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Gut Erlensee – Marillas Schicksal

Als Buch hier erhältlich:

Wer kann einem Halt geben in stürmischen Zeiten?

Juli 1924 bei Kiel. Marillas Welt liegt in Scherben. Als ihre große Liebe sie verlassen hat, hat die junge Frau auch ihren Lebensmut verloren. Am liebsten würde Marilla gar nicht mehr vor die Tür gehen, doch das lassen ihre Schwestern nicht zu. Marillas Hilfe wird auf dem Gut der Familie gebraucht. Sie beugt sich dem Druck der Familie und muss schon bald feststellen, dass ihr die frische Luft, die Nähe zu den Pferden und die Natur guttun. Besonders der nebenan lebende Leonhard ist ihr eine Stütze in dieser Zeit. Aber gerade als Marilla wieder Vertrauen in das Schicksal fasst, ereilt sie eine unheilvolle Nachricht ...


  • Erscheinungstag: 25.07.2023
  • Aus der Serie: Das Gut Am Erlensee
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365000618

Leseprobe

Kapitel 1

Dezember 1923

Marilla

Der Tag war frostig und kalt, das Nachmittagslicht, das durch die Gardinen fiel, trüb wie fader Tee. Ein guter Tag, um im Bett zu liegen und die dicke Daunendecke bis zum Kinn zu ziehen, denn wie so oft in den letzten Monaten fror sie entsetzlich, auch das im Kamin prasselnde Feuer vermochte daran nichts zu ändern. Sie wusste, dass es eine Kälte war, die ihren Ursprung tief in ihrem Innern fand, und die ihr ganzes Wesen mit eisigen Klauen umklammerte, sie vielleicht nie wieder loslassen würde. Eine Kälte, die sich aus Verlust, Trauer und Einsamkeit nährte.

»Mutti!« Emilie, ihre dreieinhalbjährige Tochter, war noch zu jung, um Verständnis für ihren Seelenzustand aufzubringen, und hüpfte schwungvoll zu ihr auf das Bett. »Gehen wir noch zu den Pferden? Du hast es versprochen.«

»Mhm.« Marilla strich der Kleinen über das samtige Kinderhaar, das dieselbe honigblonde Farbe wie ihr eigenes aufwies, nur war das ihrer Tochter lang und zu dünnen Haarschnecken aufgesteckt. Das Frisieren übernahm jeden Morgen Marillas Schwester Margareta, da ihr selbst die Kraft dazu fehlte. Ihren eigenen sonst so feschen Bob hatte sie seit Monaten – genauer, seit Eduards Tod im August – nicht nachschneiden lassen, und die Spitzen berührten mittlerweile die Schultern. Es war ihr gleichgültig, wie sie aussah, alles war gleichgültig.

»Mutti, jetzt komm!« Emilie rüttelte ungeduldig an ihr, und sie ließ es geschehen. Ihr Körper fühlte sich so schwach und matt an, als habe sie seit Wochen nicht geschlafen.

»Gleich, gönn mir noch ein paar Minuten. Ich muss mich ausruhen.«

Emilie zog einen Flunsch. »Immer musst du dich ausruhen.« Sie kletterte vom Bett herunter und begann, die Schubladen zu durchstöbern. Marilla schloss die Augen. Selbst das kleinste Gespräch ermüdete sie. Seit Eduard bei diesem schrecklichen Unfall mit dem Automobil gestorben war – in ihren Träumen vernahm sie noch immer das Kreischen der Bremsen, die Schreie ihrer Tochter, das Splittern von Glas, das Aufeinanderkrachen von Blech und die tödliche Stille danach –, fühlte sie sich nicht mehr wie sie selbst. Ihre Energie, ihre Fröhlichkeit und Lebenslust, all dies schien zerstampft zu Asche, aus der nie wieder etwas erwachsen würde.

Plötzlich schreckte ein unmelodisches Quietschen sie aus ihrer Lethargie. Sie fuhr hoch und sah, dass Emilie vor ihrem Kleiderschrank kniete und ihre Querflöte entdeckt hatte, die sie eigentlich gut zwischen Hutschachteln und Schuhen versteckt hatte; anscheinend nicht gut genug.

»Ich kann auch Querflöte spielen, wie du, Mutti.« Der Kopf krebsrot vor Anstrengung pustete Emilie in das Instrument. Mit einem Satz war Marilla aus dem Bett und riss es ihr aus den Händen, woraufhin ihre Tochter sie mit weit aufgerissenen Augen, in denen sich die Tränen sammelten, anstarrte.

Sofort tat Marilla ihre heftige Geste leid, und sie hockte sich in ihrem Nachthemd zu Emilie auf den königsblau gemusterten Teppich. »Die Querflöte ist sehr wertvoll, Kleines, sie ist kein Spielzeug für kleine Mädchen. Wenn du älter bist, bringe ich dir vielleicht bei, wie man sie spielt.«

»Vati hat auch Querflöte gespielt«, flüsterte Emilie und strich mit ihrer kleinen Hand so andächtig über den schlanken Instrumentenkörper, dass nun auch Marilla die Tränen in die Augen schossen.

»Ja, das hat er«, murmelte sie sanft. Warum hatte sie sich derart selbstvergessen ihrem Leid hingegeben, dass sie nicht gemerkt hatte, wie Emilie an den Schrank gegangen war? Die Querflöte in den Händen zu halten, die schwer wie eines von Großmutters Schnapsfässern schien, war mehr, als sie ertragen konnte. Ihre Liebe zu Eduard war in den Musikstunden entstanden, die er ihr erteilt hatte. Ihre Gedanken wanderten zurück zu der Zeit vor und nach dem Großen Krieg, als der junge, immer ein wenig derangiert wirkende Adelige Eduard von Weidenthal regelmäßig ins Gutshaus gekommen war, um sie im Querflötenspiel zu unterrichten. Hals über Kopf hatten sie sich ineinander verliebt, auch wenn ihre Eltern Hermann und Adelheid die Verbindung nicht guthießen, denn Eduard war mittellos. Doch dann hatte sich alles zum Guten gefügt, Emilie war unterwegs gewesen, sodass ihre Eltern einer Ehe nicht mehr im Weg stehen konnten, und Eduard hatte eine gut dotierte Dozentenstelle am Hamburger Musikkonservatorium erhalten.

Hamburg … Nach Eduards Tod hatte sie keinen Fuß mehr in ihr elegantes Stadthaus gesetzt, sondern war mit ihrer Tochter in ihr altes Mädchenzimmer auf Gut Erlensee zurückgekehrt, um den Trost der Familie aufzusaugen wie ein ausgetrockneter Schwamm. Ihr Bruder Gregor und ihre Schwager Konrad und Jakob hatten den Haushalt in Hamburg aufgelöst, ohne dass sie sich darum kümmern musste, aber dafür war Familie schließlich da. Sie hatten sie in ihrer schlimmsten Stunde aufgefangen wie ein Sicherheitsnetz.

Emilie zog ungeduldig an ihrem Ärmel, und sie kehrte schlagartig in die Gegenwart zurück. Seufzend verstaute sie die Querflöte wieder hinter den Hutschachteln und nahm ihr schwarzes Kleid vom Bügel, um sich anzuziehen. Seit Eduards Tod war die düstere Farbe ihr ständiger Begleiter, denn alles in ihr drängte danach, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. »Ja, schon gut, du Quälgeist, wir gehen zu den Pferden.«

Sie warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel, kämmte sich mit allen zehn Fingern durch ihre formlose Frisur und ignorierte die feinen Linien in ihrem blassen Gesicht. Niemals hätte sie geahnt, dass sie mit vierundzwanzig bereits Witwe sein würde.

Emilie legte ihre Hand vertrauensvoll in ihre und sie verließen den Raum. Von der unteren Etage erklangen geschäftige Geräusche, das Rascheln von Papier, das Klirren von Glöckchen, verstohlenes Gekicher, zudem stieg ihr der würzige Duft von Tannenzweigen in die Nase.

»Schööön!« Emilie blieb auf der unteren Treppenstufe stehen und schwelgte im Anblick des riesigen Weihnachtsbaumes, den Marillas Schwestern Margareta und Carla gerade mühsam in die Senkrechte zu bringen versuchten, während Mutter Adelheid mit Anweisungen um sich warf, jedoch keinen Finger rührte. Marillas Großmutter Ilsegard, die auch mit Mitte achtzig noch so agil und rührig war wie eh und je, packte derweil Dutzende von purpurroten Glöckchen und vergoldeten Nüssen aus, die den Baum wie jedes Jahr schmücken sollten. Minna, das Dienstmädchen, wuselte mit zerknitterter Schürze und aufgelösten Haaren herum und spannte Papiergirlanden von Wand zu Wand.

»Marilla.« Ilsegard hatte sie entdeckt und winkte sie lächelnd herbei. »Schau nur, haben wir dieses Jahr nicht ein besonders prächtiges Exemplar von Baum ergattert? Die Gäste werden staunen, wenn wir morgen den Ball eröffnen und die ganzen Kerzen strahlen.«

Marilla konnte sich gerade noch beherrschen, um nicht die Augen zu verdrehen. Großmutter meinte es nur gut, doch der Gedanke an den Weihnachtsball bereitete ihr solches Unbehagen, dass sich ihr Magen schmerzhaft verknotete, sobald die Rede darauf kam. »Ich möchte keinen Ball, Großmutter, und das weißt du.«

Ilsegard sah sie mit ihren eisblauen Augen liebevoll an. »Ich weiß, Kind, aber es wird dir guttun, auf andere Gedanken zu kommen. Seit August igelst du dich in deinem alten Kinderzimmer ein und nimmst kaum noch am Leben teil.«

»Ohne Eduard …«, begann Marilla, doch ihre Stimme brach und sie verstummte. Ilsegard wusste auch so, was sie meinte, und strich ihr tröstend über den Arm.

»Ich weiß«, wiederholte die alte Dame. »Doch das Leben geht weiter.«

Marilla schürzte die Lippen. Auf derlei abgedroschene Phrasen konnte sie gut und gerne verzichten. »Ich bin wirklich nicht in der Stimmung für einen Ball.«

Mittlerweile stand der Baum fest und sicher. Margareta und Carla betrachteten zufrieden ihr Werk, dann wandten sie sich ebenfalls Marilla zu.

»Ist er nicht zauberhaft?« Margareta bog einen Zweig zurecht, der widerspenstig abstand. »Marilla, möchtest du uns helfen, den Stern auf die Spitze zu setzen?«

»Nein, ich möchte euch nicht helfen, den Stern auf die Spitze zu setzen.« Marilla verabscheute sich selbst für ihren schnippischen Tonfall, doch zuweilen schien ihr die nagende Trauer eine andere Persönlichkeit überzustülpen, eine dunklere, missmutigere Schablone ihrer selbst.

»Die Pferde.« Emilie riss an ihrem Arm, und sie war froh, eine Ausrede zu haben, aus dem Gutshaus flüchten zu können.

»Natürlich, wir gehen zu den Pferden.«

Doch sie hatte nicht mit ihrer Mutter gerechnet, die sie nun auch noch mit Beschlag belegte. Nervös nestelte Adelheid an der Brosche herum, die den Kragen ihres hochgeschlossenen, altbackenen Kleides zierte.

»Ich möchte nicht, dass du morgen mit dieser liederlichen Frisur beim Ball aufschlägst. Und bitte zieh dir wenigstens für diesen einen Abend ein anderes Kleid an, das Schwarz würde nur die Gäste erschrecken.« Sie ließ ihren missbilligenden Blick über ihre mittlere Tochter schweifen. »Du weißt, wir haben illustre Gäste, Doktor Uhlen wird da sein, der Tierarzt Doktor Moser, Geschäftsfreunde von der Druckerei, die Verwandtschaft aus Kiel … und natürlich die von Köckritz.«

»Die von Köckritz?« Ilsegard schien entgeistert. »Die sauertöpfische Gräfin mit ihrer spitzen Zunge, und der alte Graf, der gerne mal einen über den Durst trinkt?«

Adelheid presste die Lippen zusammen, pikiert über Großmutters Kritik. »Und der junge Erbgraf Leonhard, der ja kürzlich einen ähnlichen Verlust erlitten hat wie du, Marilla. Auch ihm wird es guttun, etwas Ablenkung zu erhalten.«

»Ich mochte ihn noch nie, er hat Augen wie ein listiger Fuchs«, erwiderte Ilsegard energisch, und während sich eine ihrer üblichen Diskussionen mit Adelheid entspann – Margareta und Carla lachten unterdrückt –, nutzten Marilla und Emilie die Gelegenheit, um nach draußen zu huschen.

Dankbar, der geschäftigen Betriebsamkeit im Gutshaus zu entkommen, verweilte Marilla einen Moment auf den Treppenstufen, die zum Hof hinunterführten, um gierig die klare Dezemberluft in ihre Lungen zu saugen. Emilie begann sofort, mit dem Hofhund Harras herumzutollen, es war wohl die richtige Entscheidung gewesen, das stickige Zimmer zu verlassen, um der Kleinen Bewegung zu verschaffen. Wenn es ihr nur nicht so schwerfiele, in die Gänge zu kommen! Aber Emilie zuliebe musste sie sich zusammenreißen, musste ihrer Tochter ein halbwegs normales Leben ermöglichen, auch wenn ihre eigene Welt wie eine zerbrechliche Glaskugel zu tausend Splittern geborsten war, die sich nie wieder zusammenfügen ließen.

Ihr Vater Hermann kam gerade mit einem Leiterwagen, der mit einer Ladung Wacholderschnaps bestückt war, aus der Brennerei, einem flachen, langgezogenen Gebäude, das sich rechterhand des Gutshauses befand. Das Geschäft mit Likör, Schnaps, Limonade und Marmelade lief recht erfolgreich, wie Marilla wusste, Vater war ordentlich eingespannt. Normalerweise unterstützte ihn Großmutter in der Brennerei, doch heute war sie wohl zu sehr mit den Vorbereitungen für den Weihnachtsball beschäftigt. Verdrossen verscheuchte Marilla den Gedanken an das leidige Spektakel.

»Vor den Festtagen wollen alle Geschäfte noch mal mit Schnaps und Likör beliefert werden«, brummte Hermann in einem seiner kläglichen Versuche, Konversation mit ihr zu betreiben. Er beschränkte sich stets drauf, sachliche Informationen mit ihr zu teilen, vor Gefühlsangelegenheiten graute es ihm. Nach dem Tod Eduards hatte er Marilla lediglich eine Beileidsbekundung murmelnd an seine breite Schulter gezogen, wobei der ausladende Bauch, über dem sich die Weste spannte, etwas im Weg war, danach hatte er sie kein einziges Mal mehr auf ihren Verlust angesprochen. Tröstende Worte überließ er gerne den Frauen der Familie. »Aber zuerst muss ich zum Klabautermann, die brauchen dringend Nachschub.«

Marilla nickte desinteressiert, und so zog Hermann seine Fracht weiter, um den Zweispänner zu beladen. Fröstelnd schlang sie die Arme um sich. Emilie jagte den vergnügten Hund an den Wacholderbüschen entlang, die die Mauern des Gutshauses wie eine hundertjährige Märchenhecke umgaben, und nun, mitten im Winter, kahl und dürr wirkten, genauso wie die Erlen, die den Weg zum Wäldchen säumten, hinter dem der See lag. Der Himmel war verhangen und grau wie Taubenfedern, und die Kälte stach ihr in die Haut.

Sie versuchte, Emilie von Harras loszueisen. »Komm, du wolltest doch in den Stall.« Ihre Tochter ergriff ihre ausgestreckte Hand, um an ihrer Seite zu den Ställen zu springen, die linkerhand des Gutshauses lagen und die Grenze zwischen dem Gut und den Weiden bildeten, auf denen die Pferde, die ihr Bruder Gregor züchtete, im Sommer grasten.

Im Stall mussten sich ihre Augen erst an das Halbdunkel gewöhnen; wenigstens herrschten hier drinnen nicht solch eisige Temperaturen wie draußen, die Pferde, die in ihren Boxen standen, gaben reichlich Wärme ab. Es roch nach Staub, Sand und Fell, und das leise Schnauben der Tiere, die dumpfen Geräusche ihrer Hufe auf dem strohbedeckten Untergrund und das Rascheln der Stallmäuse legte sich wie ein lindernder Balsam auf Marillas trauriges Gemüt.

»Ach, da ist ja unsere Springreiterin in spe.« Gregor trat aus einer Box und fing Emilie auf, um sie auf ein Pferd zu setzen. »Dornröschen erwartet dich schon.«

Marilla beobachtete, wie ihre Tochter stolz auf dem Rücken der Stute thronte. Dornröschen war eines der älteren Tiere, sie zählte bereits einundzwanzig Jahre, ein braves, ruhiges Geschöpf. Gregor benutzte sie vornehmlich für die Reitstunden, die er Kindern aus der Umgebung erteilte.

Er streichelte Dornröschen über den weißen Keilstern, den diese im Gesicht trug. »Na, hast du die Flucht aus dem Gutshaus ergriffen?«, wandte er sich schmunzelnd an seine Schwester.

Marilla lehnte sich gegen die Boxentür und begann sich zu entspannen, wie immer, wenn sie sich bei ihrem großen Bruder im Stall aufhielt. Mit seiner gelassenen, verständnisvollen Art schien er ihr in den vergangenen Monaten wie ein Leuchtturm, der sie in der Schwärze der Nacht leitete, ihr einen sicheren Hafen bot. Gregor war durch die Arbeit in den Ställen breitschultrig und kräftig, er bot stets eine Schulter zum Anlehnen, außerdem wirkte er durch das braune, immer ein wenig verstrubbelte Haar, die dunklen Augen und die markanten Gesichtszüge äußerst attraktiv, sodass sie ihn früher gerne ihren Schulfreundinnen angepriesen hatte.

»Das kann man wohl sagen. Die gesamte Familie geht mir auf die Nerven, außer du natürlich.«

Gregor lachte, während er Dornröschen auf den Hals klopfte. Das Tier ertrug es stoisch, dass Emilie auf seinem Rücken herumrutschte. »Lass Mutter und Großmutter das Vergnügen, einen Weihnachtsball auszurichten, sie gehen ganz in ihrer Aufgabe auf, und morgen Nacht ist der Spuk vorbei.«

Marilla verzog das Gesicht. »Du hast gut reden. Das Schlimme ist ja nicht, dass sie überhaupt einen Ball veranstalten, sondern dass sie sich in die Köpfe gesetzt haben, die Veranstaltung für mich auszurichten. Um mich aus meiner Schwermut zu locken, wie Großmutter sagt. Als ob die alberne Tanzerei meine Trauer wegwischen würde wie einen lästigen Fleck!«

Gregor legte den Arm um sie und sie atmete einen Moment seinen tröstlichen Duft nach Pferd und einem herben Rasiertonikum ein. »Wenn ich mich recht erinnere, hast du dich früher ganz gerne dieser albernen Tanzerei hingegeben.«

»Ja, früher.« Sie warf ihm einen frostigen Blick zu und entwand sich ihm, fühlte sich nun auch noch von ihm unverstanden. Allerdings, das wusste sie selbst, war sie momentan sehr dünnhäutig, und unleidlich noch dazu. Wenn sie doch nur etwas an ihrem Zustand ändern könnte!

»Es wird sicher nett werden«, versuchte Gregor von Neuem, ihr gut zuzureden. »Und wenn dir die Kraft fehlt, mit all den Gästen zu reden, halt dich an Benno und mich. Wir ertragen es durchaus, wenn du uns anschweigst.« Wie aufs Stichwort kam in diesem Moment Gregors Geschäftspartner Benno Waldeck in den Stall, der einen Korb Mohrrüben bei sich trug, die er an die Pferde zu verfüttern begann. Marilla entging der innige Blick nicht, den ihr Bruder mit Benno wechselte, und sie drehte sich rasch weg, da sie das Gefühl hatte, etwas zu sehen, was nicht für ihre Augen bestimmt war.

»Ich nehme dich beim Wort, ich verstecke mich hinter euch und schweige den ganzen Abend wie ein Grab«, brummte sie und hob Emilie trotz deren Protestes von Dornröschens Rücken.

Gregor blinzelte Benno gespielt verschwörerisch zu. »Als ob sie das schaffen würde.«

»Du wirst schon sehen, Bruderherz. Ich habe wirklich keine Lust, gemütlichen Klönschnack mit halb Langwedel zu betreiben.«

Benno, der nicht zu wissen schien, wie er mit den geschwisterlichen Plänkeleien umgehen sollte, wies auf einen braunen Wallach von hochgewachsener, edler Statur. »Haben Sie schon unseren Neuzugang gesehen, Frau von Weidenthal? Ein siebenjähriger Hannoveraner namens Héros de l’ Année. Leonhard von Köckritz ist sehr an ihm interessiert.«

Gedankenverloren spielte Marilla mit dem Bernsteinanhänger, der an einer silbernen Kette um ihren Hals hing. Leonhard, der Grafensohn vom anderen Seeufer, war schon immer ein leidenschaftlicher Pferdeliebhaber und Stammkunde auf dem Lamprecht’schen Gestüt gewesen, doch sie hatte angenommen, dass er nach dem kürzlichen Tod seiner Frau das Interesse an seiner Pferdesammlung verloren hatte. Aber vielleicht schloss sie nur von sich auf Leonhard – womöglich gelang es ihm besser als ihr, mit seinem Verlust umzugehen, und die Liebe zu den Pferden stellte seinen ganz eigenen Weg aus der Trauer dar.

Gregor schien ihre Gedanken zu lesen. »Wir haben Leonhard Monate lang nicht auf Gut Erlensee zu sehen bekommen, doch seit zwei, drei Wochen kommt er wieder regelmäßig, um sich unsere Pferde anzusehen, und an Héros de l’ Année hat er Geschmack gefunden. Der Kauf ist so gut wie beschlossen, bald wird er das Pferd in den Köckritz’schen Stallungen unterbringen.«

»Schön für ihn«, murmelte sie und wurde gewahr, wie sich eine bleierne Erschöpfung, zäh wie dickflüssiges Pech über sie legte. Seit Eduards Tod geschah ihr dies ständig, kaum schaffte sie es aus der Höhle ihres Schlafzimmers heraus, zwang sie diese Müdigkeit, sich wieder ins Bett zu legen, die Gedanken wie gelähmt, die Gefühle betäubt. Wenigstens vermochte sie auf diese Art für eine oder zwei Stunden den ewig um Eduard kreisenden Grübeleien zu entkommen. »Lass uns ins Haus gehen«, flüsterte sie Emilie zu, die sich widerwillig fügte. Sie würden den Hintereingang nehmen, um der ausgelassenen Fröhlichkeit ihrer Schwestern, ihrer Mutter und ihrer Großmutter zu entgehen.

Emilie klammerte sich weinend an sie, als das eigens von Ilsegard engagierte Kindermädchen namens Insa, ein flachsblonder Backfisch aus dem Dorf, am nächsten Abend an die Tür klopfte. Korbinian, Margaretas Sohn, befand sich bereits in ihrem Schlepptau, der Zweijährige machte große Augen angesichts des Spektakels, das seine Kusine vollführte.

»Es ist nur für ein paar Stunden, Püppchen«, versuchte Marilla ihre Tochter verzweifelt zu beruhigen, »dann ist der Ball zu Ende und ich komme flugs zu dir.«

Emilie schlug mit Armen und Beinen um sich, als Insa sie rigoros am Ärmel packte, um sie in Richtung Küche abzuschleppen, wo die Köchin Hedwig bereits ein Abendessen für die Kinder gerichtet hatte. »Ich will bei Mutti bleiben!«

Marilla brach das Herz, als sie ihre Kleine so zetern hörte. Hausarzt Doktor Uhlen, der in den Wochen nach Eduards Tod hinzugezogen worden war, hatte ihr erklärt, dass Emilies Trennungsangst vollkommen normal sei; nachdem der Vater auf eine für die Dreijährige unverständliche Weise für immer verschwunden war, hegte sie nun unterbewusst die Befürchtung, auch die Mutter noch zu verlieren.

»Zwei, drei Stunden, meine Süße. Keine Angst, ich werde nicht einfach so verschwinden.« Wie dein Vater, setzte sie in Gedanken hinzu. »Ich bin bald wieder bei dir, versprochen.« Hilflos strich sie ihr über das honigblonde Haar, das bei dem erbitterten Kampf mit dem Kindermädchen aus den himbeerrosa Schleifen gerutscht war. Hätten Großmutter und Mutter nur nicht darauf bestanden, dass sie an diesem verflixten Weihnachtsball teilnahm! Um wie viel lieber würde sie mit ihrer Tochter unter der wärmenden Bettdecke kauern und ihr ein Märchenbuch vorlesen, bevor das Kind in den Schlaf glitt und sie selbst ihren ewig um Eduard kreisenden Gedanken freien Lauf lassen konnte!

»Mutti!«, schrie Emilie gellend, und Marilla wandte sich mit zugeschnürter Kehle ab, um nicht mitanzusehen, wie Insa sie wie einen zusammengerollten Teppich unter den Arm klemmte und die Treppe zum Hauswirtschaftsbereich heruntertrug, gefolgt von einem stillen Korbinian, der vor lauter Verwirrung über das merkwürdige Verhalten seiner kleinen Kusine am Daumen lutschte.

Marilla atmete tief durch und versuchte, sich zu fassen. Vor ihrem Spiegel begutachtete sie sich kurz, wandte den Blick jedoch rasch ab; das altmodisch knöchellange, schwarze Kleid, der herausgewachsene Bob, der herabhing wie Sauerkraut – das war nicht sie. Wie hatte sie es früher, in einem anderen, wie ihr schien, weit zurückliegenden Leben, geliebt, sich aufzuputzen, sich die Haare in Wasserwellen zu legen, die dem neuesten Schrei entsprachen, und kräftige Farben zu tragen! In Hamburg war sie Stammkundin in einer der bekannten Boutiquen in der Mönckebergstraße gewesen, hatte sich stets die neuesten Schnittmuster auf den Leib schneidern lassen. Doch das war vorbei, zurück blieb nichts als ein Album sepiafarbener Fotos mit gezackten Rändern, die einzigen Überbleibsel einer großen Liebe, die ein allzu jähes Ende gefunden hatte.

Noch zehn Minuten bis zum offiziellen Beginn des Balls, doch sie würde keine Sekunde zu früh unten erscheinen. Sie trat ans Fenster und sah, wie die ersten Automobile den Kiesweg zum Hof entlangfuhren und dabei mehrere Gäste, die zu Fuß aus dem Dorf kamen, passierten. Der Gutshof versank bereits in rauchblauer Dämmerung, die Erlen verschwammen zu schemenhaften Stecken, die ihre dünnen Finger in den dunklen Himmel bohrten.

Ein erneutes Klopfen schreckte sie aus ihren Beobachtungen, doch noch ehe sie Herein sagen konnte, stürmte ihre jüngste Schwester Carla ins Zimmer.

»Lass uns zusammen runtergehen«, schlug die Sechzehnjährige düster vor. »Geteiltes Leid ist halbes Leid.«

»Wo du recht hast, hast du recht.« Marilla seufzte tief, während sie einen verstohlenen Blick über Carla schweifen ließ. Wie groß die Schwester, die immer als das Nesthäkchen unter den Geschwistern gegolten hatte, inzwischen war, fast hätte man sie für eine junge Dame halten können, wären da nicht ihr zerknittertes pflaumenlila Kleid und die schwarzen Riemchenschuhe gewesen, die eine Politur gut vertragen hätten. Außerdem waren ihre kastanienbraunen Haare ungekämmt, an den Seiten sogar unübersehbar verknotet, so als habe sich Carla noch vor Kurzem in den Schweineställen aufgehalten. Was wahrscheinlich der Fall war, dachte Marilla, und ein zärtliches Gefühl für die kleine Schwester überkam sie. Auf jeden Fall war durch Carlas desolates Erscheinungsbild Ärger mit Mutter vorprogrammiert. Kurz ging ihr der Gedanke durch den Kopf, dass eine Konfrontation zwischen Adelheid und der jüngeren Schwester wenigstens von ihren eigenen Haaren ablenken würde, verwarf dies jedoch sofort. Sie konnte Carla nicht sehenden Auges Mutters scharfer Kritik aussetzen.

»Lass mich deine Haare entwirren und aufstecken, es sieht aus, als würden Vögel auf deinem Kopf nisten. Und das Kleid gehört dringend gebügelt, am besten läufst du schnell zu Minna. Wenn Mutter dich so sieht, gibt es eine Szene, das ist dir doch klar?«

»Ist mir egal«, antwortete Carla mürrisch und entriss sich Marilla, die versuchte, mit den Fingern die Knoten aus ihren Haaren zu kämmen. »Ich halte diesen Ball für so überflüssig wie einen Kronleuchter im Hühnerstall. Da wäre ich jetzt sowieso lieber – bei den Tieren.«

»Ich weiß. Und ich würde am liebsten im Bett liegen und mir die Decke über den Kopf ziehen.« Marilla zog Carla erneut an sich und es gelang ihr, die Nester aus ihren Haaren zu entfernen, dafür standen einzelne Strähnen nun ab wie die Federbüsche einer Pusteblume. Beide zuckten zusammen, als sie vom oberen Stockwerk Schritte vernahmen. »Schnell, lauf zu Minna, damit sie dir dein Kleid bügelt, bevor Mutter dich in die Finger bekommt!«

Carla ließ sich das nicht zweimal sagen und lief laut polternd die Hintertreppe hinab.

Doch es war nur ihre gemeinsame Schwester Margareta mitsamt Ehemann Konrad, die sich näherten. Seit ihrer Heirat bewohnten die beiden mit Korbinian drei eigene Räume im rechten Flügel des Gutshauses.

»Was stehst du denn vor deinem Zimmer herum wie bestellt und nicht abgeholt?«, fragte Margareta, doch sie klang liebevoll. Von all ihren Geschwistern war sie Marilla immer am nächsten gewesen, und auch die drei Jahre in Hamburg hatten daran nichts geändert.

»Mich zieht es wahrhaftig nicht nach unten.« In diesem Moment begann die kleine Musikkapelle, die Ilsegard für den Ball engagiert hatte, sich einzustimmen, Streich- und Blasinstrumente fiepten wild durcheinander, was in Marillas Ohren wie ein Konzert jaulender Katzen klang.

Margareta und Konrad lachten über ihr schmerzvoll verzogenes Gesicht, dann musterte ihre Schwester sie aufmerksam. »Meinst du nicht, ein anderes Kleid wäre … passender für diesen Abend?«

Sie selbst trug ein hellblaues Kleid mit kecken, locker die Knie umspielenden Fransen, das in dem schwachen elektrischen Licht des Korridors fast silbern schimmerte. Mit ihrem Perlenschmuck und den kunstvoll aufgedrehten braunen Haaren wirkte sie bereits jetzt wie eine Ballkönigin, und mit einem Mal kam sich Marilla in ihrem Trauerkleid wie eine unattraktive, ältliche Gouvernante vor.

»Das Schwarz wirkt so düster, es passt besser auf eine Beerdigung als auf einen Weihnachtsball.« Sogleich wurde Margareta sich ihres Fauxpas bewusst und schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund; auch Konrad blickte betreten drein. »Entschuldige, ich habe … ich habe es nicht so gemeint.«

Ein Teil von Marilla sehnte sich danach, Margaretas Hand zu ergreifen, sie beruhigend zu drücken und ihr zu versichern, dass ihre verbale Gedankenlosigkeit überhaupt nicht schlimm sei, doch der andere, stärkere Teil drängte sie wie üblich, in ihrem Elend zu wühlen, bis es allen wie Konfetti um die Ohren flog. »Mir ist auch eher nach Beerdigung zumute als nach einem Ball, auf dem alle so penetrant fröhlich sind, das kannst du mir glauben. Es ist erst vier Monate her, dass ich meinen Mann begraben habe, falls du dich erinnerst.«

»Sei bitte nicht so.« Margaretas Tonfall klang flehend, Marilla wusste nur zu gut, wie sehr sie ihr durch ihre unversöhnliche Art zusetzte, aber sie konnte einfach nicht aus ihrer Haut, war eine Gefangene ihrer Schwermut und Reizbarkeit. »Eduard hätte es bestimmt gutgeheißen, dass du dich ein wenig amüsierst, meinst du nicht?«, sagte ihre Schwester mit einfühlsamem Tonfall und legte ihr eine Hand auf den Arm.

Im Innern wusste Marilla, dass ihre Schwester recht hatte, aber sie zuckte nur missmutig die Schultern. »Keine Ahnung, woher soll ich wissen, was er denken würde, er ist ja nicht mehr da.«

Von der Eingangshalle her schwappten die munteren Stimmen der bereits eingetroffenen Gäste zu ihnen hoch. Überschwängliche Begrüßungen und ausgelassenes Gelächter schraubten sich zu ihnen in die Höhe, unterbrochen von eilig trippelnden Schritten, die die Treppe heraufeilten. Adelheid stand vor Entrüstung bebend vor ihnen.

»Wo bleibt ihr denn, um Himmels willen? Die meisten Gäste sind schon da, und ihr plaudert hier oben gemütlich?« Ihr Blick heftete sich auf ihre mittlere Tochter. »Marilla, dein Kleid ist scheußlich, begib dich sofort in dein Zimmer und zieh dich um! Du siehst aus wie … wie eine Saatkrähe!« Adelheids Worte überschlugen sich, so aufgebracht war sie, dabei war auch sie nicht sonderlich farbenfroh gekleidet, sondern trug eines ihrer grauen, steifen Kleider mit altbackenen Rüschen am Hals, die kastanienbraunen Haare mit ersten Silberfäden hatte sie zu einem Dutt geschlungen, aus dem zu kleinen Löckchen gedrehte Strähnen hervorlugten, wie es vor dem Großen Krieg Mode gewesen war.

Mutters Ansage mutete derart grotesk an, dass sich etwas in Marilla löste, so als sei plötzlich ein Riegel zurückgeschoben, der ihre seit Monaten verschütteten Emotionen freigab. Ein Anflug von Heiterkeit grub sich durch die vielen Schichten ihrer Trauer hindurch, und wie Margareta musste sie mühsam das Lachen unterdrücken. Selbst Konrad senkte rasch den Kopf, um ein Schmunzeln zu verbergen.

»Eine Saatkrähe nennst du mich, Mutter?«, stieß sie nach Luft schnappend hervor.

»Ganz recht, denn genauso siehst du aus.« Adelheid rümpfte die Nase, als entsteige Marillas Kleid der pulvrige Geruch von Mottenkugeln. »Und nun kleide dich endlich um und beeile dich, herunterzukommen. Es gehört sich nicht, die Gäste warten zu lassen. Und wo steckt eigentlich Carla schon wieder? Kann dieses Kind nie pünktlich sein?«

Margareta und Konrad nahmen sie in ihre Mitte und sie schritten die Treppe herab, wurden in der festlich erleuchteten Eingangshalle von der Gästeschar empfangen und in ihrer Mitte willkommen geheißen. Die Leuchter an der hohen Decke badeten den großen Raum in einem warmen Schein und spiegelten sich auf dem blank polierten Boden. Überall waren bekannte Gesichter zu sehen, Nachbarn aus dem Dorf, Bürgermeister Fuchs nebst Gattin, der Tierarzt, und natürlich Onkel Artur und Tante Hildegard, die Verwandtschaft aus Kiel.

Marilla wusste nicht, wohin sie schauen sollte, sie schwitzte Blut und Wasser, war es doch das erste Mal seit Eduards Tod, dass sie mit Menschen außerhalb der Familie zusammentraf. Sie war sich der musternden Blicke sehr bewusst und starrte trotzig einen Punkt an der Wand an; sollten sie über ihren Traueraufzug denken, was sie wollten, würde sie wie ihre Schwestern ein helles, buntes Kleid tragen, hätte sie das Gefühl, Eduard zu verraten, der Trauer um ihn keinen Raum zuzugestehen.

»Da seid ihr ja, meine Lieben!« Ilsegards schneeweiße Haare, die ihren Kopf wie eine majestätische Krone umgaben, leuchteten in der Menge. »Sieht unser altes Gutshaus nicht wunderbar weihnachtlich aus?«

»Bezaubernd, Großmutter«, stimmte Margareta gerührt zu. »Unsere Anstrengungen haben sich gelohnt.«

Der Weihnachtsbaum, der an die drei Meter hoch sein musste, strahlte mit unzähligen Kerzen, die goldenen Nüsse und purpurroten Glöckchen schimmerten im gebündelten Licht der unzähligen Flammen. Von Wand zu Wand schwangen sich silberne Girlanden, und die Türen waren mit Tannenkränzen geschmückt, die Minna mit Strohsternen bestückt hatte.

Ilsegard nahm Marilla am Ellenbogen und beugte sich so dicht zu ihr, dass ihr der vertraute Duft nach Eau de Cologne in die Nase stieg, der die alte Dame umgab, seit sie denken konnte. »Ich hoffe sehr, dass du dich heute Abend auch ein wenig vergnügst, Kind. Ich weiß, wie schwer dir das fällt, schließlich habe ich ebenfalls einen Ehemann zu Grabe getragen, deinen Großvater Heinrich.«

Marilla biss sich auf die Lippen. Großvater war bereits über sechzig gewesen, als er verstarb, sie hatten so viel Zeit miteinander gehabt, wie konnte Großmutter ihren eigenen Verlust mit dem ihrer Enkelin vergleichen! Dieser schreckliche Autounfall hatte Eduard mit Ende zwanzig aus dem Leben gerissen, wer weiß, was ihm noch alles an Gutem widerfahren wäre – wahrscheinlich hätten er und Marilla noch weitere Kinder bekommen … Auf jeden Fall wären sie sehr glücklich gewesen.

»Du hast recht, es fällt mir sehr schwer, diesen Ringelpiez zu genießen«, stieß sie hervor.

Ilsegard sah sie betroffen an, doch in diesem Moment bat Hermann um Ruhe, um die Gäste zu begrüßen. In seinem besten Anzug, der ein wenig spannte, hatte er es sich doch seit Kriegsende gutgehen lassen, stand er vor dem pompösen Christbaum und blickte selbstzufrieden in die Runde. »Liebe Verwandten, liebe Nachbarn, liebe Freunde, liebe Familie. Es ist mal wieder an der Zeit, auf Gut Erlensee ein Fest mit euch allen zu begehen, die letzten Feiern liegen bereits allzu lange zurück. Seit den Hochzeiten unserer Töchter Margareta, Marilla und Cäcilia haben wir doch recht ruhig gelebt.«

Marilla war, als schwanke der Boden unter ihren Füßen. Wie unsensibel von Vater, ihre Hochzeit zu erwähnen! Wusste er nicht, wie sehr es sie treffen musste, an einem Abend wie diesem an die glücklichen Zeiten erinnert zu werden, die für immer verloren waren? Sie wünschte, die Holzdielen würde unter ihr einbrechen, damit sie in einem tiefen Loch verschwinden konnte, das sie vor den mitleidigen Augen der Gäste verbarg. Ilsegard drückte tröstend ihre Hand, wenigstens ein Familienmitglied, das ahnte, wie ihr zumute war.

»Deswegen freuen wir uns umso mehr, euch alle heute Abend in unserem Gutshaus begrüßen zu dürfen. Die Kapelle spielt gleich zu einem flotten Tänzchen auf, und im Esszimmer …«

Lautes Rumpeln von der Treppe unterbrach seine launigen Worte. Irritiert blickte die ganze Gesellschaft auf Carla, die ungestüm herablief, das Kleid nun gebügelt, die Haare noch immer zerzaust. Adelheid, die zwischen Ilsegard und Margareta stand, presste fest die Lippen aufeinander.

»So ein abscheuliches Verhalten«, zischte sie, sodass nur die Familie sie verstand. »Wenn sie sich weiterhin so aufführt, wird sie …«

»Nie einen Mann finden, ich weiß«, vollendete Carla, die sich zu ihnen gesellte, gelangweilt. Marilla und ihre Schwestern hatten diesen Satz bereits so oft gehört, dass er ihnen keinerlei Reaktion mehr hervorlockte, genauso wenig wie der kleinen Schwester selbst.

Adelheid umklammerte den Stiel ihres Sektkelches. »Meine jüngste Tochter erscheint auf unserem Weihnachtsball, als käme sie geradewegs aus dem Schweinestall, und die mittlere stellt provokativ ihre Trauer zur Schau …«

Hermann räusperte sich und wartete mit ärgerlich zusammengezogenen Augenbrauen, bis das Gemurmel seiner Frau verstummt war, bevor er seine Rede zu Ende führte. »Wie gesagt, gleich dürft ihr zu den Klängen unserer Musiker das Tanzbein schwingen, und für die Hungrigen und Durstigen ist im Esszimmer das Buffet aufgebaut!«

Wie zum Startschuss erhob er seinen Sekt, und im nächsten Augenblick spielten die Musiker munter drauf los, Paare tanzten ausgelassen Foxtrott oder gar Charleston, jenen neumodischen Tanz, der just in diesem Jahr aus Amerika nach Europa herübergeschwappt war und die Menschen begeisterte.

Marilla nahm sich vom Tablett der vorübereilenden Minna ein Glas Sekt und verbarg sich halb hinter den ausladenden Zweigen des Tannenbaumes, um ungesehen die feiernden Gäste zu beobachten. Ihre Schwestern Margareta und Cäcilia tanzten mit ihren Männern Konrad und Jakob, Kusine Fanny mit ihrem Bruder Franz, Tierarzt Johannes Moser, der die Pferde des Gutes betreute, mit seiner Frau, sogar Tante Hildegard und Onkel Artur schoben sich, zugegeben ein wenig schwerfällig, über den blanken Holzboden der Eingangshalle. Der Rest der Gäste verköstigte sich am Buffet, auf dem sich regionale Spezialitäten wie Labskaus, Krabbencocktail, Grünkohl mit Kasseler, Rübenmalheur, Fliederbeersuppe und Katenschinken sowie süße Desserts wie Mädchenröte aus Johannisbeersaft und Eischnee oder Förtchen, ein goldbraunes Gebäck, türmten. Sie hielt Ausschau nach Leonhard von Köckritz und seinen Eltern, konnte sie aber nirgends entdecken, stattdessen wirbelten ihre Eltern – ihr Vater keuchend und schnaufend, ihre Mutter mit in die Luft gereckter Nasenspitze – an ihr vorbei.

Ein jeder schien einen Partner zum Tanzen oder Plaudern zu haben, nur sie nicht, und mit einem Mal fühlte sie sich leer und einsam …

»Da steckst du, Schwesterherz.« Gregor tauchte plötzlich auf der anderen Seite des Buffets auf, begleitet von Benno, beide in eleganten Anzügen, die Haare mit Pomade nach hinten frisiert. Marilla spürte, wie die Blicke einiger junger Damen auf ihrem Bruder und seinem Geschäftspartner hängen blieben, waren sie doch beide überaus attraktiv. »Warum stehst du allein hier herum? Wir wollten dich doch heute Abend unter unsere Fittiche nehmen.«

»Ich habe euch nicht gefunden.« Vor Erleichterung, von Gregor gerettet worden zu sein und nicht den ganzen Abend gezwungene Konversation mit Fremden betreiben zu müssen, rollte ihr ein Stein vom Herzen. »Aber Gott sei Dank seid ihr da, ich habe mich die ganze Zeit in irgendeiner Ecke herumgedrückt, bevor jemand auf die Idee kam, mich zum Tanzen aufzufordern.«

»Keine Angst, wir belegen dich mit Beschlag, du wirst nicht tanzen müssen«, beruhigte Gregor sie, dann schaute er sich suchend um. »Habt ihr Leonhard schon gesehen? Wo bleibt er nur, der alte Junge?«

»Vielleicht war ihm doch nicht nach Feierlichkeiten zumute«, vermutete Benno.

Marilla konnte sich eine spitze Bemerkung nicht verkneifen. »Wer könnte es ihm verdenken nach seinem Schicksalsschlag?«

Gregor hob ein Glas hoch. »Auch eine Tote Tante, kleine Schwester?«

»Sehr gerne.« Vielleicht würde das typisch norddeutsche Gemisch aus Kakao und Rum mit einem Klecks zuckerweißer Sahne obendrauf ihre Sinne ein wenig benebeln, dem Abend die Schärfe nehmen, sodass sie ihn weitgehend unbeschadet überstehen würde.

Sie prostete Gregor und Benno zu, die sich von Köchin Hedwig, die neben Minna als Servierdame eingeteilt war, ebenfalls eine Tote Tante geben ließen, und das warme alkoholische Getränk spülte ihre Kehle herab, stieg ihr nach einigen Schlucken zu Kopf und ließ ihre Wangen glühen.

»Noch eine Tante, bitte.« Sie hielt Hedwig ihr leeres Glas hin und ignorierte Gregors Schmunzeln.

»Nicht übertreiben, was?«

»Ich wurde zu diesem Ball gezwungen, ich darf so viel trinken, wie ich will«, erwiderte sie trotzig, gleichzeitig genoss sie das Gefühl der Schwerelosigkeit, das sie wie einen leichten Schwindel erfasste. Es war, als schwebe ihr Körper auf einer weichen Wolke, und plötzlich schien der Abend ganz erträglich, ja, es störte sie auch nicht, dass Doktor Uhlen mit einer jungen hübschen Frau, die ihr vage bekannt vorkam, auf sie, Gregor und Benno zuhielt.

»Frau von Weidenthal.« Der Arzt ergriff ihre Hand und hielt sie lange. »Wie schön, Sie heute Abend zu sehen. Es freut mich, dass Sie inzwischen die Kraft haben, an gesellschaftlichen Zusammenkünften teilzunehmen.«

Sie konnte sich gerade noch eine respektlose Bemerkung darüber, dass sie nicht freiwillig an diesem Spektakel teilnahm, verkneifen – der Rum schien ihre Hemmschwelle aufzuweichen – und lächelte stattdessen. Die junge Frau an Doktor Uhlens Seite erwiderte dies und sah den Mediziner auffordernd an.

»Oh, ich habe Ihnen meine Nichte noch gar nicht vorgestellt; das ist Konstanze, die Tochter meines Bruders, sie wohnt zurzeit bei mir.« Stolz blickte er auf Konstanze herab, die ein in asymmetrische Bahnen gelegtes Kleid mit tiefer Taille aus weinrotem Crêpe de Chine trug, ein sehr schickes gleichfarbiges Samtband in den aschblonden Haaren, die zu einer modernen Kurzhaarfrisur geschnitten waren. Unwillkürlich fasste sich Marilla in ihre formlose Frisur.

»Vielleicht erinnern Sie sich an mich, ich begleitete meinen Onkel zu Ihrem Sommerfest vor anderthalb Jahren.« Konstanze schaute der Reihe nach Marilla, Gregor und Benno in die Augen.

Gregor schien sich zu erinnern. »Oh ja, ich habe Sie damals herumgeführt und Ihnen den Hof und unser Gestüt gezeigt.«

Vor Marilla tauchten undeutliche Bilder an jenen Sommer auf, als die Welt noch in Ordnung, ihr Leben noch unbeschwert gewesen war. Plötzlich trug sie den Geruch nach zuckriger Früchtebowle, herben Blüten, frischem Heu und sonnengebackenem Gras in der Nase, und trotz ihrer alkoholinduzierten Leichtigkeit begannen heiße Tränen hinter ihren Lidern zu brennen. Rasch trank sie noch einen Schluck Toter Tante, als könne sie damit den Schmerz betäuben.

»Das ist richtig.« Konstanze lächelte zu Gregor auf, während ihr Onkel das Gespräch wohlwollend verfolgte. Ob er wohl auf eine Verbindung zwischen Konstanze und Gregor hoffte, so wie Mutter dies höchstwahrscheinlich tat? Da war er schief gewickelt, die Neigungen ihres Bruders lagen woanders.

»Wie lange bleiben Sie in Langwedel?«, erkundigte sich Gregor liebenswürdig und ließ sich von Hedwig zwei Getränke für den Doktor und seine Nichte zubereiten.

»Ein paar Monate.« Konstanze kippte einen ordentlichen Schluck, was ihr bewundernde Blicke der Männer einbrachte. »Ich assistiere meinem Onkel in seiner Praxis, ich möchte nämlich Erfahrungen sammeln, um demnächst selbst mit einem Medizinstudium zu beginnen.«

»Das … das ist großartig, Chapeau!« Gregor war beeindruckt, auch Benno betrachtete die junge Frau interessiert. »Ich hoffe, man legt Ihnen als Frau nicht allzu viele Steine in den Weg, es gibt ja noch immer sehr wenig Ärztinnen, und mancherorts werden sie misstrauisch beäugt.«

»Ich weiß.« Konstanze schien diese Tatsache gelassen zu nehmen, was Marilla beeindruckte. Sie war wohl eine ebenso selbstbewusste und zielstrebige Frau wie ihre Schwestern Margareta und Cäcilia, die eine führte mit ihrem Gatten Konrad eine Druckerei im Ort, die andere leitete gemeinsam mit Kusine Fanny eine Privatschule. »Es ist hart, sich durchzusetzen, aber ich bin mir sicher, eines Tages wird es ebenso viele weibliche wie männliche Ärzte geben.«

»Na, das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.« Doktor Uhlen schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Wo wollen Sie denn einmal studieren?«, erkundigte sich Benno.

Während Konstanze von ihren Plänen erzählte, hielt Marilla sich unauffällig an der Tischkante fest. Sie sollte schleunigst mit dem Alkohol aufhören, ihr Kopf drehte sich bereits, als säße sie auf einem Jahrmarktskarussell. Noch dazu spielte die Musikkapelle in der Halle nun laut Ausgerechnet Bananen, was die Tanzenden mit übermütigen Ausrufen quittierten, ihr aber leichte Kopfschmerzen bescherte. Mit einem Mal war ihr alles zu viel, die Musik, das Stimmengewirr, das Gelächter. Heftiger als beabsichtigt stellte sie ihr Glas ab und floh.

In der Bibliothek empfing sie unangenehme Kälte; da der Ball sich auf die Eingangshalle und das Esszimmer beschränkte, hatte man Minna nicht angewiesen, ein Feuer im Kamin zu entfachen, doch der rauchige Geruch des Feuers vom Vortag hing noch beißend in der Luft. Marilla verzichtete darauf, das Licht einzuschalten, sondern ließ sich nur matt auf eines der Samtsofas sinken, dessen Burgunderrot in der Dunkelheit fast schwarz wirkte. Sie fühlte sich so erschöpft, als habe man sie stundenlang durch den Wald gejagt wie ein Reh. Mit zitternden Fingern tupfte sie sich die Schweißperlen von der Stirn und versuchte, ihren pochenden Herzschlag zu beruhigen. Warum hatte sie sich nicht stärker dagegen gewehrt, an dieser Farce teilzunehmen? Sie war noch nicht dazu bereit, unter Menschen zu gehen.

Doch auch, oder vor allem hier, in der Bibliothek, quälten sie Erinnerungen an Eduard, hatte ihre Liebe doch in diesem Raum begonnen. Ihre Gedanken wanderten zu den Querflötenstunden zurück, die er ihr erteilt hatte; sie hatten auf genau diesem Sofa gesessen, und sie hatte sich im Anblick seiner feingliedrigen Finger verloren, die das Instrument so virtuos beherrschten. Die erste Umarmung, der erste Kuss – all das hatte zwischen den hohen Bücherregalen, denen der Geruch nach altem, staubigen Papier entströmte, stattgefunden.

Verflixt, jetzt musste sie schon wieder weinen; es wunderte sie, dass sie nach all der Zeit noch Tränen übrig hatte, müsste sie nicht längst ausgetrocknet sein?

»Taschentuch?« Eine wohlbekannte Stimme ertönte aus einer der dunklen Ecken der Bibliothek, und sie schrak zusammen. Während sie gelähmt vor Entsetzen auf dem Sofa kauerte, starrte sie die hochgewachsene Gestalt an, die sich aus den Schatten erhob und auf sie zutrat, ein weißes Tuch in der Hand. »Hier, Marilla.«

»Danke, Leonhard.« Sie schnäuzte sich verlegen, dann lud sie den Erbgrafen von Köckritz mit einer vagen Handbewegung ein, sich zu ihr zu setzen. Ihre Mutter hätte es unschicklich gefunden, dass sie den Nachbarn vom anderen Seeufer mit dem Vornamen ansprach und duzte, aber sie kannten sich seit ihrer Kindheit – unter den Augen des gräflichen Kindermädchens hatten sie an heißen Sommertagen am Wasser gespielt – und auch in ihrer Jugend waren sie sich hin und wieder über den Weg gelaufen. Marilla befühlte gedankenverloren ihren Bernsteinanhänger und fröstelte.

Leonhards Blick hing wie festgefroren an ihrem Schmuckstück, dann riss er sich davon los. »Dir ist kalt. Warte einen Moment.« Von dem Ohrensessel, in dem Ilsegard des Nachmittags in der Gartenlaube zu schmökern pflegte, nahm er eine gehäkelte Wolldecke und legte sie über Marillas und seinen Schoß.

Seine Fürsorglichkeit rührte sie. »Dieser Ball ist fürchterlich, nicht wahr?«

Er nickte schwermütig. »Ja. Ich habe die fröhlichen Gesichter und die angeregten Gespräche einfach nicht mehr ausgehalten und mich davongeschlichen wie ein Dieb.«

Sie schaute ihm in die Augen, die, wie sie wusste, graugrün waren, auch wenn es zu dunkel war, um die Farbe zu erkennen. »Warum hast du die Einladung überhaupt erst angenommen? Wolltest du dir diesen Ball wirklich antun? Deine Frau ist doch auch noch nicht lange tot. Und wo sind deine Eltern?«

»Fragen über Fragen.« Leonhard grinste schief und strich sich über die dunkelblonden Haare. Er war wie immer tadellos gekleidet, der Anzug war maßgeschneidert, und aus der Weste ragte ein seidenes Einstecktüchlein, das im hellen Licht wohl bonbonrosa oder fliederfarben sein mochte. »Meine Mutter wollte das Haus aufgrund der Minusgrade nicht verlassen, und Vater hat sich wie immer gefügt. Was mich betrifft … Ich weiß auch nicht.« Er strich mit dem Daumen über die Häkelmaschen der Decke, während von der Eingangshalle mitreißende Jazzmusik zu ihnen drang, zu der die Gäste lebhaft zu tanzen schienen, dem Scharren von Füßen und ausgelassenem Lachen nach zu urteilen. Leises Gläserklirren klang wie das Bimmeln unzähliger kleiner Glöckchen. »Einerseits drängte es mich, mal wieder andere Gesichter zu sehen, andererseits habe ich schnell gemerkt, dass es für mich noch viel zu früh ist. Der Schmerz sitzt noch viel zu tief, als dass ich mich unter andere Menschen mischen könnte.«

Ein Lichtschein von draußen tauchte die Bibliothek in Helligkeit – das Automobil eines verspäteten Gastes fuhr mit röhrendem Motor über den Hof – und beleuchtete schwach Leonhards Gesichtszüge, die für einen Moment ihre übliche liebenswürdige Gelassenheit verloren und sich in roher Trauer verkrampften.

Impulsiv griff Marilla nach seiner warmen Hand. »Ich verstehe dich so gut, Leonhard. Mir geht es genauso wie dir.«

»Einer meiner Freunde hat mich gedrängt, den Ball zu besuchen, um ein wenig Ablenkung zu finden, er hat derart auf mich eingeredet, dass ich schließlich nachgegeben habe. Aber im Grunde möchte ich nur mit mir und meinen Gedanken allein sein.«

»Bei mir ist es ähnlich.« Marillas Herz, das sich seit August vor allen Mitmenschen verschloss, öffnete sich wie eine plötzlich aufbrechende Blüte. »Niemand versteht, dass einem die Kraft fehlt, mit anderen zu plaudern, dass einen die Belanglosigkeiten, mit denen andere beschäftigt sind, nicht im Geringsten interessieren.«

Leonhard nickte. »Meine Freunde versuchen mich ständig zu überreden, mit ihnen etwas zu unternehmen, nach Kiel zu fahren, dort ins Lichtspielhaus oder in eine Tanzbar zu gehen … Aber ich bin am liebsten allein oder bei meinen Pferden. Wenn man die Ehefrau verliert, wenn sie einem unter den Händen wegstirbt, dann ist es, als ob ein Stück des eigenen Körpers weggerissen würde, nicht wahr? Ein Stück von einem fehlt, für immer. Filme und Champagner können dagegen nichts ausrichten.«

»Und Tanz auch nicht.« Marilla lauschte der lauten Musik und den aufgekratzten Gesprächen aus der Halle und war froh, dem Spektakel entkommen zu sein. Welch ein Glücksfall, in der finsteren Bibliothek auf Leonhard gestoßen zu sein, der sie verstand wie kein anderer. Ihre Geschwister und ihre Großmutter gaben sich zwar sehr mitfühlend, aber was es wirklich bedeutete, in so jungen Jahren den geliebten Ehemann zu verlieren, vermochten sie nicht nachzuempfinden. »Woran ist Amalia gestorben?«, wagte sie flüsternd zu fragen. Vor Leonhard war falsche Scheu unangebracht.

Er räusperte sich, als traue er seiner Stimme nicht. »Sie war schon immer kränklich. Letztendlich war es die Schwindsucht, die ihr das Leben genommen hat. Sie war erst siebenundzwanzig, zwei Jahre jünger als ich.«

»Das tut mir leid«, erwiderte Marilla heiser. »Eduard war genauso alt. Ist es nicht tragisch, so jung zu sterben? Er hatte noch so viele Pläne, wollte demnächst mit seinen Studenten aus dem Konservatorium auf eine Konzertreise durch das ganze Land aufbrechen. Manchmal bin ich so wütend auf ihn, weil er mich allein zurückgelassen hat. Konnte er an diesem verfluchten Tag, an dem der Unfall geschehen ist, nicht besser aufpassen? Warum hat er nicht früher gebremst, als das andere Automobil um die Ecke geprescht kam? Margareta und Cäcilia sagen, so darf ich nicht denken.«

»Du hast jedes Recht, so zu denken.« Leonhard klang tonlos; dieses Mal war er es, der ihre Hand ergriff und sie so kräftig drückte, als wäre sie ein Rettungsreifen, an dem er sich festhielt, um nicht zu ertrinken. »Aber wenigstens hast du ein Kind, das dich dein Leben lang an Eduard erinnert. Ich habe nichts.«

Kapitel 2

Dezember 1923

Marilla

Marilla schreckte aus wirren Träumen hoch, das Nachthemd schweißgetränkt. Wie stets hatte sie im Schlaf die quietschenden Bremsen gehört, die Wucht des Zusammenpralls mit dem anderen Automobil gespürt, noch einmal den Schmerz durchlitten, mit dem die scharfen Metallkanten ihr in die Schläfen geschnitten hatten. Die Narbe hatte einen feinen Wulst hinterlassen, unter ihrem honigblonden Haar verborgen, sie würde für immer gezeichnet sein und die Narben würden sie für immer an diesen Tag erinnern.

»Mutti«, murmelte ihre Tochter schlaftrunken. Wie jede Nacht war sie zu ihr ins Bett geschlichen, um an sie geschmiegt einzuschlafen, das Kinderbett, das Gregor und Benno in Marillas Zimmer gestellt hatten, blieb unbenutzt.

»Es ist Zeit, aufzustehen.« Marilla strich Emilie liebevoll eine weiche Haarsträhne aus dem rosigen Gesicht. Nichts zog sie hinunter ins Esszimmer, wo sich die Familie zum Frühstück versammelte, für ihr Kind aber waren die täglichen Rituale wichtig, sie verliehen Emilie Stabilität und Geborgenheit, der sie so dringend bedurfte. »Ich glaube, es hat in der Nacht geschneit. Es herrscht so ein besonderes Licht draußen.«

Plötzlich hellwach kugelte Emilie von der Matratze und rannte zum Fenster, Marilla folgte ihr gemächlich, musste sie doch erst Kraft sammeln, dem neuen Tag entgegenzutreten. Ihr Schädel pochte von dem Alkohol, den sie getrunken hatte. Tatsächlich, eine feine sahneweiße Schneeschicht bedeckte den Hof und setzte den Wacholderbüschen und den kahlen Ästen der Erlen zarte Häubchen auf. Schneeflocken rieselten dicht wie Zuckerkörner herab und verwischten die Sicht auf die Schnapsbrennerei und die Ställe. Gewöhnlich verzauberte Marilla der Anblick des märchenhaft anmutenden, weiß bestäubten Hofes, doch heute empfand sie nichts als Leere. Ihr Herz war noch zu voll von der überwältigenden Sehnsucht nach Eduard, den sie im Traum gesehen hatte.

»Gehen wir nachher nach draußen, in den Schnee und zu den Pferden?«, fragte Emilie hoffnungsvoll und kletterte auf die Fensterbank, um Gregor zuzuwinken, der Alba, Margaretas Apfelschimmel, über den Hof führte. Er hob grüßend die Hand, das braune Haar voller weißer Tupfer.

»Wenn du unbedingt willst«, seufzte Marilla.

Im Esszimmer saßen ihre Eltern, ihre Großmutter, Margareta mitsamt Ehemann und Sohn sowie Carla bereits am Tisch, während Minna, die reichlich übernächtigt aussah – wahrscheinlich hatte Adelheid ihr gestern Nacht noch aufgetragen, zusammen mit Hedwig das schmutzige Geschirr vom Ball zu spülen – stolpernd hin und her eilte, um alle mit Kaffee und frischem Rührei zu versorgen.

»Was sind Sie denn so schusselig heute Morgen, Minna?« Adelheid beobachtete das Dienstmädchen, das rot anlief, missbilligend. »Man könnte meinen, Sie hätten nicht geschlafen.«

»Warum hast du sie gestern auch noch spülen lassen?« Ilsegard tauchte kurz hinter ihrer Zeitung auf, hinter der sie sich morgens zu verschanzen pflegte. »Das hätten sie und Hedwig in Ruhe heute Vormittag erledigen können.«

»Ich hätte keinen Schlaf gefunden, wenn die ganzen benutzten Teller, Schüsseln und Gläser noch herumgestanden hätten.« Pikiert wandte Adelheid die Augen von ihrer Schwiegermutter ab, um demonstrativ in die andere Richtung zu schauen. Marilla wechselte einen erheiterten Blick mit Margareta und Carla; drei Jahre lang war sie in Hamburg gewesen, doch noch immer schwelte der subtile Kleinkrieg zwischen Mutter und Großmutter.

»Du hättest ja in der Küche mithelfen können, dann wäre das arme Kind früher ins Bett gekommen«, bemerkte Ilsegard und raschelte empört mit der Zeitung.

Hermann, der sich mehrere Esslöffel Wacholdermarmelade auf sein Brot häufte, schnaufte. »Mutter, du bist wieder renitent wie ein Kleinkind, das seine Grenzen auslotet. Lass es gut sein.«

Nachdem Großmutter sich wieder in ihre Lektüre vertieft hatte, verlagerte sich Adelheids Aufmerksamkeit zu Marillas Verdrossenheit auf sie. »Kannst du mir bitte erklären, wieso du gestern Abend plötzlich verschwunden warst? Wo hast du dich versteckt?«

Marilla bestrich eine dünne Brotscheibe mit Butter, schnitt sie in Streifen und schob sie Emilie hin. »Ich habe mich nicht versteckt, ich habe mich lediglich in die Bibliothek zurückgezogen. Die laute Musik und die vielen Gäste waren einfach zu viel für mich.«

»Ich muss schon sagen«, entrüstete sich Adelheid und fixierte sie über den Tisch hinweg mit zusammengekniffenen Augen. »Da organisieren wir einen Weihnachtsball für die gesamte Familie und das halbe Dorf, und vor allem für dich, meine Liebe, um dich aus deinem Schneckenhaus herauszulocken, und was tust du? Verschanzt dich in der Bibliothek! Das ist schon ein wenig undankbar, findest du nicht?«

»Ach, Mutter, lass Marilla doch in Ruhe«, schaltete sich Margareta ein, die Korbinian Eigelb aus den Mundwinkeln wischte. »Eigentlich hat sie ja deutlich gesagt, dass sie keinen Wert auf den Ball legt.«

Ilsegard legte erneut ihre Zeitung ab. »Ich habe im Nachhinein ein richtig schlechtes Gewissen wegen dieses Balls – es war viel zu früh für dich, wieder unter die Leute zu gehen, mein Kind. Es tut mir leid, dass du allein in der Bibliothek herumgesessen hast.«

»Ich saß nicht allein herum.« Marilla starrte aus dem Fenster in die umherwirbelnden Schneeflocken und lauschte dem Hufetrappeln zweier Pferde, die über den Hof geführt wurden. Die Geräusche klangen gedämpft, die weiße Pracht schluckte Schritte und Stimmen. »Leonhard befand sich bei mir. Wir haben uns gegenseitig Gesellschaft geleistet.«

»Der arme Junge.« Hermann schaltete sich in das Gespräch ein. Die von Köckritz interessierten ihn von jeher, da er mit der Adelsfamilie vom anderen Seeufer lange Jahre Geschäfte betrieben hatte. Die gräfliche Papierfabrik belieferte die Lamprecht’sche Druckerei im Dorf noch immer mit Material, nur hatte Hermann nichts mehr damit zu tun, da sein Schwiegersohn Konrad und Margareta den Betrieb inzwischen leiteten. »So früh Witwer zu werden – und dann hat seine Angetraute ihm noch nicht mal zu einem Stammhalter verholfen!«

»Auch und gerade mit Kind ist der Tod des Ehepartners schrecklich«, brach es aus Marilla heraus. Natürlich bekundete Vater sein Mitgefühl mit dem Nachbarsohn, während er mit ihr nur über das Wetter oder seine Arbeit in der Brennerei sprach, aber so war Hermann eben – ein Holzklotz von Mann. Oder war sie im Moment nur besonders sensibel? Da Emilie fragend zu ihr hochsah, den Mund mit Kakao verschmiert, verzichtete sie auf eine weitere Bemerkung.

»Möchtest du mich heute in die Druckerei begleiten?« Margareta, die ihr gegenübersaß und sich die Hände an der Kaffeetasse wärmte, schaute sie teilnahmsvoll an.

»Wieso sollte ich das tun?«

»Nun, um … um ein bisschen herauszukommen.« Margaretas Wangen färbten sich rosig, und sofort bereute Marilla ihre scharfe Erwiderung.

»Wenn du keine Lust hast, dir in der Druckerei die Beine in den Bauch zu stehen, kannst du mir auch im Stall helfen.« Carla schlang ihr Brot herunter, als würde es so schnell nichts mehr zu essen geben, was ihr einen vorwurfsvollen Blick Adelheids einbrachte.

»Iss nicht wie ein Nimmersatt!«

»Du könntest die Hühner füttern und dich dann mit mir um die Schweine und die Kuh kümmern.« Der Tadel ihrer Mutter ließ Carla wie üblich kalt, und sie stürzte gierig ihren Kakao herunter. »Emilie würde dies auch Spaß bereiten.«

»Ich will zu den Pferden«, warf die Kleine bestimmt ein.

»Es ist sehr nett von euch, dass ihr mich ablenken wollt.« Marilla suchte den Blick ihrer Schwestern, um für ihren schroffen Tonfall von vorhin Abbitte zu leisten. »Aber ich denke, Emilie und ich vergnügen uns einfach ein bisschen im Schnee.«

»Außerdem wirst auch du dich nicht in die Ställe begeben, Carla.« Adelheid tupfte sich mit ihrer bestickten Leinenserviette geziert die Lippen ab. »Du bist schließlich kein Stallknecht, auch wenn du nur allzu gerne mit den Schweinen im Dreck wühlst. Nein, du wirst mir helfen, Minna beim Polieren der Sektkelche zu überwachen, und danach kümmern wir uns um den Speiseplan für Heiligabend.«

»Donnerlittchen, mir bleibt aber auch nichts erspart.« Stöhnend barg Carla den Kopf in den Händen.

Marilla setzte Emilie die weiße Pelzmütze auf, mit der sie aussah wie eine Eisprinzessin, und steckte ihre Hände in fellgefütterte Fäustlinge. Draußen erwartete sie eine weißbestäubte Winterwelt, es war inzwischen so viel Schnee gefallen, dass sich die Äste und Zweige der Erlen ob ihrer Last bogen und die Wacholderbüsche unter ihren weißen Hauben kaum noch zu erkennen waren. Harras war nirgends zu sehen, wahrscheinlich hatte er sich in die warme Brennerei zurückgezogen oder lag faul in einem der Ställe.

Die frostige Luft schmerzte in den Lungen und auf der Haut, trotzdem fand Marilla sie belebend. Emilie begann jauchzend, Schneebälle zu formen, und sie half ihr dabei, auch wenn sie auf die klamme Feuchtigkeit, die durch ihre wollenen Handschuhe drang, gerne verzichtet hätte.

»Was wird das? Ein Schneegespenst?«

Marilla schnellte herum und bemerkte Leonhard von Köckritz, den sie vor lauter Eifer nicht hatte nahen sehen. »Eigentlich sollte es ein Schneemann werden.« Freude, ihn so bald nach dem Weihnachtsball wiederzusehen, blitzte kurz in ihr auf. Sie klopfte sich den Schnee vom Mantel und trat neben Leonhard, um wie er das unförmige Gebilde zu betrachten, auf das Emilie einen weiteren Schneeklumpen schichtete. »Aber du hast recht, er sieht eher wie ein in Ketten gelegter, formloser Geist aus. Warum bist du so früh unterwegs?«

»Ich wollte nach diesem neuen Hannoveraner sehen, den ich kaufen möchte, bevor ich in die Papierfabrik fahre. Héros de l’ Année, ein wunderschönes Tier. Aber dein Bruder scheint bereits einen Kunden dazuhaben.«

Tatsächlich erklangen aus dem Stall Stimmen, Gregor und Benno unterhielten sich mit einem Fremden, den Marilla nicht zuordnen konnte. Sie sprachen laut und lebhaft, auch wenn sie auf die Entfernung hin keine Worte verstehen konnte.

»Mach dich auch mal nützlich.« Emilie drückte Leonhard ungeniert eine Armvoll Schnee in die Hände.

»Emilie!« Marilla fasste ihre Tochter am Ärmel und beugte sich herunter, um ihr in die eisblauen Augen zu sehen, die sie unschuldig anblickten. »Wie sprichst du denn mit dem Grafen von Köckritz! Erstens siezt du ihn, zweitens nennst du ihn Graf!«

Leonhard lachte nur. »Lass die Kleine doch, mich stört ihre Anrede nicht.«

»Na gut, wenn du meinst.« Marilla fuhr fort, Schnee zu Kugeln zu formen, und auch Leonhard beteiligte sich. Emilie vermochte ihr Glück kaum zu fassen, gleich zwei Spielkameraden gewonnen zu haben, und legte sich mächtig ins Zeug, den Schneemann, der immer unförmiger wurde und allmählich die Umrisse eines Zirkuszeltes annahm, zu vergrößern. Ihre Wangen stachen erdbeerrot vor Kälte unter ihrer Pelzmütze hervor, ihr Mantel war völlig durchnässt. Marilla rührte es, sie so glücklich zu sehen.

»Hast du den Ball gut überstanden?« Leonhards graublaue Augen suchten Marillas Blick, ruhten voller Interesse auf ihr.

»Gott sei Dank ist er vorbei«, seufzte sie. »Nun muss ich noch Weihnachten hinter mich bringen, dann ist für eine Weile Schluss mit den familiären Pflichtterminen.«

»Seit Amalias Tod bin ich auch am liebsten allein«, gestand Leonhard, und in seinen Worten schwang eine solche Traurigkeit mit, dass sie am liebsten wie früher in ihrer Kindheit, wenn er im Erlensee einen Fisch gefangen hatte, der ihm wieder entglitten war, seine Hand genommen hätte, um ihn zu trösten. »Aber mach das mal den lieben Mitmenschen klar. Meine Freunde sind der Meinung, es hilft mir, wenn sie ständig um mich herum sind und mich in Gespräche verwickeln, um mich abzulenken. Doch dadurch strengen sie mich nur an. Ich möchte einfach nur für mich sein.«

»Ich weiß.« Marilla klopfte eine neue Schicht an dem Schneemann fest. »Das geht mir genauso. Meine Familie versteht nicht, dass das Wichtigste für mich ist, sie einfach im Hintergrund zu wissen, verstehst du? Ich brauche das Gefühl, dass sie für mich da sind, aber es ist mir zu viel, wenn sie sich ununterbrochen um mich bemühen, mir Vorschläge unterbreiten, wie ich mich beschäftigen kann, oder mich zu irgendwelchen Aktivitäten nötigen.«

Leonhard ließ ihre Bemerkung sacken, während er eine weitere Schneekugel über die Erde rollte, damit sie größer wurde. Die Satzfetzen von Gregor, Benno und dem Unbekannten, die aus dem Pferdestall zu hören waren, hatten eine dringlichere, fast aggressive Klangfärbung angenommen. Marilla fragte sich unbehaglich, was da vor sich ging, bis Leonhard wieder das Wort ergriff. »Möchtest du vielleicht einmal mit mir spazieren gehen? Ohne zu reden, ohne, dass wir versuchen, uns gegenseitig aus dem Sumpf unserer Trauer zu ziehen. Du bist die Einzige, die meine Situation und meine Gefühle im Moment nachvollziehen kann. Es tut gut, mit dir zusammen zu sein.«

Sie spürte seinen offenen, abwartenden Blick auf sich; Leonhard wa...

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