten Lächeln an. »Und?«, fragt sie, sobald ich in Hörweite bin.

»Wir haben uns das falsche Opfer ausgesucht«, sage ich so gelassen, wie ich mit wild schlagendem Herzen zustande bringe. »Er hat vielleicht noch nie hier gearbeitet, aber er weiß schon, dass er sich mit Evelyn Carter anlegen würde, wenn er mir hilft.«

»Mist«, stößt Poppy aus und sieht ehrlich enttäuscht aus. »Ich habe mich darauf gefreut, endlich mal wieder Zucker zu essen.«

Ich zwinge mich, aufmunternd zu lächeln, und versuche, nicht darüber nachzudenken, wie traurig es ist, dass ein zwölfjähriges Mädchen Süßigkeiten vermisst, weil sie nie welche bekommt. »Komm, wir gehen in mein Zimmer«, schlage ich vor. »Vielleicht finden wir noch eine Packung, die von der letzten Staffel übrig geblieben ist.«

Vorhin war Poppy noch nicht bereit, in mein Zimmer zu gehen. Nun steht sie ohne Zögern auf. Mein Versuch, Süßigkeiten zu beschaffen, ist vielleicht kläglich gescheitert, aber mein Plan, Poppy abzulenken, ist aufgegangen. Und das ist definitiv wichtiger.

Sie läuft die Treppe in den ersten Stock hinauf. Ich schnappe mir meine Tasche und folge ihr. Sobald wir in meinem Zimmer sind und ich die Tür hinter mir schließe, fühle ich mich gleich wohler. Hier können mich Produktionsassistenten nicht sehen und beurteilen.

»Wo könntest du noch eine Packung versteckt haben?«, fragt Poppy.

»Guck mal in dem Regal. In den Schubladen müsste noch was sein. Ich esse eigentlich nur die hellen Gummibärchen, also bleiben die roten immer übrig. Wenn du die magst, findest du bestimmt irgendwo was.«

Poppy nickt und macht sich dann auf die Suche. Systematisch arbeitet sie sich von einer Schublade zur nächsten.

Während sie beschäftigt ist, stelle ich die Tasche, über die ich in den letzten Wochen ständig nachgedacht habe, auf mein Bett und starre sie an. Wie ich es immer tue. Inzwischen fühlt es sich so an, als würde sie zurückstarren.

»Ich hab was!«, ruft Poppy aus und zieht eine zerknüllte Packung aus der Ecke einer Schublade hervor. Sie dreht sie um und lässt ihren Inhalt auf ihre offene Handfläche fallen. Es sind höchstens ein Dutzend Gummibärchen, die inzwischen vermutlich ziemlich hart sind, doch Poppys Augen leuchten, als hätte sie einen wahren Schatz gefunden.

Sie hält mir ihre Hand hin, doch ich winke ab. Und das liegt nicht nur daran, dass ich die roten Gummibärchen am wenigsten mag.

»Was hattest du eigentlich mit der Tasche vor?«, fragt Poppy, während sie auf dem ersten harten Gummibärchen herumkaut. Ihre Zähne müssen viel Arbeit leisten, das vertrocknete Gelee gibt kaum unter ihnen nach. Aber Poppy grinst immer noch zufrieden.

Ich wende den Blick von ihr ab und starre wieder die Tasche an.

Soll ich gehen oder bleiben? Ich dachte, ich hätte mir diese Frage beantwortet, als ich mit der Tasche die Treppe hinuntergelaufen bin. Doch das stimmt gar nicht. Die Frage, die so lange offengeblieben ist, hat eine sehr simple Antwort, die ich mir, als es darauf ankam, ohne Zögern geben konnte. Das realisiere ich aber erst jetzt.

Ich lächle Poppy matt an, öffne den Reißverschluss der Tasche und beginne auszupacken.

»Das spielt jetzt keine Rolle mehr.«

2. KAPITEL

Sam

Ich habe gerade erst die Tür zur Wohnung meines Vaters aufgeschlossen, da kommt mir schon seine Stimme entgegen.

»Ich bin in meinem Büro!«

Als ob ich das nicht wüsste. Ich bin ja der Meinung, dass mein Dad eigentlich gar kein so großes Apartment braucht. Schlaf- und Wohnzimmer hätte man sich sparen können. Ich habe ihn noch nie in einem anderen Raum als seinem Büro vorgefunden. Wenn er mir sagen würde, dass er zusammengerollt auf seinem Schreibtisch schläft, würde ich es nicht eine Sekunde infrage stellen.

»Bin gleich da«, rufe ich zurück, weil ich genau weiß, dass ihm schon die wenigen Augenblicke, die ich brauche, um die Tür hinter mir zu schließen und meine Jacke an die Garderobe zu hängen, zu lange dauern.

Mit schnellen Schritten durchquere ich den Flur. Wie im Rest der Wohnung sind die Wände hier kahl. Natürlich nimmt mein Dad sich keine Zeit dafür, sein Apartment einzurichten. Er hat das, was er zum Überleben braucht, der Rest wäre nur Geldverschwendung.

Manchmal weiß ich nicht, ob ich über seine extremen Einstellungen die Augen verdrehen oder doch lieber grinsen soll.

»Wie war dein erster Tag am Set?«, fragt er mich ohne Umschweife, sobald ich einen Fuß in sein Büro gesetzt habe. Es ist nur ein bisschen weniger spärlich eingerichtet als der Rest der Wohnung. Auf einem Regalbrett stehen Fotos, die ihn an den Sets der Shows zeigen, die er produziert hat. Und daneben eines von uns beiden bei meinem Highschoolabschluss. Das restliche Regal ist voll mit Aktenordnern.

Sein Schreibtisch nimmt den halben Raum ein und ist bedeckt mit Unterlagen. Und trotzdem nicht unordentlich. Auf den ersten Blick erkennt man, dass mein Vater ein System hat.

Gerade steht er hinter dem Schreibtisch und stützt sich darauf ab. Sein bohrender Blick ruht auf mir. Er scheint Dinge zu sehen, die den meisten Menschen entgehen. Ich glaube, dass mein Vater es diesem zu verdanken hat, dass er zu einem der erfolgreichsten Executive Producer im Reality-TV geworden ist.

»Interessant«, antworte ich verzögert. Obwohl ich seinen messerscharfen Blick schon kenne, seitdem ich ein Kind bin, fühle ich mich doch jedes Mal unwohl. Wenn ich seine stechenden Augen auf mir spüre, erinnere ich mich daran zurück, wie ich versucht habe, die schlechten Noten meiner Matheklausuren vor ihm zu verstecken, und doch jedes Mal kläglich gescheitert bin.

»Interessant?«, hakt mein Vater nach, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Wenn wir unsere Arbeit gut machen wollen, brauche ich ein bisschen ausführlichere Antworten von dir. Die Einschaltquoten der Show leiden unter dem Ausstieg von Hadrian und Aphrodite. Und ihr Video über die angeblich so schrecklichen Erfahrungen, die sie in ihrer schicken Villa mit Zugriff auf die Millionen ihrer Eltern gemacht hat, hat definitiv nicht geholfen. Um das Image der Familie steht es nicht gut. Die zwei Geschwister, die für die unterhaltsamsten Inhalte gesorgt haben, sind weg. Und die Öffentlichkeit will noch mehr Details erfahren, warum die zwei gegangen sind. Aber die meisten ahnen, dass sie die Antworten nicht bekommen werden, wenn sie die Show gucken. Also warum überhaupt einschalten?« Er fährt sich übers Gesicht.

Auf den ersten Blick sehen wir uns nicht ähnlich. Aber das liegt daran, dass die meisten Menschen zuerst bemerken, dass ich blonde Locken habe und er kurze braune Haare. Wenn man das ausblendet, erkennt man, dass sich unsere Gesichtszüge ähneln, auch wenn die meines Vaters wesentlich strenger wirken als meine eigenen. Wir sind ungefähr gleich groß, und unsere Augen haben fast die gleiche Farbe.

»Meine Aufgabe ist es, diese Probleme zu lösen. Deswegen hat Evelyn mich in dieser Staffel dazugeholt.«

»Und weil du in den anderen Shows, die ihrer Produktionsfirma gehören, so gute Arbeit geleistet hast«, füge ich hinzu, weil ich sehe, wie stark sich seine Hände um die Kante seines Schreibtischs krampfen. »Das darfst du nicht vergessen.«

Eines seiner nur selten auftauchenden Lächeln erscheint in seinem Gesicht. »Das vergesse ich nicht«, versichert er. »Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass diese Staffel extrem wichtig für meine Karriere ist. Für uns beide.«

Das Lächeln verschwindet, und seine Augen fixieren mich wieder. Manchmal denke ich, dass er einen Regler hat, mit dem er sie scharf stellen kann wie ein Fernrohr.

»Du bist mein persönlicher Assistent. Aber das musst du nicht für immer bleiben. Wenn du mir hilfst, kannst du schnell aufsteigen. Aber nur weil du mein Sohn bist …«

»... wirst du mir meinen Erfolg nicht schenken. Das weiß ich, Dad. Das wusste ich schon immer«, unterbreche ich ihn. Diese Worte sagt er schon zu mir, seit ich denken kann.

Mein Vater hat sich alles, was er erreicht hat, selbst erarbeitet. Seine Eltern hatten kein Geld, er hatte keine Kontakte. Er ist jung Vater geworden und hat mich allein großgezogen, weil ihm meine Mutter keine andere Wahl gelassen hat. Trotzdem ist er heute dort, wo er ist. Er glaubt daran, dass Erfolg nur etwas wert ist, wenn man ihn sich hart erarbeitet hat. Für jeden Schritt, den er in seinem Leben nach vorn gemacht hat, musste er kämpfen. Und ich respektiere das. Das bedeutet aber nicht, dass ich diesen Satz, der auch immer ein bisschen wie ein Vorwurf klingt, jeden Tag hören muss.

Er hat sich viel erarbeitet und kann mir deswegen sehr viele Chancen bieten, die er selbst nie hatte. Aber manchmal fühlt es sich so an, als könnte ich ihn deswegen mit meinen Erfolgen nie ganz zufriedenstellen. Er will nicht, dass ich es so schwer habe wie er. Gleichzeitig wird das, was ich erreiche, immer weniger bedeuten als seine Verdienste. Er hat das zwar noch nie direkt ausgesprochen, aber das macht diese Erkenntnis nicht weniger wahr. Oder weniger schmerzhaft.

»Ich will damit nur sagen«, setzt er jetzt versöhnlicher an, »dass du dich beweisen sollst. Du sollst mir zeigen, dass wir in Zukunft irgendwann gleichberechtigte Partner sein können. Oder du deine eigene Show leiten kannst, ohne meine Hilfe.«

»Das weiß ich«, erwidere ich ebenfalls in einem versöhnlichen Tonfall. »Und ich werde dir helfen. Das hatte ich dir schon versprochen.«

Mein Dad nickt. »Der Druck ist diesmal nur enorm.«

Ich horche auf. Mein Vater gibt selten zu, dass ihn etwas unter Druck setzt. Das würde bedeuten, dass er sich seine Schwächen eingesteht. Und das will so gar nicht zu dem stoischen Mann passen, der mich großgezogen hat.

»Evelyn erwartet ein Wunder von mir. Und wenn ich ihr keins liefere, könnte ich meine Position verlieren. Mein Ruf ist gerade gut. Aber in Los Angeles verändert sich so was schlagartig.«

Ich würde ihm gern widersprechen, um ihn zu beruhigen, aber das kann ich nicht. Mein Dad spricht nur die harten Realitäten aus. Und er hat mir nie beigebracht, diese zu beschönigen. Also werde ich heute auch nicht damit anfangen.

»Ich muss alles wissen, was am Set vor sich geht«, fährt mein Vater fort. »Ich brauche deine Augen. Du wirst mehr mitbekommen als ich. Ich bin der Boss. Und obwohl wir verwandt sind, wird die Crew in deiner Gegenwart unvorsichtiger sein.«

Ich nicke nur.

»Was sind deine ersten Eindrücke?«

Komischerweise lässt mich diese Frage zuerst an Athenas Worte denken. Das ärgert mich. Und was mich eigentlich noch mehr ärgert als ihre gehässigen Worte, ist der Blick, den sie mir zugeworfen hat, als sie mir gesagt hat, dass mein Hemd zu gewollt wirkt. Sie wusste genau, dass mich ihre Worte nerven würden. Das war der Grund, warum sie sie so selbstgerecht ausgesprochen hat. Sofort wandern meine Gedanken zu einer Person, die ich eigentlich schon vor sehr langer Zeit aus meinem Kopf verbannt habe. Die Ähnlichkeiten zu Athena sind zu groß, um sie ignorieren zu können.

Ich räuspere mich und hoffe, dass mein Vater nicht bemerkt hat, dass ich kurz abgelenkt war. Ich will ihm sicherlich nicht erklären müssen, wer mich aus dem Konzept gebracht hat.

»Die meisten Crewmitglieder arbeiten schon eine Weile am Set und kennen die Familie ziemlich gut. Ich habe nur ein paar Sachen aufgeschnappt, die sie sich erzählt haben. Aber alle waren sich in einem Punkt sehr einig: Die ganze Familie hört auf Evelyn Carter.«

»Das macht meine Arbeit definitiv leichter. Wenn alles so läuft, wie Evelyn und ich es wollen, haben wir keine Probleme.«

Ich überlege, das so stehen zu lassen. Eigentlich habe ich keine Lust, Athena mehr Raum in meinem Kopf zu geben, als sie ohnehin schon gegen meinen Willen eingenommen hat. Aber dieser Dreh ist wichtig für meinen Vater. Und wenn er schon freiwillig zugibt, dass er Druck spürt, dann muss die Lage wirklich kritisch sein.

»Aber …«, setze ich zögerlich an. Ich habe ihren Namen noch nicht einmal laut ausgesprochen, und schon habe ich das Gefühl, sie auf einmal noch deutlicher vor meinem inneren Auge zu sehen. Dieses verfluchte gehässige Grinsen.

»Ja?«, fragt mein Vater und verengt die Augen leicht. Er stellt sie noch schärfer, damit ihm nicht ein Zucken in meiner Mimik entgeht.

»Aber denkst du, dass die Crew das richtig einschätzt? Zwei Kinder sind bereits abgehauen. Wie stehen die Carter-Geschwister wirklich zu ihrer Mutter? Hören Demeter, Hera, Octavian, Caesar und … Athena auf sie?« Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich ihren Namen laut ausspreche. Und ich habe keine Ahnung, warum mir das so bewusst auffällt. Mein Kopf müsste mich auf so etwas definitiv nicht hinweisen. Ich habe schließlich auch die Namen ihrer Geschwister gesagt. Aber mein Kopf scheint mir heute sowieso vor allem unnötige und wenig hilfreiche Informationen zu übermitteln. Als er mir während meines Gesprächs mit Athena mitgeteilt hat, dass sie sehr hübsch ist, hätte ich ihn am liebsten direkt abgeschaltet. Es ist ziemlich irrelevant, ob ich sie attraktiv finde oder nicht. Das ändert auch nichts an der Tatsache, dass ich sie nicht leiden kann.

Mein Vater nickt. »Eigentlich hat Evelyn ihre Kinder gut unter Kontrolle.«

»Aber zwei sind abgehauen«, betone ich erneut.

»Die, die geblieben sind, haben noch nie Probleme gemacht«, erwidert mein Vater.

Ich überlege, ob ich ihn direkt auf Athena ansprechen soll, aber ich bringe es einfach nicht über mich. Ich kann ja nicht einmal in Worte fassen, warum ich denke, dass Athena zur Gefahr für den Dreh werden könnte. Es ist nur ein diffuses Gefühl, das vermutlich alten Wunden entspringt. Trotzdem hält mein Gehirn es immer noch für notwendig, mich darauf hinzuweisen, dass sie schöne braune Augen und ein sehr anziehendes Lächeln hat, wenn sie mich nicht gerade gehässig angrinst.

»Okay, wenn du meinst«, sage ich also und versuche, mich wieder aufs Wesentliche zu konzentrieren. Und ihre Augen und Lippen gehören definitiv nicht zum Wesentlichen.

»Halt deine Ohren und Augen weiterhin offen«, meint mein Vater.

Ich nicke nur, weil mir keine Erwiderung darauf einfallen will. Ich bin mir zwar sicher, dass es eine simple zweisilbige Antwort auf Dads Forderung gibt, die vermutlich auch nicht schwer auszusprechen wäre. Aber gerade kann ich nicht richtig denken.

Athena Carter ist immer noch zu präsent in meinem Kopf. Ich kann einfach nicht aufhören, über ihr Verhalten nachzudenken, das mich mehr verwirrt hat, als ich mir eingestehen will.

Dass sie mich arrogant angesehen und etwas Herablassendes über meine Kleidung gesagt hat, hat mich nicht überrascht. Mit so einem Verhalten habe ich bei einem Mitglied der Familie Carter gerechnet. Wenn man es gewohnt ist, alles geschenkt zu bekommen, hat man nie gelernt, mit einem Nein umzugehen. Ob man jetzt nur eine Tüte Gummibärchen oder doch Kokain haben wollte.

Auf Starallüren war ich vorbereitet. Aber nicht auf diesen rohen, fast schon wunden Blick, mit dem sie mich für den Bruchteil einer Sekunde angesehen hat.

Solange ich mich auf ihre Beleidigungen konzentriert habe, konnte ich die anderen Worte ausblenden, die sie zu mir gesagt hat. Doch nun erinnere ich mich an sie und spüre, dass ich sie nicht so schnell wieder vergessen werde.

»Vielleicht wird dich ja die Arbeit an diesem Set lehren, dass der Schein trügen kann. Menschen, die sich von dem täuschen lassen, sind blind.«

Mein Vater redet weiter über seine Pläne für die Show, doch ich höre ihn kaum. Ihre Worte sind lauter, obwohl sie gar nicht hier ist. Und ich weiß nicht genau, wie ich mit der Bedeutung, die ich hinter jedem Buchstaben erahne, umgehen soll.

3. KAPITEL

Athena

Ich sitze jetzt schon einige unendlich lang erscheinende Sekunden vor dem Schreibtisch meiner Mutter, ihren kritischen Blick auf mir, und warte darauf, dass sie mir endlich sagt, warum sie mich in ihr Büro zitiert hat. Natürlich warte ich vergeblich.

»Was gibt’s?«, frage ich so leichthin, wie ich zustande kriege, während sich jede Sehne in meinem Körper gespannt anfühlt.

Auf den Lippen meiner Mutter liegt das für sie typische Halblächeln, das sie immer trägt, weil sie dabei nicht so viele Falten riskiert wie mit einem normalen. Sie sieht mich an und lässt sich auch jetzt unerträglich lange Zeit, bis sie reagiert. Ist das eine neue Taktik? Macht es ihr Freude, zu beobachten, wie sich Schweißperlen auf meiner Stirn sammeln? Überraschen würde es mich nicht. Nach all den Dingen, die in den letzten Jahren passiert sind, gibt es eigentlich nichts mehr, was meine Mutter tun könnte, was mich noch überraschen würde.

Sobald ich das gedacht habe, würde ich am liebsten direkt zur Decke gucken und dem Universum versichern, dass ich das nicht als Herausforderung gemeint habe. Ich möchte wirklich nicht erfahren müssen, ob meine Mutter vielleicht doch noch in der Lage ist, mich zu überraschen.

»Ich wollte mit dir über deine Rolle in dieser Familie sprechen«, setzt sie an.

Sofort ziehen sich alle meine Organe synchron zusammen.

Ein solches Gespräch führe ich nicht zum ersten Mal mit meiner Mutter. Jedes Mitglied dieser Familie kennt sie. Immer wenn sie mit unserem Auftritt vor der Kamera nicht zufrieden ist oder wir nicht genug Geld verdienen, beordert sie uns zu einem Gespräch in dieses Büro und beginnt immer mit den gleichen Worten. Adrian und ich haben uns immer darüber lustig gemacht, weil ein schlechter Witz nun mal jede Situation erträglicher macht. Deswegen weiß ich auch, dass sie diesen Einleitungssatz nicht nur bei mir anwendet, sondern auch bei den anderen.

Das letzte Mal, als Adrian ein solches Gespräch führen musste, war er danach der Fake-Freund von Rachel Hanson. Und wie toll das geendet hat, wissen wir alle, aber niemand spricht es an.

»Du hast in den letzten Jahren zu wenige Werbedeals abgeschlossen. Da du noch so jung warst, konnte ich das durchgehen lassen. Aber du bist inzwischen zwanzig Jahre alt. Es ist an der Zeit, dass du dich richtig einbringst.«

Ich halte all die giftigen Bemerkungen zurück, die mir sofort auf der Zunge liegen. Sie lässt es so klingen, als hätte ich gemütlich Karibikurlaub gemacht, während meine Familie jahrelang geschuftet hat. Dass ich schon für diese Show arbeite, seit ich ein Kind bin, das nie jemand gefragt hat, was es eigentlich lieber mit seiner Zeit tun würde, lässt sie aus. Vermutlich, weil sie es einfach nicht so sieht. Obwohl bereits zwei ihrer Kinder vor ihr weggelaufen sind.

Wenn ein Kind abhaut, kann man seine Schuld vielleicht noch ignorieren, aber wenn zwei gehen, sollte man doch langsam mal ein Muster erkennen. Aber als Carter wird man anscheinend nicht nur mit schwarzen Haaren geboren, sondern auch mit der Gabe, die hässlichen Wahrheiten auszublenden.

»Also soll ich mehr Werbung für Produkte machen, an deren Effizienz ich eigentlich gar nicht glaube?«, frage ich. Mein herausfordernder Ton lässt sich nicht mehr rechtzeitig unterdrücken.

»Genau«, sagt meine Mutter. An ihren zusammengekniffenen Lippen erkenne ich, dass ihr mein Seitenhieb nicht entgangen ist, aber sie entscheidet sich bewusst dazu, diese Frechheit zu ignorieren. »Ich wollte dir ein paar von den Werbedeals geben, die früher Aphrodite gemacht hat.«

Sie hält inne, und ich starre sie aus großen Augen an. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie Aphrodites Namen auch nur ein Mal laut ausgesprochen hat, seitdem die Umzugswagen eines Tages vor der Tür standen und ihre Sachen abgeholt haben. Bis zu diesem Moment hat sie wohl noch daran geglaubt, dass ihre Lieblingstochter zu ihr zurückkehren würde. Als die Wagen voll beladen mit Aphrodites Sachen wieder durchs Tor gefahren sind, konnte sie sich dieser Illusion nicht länger hingeben.

Die Spannung zwischen uns wird mit jeder Sekunde, die Aphrodites Name ausklingt, ohne von einem neuen Satz unterbrochen zu werden, unerträglicher.

»Welche soll ich denn übernehmen?«, frage ich, um die Stille zu durchbrechen. Je schneller ich dieses Gespräch hinter mich bringe, desto schneller kann ich dieses Büro auch wieder verlassen.

Aphrodite hat uns neben der andauernden schlechten Laune unserer Mutter und ihrer noch erdrückenderen Enttäuschung auch noch eine tolle Auswahl an Werbedeals zurückgelassen. Ich könnte also demnächst das Gesicht für ein Parfum sein, das so süß riecht, dass man Gefahr läuft, von einem Schwarm hungriger Wespen verfolgt zu werden, sollte man den Fehler begehen, es tatsächlich auf den eigenen Körper aufzutragen. Eine andere Option wäre irgendein Diät-Shake, der so schlecht schmeckt, dass ich ihn nicht einmal runterschlucken könnte, wenn ich mir beim Trinken die Nase zuhalte. Oder vielleicht soll ich ja auch die Sportleggins bewerben, deren Nähte im Schritt reißen, wenn man es riskiert, mehr als drei Squats am Stück zu machen.

Ob die Produkte wirklich gut sind, spielt keine Rolle. Worauf es ankommt, ist, wie viele Millionen die Firmen auf das Konto meiner Mutter spülen können.

»Keine«, erwidert Mom.

»Keine?«, wiederhole ich zögerlich. »Wie meinst du das?«

Sie seufzt. »Das, was ich als Nächstes sagen werde, sage ich nicht gern, glaub mir.« Ich glaube ihr schon lange nicht mehr. Und der Glaube in meine Mutter wurde leider nicht nur von der Tatsache erschüttert, dass der Weihnachtsmann doch nicht real ist. Diese Familie steht für Extreme. Und das gilt leider auch für das Ausmaß der Vertrauensbrüche. »Aber die Firmen waren nicht an einer Kooperation interessiert.«

Ich ziehe die Augenbrauen nach oben. Ich hatte wirklich nicht die geringste Lust, Werbung für schlechte Produkte zu machen. Aber von den Firmen, die diese schlechten Produkte herstellen, eine Abfuhr zu bekommen, darauf hatte ich sicherlich noch wesentlich weniger Lust.

»Wenn sie Deals mit einer Carter machen wollen, dann nicht mit dir«, fährt meine Mutter so ungerührt fort, als könnte sie sich nicht denken, was diese Worte in meinem Inneren anrichten. »Die Umfrage, die dich zur langweiligsten Carter erklärt hat, hat definitiv nicht geholfen. Und Firmen für Sportprodukte wollen, dass die Stars, die für sie werben, einem gewissen Ideal entsprechen.«

»Was im Klartext bedeutet, dass ich nicht dünn genug bin.« Meine Stimme klingt emotionslos. Das habe ich mir angewöhnt. Wenn ich emotionslos klinge, kann ich mir wenigstens kurz vormachen, dass ich auch nichts empfinde. Nicht lange. Trotzdem heiße ich jede Sekunde, die ich von dem Schmerz verschont bleibe, den ich immer empfinde, wenn mich meine Mutter mal ganz nebenbei fragt, wie viel ich denn gerade wiege, ob ich wirklich noch eine zweite Portion essen will, ob ich denn auch regelmäßig Sport treibe, willkommen.

Ich habe schon vor langer Zeit – damals hatte ich bestimmt noch Milchzähne im Mund – aufgehört, sie darum zu bitten, diese Kommentare nicht mehr zu machen. Es ist ja nichts dabei. Es sind ja nur Fragen. Die sind doch harmlos.

Und vielleicht wäre eine von ihnen, nur für sich formuliert, tatsächlich harmlos. Aber diese Bemerkungen treffen einen Punkt, der über Jahre wund gerieben wurde. Er wurde zerkratzt von spitzen, perfekt manikürten Fingernägeln. Und aufgeschürfte Haut ist empfindlicher. Die Aussagen meiner Mutter müssen gar nicht mehr so spitz sein, um wehzutun. Alle Aussagen, die davor kamen, haben Vorarbeit geleistet. Und jetzt gibt es da einen Punkt in meinem Inneren, der freigelegt ist, und obwohl er schon blutet, hört sie doch nicht auf, ihn anzugreifen.

»Nicht für diese Produkte«, sagt meine Mutter. »Aber das kann sich ja noch ändern.«

Du kannst dich ja noch ändern.

Sie sagt es nicht. Aber das ist Evelyn Carters große Gabe. Das meiste, was sie will, muss sie gar nicht aussprechen, um es zu bekommen.

»Sollte ich also in dein Büro kommen, damit du mir sagen kannst, dass meine Figur nicht gut fürs Business ist?«, frage ich direkt, weil ich sie dazu bringen will, es auch zu sein.

Aber den Gefallen wird sie mir natürlich nicht tun. Wenn sie meinen Körper zu direkt beurteilt, könnte sie sich ja selbst angreifbar machen. Eine gute Mutter kritisiert nicht. Sie gibt hilfreiche und natürlich nur nett gemeinte Ratschläge.

Wie ich diese Fassade verabscheue. Nach dem, was mit Aphrodite und Adrian passiert ist, könnte sie dieses Schauspiel doch endlich mal sein lassen. Aber vielleicht braucht sie das, um ihr Selbstbild aufrechtzuerhalten. Es scheint auf jeden Fall noch stabiler zu sein als die Mauern dieses Hauses. Egal, wie viele Schläge es abbekommt, es gerät nicht mal ins Wanken. Ich würde sie vermutlich darum beneiden, wenn es mich nicht so wütend machen würde.

»Wir stehen für einen gewissen Standard, ein Schönheitsideal, und das muss jedes Mitglied der Familie erfüllen«, sagt sie.

»Also warum bin ich hier?«, hake ich nach, weil ich dieses Gespräch kaum noch ertragen kann. Wie befreiend es sich anfühlen würde, jetzt einfach aufzustehen und zu gehen. Doch ich werde nicht gehen. Ich habe eine Entscheidung getroffen. Und auch in diesem fast unerträglichen Moment merke ich, dass diese Entscheidung endgültig ist.

»Wenn du erst mal nur wenig Geld durch Werbedeals einnimmst«, setzt sie an – mit wenig meint sie vermutlich »nur« fünfstellige Beträge –, »… musst du mehr Content für die Show generieren. Du hast doch in letzter Zeit öfter mal was mit den anderen Mädels aus Beverly Hills gemacht, oder?«

Sie meint Aphrodites alte Clique, aber vermutlich ist sie nur bereit, ihren Namen einmal im Monat laut auszusprechen.

»Habe ich«, bestätige ich. Seit Aphrodite weg ist, haben sich ihre »Freundinnen« so oft bei mir gemeldet, bis ich nachgegeben und mich mit ihnen getroffen habe. Wir sind nicht befreundet. Nicht wirklich. Aber inzwischen verstehe ich, warum Aphrodite Zeit mit ihnen verbracht hat. Manchmal ist ein lauter Club der einzige Ort, an den man sich flüchten kann, wenn man seine eigenen Gedanken nicht mehr hören will.

Doch mit ihnen unterwegs zu sein fühlt sich seltsam an. Aphrodite war schon immer alles, was ich nie sein konnte. Und auch für ihre ehemaligen Freundinnen bin ich nur ein Ersatz, der niemals so gut sein kann wie das Original.

»Sehr gut. Einige von ihnen haben sehr viele Follower auf Social Media. Das bringt der Show eine höhere Einschaltquote. Lad sie zu allen wichtigen Partys ein, die in dieser Staffel stattfinden.«

»Mache ich«, sage ich ohne Umschweife, weil ich schneller aus dem Büro abhauen kann, wenn ich einfach zustimme. »Darf ich jetzt gehen?«

Die Augen meiner Mutter werden gefährlich schmal. »Nein.«

Ich nicke nur. Was soll ich auch dazu sagen? Alle Menschen vor den Toren dieser Villa mögen in einer Demokratie leben. Für jeden, der den Fehler begeht, einen Fuß auf dieses Grundstück zu setzen, gilt das nicht.

»Du selbst musst der Show auch mehr Inhalt bieten. Du wurdest zur langweiligsten Carter gewählt, weil du am wenigsten erlebst.« Damit meint sie, dass ich noch nie verheiratet, geschieden oder in einen Faustkampf involviert war. »Du brauchst eine Beziehung. Und ich hätte da auch schon den perfekten Kandidaten im Auge.«

»Weil Fake-Beziehungen in dieser Familie ja so ein gutes Ende nehmen«, murmle ich in mich hinein und erinnere mich unwillkürlich an den Morgen zurück, als ich an Adrians Zimmertür geklopft habe und er einfach spurlos verschwunden war. In meiner Brust spüre ich noch immer den Schmerz, der mich nicht mehr losgelassen hat, seit ich realisiert habe, dass er fort ist.

»Was hast du gesagt?«, fragt meine Mutter bedrohlich leise. Ich kann ihr anhören, dass sie jedes Wort verstanden hat. Aber sie gibt mir die Chance, meine Worte noch zurückzunehmen. Und ich ergreife sie.

»Nichts«, murmle ich nur.

»Gut«, erwidert sie. »Wie dem auch sei. Bei Caesars Hauseinweihungsparty wirst du Nolan Andrews kennenlernen und ihn dann für den Verlauf der restlichen Staffel daten.«

»Nolan Andrews?«, frage ich ungläubig.

»Du weißt schon. Er war früher Mitglied der Boyband DreamFive

»Das weiß ich«, sage ich, traue mich aber nicht, zu erklären, warum ich so überrascht war, seinen Namen zu hören. Einer von Nolan Andrews’ ehemaligen Boyband-Kollegen ist Henry Lloyd, und der wiederum ist bekannterweise der beste Freund von Garett. Und da meine Mutter die Tatsache leugnet, dass sie nicht nur fünf Kinder, sondern eigentlich sieben hat, hätte ich nicht damit gerechnet, dass ich ausgerechnet mit einem Kerl ausgehen soll, der so eng mit Aphrodite zusammenhängt. Aber vermutlich lassen sich solche Zusammenhänge in einer Stadt wie Los Angeles nicht vermeiden. Und meine Mutter ist pragmatisch genug, um sich von solchen Umständen keine Chance entgehen zu lassen.

»Und du wirst in ein paar Wochen ein Fotoshooting machen«, fährt sie fort.

»Okay«, setze ich an und ziehe das O mal wieder viel länger als notwendig. »Wir machen ständig Shootings. Wieso willst du ausgerechnet dieses mit mir besprechen?«

Meine Mutter räuspert sich. »Es ist ein Nacktshooting.«

»Entschuldigung?«, entfährt es mir.

»Im Magazin wird man nichts sehen, was man nicht auch sieht, wenn du einen Bikini trägst.«

»Aber während des Fotoshootings würde ich keine Kleidung tragen und die entscheidenden Körperteile nicht mit Stoff, sondern mit meinen Armen und unbequemen Posen verdecken müssen.« Meine Stimme klingt brüchig.

»Genau«, sagt meine Mutter ungerührt. Mein leicht panischer Unterton scheint ihr entgangen zu sein. Oder sie entscheidet sich bewusst dafür, ihn nicht zu hören.

»Ganz sicher nicht«, sage ich heftig. Ich habe mich vermutlich noch nie getraut, so viel Nachdruck in meine Stimme zu legen, wenn ich mit meiner Mutter geredet habe. Aber bei der Vorstellung, meinen Körper so bloßzustellen und all den Klatschreportern noch mehr Bilder und damit mehr Munition zu liefern, mit deren Hilfe sie mich bewerten, mein Aussehen kritisieren und gleichzeitig sexualisieren können, wird mir so übel, dass ich bezweifle, jemals wieder etwas essen zu können.

So ein beschissenes Gespräch führen kann auch nur meine Mutter. Sie beginnt damit, dass mein Körper nicht gut genug ist, um damit Werbedeals zu kriegen, und beendet es dann mit dem Vorschlag, genau diesen Körper nackt und öffentlich zu präsentieren.

Wie genau soll ich mich denn fühlen? Welche Reaktion erwartet sie von mir?

»Athena«, beginnt sie mit einem besonders strengen Ich-bin-deine-Mutter-und-du-ein-undankbares-Kind-Tonfall. Doch ich lasse sie das erste Mal in meinem Leben nicht aussprechen.

»Ich werde kein Nacktshooting machen. Du kannst mich anschreien, beleidigen, was auch immer. Ich werde mich trotzdem nicht vor einer Kamera ausziehen.«

Erst jetzt realisiere ich, dass ich irgendwann im Laufe dieses Schlagabtauschs aufgesprungen bin. Keine Ahnung, wann. Auf jeden Fall stehe ich jetzt direkt vor dem Schreibtisch und sehe auf meine Mutter hinab. Das ist angenehmer. Wenn ich körperlich höher stehe als sie, kann ich mich wenigstens kurz der Illusion hingeben, dass sie nicht mein ganzes Leben kontrolliert.

»Ist dir diese Familie etwa egal?«

»Ich wüsste nicht, was meine Brüste mit meiner Liebe für diese Familie zu tun haben«, entgegne ich.

Meine Mutter schnaubt wütend. »Das egoistische Verhalten einiger Familienmitglieder hat uns schon genug geschadet. Willst du dein eigenes Wohl etwa auch über das deiner Familie stellen?«

Ich würde mich ja gern über diese Aussage lustig machen. Sie klingt ein bisschen so, als würde unsere Mutter denken, wir wären eine Königsfamilie im Mittelalter, die ihr Fortbestehen mit strategischen Ehen sichern muss. Aber der strenge Ausdruck in den Augen meiner Mutter lässt aus mir wieder ein kleines Mädchen werden, das sich nicht traut, den Mund aufzumachen. Dass ich eigentlich schon zwanzig Jahre alt bin, kann daran auch nichts ändern.

»Die Edwards mussten die Konsequenzen eines solchen Verhaltens schon tragen«, fährt meine Mutter bedeutungsschwanger fort.

»Wie meinst du das?«, flüstere ich.

»At Home with the Edwards wird abgesetzt. Die Sendung hat Garetts Austritt nicht überlebt. Es ist noch nicht offiziell, aber die Entscheidung ist schon gefallen. Harold hat mir Bescheid gegeben.«

Damit habe ich wirklich nicht gerechnet, aber traurig kann ich nicht sein. Es gibt nur wenige Arschlöcher auf der Welt, die so furchtbar sind wie Harold Edwards. Er hat vieles verdient. Erfolg gehört sicherlich nicht dazu.

Wir beide sehen uns eine Weile nur schweigend an. Ich wüsste nicht, was ich zu all dem, was ich in diesem Büro gehört habe, noch sagen soll.

Was würde ich fühlen, wenn unsere Show ebenfalls abgesetzt werden würde? Erleichterung? Oder vielleicht doch Trauer?

Vielleicht ist das eine dieser Fragen, die man sich lieber nicht beantwortet. Und das muss ich auch nicht.

Das Einzige, was ich wissen muss, ist, dass meine Mutter und ich für verschiedene Ziele kämpfen. Sie will diese Show am Leben halten, koste es, was es wolle. Ich will, dass, wenn all das eines Tages vorbei ist, noch etwas von uns übrig bleibt, das man vielleicht, wenn man die Augen zusammenkneift und sich die fehlenden Stücke dazudenkt, noch als Familie bezeichnen kann. Und das, was wir dann noch sein werden, als menschlich.

Meine Mom seufzt einmal sehr schwer, dann redet sie endlich weiter. »Du hast schon viele Fake-Beziehungen für die Show geführt. Also stell dich nicht so an. Die Dates mit Nolan Andrews sind nicht verhandelbar. Über das Shooting reden wir noch mal.«

Kaum hat sie die Worte ausgesprochen, nimmt sie schon ihr Handy zur Hand und wählt eine Nummer. Ich bin wohl entlassen. Doch obwohl ich das Ende dieses Gesprächs schon herbeisehne, seitdem es angefangen hat, fühle ich mich jetzt seltsam gelähmt. Es kostet mich viel Kraft, das Büro zu verlassen. Rede ich mir nur ein, dass ich bleibe, weil ich für Poppy da sein will, damit ich mich besser fühlen kann und mir nicht eingestehen muss, dass ich zu schwach bin, um zu gehen?

Ich habe keine Ahnung, wie lange ich schon an die Decke starre, als es vorsichtig an meiner Tür klopft.

Das Gespräch mit meiner Mutter steckt mir immer noch in den Knochen. Ich kann das Gewicht ihrer Worte deutlich auf mir spüren.

Langsam setze ich mich auf und zerknittere dabei die neuen Essens- und Trainingspläne, die bereits in meinem Zimmer auf mich gewartet haben, als ich zurückgekehrt bin. Einen Moment starre ich meine Tür an, als wüsste ich nicht, was ein Klopfen bedeutet und was als Nächstes von mir erwartet wird.

Kein Mitglied meiner Familie würde klopfen. So viel steht schon mal fest. Die meisten würden einfach ungefragt in mein Zimmer stürmen.

»Ja?«, frage ich ein bisschen verspätet.

Nun zögert auch die Person, die vor meiner Zimmertür steht. Es dauert ewig, bis sich meine Klinke endlich bewegt und die Tür dann ganz zögerlich geöffnet wird. Nur einen Spaltbreit. Skeptisch kneife ich die Augen zusammen, bis ich den dunklen Haarschopf erkenne, der sich hinter der Tür verbirgt.

»Levi!«, entfährt es mir, und sofort springe ich auf. Er hat gerade mal einen Schritt in mein Zimmer gemacht, da falle ich ihm auch schon ungestüm in die Arme. Ich pralle mit viel zu viel Geschwindigkeit gegen ihn, und ihm entfahren ein schwedischer Fluch und ein Stöhnen, das überrascht, belustigt und schmerzhaft zugleich klingt.

Er zögert nur eine Sekunde, dann erwidert er die Umarmung auf seine für ihn typische rippengefährdende, Luft aus den Lungen drückende Weise. Irgendwas ganz tief in mir erzittert. Ich weiß nicht, wann mich das letzte Mal ein anderer Mensch mit seinen Armen davon abgehalten hat, auseinanderzufallen. Bis zu diesem Moment habe ich mir nicht gestattet, mir einzugestehen, wie einsam ich wirklich war. Jetzt, da die Nähe und Wärme einer bekannten Person reicht, um mir Tränen in die Augen zu treiben, kann ich es nicht länger leugnen.

Genauso ungestüm, wie ich mich auf ihn gestürzt habe, löse ich mich wieder von ihm und mache einen Schritt zurück. Ich werde weinen, wenn ich ihn noch länger berühre, das weiß ich. Und ich will nicht, dass es so weit kommt.

»Levi Nyberg, der erfahrene Produktionsassistent«, kriege ich hervor. »Nein, warte. Ab dieser Staffel bist du doch Levi Nyberg, der Kameramann, oder?«

Sein Grinsen wird so breit, wie ich es von ihm gewohnt bin, und meine Tränen, die wieder in mir hochsteigen wollen, versuchen, mir weiszumachen, dass das Grund genug ist, sie jetzt endlich zu weinen.

»Der bin ich«, sagt er und schließt meine Zimmertür hinter sich. »Der erste richtige Job nach meinem Studium.«

»Noch mal herzlichen Glückwunsch zum Abschluss.« Ich laufe zu meinem Bett zurück und lasse mich daraufplumpsen.

Levi setzt sich auf den Stuhl, auf dem sich so viele Klamotten stapeln, dass er darauf kaum noch Platz findet.

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