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Gut Erlensee - Cäcilias Erbe

Als Buch hier erhältlich:

Was tust du, wenn die Liebe deinen größten Traum zerstören könnte?

März 1922 bei Kiel. Cäcilia Herringer kann es kaum glauben: Sie hat es geschafft und die Ausbildung zur Lehrerin erfolgreich abgeschlossen. Dass sie für ihren großen Traum auf eine Ehe und Kinder verzichten muss, ist der jungen Frau egal, denn sie will sich auf keinen Fall in die Abhängigkeit eines Mannes begeben. Aber dann trifft Cäcilia den Physiker Jakob Kaltenbrunner, und das erste Mal in ihrem Leben hat sie das Gefühl, dass jemand ihre Begeisterung für Wissen versteht. Und während die Bindung zu ihrer neuen Familie auf Gut Erlensee, zu ihrem Patenonkel und ihren Cousinen auseinanderzubrechen droht, ist Jakob immer an ihrer Seite. Doch Cäcilia kann es sich auf keinen Fall erlauben, sich zu verlieben …


  • Erscheinungstag: 27.12.2022
  • Aus der Serie: Das Gut Am Erlensee
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365000410

Leseprobe

Kapitel 1

März 1922

Cäcilia

Sie sah sich verstohlen in der Aula des Lehrerinnenseminars um. Mattes Sonnenlicht fiel durch die hohen Fenster und warf hier und da goldene Reflexe auf die Haarschöpfe ihrer Mitstudentinnen. Fanny Wieland, die Nichte ihres Patenonkels Hermann, saß wie immer an ihrer Seite. Sämtliche Stadien der Lehrerinnenausbildung hatten sie gemeinsam durchlaufen, das Examen erfolgreich absolviert und sich auch ein Zimmer im Wohnheim geteilt.

»Hoffentlich ist die Rede bald zu Ende«, raunte Fanny ihr zu und stieß verdrossen einen Seufzer aus. »Ich sterbe vor Hunger, ich möchte endlich nach Hause und das Labskaus mit Spiegelei vertilgen, das Rosie eigens für meinen Festtag zubereitet.«

Cäcilia schmunzelte. Dass Fanny der ausschweifenden Ansprache von Doktor Weiß kaum folgte, überraschte sie nicht, interessierte sich ihre Freundin doch wenig für salbungsvolle Worte. Sie richtete den Blick wieder nach vorne und lauschte dem Seminarleiter, der die jungen Damen mit den strengen Frisuren und den schmucklosen dunkelblauen Kleidern, die im Hause Vorschrift waren, eindringlich musterte, während er sprach.

»Bevor ich Ihnen Ihre Urkunden überreiche und Sie in den baldigen Lehrdienst entlasse, möchte ich noch ein paar Sätze zum Rollenbild der Lehrerin anmerken.«

Cäcilia hörte, wie Fanny auf dem Nebenstuhl gähnte. Sofort durchbohrten die dunklen Augen des Seminarleiters die Freundin, die er ohnehin die gesamte Studienzeit hindurch im Auge gehabt hatte, da ihm ihre sorglose Haltung und vor allem die modische Erscheinung mit dem zu einem schwarz glänzenden Bob geschnittenen Haar, das dem neuesten Chic entsprach, missfielen. »Der Lehrerinnenzölibat wurde, wie Sie wissen, im Jahre 1919 durch die Weimarer Reichsverfassung abgeschafft«, fuhr er in grimmigem Ernst fort. »Jedoch gibt es Bestrebungen, diesen wieder einzuführen. Das basiert zum Teil auf wirtschaftlichen Grundlagen. Sobald die Arbeitslosenzahlen steigen, werden nur noch Männer beschäftigt. Undenkbar, dass Frauen in wirtschaftlich schlechten Zeiten auf ihrem Posten beharren und dadurch Männern die Möglichkeit nehmen, in Lohn und Brot zu stehen! Aber der Lehrerinnenzölibat hat noch ganz andere Ursprünge. Es entspricht nicht dem Wesen einer Frau, den Belastungen eines Berufs und einer Familie gleichermaßen standzuhalten.«

An dieser Stelle ließ Doktor Weiß seinen scharfen Blick über die Junglehrerinnen schweifen, als wolle er möglichen Widerspruch im Keim ersticken. Doch außer Fanny, die kaum hörbar schnaubte, äußerte sich niemand. Auch Cäcilia wurde langsam ungeduldig. Der Seminarleiter hatte seine Meinung über die Pflichten der Frau bereits oft im Unterricht kundgetan, außerdem wanderten ihre Gedanken immer stärker zu ihrer Ziehschwester Margareta, Onkel Hermanns Tochter, die sie und Fanny nach Übergabe der Zeugnisse abholen würde. Margareta war das wandelnde Beispiel dafür, dass Frauen es schaffen konnten, einem Beruf nachzugehen, ohne auf eine Familie zu verzichten. Gemeinsam mit ihrem Mann Konrad führte sie eine Druckerei in Langwedel; ihren einjährigen Sohn Korbinian vernachlässigte sie dabei keine Sekunde.

»Die Lehrtätigkeit ist nicht nur ein Beruf – sie stellt auch eine Berufung dar. Die Schule verlangt ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, meine Damen. Es ist schlichtweg unmöglich, sich hingebungsvoll seinen Schülern zu widmen und gleichzeitig den Bedürfnissen eines Ehemanns, geschweige denn eigener Kinder, zu genügen.«

Sie hörte, wie Fannys Magen laut knurrte, und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie die Freundin demonstrativ zu der großen Uhr über der Bühne, auf der der Seminarleiter am Rednerpult stand, sah. Auch sie selbst hoffte, Doktor Weiß möge endlich zum Schluss seiner Ausführungen kommen, die für sie sowieso nicht relevant waren. Cäcilia hatte nicht vor zu heiraten. Die Beziehung zwischen ihrer verstorbenen Mutter und ihrem Vater, der nach wie vor in Nürnberg seine Maschinenfabrik leitete, war unterkühlt, ja distanziert gewesen. Auch ihr Patenonkel Hermann und seine Frau Adelheid, zu denen ihr Vater sie nach Mutters Tod geschickt – besser gesagt abgeschoben – hatte, führten eine merkwürdige Ehe. Hermanns aufbrausende Art und Adelheids ständige Nörgelei schienen nicht so recht zusammenzupassen. Nein, sie wünschte sich nichts mehr, als selbstständig zu sein, auch wenn das bedeutete, dass sie allein bleiben würde. Sie freute sich sehr darauf, bald eine Schule zugewiesen zu bekommen, endlich Kinder unterrichten zu dürfen und ihnen alles Wissen, das sie besaß, weiterzugeben, um sie fürs Leben zu rüsten. Eine Ehe konnte wohl kaum befriedigender sein als solch eine wertvolle Aufgabe.

»Kommen wir nun zur Übergabe Ihrer Urkunden«, beendete Doktor Weiß seine Rede. Unverzüglich erfüllte das Knarren und Schieben von Stühlen die Aula, und die Lehramtsanwärterinnen reihten sich in eine lange Schlange ein, um ihr Zeugnis und einen letzten Händedruck des Seminarleiters entgegenzunehmen.

Das nachfolgende lebhafte Geplauder und Gelächter der jungen Frauen, die dem Ausgang entgegenstrebten, hatte nichts mehr mit der so stillen Atmosphäre in der Aula zu tun. Auch Cäcilia und Fanny liefen leichtfüßig zum Nebengebäude, wo das Wohnheim untergebracht war. Es war noch winterlich kühl, aber zu beiden Seiten des Weges blühten bereits gelbe Narzissen und blaue Hyazinthen, und es roch nach frischer Erde. Der Frühling war nicht mehr weit, und Cäcilia wurde es warm vor Freude, als sie an die kommende Zeit dachte. Bis Ostern hatte sie nun frei, danach begannen das neue Schuljahr und ihre Tätigkeit.

»Hoffentlich spannt uns die Schulbehörde nicht zu lange auf die Folter und gibt uns bald Bescheid, an welche Schule wir kommen.« Cäcilia drehte den Schlüssel im Schloss, und sie betraten zum letzten Mal ihr Zimmer. Nach den Ferien würden neue Studentinnen darin wohnen. Wehmut umklammerte ihr Herz. Es war eine schöne Zeit gewesen in Kiel, das Lernen und Zusammensein mit Fanny hatte ihr großen Spaß bereitet. »Ich kann es kaum erwarten zu erfahren, ob ich an meiner Wunschschule arbeiten darf. Der alte Lehrer geht in den Ruhestand, Platz wäre für mich.«

Fanny warf ihr übermütig ein Strumpfband zu, das Cäcilia am Morgen vergessen hatte, in ihren Koffer zu packen. »Ich bin mir sicher, dass sie dich nach Langwedel an den Erlensee schicken – das Nest ist so langweilig, da möchte doch sonst niemand hin.«

Cäcilia lachte, stopfte ihr Strumpfband in den Koffer und versuchte mühsam, ihn wieder zu schließen. »Das sagt die Richtige. Du willst doch auch in die Nähe des Erlensees, so öde kann es dort gar nicht sein.«

»Warte, ich helfe dir.« Fanny setzte sich auf den Koffer, und Cäcilia gelang es unter einigem Ächzen, die Riegel zu schließen. »Du weißt doch, dass ich aus einem anderen Grund dorthin möchte. In Kiel will ich nicht bleiben. Mutter würde verlangen, dass ich zu Hause wohne. Wie meine ganze Kindheit über wäre ich unter ihrer Fuchtel. Aber ich bin zweiundzwanzig, Cäcilia, genauso alt wie du, wir sind erwachsene Frauen. Mutter versteht das nicht. Lehrerin zu werden war meine einzige Chance, von zu Hause wegzukommen, ohne gleich den Erstbesten heiraten zu müssen. Wenn ich in die Nähe von Onkel Hermann käme, wäre Mutter beruhigt – sie geht davon aus, dass er ein Auge auf mich hätte.«

»Onkel Hermann hat mit seinen vier Kindern und mir genug zu tun«, entgegnete Cäcilia scherzhaft. »So, das Ungetüm ist endlich zu. Jetzt muss nur noch Margareta kommen, um uns abzuholen.«

Wie aufs Stichwort klopfte es an die Tür, und gleich darauf stand Cäcilias Ziehschwester Margareta in einem Staubmantel und mit einem Glockenhut auf den kastanienbraunen Locken in der Tür. Sie begrüßten und umarmten sich ausgelassen.

»Darf man gratulieren, oder seid ihr beiden durchgerasselt?«, fragte Margareta in gespieltem Ernst.

»Was denkst du denn, wir haben natürlich bestanden.«

»Meinen allerherzlichsten Glückwunsch! Ihr seid nach mir die nächsten Frauen in der Familie, die einen Beruf ergreifen. Zu Hause feiern wir.«

Cäcilia sah sich ein letztes Mal um, ob sie auch nichts vergessen hatte. Mit einer leisen Traurigkeit im Herzen, die sich mit der überbordenden Freude, einem neuen Lebensabschnitt entgegenzusehen, vermischte, folgte sie Margareta und Fanny aus dem Zimmer.

Unten an der Straße, an der die Bäume erstes frisches Grün zeigten, erwartete sie ein kleines Automobil in glänzendem Nachtblau.

»Ich glaube es nicht!«, rief Cäcilia überrascht und stellte ihren Koffer auf dem Gehweg ab. »Ihr habt ein Auto, du und Konrad? Ich dachte, wir nehmen uns eine Droschke und lassen uns zum Bahnhof bringen.«

»Ein nagelneuer Komet«, erklärte Margareta stolz.

Auch Fanny zeigte sich beeindruckt. »Und du kannst ihn fahren?«

»Selbstredend, ich habe vor Kurzem meinen Führerschein erworben.«

Für das viele Gepäck war der Kleinwagen nicht ausgerichtet, doch sie schafften es, die Koffer zu verstauen und sich selbst noch ins Innere des Gefährts zu zwängen. Sicher navigierte Margareta das Automobil durch die Straßen Kiels bis zu Fannys Elternhaus.

Fannys übermütige Stimmung von zuvor verdüsterte sich. »Ich werde dich vermissen, Cäcilia.« In der Enge des Wagens fielen sie sich in die Arme und verharrten so einen langen Moment.

Cäcilia stiegen die Tränen in die Augen, doch sie unterdrückte sie rasch, denn dies sollte ein fröhlicher Tag sein, kein trübsinniger. »Wir schreiben uns. Und mit ein bisschen Glück bekommen wir bald Post, in der steht, dass sich unsere Stellen in benachbarten Orten um den Erlensee herum befinden.«

»Du hast recht.« Fanny schniefte und angelte nach einem Taschentuch. »Und wenn alle Stricke reißen und wir ans Ende der Welt müssen, machen wir stattdessen unsere eigene Schule auf!«

»Genau!« Verschwörerisch blinzelte Cäcilia ihrer Freundin zu, woraufhin sie beide in Lachen ausbrachen. Eine eigene Schule zu eröffnen, war seit Beginn ihres Studiums eine Spinnerei gewesen, der sie sich manchmal hingegeben hatten, wenn Doktor Weiß sie allzu sehr mit den starren Vorgaben des Schulsystems quälte.

Cäcilia und Margareta begleiteten Fanny zur Haustür, lehnten aber ein Angebot von Tante Hildegard, zum Essen zu bleiben, ab, da sie noch die eineinhalbstündige Fahrt nach Langwedel vor sich hatten, wo die ganze Familie Lamprecht auf sie wartete.

»Ich hoffe, du freust dich, wieder von der Familie unter die Fittiche genommen zu werden«, bemerkte Margareta lächelnd, als sie Kiel verließen und auf die Landstraße einbogen. »Wir sind froh, dich wiederzuhaben, selbst wenn es nur für ein paar Wochen ist, bis du deinen, ich wollte fast sagen, Marschbefehl erhältst. In den Ferien warst du immer nur so kurz auf Gut Erlensee.«

Cäcilia dachte an ihr gemütliches Zimmer in dem alten Gutshaus, und Vorfreude ließ ihr Herz schneller schlagen. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue!«

Sie gehörte zwar erst seit drei Jahren zur Familie Lamprecht, doch sie konnte sich kaum noch vorstellen, einmal woanders gelebt zu haben. Die Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend bei ihren Eltern in Nürnberg schienen wie von einem dicken Nebelvorhang gedämpft. Ihre Mutter war stets sehr liebevoll zu ihr gewesen, doch das Leben in der Villa, die viel zu groß für drei Personen wirkte, hatte sie manchmal als geradezu beklemmend empfunden. Natürlich war ihr von Anfang an klar gewesen, dass dies an ihrem Vater lag, der ihr nie mit auch nur einem Hauch von Zuneigung begegnet war. Gab es etwas Herzloseres, als die einzige Tochter im Alter von neunzehn Jahren nach dem Tod der Mutter zum Patenonkel zu schicken, damit sie fortan dort lebte? Als ob sie, die ein selbstgenügsames, ruhiges Wesen besaß, eine Bürde für ihn darstellen würde! Noch immer erfüllte sie Groll, wenn sie an ihren Vater dachte.

Dennoch – so gestand sie sich auch heute ein, als sie aus dem Wagenfenster heraus die Landschaft betrachtete, die eine Ahnung von Frühling aufkommen ließ – hatte sie es bei den Lamprechts gut getroffen. Ihr Patenonkel Hermann war ein Raubein, aber die anderen Familienmitglieder liebte sie heiß und innig, sie waren wie Blutsgeschwister für sie. Da war Gregor, der Älteste, der auf Gut Erlensee eine Pferdezucht betrieb, Marilla, die mit ihrem Ehegatten nach Hamburg gezogen war, Carla, das Nesthäkchen, die mit ihren fünfzehn Jahren nichts als Schalk im Kopf hatte, und selbstverständlich Margareta, die ihre Vertraute war. Großmutter Ilsegard, Hermanns Mutter, die mit ihren über siebzig Jahren kein Blatt vor den Mund nahm, verehrte sie förmlich. Die einzige Person, die ihr nicht so recht geheuer war, war Adelheid, die Frau ihres Patenonkels. Das Misstrauen war gegenseitig. Adelheid schien sie seit ihrer Ankunft vor drei Jahren lediglich als zusätzlichen Esser zu betrachten, und auch nun, wo es der Familie wirtschaftlich um einiges besser ging als direkt nach dem Großen Krieg, beäugte sie Cäcilia zuweilen argwöhnisch. Wenn sie nur wüsste, wieso? Die Herzlichkeit von Großmutter Ilsegard und ihrer Ziehgeschwister machten dieses Verhalten allerdings vielfach wett.

»Was gibt es Neues auf dem Gut?«

Margareta hupte ungeduldig, als ein froschgrüner Opel fast in Schrittgeschwindigkeit vor ihnen herkroch. »Hm, lass mich überlegen. Der Druckerei geht es gut, Konrad und ich können uns nicht über mangelnde Aufträge beschweren. Und zu Hause – stell dir vor, unser Kleiner läuft! Er kann ein paar Schritte alleine bewältigen, ohne an der Hand zu gehen!«

»Wunderbar!« Cäcilia wartete einen Moment, bis Margaretas Welle glühenden Mutterstolzes abgeebbt war. Korbinian war inzwischen ein Jahr alt und sorgte täglich für Abwechslung im Gutshaus, jedenfalls hatte Cäcilia ihn bei ihren Besuchen in Langwedel stets als überaus lebhaft empfunden. »Und der Rest der Familie?«

»Wie immer. Gregor hat nur seine Pferde im Kopf, und Marilla schreibt fleißig aus Hamburg. Ihre kleine Emilie hält sie ebenso sehr auf Trab wie Korbinian mich. Um Carla mache ich mir Sorgen.« Stirnrunzelnd warf Margareta ihr einen Seitenblick zu. »Das Lyzeum scheint ihr keinen Spaß zu machen. Ich habe sie ein paarmal dabei erwischt, wie sie den Unterricht schwänzte. Ich hoffe, meine Eltern bekommen davon nichts mit. Vater würde außer sich sein.«

Das konnte Cäcilia sich nur zu gut vorstellen. Sie war eigentlich die Einzige, die nicht unter Hermanns cholerischem Temperament leiden musste, andererseits war sie ja auch nur sein Mündel und keines seiner leiblichen Kinder.

»Nun habe ich ja ein paar Wochen frei. Ich kümmere mich um Carla«, tröstete sie Margareta. Diese nickte ihr dankbar zu.

Die eineinhalb Stunden Fahrtzeit vergingen wie im Flug. Kaum hatten sie alle Familienneuigkeiten ausgetauscht, da tauchte das Dorf vor ihnen auf. Sie passierten es und bogen kurz darauf auf den steinigen Weg ein, der am Erlensee entlang zum Gutshaus führte. Cäcilias Herz machte einen Satz; wie schön war es doch, wieder heimzukommen.

Aufgeregt sah sie dem Haus entgegen, dem sich der Komet nun in gemächlichem Tempo näherte. Sie erinnerte sich, wie sie das Gebäude bei ihrer Ankunft vor drei Jahren zum ersten Mal wahrgenommen hatte – wie inmitten von Dornröschenhecken ruhend, lediglich mit dem Unterschied, dass das alte Gemäuer von Wacholderbüschen umgeben war statt von Rosen. Stattliche Erlen säumten den Hof und den Weg zum See hin. Rechts vom Wohngebäude befanden sich die Pferdeställe, die Gregor neu angelegt hatte, und die Ställe der wenigen Schweine und Hühner, die die Lamprechts hielten. Zur Linken stand die Schnapsbrennerei, die Großmutter Ilsegard mithilfe Hermanns neu errichten ließ, um ihren geliebten Wacholderschnaps zu brennen. Ihre zunächst unbedeutend erscheinende Geschäftsidee trug mittlerweile Früchte, sodass sie gut davon leben konnten.

Margareta bremste, wobei von allen Seiten Staub aufwirbelte, und sie stiegen aus. Hofhund Harras sprang bellend an Cäcilia hoch, als habe er sie die letzten Monate vermisst. Lachend strich sie ihm über das Fell.

»Ich bin wieder da, mein Guter.« Die Freude, wieder zu Hause zu sein, ließ ihre Stimme heiser klingen. Margareta hob den Koffer aus dem Automobil und legte den Arm um sie, Cäcilia wusste, wie gut sie ihre Rührung nachvollziehen konnte, standen sie sich doch nah wie echte Schwestern.

»Cäcilia!«, ertönte ein spitzer Schrei aus der Tür des Schweinestalls. Die fünfzehnjährige Carla, in einer geflickten Arbeitshose und Gummistiefeln, das braune Haar nachlässig hochgebunden, rannte auf sie zu und wirbelte sie in einer wilden Umarmung herum. »Ich konnte es kaum erwarten, dass du heimkehrst! Komm schnell in den Stall, die Sau hat Junge bekommen, sie sind so rosig und süß, das musst du dir anschauen!«

»Nun mal langsam.« Margareta versuchte, Cäcilia in Richtung Haus zu ziehen. Carlas Geruch nach Stall und Mist war durchdringend, und ihre Hände, mit denen sie Cäcilia an den Ärmeln ihres dunkelblauen Festtagskleides hielt, schmutzbraun.

»Später«, vertröstete Cäcilia das junge Mädchen. »Ich muss mich erst umziehen, danach bewundere ich die Ferkelchen.«

»Carla!« Cäcilia zuckte zusammen, als die schrille Stimme Adelheids über den Hof klang. In einem züchtigen, hochgeschlossenen Kleid mit altmodischer Spitzenbordüre am Kragen stand die Frau ihres Patenonkels auf den Stufen vor dem Gutshaus und feuerte aufgebrachte Blicke auf ihre jüngste Tochter ab. Wie immer stand diese im Fokus ihrer Aufmerksamkeit. Cäcilia kam sich wieder einmal unsichtbar vor. An Weihnachten war sie zum letzten Mal auf Gut Erlensee gewesen, trotzdem hielt Adelheid es nicht für nötig, sie zu begrüßen, bevor sie ihren Unmut an ihrer Jüngsten ausließ. Obwohl sie dieses Verhalten von Adelheid gewöhnt war, versetzte es ihr jedes Mal aufs Neue einen Stich der Enttäuschung.

Mit langen Schritten kam Adelheid über den Hof, geziert ihren Rocksaum raffend, um ihn nicht mit Staub zu beschmutzen. »Carla! Dieser Aufzug! Und was treibst du wieder hier draußen! Du warst doch nicht etwa im Schweinestall?« Angeekelt rümpfte Adelheid die Nase. »Du sollst deine französischen Vokabeln lernen, nicht hier draußen Stallmagd spielen! Es ist eine Schande, wie du deinen gesellschaftlichen Stand mit Füßen trittst!«

»Aber Mutter!«, entgegnete Carla entrüstet. »Die Sau bekommt nicht alle Tage Ferkel, es ist doch klar, dass ich da assistieren muss!«

»Sie bekommt nicht alle Tage Ferkel, aber du hockst alle Tage im Dreck!«, zischte Adelheid. »Ich verzweifle noch an dir! Wie soll jemals etwas aus dir werden?«

Cäcilia trat unruhig von einem Fuß auf den anderen; aus diesen Familienzwistigkeiten hielt sie sich grundsätzlich heraus, denn sie betrachtete sich noch immer als Gast auf Erlensee, auch wenn alle außer Adelheid sie längst als Familienmitglied akzeptiert hatten.

Stattdessen sprang Margareta für ihre kleine Schwester in die Bresche. »Mutter, du weißt, wie sehr Carlas Herz am Hof hängt. Lass ihr doch das Vergnügen, Vokabeln kann sie auch nach dem Abendessen noch pauken.«

Adelheid schnaufte missmutig.

Cäcilia ergriff rasch die Gelegenheit, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Guten Tag, Tante Adelheid, ich bin wieder zu Hause.«

»Das sehe ich.«

Wie so oft war ihr unter Adelheids musterndem Blick unbehaglich zumute. Die Aussicht, in ein paar Wochen die kleine Dienstwohnung eines Schulgebäudes zu beziehen, falls es sie doch weiter weg verschlagen sollte, erschien ihr mit einem Mal sehr verlockend. Um Worte verlegen, griff sie nach ihrem Koffer, den sie neben sich abgestellt hatte.

»Komm, ich bringe dich erst mal in dein Zimmer.« Margareta hakte sie unter, und sie ließen Adelheid und Carla, die sich in ein weiteres Wortgefecht verstrickten, auf dem Hof zurück. Cäcilia atmete auf. Wieder einmal verstand Margareta ganz genau, wie sie sich fühlte, und sie war froh, in ihrem Zimmer ein bisschen verschnaufen zu können.

Der unfreundliche Empfang durch Adelheid war erst einmal vergessen, als sie sah, welche Mühe sich Minna, das neue Dienstmädchen, gegeben hatte; auf dem Schreibtisch unter dem Fenster stand ein Strauß pastellgelber Tulpen, umkränzt von Schleierkraut, und daneben befand sich ein Porzellanteller mit frisch gebackenen Keksen. Auf dem Bett lag eine sonnenblumengelbe Überdecke – wer Minna wohl verraten hatte, dass Gelb ihre Lieblingsfarbe war? –, und auf dem Kissen saß ihre Schildkröt-Puppe, die sie nach dem Tod ihrer Mutter aus Nürnberg mitgebracht hatte. Ins Wohnheim des Lehrerinnenseminars hatte sie die Puppe nicht mitnehmen wollen, aber es fühlte sich schön an, sie wiederzuhaben, denn sie stellte ein Stück Heimat dar. Dankbar seufzend rückte sie den Hut auf den blonden Locken der Puppe zurecht.

»Soll ich dir beim Auspacken helfen?«, bot Margareta an.

Cäcilia schüttelte den Kopf. Sie wollte ein wenig allein sein, um nach diesem ereignisreichen Tag zur Ruhe zu kommen. »Danke, das ist lieb, aber das erledige ich selbst.«

»Mutter hast du schon gesehen, du hast also das Schlimmste hinter dir«, flachste Margareta. »Die restlichen Begegnungen werden angenehmer verlaufen, das verspreche ich dir. Gregor und Großmutter freuen sich sehr auf dich, und Vater auch. Kommst du um sieben zum Aperitif in den Salon? Wir wollen auf deinen Abschluss anstoßen.«

Cäcilia nickte, und Margareta ließ sie allein in ihrem Zimmer zurück.

Den Koffer konnte sie später noch auspacken; sie trat ans Fenster und sah hinaus über den Hof bis hin zu den dichten Erlen, hinter denen versteckt der See lag. Wie immer erfüllte sie diese friedliche Aussicht mit Wohlbehagen und dem Gefühl, zu Hause zu sein, auch wenn Adelheid sie nicht gerade herzlich willkommen geheißen hatte. Eine fahle Spätnachmittagssonne warf helle Lichtpfützen auf die Dächer der Ställe und der Schnapsbrennerei, aus deren Tür just ihr Patenonkel Hermann trat. Er trug seinen Enkel Korbinian, Margaretas Sohn, auf den Schultern. Cäcilia schmunzelte. Vor einem Jahr noch hätte niemand aus der Familie Lamprecht auch nur im Entferntesten geahnt, dass Hermann, der selten einmal Zuneigung gegenüber seinen Kindern zeigte, einen solchen Narren an seinem Enkel fressen würde. Vielleicht war der Kleine ein Trost für die Tatsache, dass ihr Onkel nach seinem Erstgeborenen lediglich noch drei Töchter bekommen hatte? Korbinian patschte seinem Großvater mit den kleinen Händen auf den Hut, worauf dieser wie ein Pferd zu galoppieren begann, was das Kleinkind mit quietschendem Lachen quittierte.

Wehmut machte ihr das Herz schwer, als sie ihren Fensterplatz verließ und sich zu der Puppe auf das Bett setzte. An derlei Szenen besaß sie selbst keinerlei Erinnerung. Zwar war ihre Mutter stets für sie da gewesen und hatte in Nürnberg viel Zeit mit ihr verbracht, doch die kühle Behandlung durch ihren Vater verdunkelte im Nachhinein alle schönen Bilder, die sie in sich trug. Als er sie vor drei Jahren zu ihrem Patenonkel auf Gut Erlensee abgeschoben hatte, war der Kontakt erloschen. Auf Cäcilias anfängliche Briefe antwortete er nicht, und auch die Nachricht, dass sie ins Lehrerinnenseminar eingetreten war, blieb unkommentiert. Cäcilia strich ihrer Puppe gedankenverloren über die flachsblonden Haare. Ob sie ihm wohl schreiben sollte, dass sie alle Prüfungen bestanden hatte und in wenigen Wochen ihre erste Stelle antreten würde? Ihre Mutter wäre sehr stolz auf sie gewesen, das spürte sie tief in ihrem Inneren.

Sie war damals die Erste gewesen, der sie ihren Berufswunsch mitgeteilt hatte, und diese hatte ihn begeistert aufgenommen. Ihre Gedanken wanderten zum Krieg zurück. Es waren schwere Zeiten gewesen; ihr Vater war zwar aufgrund eines rheumatischen Leidens nicht eingezogen worden, doch fast die gesamte Belegschaft seiner Maschinenfabrik musste einrücken. In seiner Not engagierte Vater deren Ehefrauen sowie Kriegswitwen, um die Arbeit der Männer zu übernehmen. Damit für deren Nachwuchs gesorgt war, gründete Mutter kurzerhand einen jener Kriegskindergärten, die in diesen Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen. So entbehrungs- und verlustreich die Kriegsepoche auch war, so sehr genoss Cäcilia es, sich um die Kleinen zu kümmern, mit ihnen zu spielen und zu lachen. Sie ging so in ihrer Aufgabe auf, dass der Traum, Lehrerin zu werden, wie von alleine in ihr heranreifte. Noch oft erinnerte sie sich daran, wie viel es ihr damals bedeutet hatte, für die Sorgen und Nöte der Kleinen da zu sein und etwas Freude in ihren Alltag zu bringen. So wollte sie ihr Leben gestalten – mit Kindern zusammenarbeiten, ihnen nützliche Dinge beibringen und sie zu glücklichen Menschen machen.

»Ich werde Vater nicht schreiben«, murmelte sie entschlossen und setzte die Puppe wieder sorgsam auf das Kissen, »es würde ihn ohnehin nicht interessieren. Was ich für die Kinder seiner Arbeiter getan habe, hat ihn auch kaltgelassen.«

Den Stachel der Enttäuschung, der sich wie so oft leise in sie bohrte, versuchte sie zu ignorieren. Was blieb ihr anderes, als die Tatsachen so anzunehmen, wie sie sich ihr darstellten? Aber nun musste sie ihre Gedanken unbedingt auf Erfreulicheres richten: Mit dem heutigen Tag war sie eine fertig ausgebildete Lehrerin, und am Abend würde die gesamte Familie Lamprecht sie mit einer Feier willkommen heißen.

Nachdem sie am späten Nachmittag mit Carla die neugeborenen Ferkel gebührend bewundert hatte, ging sie kurz vor sieben über die mit dicken, alle Schritte dämpfenden Teppichen ausgelegte Treppe mit der geschwungenen Holzbrüstung nach unten in den Salon. Unterwegs warf sie einen letzten Blick in den Spiegel; statt ihres dunkelblaues Kleides, das sie wie andere seiner Art ihr Studium über begleitet hatte, trug sie nun ein lavendelblaues Kleid mit tiefer Taille, dessen in zwei schrägen Bahnen geschnittener Rock in weichen Falten bis zu ihren Waden fiel. Ihre honigblonden Haare waren zu einem lockeren Chignon geschlungen; im Seminar verlangte die Hausordnung stets gedeckte Farben, züchtige Schnitte und strenge Frisuren, doch auf Gut Erlensee durfte sie nun ganz sie selbst sein.

Ein helles Feuer loderte im Kamin, und die knackenden, knisternden Äste verbreiteten eine heimelige Atmosphäre. Es roch wie stets nach Rauch und Bohnerwachs.

»Cäcilia!« Carla, die auf einem samtbezogenen Sessel vor dem Kamin kauerte – auf ihren Knien lag ein dicker Wälzer –, sprang erleichtert auf, als sie eintrat, lief ihr entgegen und fiel ihr so ungestüm um den Hals, als wäre sie noch immer eine Zwölfjährige. »Du bist meine Erlösung! Ich langweile mich zu Tode mit den überflüssigen Vokabeln, die ich mir tagtäglich verinnerlichen soll!«

»Ich kann dir ja die nächste Zeit ein wenig helfen.« Cäcilia ließ einen verstohlenen Blick über Carla schweifen. Zwar hatte sie sich ihrer Stallkluft entledigt und ein Musselinkleid übergestreift, doch der darunter hervorlugende Strumpf hatte ein Loch, die Knöpfe waren nachlässig geschlossen und die Fingernägel unsauber.

»Setzen wir uns doch.« Eilig schob Cäcilia ihre Ziehschwester zum Sofa, bevor Adelheid, die mit einer Stickarbeit am Fenster saß, ihre Jüngste allzu genau in Augenschein nahm.

»Ich hasse diese Schule!«, stöhnte Carla und streckte weit die Füße von sich. »Latein und Französisch, und am schlimmsten von allem: Mathematik! Sag mir, wozu ich das jemals im Leben brauchen werde? Mein Platz ist hier auf dem Hof, auch wenn das niemand aus der Familie akzeptieren will.«

»Carla, um Himmels willen!« Adelheid war unbemerkt hinzugekommen und stellte ihre gewöhnliche Leichenbittermiene zur Schau. »Setz dich ordentlich hin, du siehst aus wie ein Bauer, der sich in der Gesindestube auf die Holzbank flegelt!«

Demonstrativ langsam nahm Carla eine andere Haltung ein, wobei sie eine Grimasse in Cäcilias Richtung schnitt. Diese verkniff sich ein Schmunzeln; auf dem Gut hatte sich seit ihrem letzten Besuch in den Weihnachtsferien nichts geändert.

Adelheid wollte offenbar zu einer Tirade über die Notwendigkeit einer höheren Töchterschule ansetzen, als wie durch eine Flutwelle alle übrigen Familienmitglieder auf einmal in den Salon gespült wurden, Margareta und ihr Mann Konrad mit dem kleinen Korbinian, Patenonkel Hermann und seine Mutter Ilsegard und Gregor, der Älteste der Geschwister.

»Na, wen haben wir denn da?« Hermanns stets rotes Gesicht strahlte, als er ihr kräftig die Hand schüttelte. Er wäre nie so weit gegangen, sie als sein Patenkind oder auch nur eines seiner eigenen Kinder zu umarmen, das wusste Cäcilia. Ein kräftiger Handschlag war alles, zu dem er sich herabließ. Seit Weihnachten schien er noch mehr zugelegt zu haben, denn seine Weste mit der goldenen Taschenuhr im Einschubfach spannte unübersehbar. »Mit Pauken und Trompeten bestanden, nehme ich an?«

»Ja, Onkel Hermann. Nun bin ich examinierte Lehrerin.«

Ilsegard drängte sich an ihrem Sohn vorbei, um sie liebevoll in die Arme zu schließen. »Komm her, mein Kind. Ich bin so stolz auf dich, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Ich wusste von Anfang an, dass du deinen Weg gehst und dass aus dir kein verschrecktes Heimchen am Herd wird, sondern eine moderne Frau, die selbstständig über ihr Leben bestimmt.«

»Danke, Ilsegard.« Cäcilia schmiegte sich eng an Großmutter und atmete deren vertrauten Duft nach Kölnisch Wasser ein. Die alte Dame war immer diejenige gewesen, von der sie sich am meisten beschützt und geliebt gefühlt hatte. Sie freute sich, dass Ilsegard trotz ihrer mittlerweile fünfundsiebzig Jahre noch immer rosig und blühend wirkte, das Gesicht war fast faltenfrei, und das weiße Haar umgab ihren Kopf wie eine Krone.

»Komm her, altes Haus.« Nun war Gregor an der Reihe, der sie kurz an seine Schulter zog. Durch die Arbeit im Freien und mit den Pferden war er stark und muskulös. Mit seinen verwuschelten kastanienbraunen Haaren und dem selbst von der Wintersonne gebräunten Gesicht war er attraktiv wie eh und je. »Wie sieht’s aus, Cäcilia? Willst du nicht jetzt, wo du ein paar Wochen frei hast, endlich reiten lernen? Genug Pferde haben wir, und du kannst dich nicht mehr damit herausreden, dass du keine Zeit hast, weil du ständig lernen musst.«

»Ich…«, begann Cäcilia und überlegte, wie sie sich herauswinden konnte. Im Gegensatz zu Gregor und Margareta, die leidenschaftliche Reiter waren, schienen ihr die riesigen Vierbeiner nicht geheuer. »Vielleicht, aber …«

Alle lachten, und Cäcilia spürte, dass sie rot wurde. Zweifellos wusste ein jeder in der Familie, dass sie einen Heidenrespekt vor den Tieren hatte, obwohl sie mitten auf einem Gestüt lebte.

»Du kannst es dir ja in Ruhe überlegen«, kam ihr Margareta zu Hilfe.

»Genug herumgestanden«, ordnete Hermann an. »Nun wollen wir anstoßen. Carla, läute nach Minna, ich habe Sekt kaltstellen lassen.«

»Ich für meinen Teil halte mich an meinen Wacholderschnaps, der mir in den letzten vier Jahrzehnten gute Dienste erwiesen hat.« Ilsegard lächelte vergnügt.

Kurz darauf brachte Minna auf einem gefährlich schwankenden Tablett feinziselierte Kelche und eine Flasche mit edlem Etikett. Auf Sofas und Sessel verteilt – Carla saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Klavierhocker, was ihr einen unzufriedenen Seitenblick von Adelheid einbrachte –, nahm jeder sein Getränk entgegen, außer Ilsegard, die sich ein Schlückchen ihres selbst gebrannten Wacholderschnapses eingoss.

»Ein Söhnlein Rheingold«, bemerkte Hermann zufrieden und hob sein Glas, während er mit der anderen Hand Korbinian auf sein Knie zog. »Zur Feier des Tages habe ich den edlen Tropfen eigens per Kurier bestellt.«

Cäcilia drehte das Glas aufgeregt in den Händen. Wie rührend es war, dass ihr Patenonkel, der für gewöhnlich ein eher schroffes Auftreten an den Tag legte, sich ihr zuliebe solche Mühe gab. Wieder wanderten ihre Gedanken zu ihrem Vater nach Nürnberg, doch sie schob sie rasch an den Rand ihres Bewusstseins. Die Lamprechts waren nun ihre Familie, die einzige Familie, die sie noch besaß.

»Auf Cäcilia!«

Alle stießen an, außer Carla, die missmutig an ihrer Limonade nippte und es ihrer Mutter offensichtlich nachtrug, dass sie keinen Alkohol probieren durfte. Cäcilia fühlte die warmen Blicke aller auf sich. Wie viel Glück sie doch hatte, von dieser Familie aufgenommen worden zu sein! Sie war stets ein einsames Einzelkind gewesen, und nun besaß sie Geschwister, die sie vorbehaltlos in ihrem Kreis aufgenommen hatten, einen Patenonkel – der, nun ja, in letzter Zeit nicht mehr ganz so oft mit seinem cholerischen Wesen herausbrach – und eine kluge, herzensgute Großmutter, die stets Verständnis für die Jugend aufbrachte. Wenn nur nicht …

»Wahrscheinlich wirst du ja nicht mehr lange unter uns sein«, warf Adelheid spitz ein und stellte ihren Sektkelch geräuschvoll auf dem Kaminsims ab.

Cäcilia versteifte sich, doch Carla kam ihr zuvor und fragte freiheraus: »Was soll das heißen, Mutter?«

Auch Ilsegard, Margareta und Gregor wandten sich stirnrunzelnd an Adelheid.

»Na, bald wird sie ihren Bescheid erhalten, an welchem Ort sie ihren Dienst versehen muss, und der kann unter Umständen recht weit entfernt sein.«

In Cäcilia zog sich alles zusammen. Adelheid sprach von ihr, als sei sie überhaupt nicht anwesend; nicht dass sie das nicht gewöhnt war, doch es traf sie noch immer wie mit feinen Nadelstichen.

Sie bemühte sich, äußerlich gefasst zu bleiben. »Ja, das ist möglich.«

»Unsinn«, brauste Ilsegard auf. »Du hast doch Langwedel als Wunschort angegeben, Kind, und deinem Wunsch wird man schon entsprechen! Natürlich bleibst du hier wohnen.«

»Ich hoffe, dass es sich so ergibt. Aber die Schulaufsicht kann mich genauso gut an jeden beliebigen Ort schicken.« Cäcilia konnte nicht umhin, zu Adelheid zu schauen, die die Lippen zusammenpresste.

»Ich wünsche mir selbstverständlich auch, dass du hierbleibst«, wandte Gregor ein, dessen Haar im Feuerschein des Kamins rötlich glänzte. »Allerdings wäre dann unser Pfarrer Raabe dein direkter Vorgesetzter. Und mit ihm ist nicht gut Kirschen essen. Seine Predigten sind oft direkt an Gemeindemitglieder gerichtet, deren Tun und Lassen ihm nicht gefällt. Man verscherzt es sich schnell mit ihm.«

»Das soll er wagen.« Hermann nahm einen kräftigen Schluck. »Wir Lamprechts sind noch immer von Bedeutung in diesem Dorf. Noch immer führen wir eine große Druckerei, die etlichen Einwohnern Arbeit gibt.«

Margareta lächelte ihren Vater an. »Streng genommen gehört die Druckerei nicht mehr den Lamprechts, wir Neumayers haben sie übernommen.« Zärtlich lächelte sie ihren Ehemann an; Konrad hielt sich wie immer aus den Familienangelegenheiten heraus, genoss seinen Sekt und schaute in die beruhigenden Flammen, die aus den Ästen und Zweigen im Kamin züngelten.

»Wie auch immer«, grummelte Hermann. »Aber vielleicht kommt es doch ganz anders. Womöglich schlägt Cäcilia ganz andere Wege ein und heiratet.«

Vehement schüttelte Cäcilia den Kopf. Unglaublich, wie oft sie den Menschen klarmachen musste, dass sie an einer Ehe kein Interesse hatte! Sie hatte die Strapazen des Studiums nicht auf sich genommen, um wenig später ihre hart erkämpfte Berufstätigkeit aufzugeben und nur noch Hausfrau zu sein. Denn wie Doktor Weiß im Seminar nicht müde geworden war, ihnen mitzuteilen, wurden verheiratete Lehrerinnen stante pede entlassen, wurden sie doch nun in wirtschaftlicher Hinsicht von ihrem Ehemann versorgt. »Ich werde bestimmt nicht heiraten, Onkel Hermann. Mein Traum war es schon immer, Lehrerin zu sein, und dieser Beruf ist nur unverheirateten Frauen erlaubt.«

»Wir werden sehen.« Hermann ließ sich von Minna, die eine weitere Flasche Söhnlein Rheingold hereinbrachte, nachgießen. »Auf jeden Fall hättest du es an der Seite eines einigermaßen finanzkräftigen Ehemanns erheblich besser; ihr Lehrerinnen verdient ja nur einen Apfel und ein Ei.«

»Aber zumindest bin ich eigenständig und kann über mein Geld verfügen, wie ich möchte«, gab Cäcilia zu bedenken. Dieses Gespräch hatten sie im selben Wortlaut schon ein ums andere Mal geführt, doch sie war nie von ihrem Standpunkt gewichen.

»Vater, du hast vor Jahren schon versucht, mich mit einem reichen Grafensohn zu verkuppeln«, warf Margareta lachend ein und tauschte einen Blick mit Konrad, der schmerzlich unter der Erinnerung zusammenzuckte, während er Korbinian ein Glas Wacholderlimonade reichte, »und es hat nicht funktioniert. Lass es bei Cäcilia am besten bleiben.«

»Der gute Leonhard von Köckritz ist ja inzwischen auch unter der Haube.« Carla grinste ihre Mutter diebisch an. Erheitert stellte Cäcilia fest, dass Adelheid betroffen aussah. Natürlich, sie konnte es wohl noch immer nicht verarbeiten, dass Margareta nicht den schmucken Grafen, sondern den mittellosen Vorarbeiter Konrad Neumayer geheiratet hatte, wobei dieser als Geschäftsführer der Druckerei mittlerweile gutes Geld verdiente.

»Jetzt lasst das arme Kind doch erst mal in Ruhe zu Hause ankommen.« Beruhigend strich Ilsegard über Cäcilias Arm. »Sie hat bis Ostern frei, um sich von den Strapazen der Lernerei zu erholen.«

Dankbar sah Cäcilia Großmutter an.

»Ach, jetzt hätte ich fast das Wichtigste vergessen«, entfuhr es Ilsegard. »Ich habe ja noch ein Geschenk für dich – zu Ehren deines Erfolgs.«

Sie wies Carla an, ein hinter dem Sofa verstecktes Paket hervorzuholen, das Cäcilia sogleich aufschnürte. Die Augen der ganzen Familie ruhten neugierig auf ihr, was sie ein wenig unruhig werden ließ, denn sie stand nicht gerne im Mittelpunkt. Unter dem Papier kam eine nagelneue Ledertasche mit glänzenden Messingschnallen zum Vorschein.

»Meine Güte, eine langweilige Schultasche«, platzte Carla heraus. »Auf so ein Geschenk würde ich persönlich keinen Wert legen.«

»Carla!«, zischte Adelheid erbost.

Doch Cäcilia freute sich sehr über die Gabe, sie war so gerührt von Großmutters Gedanken, sie mit etwas Schönem und zugleich Nützlichem für ihre Arbeit zu bedenken, dass sie sie überwältigt in die Arme nahm. »Danke, tausend Dank. Die Tasche wird mir täglich ein treuer Begleiter sein.«

»Ich hoffe, sie bringt dir Glück, mein Kind, auch falls dich dein Beruf weit weg von uns führen sollte. Aber das wollen wir ja nicht hoffen.« Ilsegard tätschelte ihr den Rücken.

In diesem Moment rumpelte es gegen die Tür, und Minna trat mit zerknitterter weißer Schürze herein. »Hedwig sagt, wenn Sie sich nicht bald ins Esszimmer bequemen, wird der Braten kalt.«

»Wie kann sie es als einfache Köchin wagen, so respektlos über uns zu reden!«, brach es aus Adelheid heraus, doch ihr Geschimpfe ging im Gelächter ihrer Kinder und Ilsegards unter. Nur Hermann stand ihr zur Seite.

»Mit Hedwig werde ich morgen ein Hühnchen rupfen, darauf kannst du dich verlassen. Und mit Minna auch, was muss das vorlaute Ding Hedwigs Bemerkung auch wortgetreu vor uns wiederholen«, versprach er seiner Frau grimmig.

Die Familie, allen voran Carla und Korbinian, zogen ins angrenzende Esszimmer um, wo es bereits köstlich nach Braten und Kartoffeln duftete. Cäcilia erhob sich als Letzte vom Sofa, die neue Ledertasche fest an sich gedrückt. Tief in Gedanken versunken, sah sie sich bereits ihre Bücher aus der Tasche nehmen und auf ein blank poliertes Pult legen, eine hintereinander sitzende Kinderschar vor sich, die sie mit offenen, erwartungsvollen Augen ansah. Aufregung durchzuckte sie wie ein Blitz den Erlensee an einem heißen Sommertag. Sie konnte es kaum erwarten, zu erfahren, was ihr die nächsten Wochen wohl bringen mochten.

Kapitel 2

März 1922

Cäcilia

Als sie am nächsten Morgen erwachte, stand die bleiche Frühlingssonne bereits hoch am diesigen Himmel. Leichte Kopfschmerzen stachen hinter ihren Augen, sie hätte am Vorabend nicht so viel Sekt trinken sollen. Aber die Stimmung bei Tisch und danach war trotz Adelheids verbissener Miene ausgelassen gewesen, und sie hatte es genossen, wieder inmitten der Familie zu sein.

Während sie in eine safrangelbe Bluse und einen wadenlangen Rock schlüpfte, überlegte sie, wie sie ihren Tag gestalten sollte, denn nach den letzten Jahren, in denen sie kaum einmal frei vom Lernen und Probeunterricht gewesen war, fiel es ihr nun schwer, sich zu beschäftigen. Zuerst musste sie frühstücken, denn trotz Hedwigs reichlichem Mahl am Abend war sie wieder hungrig.

Im Esszimmer, in dem der Geruch nach Kaffee, Eiern und geröstetem Brot hing, traf sie nur noch auf Ilsegard, die in ihre Morgenzeitung vertieft war. Dieser Anblick war Cäcilia so vertraut, dass sich ihr Magen einen Augenblick zusammenzog; impulsiv küsste sie die alte Dame auf die weiche Wange, woraufhin ihr der Duft nach Eau de Cologne in die Nase stieg.

»Cäcilia!« Ilsegard faltete die Zeitung zusammen und legte sie neben ihre Tasse auf die Damasttischdecke. »Wie schön, dass wir zusammen frühstücken können. Zurzeit bin ich morgens immer so langsam, dass fast alle schon ausgeflogen sind, bis ich es von oben herunterschaffe. Ich mutiere mehr und mehr zu einer lahmen Schnecke.«

Cäcilia lachte und nahm neben Großmutter Platz. »Ach was, dafür bist du im Geiste noch immer ein junger Hüpfer.«

Minna erschien, um Cäcilia eine frische Kanne Kaffee zu bringen. Zum Glück gab es allmählich wieder richtigen Kaffee, auch wenn Ilsegard noch immer mit Vorliebe ihr Getreidegebräu aus dem Krieg trank. Sie bemerkte, dass die Augen des Dienstmädchens gerötet waren; sofort tat sie ihr leid, denn wahrscheinlich hatte Hermann ihr wegen ihrer Bemerkung gestern Abend gehörig die Leviten gelesen.

»Danke schön, Minna«, sagte sie freundlich und bestrich sich eine Brotscheibe dick mit Wacholdermarmelade.

Ilsegard betrachtete sie zufrieden. »Na, meine Marmelade hast du in Kiel gewiss vermisst, nicht wahr? Neben meinem Schnaps verkauft sich die Marmelade am besten. Hermann und ich beliefern mittlerweile alle Geschäfte im Umkreis, sogar einige Kunden in Kiel bestellen regelmäßig unsere Produkte. Hermännchen hätte sich nie träumen lassen, dass wir einmal solche Erfolge verbuchen.«

»Die Marmelade schmeckt köstlich. Im Seminar gab es nur so zähen Honig, der klebte wie verrückt.« Cäcilia erinnerte sich nur zu gut an die Zeit vor zwei Jahren, als ihr Patenonkel mit seiner Druckerei Konkurs anmeldete und die Familie für einige Zeit von ihrer Hände Arbeit auf dem Feld leben musste. Großmutters Nebenerwerb, das Brennen von Wacholderschnaps, hatte Hermann damals nicht besonders ernst genommen, obwohl die Einkünfte ihnen oft aus der Patsche geholfen hatten. Erst nach und nach war Hermann bei seiner Mutter ins Geschäft eingestiegen und lebte nun recht gut davon, so gut, dass sie sich inzwischen wieder zwei Dienstboten leisten konnten.

»Ich kann euch gerne in der Brennerei helfen, nun, wo ich Ferien habe.«

Ilsegard tätschelte ihr liebevoll die Hand. »Das ist reizend von dir, mein liebes Kind, aber du sollst dich lieber mal so richtig erholen. Du bist ganz blass geworden im Seminar. Ein paar lange Spaziergänge um den See herum werden deine Lebensgeister wieder wecken.«

»Nein, wirklich, ich helfe gerne, ich kann ja nicht den ganzen Tag spazieren gehen«, beharrte Cäcilia, doch Ilsegard schüttelte resolut den Kopf.

»Nein, meine Liebe, sobald die Schule anfängt, wirst du genug zu tun haben.«

Cäcilia ließ das Thema auf sich beruhen, auch wenn es sie leise enttäuschte, sich nicht nützlich machen zu können. Sie verbrachte gerne Zeit mit Ilsegard, die immer so herzlich und humorvoll war, außerdem hätte sie die Tätigkeit in der Brennerei auf andere Gedanken gebracht. Die Frage, ob sie ihrem Vater nicht doch schreiben sollte, ließ ihr keine Ruhe, gestern vor dem Einschlafen hatte sie innerlich bereits verschiedene Briefanfänge formuliert. Doch gestern Abend war sie auch ein wenig beschwipst gewesen, da betrachtete man die Dinge unbefangener als im nüchternen Morgenlicht.

»Du siehst so nachdenklich aus.« Großmutter hielt mit ihren eisblauen Augen ihren Blick fest, sie besaß feine Antennen für die Stimmungen ihrer Lieben. »Beschäftigt dich etwas?«

Cäcilia setzte ihre Kaffeetasse ab. Ilsegard würde sich keine Ausrede auftischen lassen, also konnte sie ihr genauso gut gleich die Wahrheit gestehen. »Ich überlege, ob ich meinem Vater schreiben soll, um ihm mitzuteilen, dass ich das Examen bestanden habe.«

Verlegen griff sie wieder zu ihrem Marmeladenbrot, denn sie konnte Ilsegards Mitgefühl, das auf ihren Zügen erschien, nicht ertragen.

»Du denkst noch immer oft an deinen Vater«, stellte Ilsegard sanft fest.

Sie nickte, den Blick auf ihren Teller gerichtet. »Ja. Ich weiß auch nicht, warum. Seit Mutters Tod hat er mich kein einziges Mal besucht, er wollte mich nicht mehr sehen. Im ersten Jahr hat er mir eine Weihnachtskarte geschrieben, das war alles. Auf meine Briefe kam nie eine Antwort. Wir standen uns nie nahe, aber …«

»Aber er ist dennoch dein Vater«, vollendete Großmutter den Satz für sie. »Das kann ich sehr gut nachvollziehen.«

»Du darfst das nicht falsch verstehen. Ich fühle mich hier bei euch zu Hause, und ihr habt mich in eure Familie aufgenommen, als sei ich eine Blutsverwandte.« Flehend sah sie die alte Dame an; die Vorstellung, Ilsegard könnte glauben, sie würde ihre Herzlichkeit nicht wertschätzen, beängstigte sie.

Täuschte sie sich, oder war Großmutter bei dem Wort Blutsverwandte zusammengezuckt? Doch im nächsten Moment schüttelte diese beschwichtigend den Kopf, sodass ihre weißen Löckchen zitterten. »Du brauchst mir deine Gefühle nicht zu erklären. Natürlich weiß ich, dass du dich bei uns wohlfühlst, und ich liebe dich genauso sehr wie meine leiblichen Enkel. Trotzdem sind die eigenen Eltern immer etwas Besonderes, und es ist schmerzlich, wenn der Kontakt abbricht.«

Cäcilias Erinnerungen flogen zurück zu jenen letzten Tagen in ihrem Elternhaus in Nürnberg. Wie dunkel und erdrückend ihr die leeren Räume nach Mutters Tod erschienen waren! Die Mahlzeiten mit ihrem Vater waren eine Tortur gewesen, kein Gespräch wollte in Gang kommen. Vaters stechende Augen schienen geradewegs durch sie hindurchzusehen. Sie hatte ihn angefleht, zu Hause bleiben zu dürfen und nicht zu ihrem Patenonkel, der ihr vollkommen fremd war, geschickt zu werden. »Ich weiß noch, wie Vater zu mir sagte, ich könne nicht in Nürnberg bleiben. Auch meine Mutter habe gewollt, dass ich nach ihrem Tod zu Onkel Hermann ziehe. Ich grübele auch nach drei Jahren noch immer über diese Aussage nach. Warum hätte Mutter gewollt, dass ich mein Elternhaus verlasse? Warum nur? Das ist so seltsam. Würde nicht jede Mutter wollen, dass Vater und Tochter zusammenbleiben und sich gegenseitig eine Stütze sind?«

Zu ihrer Verwunderung ging Ilsegard nicht auf ihre Überlegungen ein, sondern begann angelegentlich, die Zeitung noch kleiner zusammenzufalten, als sie bereits war. »Wer versteht schon die Gedanken von Sterbenden?«, sagte sie nur und vermied Cäcilias Blick.

Cäcilia beschloss, das Thema nicht weiter auszuführen; irgendetwas daran schien Großmutter unangenehm zu sein. Das war merkwürdig, zeigte sie sich doch normalerweise offen und verständnisvoll für alles und jeden.

Wahrscheinlich war es sinnlos, und Vater würde ihren Brief nie lesen, geschweige denn beantworten, doch sie konnte nicht anders. Zurück in ihrem Zimmer, setzte sie sich an den Schreibtisch, starrte gedankenverloren hinaus auf den Hof, wo Gregor mithilfe von Benno, der das Gestüt zusammen mit ihm führte, gerade einen prächtigen Wallach auf die Weide führte, und warf dann hastig einige Zeilen aufs Papier, bevor sie es sich wieder anders überlegte. Sie bemühte sich, ihre Worte sachlich und nüchtern klingen zu lassen; es war ihr peinlich, ihrem Vater zu spüren zu geben, dass sie sich nach einer kurzen Nachricht von ihm verzehrte. Wahrscheinlich zerriss er ihr Schreiben ungelesen. Warum nur?, hämmerte es ihr wie so oft durch den Kopf. Gewiss, sie führte auf Gut Erlensee ein weitaus besseres und geselligeres Leben als damals in Nürnberg, sie wurde geschätzt und geliebt, doch trotzdem nagte die Vergangenheit noch immer an ihr, sie konnte nicht damit abschließen.

Sie zog sich ihren Mantel an und setzte ihren Hut aus schwarzem Pannesamt mit hellgrauer Borte auf die locker zusammengesteckten Haare. Sie würde einen Spaziergang am See vorbei ins Dorf unternehmen und den Brief dort einwerfen.

Die frische Luft kühlte ihre aufgewühlten Gedanken, und sie sog die Schönheit der Landschaft in sich auf. Majestätisch ruhig lag der Erlensee vor ihr; die Erlen ringsum warfen lange Schatten auf das undurchdringlich wirkende Wasser. Der Bootssteg lag verwaist, doch je weiter der Frühling voranschritt, desto mehr Ruderer oder Schwimmer würden sich hier tummeln. Ob sie dann noch da wäre? Sie konnte es kaum erwarten, mitgeteilt zu bekommen, wohin die Schulverwaltung sie schicken würde.

Ihre Hand zögerte nur kurz über dem Briefkasten an der Dorfstraße, doch dann warf sie ihr Schreiben ein. Ob es richtig gewesen war, den Brief zu schreiben? Aber nun war es ohnehin zu spät; sicherlich interessierte es Vater wenig, was aus ihr geworden war, aber sie wollte sich nicht vorwerfen, es nicht ein letztes Mal versucht zu haben.

Ein schwacher Sonnenstrahl stahl sich durch die am Himmel zusammengebauschten Wolken, und sie beschloss, noch nicht wieder auf den Gutshof zurückzukehren, sondern Margareta einen Besuch in der Druckerei abzustatten. Sie hatte ohnehin nichts zu tun und war neugierig, ihre Ziehschwester bei der Arbeit zu sehen.

Nur ein einziges Mal hatte sie die Druckerei besucht, als Hermann sie noch besessen hatte. Seitdem war viel renoviert und erneuert worden; auf dem Hof, auf dem die Drucker ihre Pausen zu verbringen pflegten, standen nun einladende Bänke und Tische, und auch ein bisschen Grün wucherte im hinteren Teil. Maschinenlärm empfing sie, und es roch nach Öl und säuerlichen Schmierstoffen, als sie durch die Tür trat. Margareta erspähte sie sogleich und eilte erfreut auf sie zu.

»Cäcilia, was für eine schöne Überraschung! Ich freue mich, dass du uns besuchst.« Sie umarmten sich kurz und innig.

»Ich musste etwas im Dorf erledigen«, erklärte Cäcilia. Jetzt war nicht der rechte Ort und die Zeit, ins Detail zu gehen, vielleicht würde sie das am Abend nachholen. »Ich bin beeindruckt, Greta. Im Vergleich zu früher sieht die Halle aus wie neu.«

»Nicht wahr?« Margareta strahlte stolz. Es war unübersehbar, wie sehr sie in ihrer Arbeit aufging. Cäcilia wusste nur zu gut, wie schwer es damals gewesen war, Hermann zu überzeugen, dass sie als Frau eine genauso gute Leistung in der Druckerei zu erbringen vermochte wie ein Mann. »Komm, gehen wir ins Büro und trinken einen Kaffee.«

Cäcilia ließ ihren Blick noch einmal umherschweifen. Alle Maschinen waren in Betrieb, und es sah viel ordentlicher aus als vor drei Jahren. Damals war Hermann der Lage nicht mehr Herr geworden, die Bedingungen nach dem Großen Krieg waren erbärmlich gewesen, es hatte an allen Ecken und Enden an Geld und Material gefehlt, und die Arbeiter hatten die Lage noch zusätzlich durch Forderungen verschlimmert, die nicht realisierbar waren. Doch diese Zeiten schienen ein für alle Mal Geschichte zu sein.

Das Büro, einstmals ein kleiner Verschlag hinter einer schmierigen Scheibe, von der aus Hermann die Drucker zu beobachten pflegte, wirkte nun um einiges aufgeräumter. Unzählige Ordner standen in Regalen aufgereiht, und die Papiere auf dem Schreibtisch waren sauber gestapelt. Konrad erhob sich von seinem Stuhl und begrüßte Cäcilia ebenfalls herzlich.

»Welch seltener Besuch! Herzlich willkommen in der Druckerei.«

»Danke, Konrad.« Cäcilias Blick fiel auf Korbinian, der in der Ecke auf einer flauschigen Decke saß und Bauklötze stapelte. In einer Holzkiste befanden sich Bilderbücher, Holzautos und ein bunt bemalter Brummkreisel.

»Ihr habt eine richtige Spielecke für den Kleinen eingerichtet«, sagte sie erstaunt.

»Natürlich.« Margareta reckte beinahe trotzig das Kinn. »Es soll mir keiner nachsagen, dass ich mein Kind vernachlässige, weil ich arbeite. Ich möchte meinen Sohn immer bei mir haben, außer, wir haben Kunden für wichtige Verhandlungen zu Gast. Für diesen Fall beschäftigen wir ein Kindermädchen. Aber an den meisten Tagen spielt er hier, und in der Mittagspause kann er sich auf dem Hof austoben.«

Konrad zwinkerte Cäcilia verschwörerisch zu. »Das ist ein wunder Punkt bei ihr, wie du siehst.«

»Das ist ein wunder Punkt der Gesellschaft«, wehrte Margareta sich lebhaft. »Noch immer ist es in unseren Kreisen verpönt, als Frau, geschweige denn als Mutter, berufstätig zu sein. Die Leute gehen zwangsläufig davon aus, dass man eine schlechte Mutter ist.«

»Du bist eine wundervolle Mutter«, sagte Cäcilia überzeugt und sah zu, wie Margareta Korbinian einen Bauklotz reichte, der hinter ihn gefallen war. Margareta war eine der stärksten Frauen, die sie kannte, und sie bewunderte sie.

»Die Damen …« Konrad goss jeder von ihnen eine Tasse Kaffee aus einer blechernen Isolierflasche ein.

»Danke.« Cäcilia genoss die Wärme des Porzellans zwischen ihren Fingern. »Wie ich sehe, läuft die Druckerei bestens. Ihr beiden habt da wirklich etwas Großartiges auf die Beine gestellt.«

Konrad schien genauso stolz auf das Unternehmen wie Margareta. »Es war ein steiniger Weg, doch nun schreiben wir schwarze Zahlen. Ich hoffe, die gute Entwicklung hält an …« Seine Miene verdüsterte sich. »Nur die Inflation bereitet mir Sorgen. Eine Goldmark entspricht mittlerweile fast hundert Papiermark! Wohin soll das noch führen? Wenn es so weitergeht, können wir uns irgendwann kein Papier mehr leisten und unsere Beschäftigten nicht mehr bezahlen …«

»So weit sind wir noch lange nicht.« Besänftigend legte Margareta Konrad eine Hand auf die Schulter. »Wir sollten nicht vom Schlimmsten ausgehen, sondern hoffen, dass wir weiterhin gut im Geschäft bleiben.«

Ein Drucker klopfte an die Glasscheibe und trat auf ein Nicken Konrads hin herein. Er war stämmig und wirkte auf Cäcilia grobschlächtig und unangenehm, was aber vielleicht daran liegen konnte, dass er sie auf ungenierte Art von oben bis unten musterte, bis sein Blick schließlich zwischen ihrem Hals und ihrem Bauch hängen blieb. Rasch wandte sie sich ab und hockte sich zu Korbinian auf die Decke, um ihm beim Turmbau zu helfen.

»Was gibt’s, Baumgartner?«, fragte Konrad.

»Es war ausgemacht, dass ich heute etwas früher gehen darf. Meine Frau liegt in den Wehen«, antwortete der Drucker mit dunkler Stimme.

»Natürlich, gehen Sie nur«, bestätigte Konrad. »Und bleiben Sie morgen ruhig zu Hause, mit fünf Kindern wird es gewiss anstrengend.«

Baumgartner brummte nur etwas zur Antwort, dann drehte er sich um, nicht ohne Cäcilia von oben herab noch einen schwer zu deutenden Blick zuzuwerfen. Sie fühlte sich, als wäre sie nackt, und nestelte unwohl an ihrem Blusenknopf herum, um zu prüfen, ob er geschlossen war.

»Wer war das denn?« Sie erhob sich wieder, nachdem der Drucker verschwunden war, woraufhin Korbinian, seiner Spielgefährtin beraubt, zu quengeln begann.

Margareta nahm ihn auf den Arm und küsste ihn auf das weiche braune Haar. »Das ist Baumgartner, einer unserer am längsten beschäftigten Drucker. Er arbeitete schon unter Vater im Betrieb. Er hat eine seltsame Art, ich weiß.«

»Das kann man wohl sagen.« Noch immer war ihr, als fröstele sie plötzlich. »Ihr Lieben, ich möchte euch nicht länger von der Arbeit abhalten.«

»Komm jederzeit wieder.« Margareta umarmte sie zum Abschied, und Korbinian drückte ihr einen feuchten Kuss auf die Wange.

Als sie den Hof durchschritt, stieß sie nochmals auf Baumgartner. Er lungerte am Zaun herum und rauchte eine Zigarette, wobei er sie wiederum mit einem Blick, den sie nicht anders als anzüglich interpretieren konnte, maß. Er musterte ihren Körper und verweilte besonders lange bei Brust und Dekolleté, dabei grinste er, als stelle er sich unanständige Dinge vor. Besonders eilig schien er es nicht zu haben, zu seiner gebärenden Frau und den größeren Kindern zu kommen. Sie fühlte seine Augen in ihrem Rücken, als sie grußlos an ihm vorbeiging, es war, als ob sie wie Messer durch ihre Kleidung stachen.

»Auf Wiedersehen, schönes Fräulein«, ertönte es da schneidend hinter ihr.

Sie hielt nicht inne, sondern eilte weiter in Richtung See. Hoffentlich kam er ihr nicht nach! Erst nach einer geraumen Weile wagte sie es, stehen zu bleiben und sich umzuschauen, doch außer dem im leichten Wind wogenden Gras war nichts zu entdecken.

Auf Gut Erlensee traf sie Gregor und Benno an, die einem Besucher einen hochgewachsenen Araberhengst mit glänzend schwarzem Fell vorführten. Beim Näherkommen erkannte sie, dass es sich bei dem Gast um Leonhard von Köckritz handelte, den Grafensohn von der gegenüberliegenden Seeseite. Seine Familie besaß eine Papierfabrik, von der Margareta und Konrad ihr Papier für die Druckerei bezogen.

»Fräulein Herringer, welch ein Vergnügen, Sie wiederzusehen!«, begrüßte Leonhard sie lächelnd und lupfte seinen Hut. Cäcilia wusste, dass er ein alter Charmeur war. Hermann hätte Margareta nur zu gern mit ihm verheiratet, aber damit waren beide wohl nicht einverstanden gewesen.

»Freut mich, Herr Graf. Wie geht es Ihrer Frau?« Leonhard war seit einigen Monaten mit einer Baroness verheiratet, die man jedoch nie zu Gesicht bekam; es hieß, sie sei gesundheitlich angeschlagen. Er jedoch ließ sich öfter auf Gut Erlensee sehen, da er ein Pferdenarr war und Gregor bereits manches prächtige Tier abgekauft hatte.

Leonhard verzog für eine Sekunde das Gesicht, fing sich aber sogleich und setzte eine ausdruckslose Miene auf. »Es geht ihr bestens, danke der Nachfrage.« Dann wandte er sich wieder Gregor zu. »Das Pferd ist ein Prachtkerl. Ich nehme es. Würde es passen, wenn ich es morgen Nachmittag holen lasse?«

»Gerne.« Cäcilia sah Gregor an, wie zufrieden er war, wieder eines seiner Zuchtpferde verkaufen zu können. Er steckte sein ganzes Herzblut in das Gestüt, genau wie Benno, der als Stallknecht bei den Lamprechts angefangen hatte, nun aber als Mitinhaber des Gestüts an Gregors Seite arbeitete. Im Gegensatz zu Leonhard, der die Flanke des Tieres streichelte, entging ihr der innige Blick nicht, den Gregor und Benno austauschten. Wie jedes Mal, wenn sie sich in Gegenwart der beiden befand, schien die Luft zu vibrieren, sie vermochte fast das Knistern auf der Haut zu spüren, das die beiden umgab. Ihr Ziehbruder mit seinen dunklen Haaren und den attraktiven Zügen und Benno, der von der Gestalt her kleiner, aber nichtsdestoweniger gutaussehend war, gaben ein anziehendes Paar ab. Sogleich verbat sie sich diesen Gedanken; sie durfte von den beiden nicht als Paar denken, wer wusste schon, wie sie zueinander standen? Außerdem ging es Cäcilia nichts an.

Leonhard vermochte sich kaum von dem Araber loszureißen, immer wieder tätschelte er ihm den Hals. »Ich habe gehört, euer Kundenstamm wächst und wächst … Wer hätte gedacht, dass euer Gestüt so gut anläuft? Auf jeden Fall ist dieses Pferd bestimmt nicht das letzte, das ich bei euch kaufe.«

Gregor nickte zustimmend. »Unser Kundenstamm wird größer und größer. Wir schauen uns gerade nach einem professionellen Reiter um, der mit unseren Pferden Springturniere reitet, damit würden wir noch einmal Neuland betreten. Wir bekommen auch immer mehr Anfragen, Pferde bei uns unterzustellen.«

»Heute Morgen hat ein Herr aus Kiel angefragt, ob wir noch freie Plätze haben«, ergänzte Benno.

»Ach, dieser Wissenschaftler?« Leonhard gelang es endlich, von dem Pferd zu lassen, und steckte die Hände stattdessen in die Taschen seiner eleganten Anzughose. »Der die ehemalige Rapp-Villa gemietet hat, um dort Studien zu betreiben?«

Gregor lachte. »Was du nicht alles weißt.«

»Das ganze Dorf weiß Bescheid. Im Klabautermann hat er dem Wirt erzählt, unter welch kuriosen Umständen er zu dem Pferd gekommen ist. Er wird dir die Geschichte sicher selbst erzählen.«

Leonhard verabschiedete sich vergnügt, und auch Cäcilia ging in Richtung Haus. Es war doch eine gute Idee gewesen, diesen Spaziergang zu unternehmen, denn so war sie auf andere Gedanken gekommen, die sie innerlich von ihrem Vater und den ständigen Grübeleien wegführten.

Cäcilia sah aus dem Fenster ihres Zimmers. Graue Wolkenberge türmten sich am verhangenen Himmel aufeinander, bestimmt würde es bald regnen. Die Vorstellung, den Tag untätig drinnen zu verbringen, behagte ihr nicht, irgendwie hatte sie während des anstrengenden Studiums verlernt, sich dem Müßiggang hinzugeben. Sie würde wie geplant einen Spaziergang um den See unternehmen. Mit den wasserdichten Überschuhen und dem Kleppermantel müsste es gehen; außerdem liebte sie es, bei Regen am See zu sein, denn es war für sie nahezu meditativ, den Tropfen zuzuschauen, die auf der Oberfläche des Wassers zerplatzten und Kreise zogen.

Auf dem Hof belud Hermann unter der Aufsicht seiner Mutter den Zweispänner mit zahlreichen Kisten, in denen Flaschen voller Wacholderschnaps und -limonade sowie Gläser mit Marmelade zwischen polsterndem Stroh lagen. Die Luft war drückend, und es roch nach Regen.

Der Onkel wischte sich über die schweißüberströmte Stirn, nachdem er die letzte Kiste aufgeladen hatte. »Ich muss eine Großlieferung nach Kiel bringen«, keuchte er. »Wir erhalten immer mehr Aufträge von außerhalb. Das war eine gute Idee von mir, unseren Wacholder zu Geld zu machen, was, Cäcilia?«

Cäcilia schmunzelte. Noch allzu lebhaft standen ihr die Szenen vor Augen, in denen ihr Patenonkel die Schnapsbrennerei seiner Mutter für einen versponnenen Einfall erklärte. Sie wechselte einen amüsierten Blick mit Ilsegard.

»Freut mich, dass das neuerdings deine Idee gewesen sein soll, Hermännchen«, warf diese mit einem Zucken um die Lippen ein. »Ich habe das ein wenig anders in Erinnerung, aber nun gut.«

Hermann grummelte etwas, das nicht sonderlich freundlich klang, denn wie jeder in der Familie wusste, hasste er es, von seiner Mutter mit Mitte fünfzig noch immer mit dem Kosenamen seiner Kindheit angesprochen zu werden. »Bis heute Abend.«

»Vergiss nicht, eine Kiste Schnaps beim Goldenen Hirschen abzuliefern, es ist die erste Bestellung dieses Wirtshauses«, rief Ilsegard ihm hinterher.

»Ja, Mutter«, murrte Hermann dumpf und trieb Gero und Arabella, die beiden ältesten Pferde des Guts, an, damit sie sich in Bewegung setzten.

Cäcilia glaubte, in der Nähe des Schweinestalls eine flüchtige Bewegung gesehen zu haben. Das konnte doch nicht wahr sein! Rasch wünschte sie der Großmutter, die sich wieder in die Brennerei begab, einen schönen Tag, und lief mit langen Schritten in den Stall. Tatsächlich, Carla kniete mit ihren guten, einstmals glänzend polierten Schnürstiefeln im Mist, ein winziges Ferkel im Schoß ihres matrosenblauen Schulkleides.

»Carla! Was treibst du hier! Wieso bist du nicht in der Schule?«

Das junge Mädchen warf ihr einen trotzigen Blick zu. »Das kleine Ferkelchen will nicht trinken. Es geht ihm sehr schlecht. Jemand muss es füttern, sonst stirbt es.« Demonstrativ hielt sie eine Milchflasche mit Sauger in die Höhe, die wohl einmal Korbinian gehört hatte.

Mitgefühl durchflutete Cäcilia, ja, sie konnte durchaus verstehen, wie schlimm es für Carla sein musste, wenn einer ihrer Lieblinge krank war. Die Tiere gingen Carla über alles, bereits als kleines Mädchen hatte sie davon gesprochen, am liebsten einmal den Hof übernehmen zu wollen. Zweifelsohne würden ihre Eltern das nie erlauben, und auch gesellschaftlich hätte sie einen schweren Stand. Eine Frau als Gutsbesitzerin? Cäcilia hatte noch nie davon gehört.

»Das arme Kleine.« Sie kniete sich zu Carla und beobachtete, wie sie sich abmühte, dem Ferkel den Sauger ins Mäulchen zu schieben.

»Ich würde am liebsten Doktor Moser holen, aber Heiner sagt, er könnte auch nichts tun, und es liegt in der Natur der Dinge, dass Neugeborene oft zu schwach sind, um zu überleben. Aber das lasse ich nicht zu.«

»Heiner?«

»Der neue Stallknecht«, brummte Carla. »Vater hat ihn vor ein paar Wochen eingestellt.«

Cäcilia verlagerte ihr Gewicht, denn es wurde ihr unbequem, auf dem matschigen Boden zu kauern. »Ich verstehe, dass du dir Sorgen machst. Aber …« Sie überlegte, wie sie ihre Worte behutsam formulieren konnte, doch Carla kam ihr zuvor.

»Nun sag es schon«, sagte sie herausfordernd. »Ich sollte in der Schule sein. Aber dort bin ich fehl am Platz. Ich hasse das Lyzeum und die ganzen aufgetakelten Mädchen dort, die nichts als eine gute Partie im Kopf haben. Meine Bestimmung ist es, eines Tages das Gut zu leiten. Ich brauche diesen ganzen Firlefanz wie Mathematik und Fremdsprachen und Literatur nicht.«

»Hm, mag sein.« Cäcilia hoffte, über genug Fingerspitzengefühl zu verfügen, um nicht in dieselbe Kerbe zu schlagen wie Adelheid, die keinerlei Verständnis für die Wünsche ihrer jüngsten Tochter aufbrachte. »Aber … du darfst der Schule nicht einfach unentschuldigt fernbleiben. Kannst du nicht versuchen, deine Zeit zwischen dem Lyzeum und dem Hof aufzuteilen?«

»Und in der Zwischenzeit stirbt das Ferkelchen?« Carla maß sie mit einem düsteren Ausdruck. »Du hörst dich an wie eine altgediente Lehrerin, und das meine ich nicht als Kompliment.«

Cäcilia seufzte. Es war wirklich nicht einfach, mit Carla zurechtzukommen. »Lass uns später noch mal darüber sprechen. Und in der Zwischenzeit – versuche, nicht von deiner Mutter erwischt zu werden. Dein Vater ist nach Kiel gefahren, aber deiner Mutter bleibt normalerweise nichts verborgen, das weißt du.«

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