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Ein ganz besonderes Weihnachten - drei bezaubernde Geschichten zum Glücklichsein

EIN WEIHNACHTEN ZUM GLÜCKLICHSEIN

Wie jedes Jahr will Beth mit ihrem Mann und den Kindern ein entspanntes Weihnachtsfest bei ihren Eltern verbringen. Aber diesmal geht alles drunter und drüber: Ihr Bruder Ged steht mit einer neuen und schwangeren Freundin vor der Tür. Beths Schwester Lou ist wieder einmal Single, und auch bei Beth selbst läuft so einiges schief. Zu guter Letzt machen auch ihre Eltern eine überraschende Mitteilung, und plötzlich droht das Band, das die Familie zusammenhält, zu reißen …

EIN GANZ BESONDERER WEIHNACHTSWUNSCH

Seine Mum hat Joe beigebracht, dass er nur zum Polarstern hinaufsehen und ihm seinen Weihnachtswunsch entgegenschicken muss, dann wird er wahr. Doch jetzt ist sie tot, und Joe vermisst sie. Aber manchmal spürt er sie an seiner Seite, sie hört ihm zu, wenn er mit ihr spricht, da ist er sich ganz sicher - obwohl ihm niemand glaubt. Und dieses Weihnachtsfest möchte er nichts mehr, als dass sie noch einmal eine richtige Familie sind. Ob ihm der Polarstern auch diesen Wunsch erfüllen kann?

TATSÄCHLICH WEIHNACHTEN

Vier Menschen, vier Schicksale, ein berührendes Weihnachtswunder:Catherine graut es vor den Festtagen. Ihr Leben in London ist unerträglich. Die Ehe liegt in Scherben.Noel verliert ausgerechnet vor den Feiertagen seinen Job und damit jeglichen Lebensmut.Marianne versucht sich im idyllischen Örtchen Hope Christmas auf Weihnachten zu freuen, doch alles um sie herum erinnert sie an ihre verlorene Liebe.Gabriel ist verzweifelt, seine Frau ist auf und davon. Doch seinem Sohn will er ein glückliches Fest bereiten.Nur das Eingreifen eines rettenden Engels kann diesen vier beweisen, dass zu Weihnachten Wunder wahr werden können.


  • Erscheinungstag: 19.12.2019
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 1152
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745751833
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Julia Williams

Ein ganz besonderes Weihnachten - drei bezaubernde Geschichten zum Glücklichsein

MIRA® TASCHENBUCH

Copyright © 2017 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der englischen Originalausgabe:
It’s A Wonderful Life
Copyright © 2016 by Julia Williams
erschienen bei: Avon Books, London

Published by arrangement with
HarperCollins Publishers Limited, UK

Covergestaltung: bürosüd, München
Coverabbildung: www.buerosued.de
Redaktion: Anne Nordmann
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783955767730

www.harpercollins.de
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Beth

Ich weiß wirklich nicht, was in letzter Zeit mit mir los ist. Mein Leben ist wunderbar. Nein, wirklich, das ist so. Ich habe unglaublich viel Glück. Ich bin weitestgehend gesund, habe einen liebevollen Ehemann und zwei Kinder, die man zwar vielleicht nicht mehr als niedlich bezeichnen kann, die mich aber doch mit schöner Regelmäßigkeit zum Lachen bringen. Natürlich bereiten sie mir auch den üblichen Ärger, den man mit Teenagern nun mal hat, aber meine Familie liebt mich, und auch beruflich läuft es hervorragend. Ich bin eine erfolgreiche Kinderbuchautorin und – illustratorin. Warum also bin ich nicht zufrieden? Ich weiß, meine Schwester Lou könnte das nie verstehen, aber manchmal habe ich das Gefühl, das Leben läuft einfach an mir vorbei. Soll das wirklich alles gewesen sein, was es mir zu bieten hat? Ich komme mir so undankbar vor, und doch kann ich gegen diese Empfindungen nicht an. Wenn mein Leben so verdammt toll ist, warum habe ich dann das Gefühl, dass irgendetwas fehlt?

Prolog

August

Beth

Es ist hochsommerlich warm an diesem Nachmittag im August. Ich sitze in meiner Küche, die Verandatüren stehen weit offen, um den leisen Windhauch einzufangen, der draußen geht, und ich starre auf eine E-Mail, die ich heute Morgen von meiner Lektorin Karen bekommen habe. Seit Stunden lese ich sie immer wieder, während ich zeitgleich versuche, die perfekte Zeichnung für mein neues Bilderbuch anzufertigen. Meine Inspiration lässt mich im Stich, ein Entwurf nach dem anderen landet zerknüllt auf dem Fußboden.

Das kleinste Engelchen
Kurzzusammenfassung

Von Beth King

Dies ist die Geschichte eines Engelchens, das die Aufgabe hat, das Jesuskind zu finden. Das Engelchen zieht mit einer Gruppe anderer Engel los, verliert den Anschluss und verirrt sich. Es weiß nur, dass in Bethlehem ein besonderes Baby geboren wird und dass es einem magischen Stern folgen muss, der im Osten aufgegangen ist, um das Baby zu finden.

Auf seiner Reise trifft es einen jungen Hirten, einen Pagen, ein Kamel, einen Esel und zum Schluss ein paar Schafe, die es schließlich dorthin führen, wo der kleine Jesus geboren wurde. Es erreicht ihn vor allen anderen Engeln und singt ihm das allererste Weihnachtslied.

Beth, ich finde diese Geschichte einfach wundervoll. Und die Entwürfe, die du dazu gemacht hast, sind wirklich fantastisch. Ich bin überzeugt, dass beides auf großes Interesse stoßen wird, und es tut mir so leid, dass ich dich bei diesem Buch nicht weiter begleiten kann, aber du weißt ja, mein eigener kleiner Advent steht kurz bevor. Es war wirklich schön, mit dir zusammenzuarbeiten, und ich bin sicher, du bist bei Vanessa in guten Händen.

Ich wünsche dir viel Erfolg mit deinem kleinen Engel. Du hast das so sehr verdient.

Alles Liebe

Karen x

Es ist toll, dass Karen meine neue Idee gefällt, aber weniger toll ist, dass sie ausgerechnet in der größten Krise meines Schaffens in Mutterschaftsurlaub geht. Gerade als ich nach einem weiteren Entwurf greife und zu dem Schluss komme, dass er genau wie alle anderen nichts taugt, ruft meine Mutter an.

„Also, wie sehen eure Pläne für Weihnachten aus?“

Typisch Mum, sie kommt direkt zur Sache.

Ich könnte schwören, dass sie diese Frage jedes Jahr früher stellt. Nur für den Fall, dass Daniel und ich so einen hinterhältigen Plan schmieden könnten, wie dem Weihnachtsfest im Kreis der Familie Holroyd zu entfliehen und eine Woche Urlaub im Ausland zu buchen. Als ob wir das jemals tun würden. Als ob wir das jemals könnten.

„Mum, wir haben August!“, wehre ich ab. Dabei knülle ich den Entwurf zusammen und werfe ihn auf den Fußboden zu all den anderen verworfenen Zeichnungen. Ich weiß wirklich nicht, was mit mir los ist. Normalerweise fällt es mir nicht so schwer, meine Ideen zu Papier zu bringen.

„Und schon bald ist September, und du wirst viel zu viel um die Ohren haben, um mit mir zu reden.“ Meine Mum ist wirklich eine Meisterin der passiven Aggression. Nicht genug damit, dass ich jeden zweiten Tag mit ihr telefoniere, normalerweise besuche ich sie auch mindestens einmal pro Woche. Schließlich bin ich die Pflichtbewusste in der Familie. Das ist mein Job, während mein lieber Bruder Ged sich mit sechsunddreißig noch monatelange Auszeiten nimmt und meine Schwester Lou mit achtunddreißig von einer katastrophalen Liebesbeziehung in die nächste taumelt. Ich bin diejenige, die alles richtig macht: Ich habe eine Familie gegründet und bin in die Nähe meiner Eltern gezogen.

Sie wohnen noch in dem gemütlichen Häuschen, in dem ich aufgewachsen bin, in der Kleinstadt Abinger Lea in Surrey. Unser Haus ist nur etwa eine Meile von ihrem entfernt. Früher haben wir näher bei London gewohnt, in dem Haus, das Daniel von seiner Mutter geerbt hat, aber als die Kinder kamen, konnte ich ein bisschen Hilfe gebrauchen, und hierherzuziehen schien sich als Lösung aufzudrängen. Es ist schön, in ländlicher Umgebung zu leben und gleichzeitig eine gute Nahverkehrsanbindung an London zu haben. Bei meiner Arbeit kommt mir das sehr zugute. Daniel hat bisher an einer Gesamtschule in der Londoner Innenstadt gearbeitet, wird aber demnächst eine neue Stelle in dem etwas größeren Nachbarort Wottonleigh antreten, der nur drei Meilen von uns entfernt liegt. Das wird uns das Leben sehr erleichtern.

Eigentlich lebe ich ganz gern in der Nähe meiner Eltern, aber manchmal wünschte ich mir doch, nicht das „wohlgeratene“ Kind zu sein. Dieses Gefühl überfällt mich in letzter Zeit immer öfter. Mum und Dad kommen noch bestens zurecht, aber trotzdem werde ich ständig für kleinere Gefallen in Anspruch genommen, fahre beispielsweise meine Mutter nach Wottonleigh, wenn Dad Golf spielt oder endlich den Kunstkurs besucht, zu dem ich ihn überredet habe. Er hatte schon immer eine kreative Seite, hat sie aber nie ausgelebt. Außerdem scheine ich stets Bereitschaftsdienst zu haben, wenn ihr Computer Probleme macht. Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich so genervt bin, zumal die beiden sich so wunderbar um die Kinder gekümmert haben, als diese noch klein waren, aber manchmal drückt mir die Tatsache, dass ich es nie ganz geschafft habe, mich von meinem Elternhaus zu lösen, schier die Luft ab.

Etwas verspätet bemerke ich, dass Mum immer noch redet.

„Jedenfalls, wie ich zu sagen pflege: Wer es versäumt, sich vorzubereiten …“

„Bereitet sich darauf vor zu scheitern. Ich weiß, Mum. Aber wir tun doch sowieso jedes Jahr das Gleiche: Wir kommen zu euch. Ich weiß nicht, warum du meinst, danach fragen zu müssen.“

Ab und zu habe ich versucht, unsere Weihnachtsplanung zu modifizieren, und vorgeschlagen, Mum zu entlasten und alle zu uns einzuladen. Es ist ja nicht so, dass wir nicht genug Platz hätten. Doch jedes Mal hat sie das abgelehnt, und inzwischen habe ich den Versuch aufgegeben, obwohl die Kinder von Jahr zu Jahr weniger Lust darauf haben, Weihnachten bei ihren Großeltern zu feiern. Sam wird nächstes Jahr achtzehn, und Megan ist fünfzehn. Sie sind keine Kleinkinder mehr, und mir scheint, Mum vergisst das manchmal. Sie begreift nicht so recht, dass sie andere Pläne und Wünsche haben könnten, vor allem in der Weihnachtszeit. Die Sache ist einfach die: Mum liebt es, das Weihnachtsfest auszurichten, daher kommt es, dass ich, obwohl ich inzwischen selbst eine Familie habe, keine Chance bekomme, es selbst einmal zu tun. Ein einziges Mal nur war mir gestattet, auch nur in die Nähe des Truthahns zu kommen, und zwar in dem Jahr, in dem Mum eine Totaloperation über sich ergehen lassen musste. Und selbst da führte sie das Kommando vom Wohnzimmer aus. Ein Alptraum.

„Ich wollte nur sichergehen, Liebes“, sagt Mum. „Nur für den Fall, dass ihr vielleicht andere Pläne habt.“

Den Drang, abfällig zu schnauben, unterdrücke ich. Andere Pläne? Ich werde mich hüten.

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Mum, wir werden kommen“, sage ich und lege auf.

„Wer war das?“ Daniel kommt aus dem Garten herein, wo er den Rasen gemäht hat. Schweiß läuft ihm übers Gesicht, und er hat sein T-Shirt ausgezogen. Ich gönne mir eine Minute, um den Anblick zu genießen. Mein Mann hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Adrian Lester, er ist recht schlank und sexy für seine zweiundvierzig. Natürlich streiten wir uns auch mal wie alle Ehepaare, und während des Semesters, wenn er viel zu tun hat, wünschte ich mir manchmal, er hätte mehr Zeit für mich. Das Tolle ist jedoch, dass ich ihn trotz aller Höhen und Tiefen des Ehelebens immer noch faszinierend finde, und das ist in meinem Alter ein wahres Glück. Ich kenne so viele Frauen, die sich ständig über ihre Ehemänner beklagen. Trotz gelegentlicher Meinungsverschiedenheiten verstehen Daniel und ich uns sehr gut, und gerade jetzt wünschte ich mir, wir wären allein zu Hause. Wie dumm, dass beide Kinder da sind!

„Mum“, beantworte ich seine Frage. „Zieh dir besser dein T-Shirt wieder an, bevor die Kinder dich sehen. Sie wären entsetzt.“

Daniel schaut nach oben, wo ihre Zimmer liegen.

„Ich bezweifle, dass sie es eilig haben, nach unten zu kommen“, meint er ironisch, und ich muss lachen. Es sind Sommerferien. Sie sind Teenager. Wahrscheinlich müsste man eine Bombe zünden, um sie vor Mittag aus den Betten zu kriegen. Er kommt zu mir und gibt mir einen Kuss. Verlangen macht sich bemerkbar, und ich bedaure noch mehr, dass die Kinder nicht irgendwo verabredet sind.

„Bäh, du bist völlig verschwitzt“, scherze ich und stoße ihn weg.

„So, wie du mich am liebsten magst“, neckt er. „Was wollte deine Mum?“

Ich verdrehe die Augen. „Nachfragen wegen Weihnachten. Mal im Ernst, wir haben gerade mal August.“

„Ach, komm schon, das gefällt dir doch“, erwidert Daniel. „Die Feiertage im Kreis der Familie Holroyd sind geradezu legendär. Weihnachten wäre nicht Weihnachten, wenn wir es nicht bei deinen Eltern feierten.“

Das stimmt. Da war das Jahr, in dem Dad aus Versehen seinen Bart in Brand gesetzt hat, als er sich als Weihnachtsmann verkleidet hatte. Dann das Jahr, in dem Mum vergessen hatte, den Truthahn auszunehmen, bevor sie ihn in den Ofen schob. Nicht zu vergessen das Jahr, in dem Lou und Ged einen gewaltigen Streit vom Zaun brachen und Lou schließlich tränenüberströmt in der Küche landete, wo ich und Mum sie trösten mussten. Halt, stopp. All das passiert fast jedes Jahr. Vielleicht hat Daniel recht. Ich schätze, Weihnachten wäre wirklich nicht dasselbe, wenn wir es nicht bei meinen Eltern feierten.

Der erste Weihnachtstag läuft in unserer Familie immer nach dem gleichen Muster ab. Mum und Dad kommen um halb elf von der Kirche zurück – in manchen Jahren lasse ich mich breitschlagen mitzukommen –, und ab elf gibt es die ersten Drinks. Dad besteht darauf, den Sekt schon so früh zu öffnen. Mum ist üblicherweise schon seit sechs Uhr morgens auf den Beinen und rackert sich mit dem Truthahn ab, damit wir pünktlich um eins in aller Ruhe essen können, bevor im Fernsehen die Ansprache der Königin übertragen wird. Danach sorgt Dad dafür, dass wir alle die Nationalhymne singen. Je nachdem, wie betrunken wir dann sind (Mum trinkt nicht mit und gibt ihrer Missbilligung deutlich Ausdruck), wird das eine saukomische oder eine qualvoll-peinliche Angelegenheit. Danach geht das allgemeine Gerangel um die Geschenke los, und schließlich brechen wir erschöpft vor dem Fernseher zusammen, bis Mum Truthahnsandwiches und Weihnachtskuchen serviert. Inzwischen haben Dad, Daniel und mein Bruder Ged gemeinsam eine Flasche Portwein geleert, und dann besteht Dad darauf, dass es Zeit sei für die Weihnachts-Scharade. Diesen Teil der Feier hasse ich wie die Pest. Alle anderen können sich dafür begeistern, aber ich habe Scharade schon als kleines Kind gehasst, und daran hat sich nie etwas geändert. Dad ist immer mit ganzem Herzen dabei. Meines Erachtens liegt das daran, dass sein Job bei einer Versicherung seine kreative Seite permanent unterdrückt; deshalb lebt er sie zu Hause so richtig aus. Ich hingegen verabscheue es, vor anderen Leuten etwas aufzuführen. Für mich ist es jedes Mal eine schwere Prüfung, wenn wir Scharade spielen. Vielleicht bin ich deshalb Künstlerin geworden. Ich lebe meine Kreativität lieber hinter einer Staffelei aus. Dass ich inzwischen längst erwachsen bin, hilft mir auch nicht, mehr Spaß daran zu haben. Ich sehne mich nach einem Weihnachtsfest ohne Scharade, aber vorerst stehen die Aussichten darauf ausgesprochen schlecht.

„Es wäre doch schön, einmal zu Hause zu feiern, findest du nicht auch?“, frage ich halbherzig, aber ich weiß, dass Daniel mich nicht verstehen wird. Seine Familie ist so anders als meine. Er stand seiner Mum sehr nahe. Sie starb, kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten. Mit seinem Vater kommt er nicht gut aus, sie haben kaum Kontakt zueinander, und er redet nur sehr selten über ihn. Immerhin weiß ich, dass sein Vater ein ziemlicher Nichtsnutz war, als Daniel noch Kind war. Die Situation macht mich traurig, denn Daniel kann so viel Liebe geben, und als Einzelkind hat er keine eigene Familie mehr, seit er seine Mutter verloren hat. Aus seinen Erzählungen weiß ich, dass Weihnachten bei ihnen zu Hause immer eine ziemlich stille Angelegenheit war. Deshalb gefällt es ihm auch so sehr, an unseren Familienfesten teilhaben zu können.

„Nicht doch. Dann hätten wir ja die ganze Arbeit damit. Komm schon, Beth, es wird schön werden.“ Er kommt zu mir und umarmt mich. „Du wirst es genießen. Versprochen.“

Lou

Es ist ein Sonntagmorgen im August, und ich liege mit Jo im Bett, als Mum anruft.

„Hi“, melde ich mich, plötzlich von einem schlechten Gewissen gepackt. Sie weiß nicht Bescheid über mich. Auch nicht über Jo. Und wie immer, wenn ich in Jos Gegenwart mit ihr telefoniere, fühle ich mich, als hinge ein großes rotes Schild mit der Aufschrift „Deine Tochter ist eine Lesbe!“ über meinem Kopf, und Mum könne es irgendwie sehen. Natürlich ist das lächerlich. Irgendwann werde ich es ihr sagen. Irgendwann. Wenn ich sicher bin, dass sie nicht ausrastet und mich aus dem Haus wirft. Sie und Dad sind so altmodisch, dass ich keine Ahnung habe, wie sie es aufnehmen werden. Also werde ich es ihnen nicht allzu bald erzählen.

„Wer ist dran?“, fragt Jo und kitzelt mich an den Fußsohlen.

„Mum“, gebe ich ihr lautlos zu verstehen und bemühe mich, nicht zu kichern. Ich steige aus dem Bett, weil ich nicht abgelenkt werden möchte. Weil ich nicht das Gefühl haben möchte, mich benehmen zu müssen. Oh Gott, wenn es doch bloß anders wäre! Ich wünsche mir so sehr, meinen Eltern und meiner Familie sagen zu können, wer ich wirklich bin. Bisher habe ich es nicht einmal meiner Schwester Beth erzählt. Ich möchte es, und sie gibt mir immer wieder zu verstehen, dass Jo und ich sie besuchen sollen, aber ich habe sie glauben lassen, „Joe“ sei ein Mann, und jetzt weiß ich nicht, wie ich aus der Nummer wieder herauskommen soll.

Natürlich versteht Jo das nicht. Ihre Eltern gehen total entspannt damit um, dass sie homosexuell ist. Bei meinen Eltern kann ich mir das beim besten Willen nicht vorstellen. Deshalb musste ich auch erst Ende zwanzig werden, bevor ich mir selbst wirklich eingestehen konnte, auf Frauen zu stehen und nicht auf Männer. In der Schule war Lesbe so etwas wie ein Schimpfwort, und ich hielt mich für seltsam, weil ich mich zu Mädchen hingezogen fühlte. Also ließ ich mich weiter auf scheußlichen Sex und zum Scheitern verurteilte Beziehungen mit Männern ein, bis mir eines Tages klar wurde, dass es so nicht weitergehen konnte.

Dennoch habe ich es meiner Familie nie gesagt und weiß auch nicht, wie ich das anstellen soll. Es ist echt armselig, sich als Achtunddreißigjährige den eigenen Eltern gegenüber noch nicht geoutet zu haben, und mir ist klar, dass Jo das nicht versteht, doch ich weiß einfach nicht, wie ich es anstellen soll.

Ich konzentriere mich auf das, was Mum sagt. Oh. Weihnachten. Natürlich. In meiner Familie muss im August über Weihnachten gesprochen werden. Das ist wirklich irre.

„Ja, natürlich komme ich zu Weihnachten, Mum. Wohin sollte ich denn sonst gehen?“

„Und du hast niemanden, den du mitbringen möchtest?“, versucht sie mich aus der Reserve zu locken. Großer Gott – ahnt sie etwas? Verfügt sie als Mutter etwa über hellseherische Fähigkeiten?

„Nein, niemanden. Aber keine Sorge – ich werde da sein.“

„Prima. Und wie steht’s bei der Arbeit? Sieht es inzwischen besser aus?“

Ich seufze. „Nicht wirklich. Wir hängen immer noch in der Luft und warten auf Informationen.“

Ich arbeite in der Kreditüberwachung, und die Firma, in der ich gerade erst angefangen habe, hat finanzielle Schwierigkeiten. Man hat uns gesagt, es könnte zu Entlassungen kommen, aber – Überraschung – bisher sei noch nichts entschieden. Die Warterei macht überhaupt keinen Spaß.

„Na schön, halte mich auf dem Laufenden“, sagt Mum. Ich verspreche es ihr.

Ich lege auf und schlüpfe wieder zu Jo ins Bett. Der süßen Jo, mit der ich ein herrliches Frühjahr und einen ebenso wunderbaren Sommer verbracht habe. Ich nehme sie in die Arme und versuche, nicht an meine Arbeit zu denken. Die Brücke überquere ich, falls ich irgendwann davor stehe. Im Augenblick ist Jo das Einzige, was zählt. Wir haben eine tolle Woche Urlaub in Griechenland gemacht. Ich kann immer noch nicht glauben, dass jemand wie sie sich für mich interessiert, und muss mich immer wieder kneifen, weil ich so ein Glückspilz bin.

„Was wollte deine Mum?“, fragt sie.

„Sie wollte nur wissen, was ich Weihnachten vorhabe.“

„Weihnachten? Jetzt schon?“

„Ich weiß. Verrückt, oder?“

„Und, was hast du Weihnachten vor?“, fragt sie. „Wenn du willst, könnten wir gemeinsam etwas unternehmen.“

Hoppla. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich bin völlig verrückt nach Jo, aber irgendwie gelingt es mir anscheinend nicht, das Gefühl abzuschütteln, dass sie zu gut für mich ist. Vielleicht liegt es nur daran, dass ich in der Vergangenheit so oft enttäuscht worden bin. Ich will mich nicht Hals über Kopf in diese Sache stürzen, wenn alles noch den Bach runtergehen kann.

„Vielleicht“, sage ich. „Mich um das Familien-Weihnachten zu drücken, ist äußerst schwierig für mich.“

„Ach, komm schon, Lou Lou. Wir werden Spaß haben.“ Sie wirkt ein wenig enttäuscht, was mich insgeheim begeistert. So gern ich mich auch richtig binden würde, ich habe viel zu viel Angst, die bisher erfolgreichste Beziehung meines Lebens zu gefährden. Also weiche ich aus.

„Bis Weihnachten ist es doch noch eine Ewigkeit hin. Lass uns nicht jetzt darüber nachdenken.“

Also tun wir es nicht, und ich verdränge die Angelegenheit. Wenn ich tatsächlich das Glück habe, Weihnachten noch mit Jo zusammen zu sein, kann ich mir immer noch Gedanken darüber machen.

Daniel

„Viel Glück.“ Beth gab Daniel einen Kuss, als er an seinem ersten Arbeitstag an der neuen Schule um acht Uhr morgens das Haus verließ. Für ihn hing eine Menge von diesem neuen Job ab.

„Ich fürchte, das brauche ich auch.“ Er verzog das Gesicht.

„Oh, ihr Kleingläubigen“, meinte Beth. „Am Ende dieses Arbeitstages werden sie dir aus der Hand fressen.“

Sosehr ihn ihr Vertrauen in ihn auch berührte, Daniel war sich nicht sicher, ob es gerechtfertigt war. Sein Wechsel von der großen innerstädtischen Gesamtschule, die er fünf Jahre lang geleitet hatte, zur der viel kleineren Lehranstalt im grünen Wottonleigh war ein großer Sprung. In vielerlei Hinsicht sollte die Arbeit hier leichter sein: Die Lehrerfolge waren besser, für die meisten Schüler war Englisch die Muttersprache, und ihre Eltern engagierten sich dem Vernehmen nach sehr sowohl für die Schule als auch für die Bildung ihrer Kinder. Das alles hatte für viele seiner bisherigen Schüler ganz und gar nicht gegolten. Daniel hatte gern in London gearbeitet, aber der Stress des Pendelns und der Druck im Job waren allmählich unerträglich geworden. Er und Beth hatten in den letzten paar Jahren viel zu wenig Zeit füreinander gehabt, und es behagte ihm nicht, dass er manchmal mehr über anderer Leute Kinder nachdachte als über seine eigenen. Deshalb schien es fast zu schön, um wahr zu sein, als sich ihm die Chance bot, in der Nähe seines Wohnortes zu arbeiten.

Aber … es war eine Sache, in der Londoner Innenstadt die seltene Ausnahme zu sein: ein schwarzer Schuldirektor. Hier draußen auf dem Lande war es eine ganz andere. Daniel war es gewöhnt, einer der wenigen Farbigen in Abinger Lea zu sein, aber würden die Eltern seiner neuen Schüler ihn auch akzeptieren? Würden seine Kollegen es tun? Das Direktorium der Schule hatte ihn vorgewarnt, dass sein Stellvertreter, Jim Ferguson, sich sehr gute Chancen auf Daniels Job ausgerechnet hatte. Er musste also mit Missgunst rechnen, vor allem wenn den anderen seine Art, die Schule zu leiten, nicht gefiel, und das schien nach ein paar kurzen Besprechungen mit seinen künftigen Kollegen ziemlich sicher. Soweit er das jetzt schon beurteilen konnte, war Jim Ferguson ein Schleimer, der sich die Arbeit gern leicht machte. Er war ein fähiger Verwaltungsmensch, aber ein Lehrer ohne Charisma. Die Leute respektierten ihn, mochten ihn aber nicht. Genau deshalb hatte er den Job auch nicht bekommen.

„Diese Schule braucht frisches Blut“, hatte Sarah Bellows, die Vorsitzende des Direktoriums, zu ihm gesagt. „Sie schlägt sich gut, könnte aber noch besser sein. Sie braucht eine starke Leitung und einen inspirierenden Lehrer in leitender Funktion. Wir glauben, dass Sie genau das bieten können.“

Das und die Chance, dass die Schule im nächsten Bericht der Schulaufsichtsbehörde Ofsted statt mit Gut mit Herausragend beurteilt werden würde. Die Prüfung stand irgendwann im Frühjahr an. Daniel gab sich keinen Illusionen hin, dass – inspirierender Schuldirektor oder nicht – im Grunde nur eines zählte: Sie wollten bessere Ergebnisse. Falls er die nicht liefern konnte, würden sie vermutlich zu Plan B umschwenken, und Jim Ferguson würde die Stelle bekommen. Daniel musste also einen Weg finden, um ihn mit ins Boot zu holen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass das alles andere als leicht werden würde, und dieses Gefühl wurde noch dadurch verstärkt, dass Jim zu spät zur Sitzung des Lehrerkollegiums erschien. Sie sollte dem Kennenlernen dienen, und Jim sollte sie leiten. Dass er es nicht für nötig hielt, pünktlich zu erscheinen, verhieß nichts Gutes. Es schien keinen Eindruck auf ihn zu machen, als Daniel ein paar seiner Ideen vorstellte, wie die Arbeitsmoral verbessert werden könnte: zum Beispiel indem sie ihre Freiheit als höhere Schule nutzten, um in angemessene Gehaltsstrukturen zu investieren und damit jüngeren Lehrern zu zeigen, dass es Chancen gab, durch harte Arbeit voranzukommen. Jim verdrehte nur die Augen, als Daniel davon sprach, das Zugehörigkeitsgefühl zu stärken. Er war entsetzt gewesen, als er bei einem Besuch der Schule im Sommer gesehen hatte, wie wenig die Lehrer sich bemühten, die Schulregeln durchzusetzen. Seine neue Rolle wollte er nutzen, um dafür zu sorgen, dass die Schüler Stolz auf sich selbst und ihre Schule entwickelten, und zwar indem er ihnen mehr Verantwortung für Sauberkeit und Ordnung übertrug.

„Bei allem Respekt, Herr Direktor“, sagte Jim und schaffte es, diesen Titel wie eine Beleidigung klingen zu lassen, während er ihm ins Gesicht lächelte. „Ich glaube, Sie werden feststellen, dass das Klima an dieser Schule sehr gut ist und die Schüler bereits stolz auf ihre Schule sind. Ich fürchte, dass es da nicht viel zu verbessern gibt.“

„Es kann trotzdem nicht schaden, auch diesen Aspekt unter die Lupe zu nehmen, nicht wahr, Jim?“, sagte Daniel. „Und lassen wir doch bitte die Formalitäten. Nennen Sie mich einfach Daniel.“

Wenn es etwas gab, was Daniel verabscheute, dann unnötige Unterordnung in Hierarchien. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Jim das anders sah.

„Natürlich, Daniel“, erwiderte Jim grinsend und mit hörbarem Sarkasmus in der Stimme.

Da er sich nicht schon an seinem ersten Arbeitstag auf eine unerquickliche Diskussion einlassen wollte, machte Daniel einfach weiter, und als die Besprechung zu Ende ging, hatte er das Gefühl, sich nicht schlecht geschlagen zu haben. Offensichtlich standen ein oder zwei der Lehrer hinter Jim Ferguson, aber nach der Besprechung trat Carrie Woodall, die leitende Mathematiklehrerin, zu ihm. „Willkommen an Bord, und achten Sie nicht weiter auf Jim – er macht sich gern wichtig“, murmelte sie ihm zu. Daniel lächelte höflich, ging aber nicht auf ihre Bemerkung ein. Dennoch war es gut zu wissen, dass er Unterstützer hatte. Fest entschlossen, sich von Jims negativer Einstellung nicht die Laune verderben zu lassen, verbrachte er den Rest des Arbeitstages damit, sich einen Überblick über die Aufgaben zu verschaffen, die sein Job mit sich bringen würde. Es wurde ein sehr geschäftiger und anstrengender Tag, aber zum Feierabend fühlte er sich beschwingt. Die Kinder waren nett und höflich, die Lehrer überwiegend freundlich, und selbst wenn er Überstunden machte, wohnte er doch nur zwanzig Minuten von der Schule entfernt. Er hatte also mehr Zeit für Beth. Mehr Zeit für die Kinder. Trotz aller Schwierigkeiten, die vor ihm liegen mochten, war es eine gute Entscheidung gewesen.

Der erste Weihnachtstag

Beth

„Frohe Weihnachten!“

„Uff.“ Ganz vorsichtig öffne ich die Augen – hämmernde Kopfschmerzen zeugen von zu viel Wein und zu wenig Schlaf. Ich sehe Daniel, der mit einem Tablett, auf dem sich zwei Gläser Sekt sowie Rührei mit Lachs befinden, das Schlafzimmer betritt. „Müssen wir wirklich schon aufstehen?“

„Ich fürchte ja. Aber nach der letzten Nacht dachte ich mir, du hast ein Frühstück im Bett verdient.“

Obwohl ich gut und gern noch ein paar Stunden im Bett hätte verbringen können, rührt mich seine Aufmerksamkeit. Ich hatte gehofft, an diesem ersten Weihnachtstag schon früh munter und auf den Beinen zu sein, aber da Sam sich ausgerechnet gestern Abend hemmungslos hat volllaufen lassen, habe ich kaum geschlafen. Seit Neuestem geht er sehr viel häufiger aus, und ich habe Mühe, mich daran zu gewöhnen, nächtelang wach zu liegen und mir Gedanken darüber zu machen, wo er stecken könnte. Daniel meint, ich solle mir nicht so viele Sorgen machen, das sei für einen Teenager völlig normal. Leichter gesagt als getan. Und letzte Nacht war Sam trotz seines Versprechens, spätestens um Mitternacht wieder zu Hause zu sein, erst um drei Uhr morgens durch die Tür gewankt. Sein iPhone hatte er in einem Nachtclub verloren, und kaum zu Hause, musste er sich immer wieder übergeben. Da ich vor lauter Sorge nicht schlafen konnte, ging ich nach unten und fand ihn im Bad vor der Kloschüssel liegen, die Arme fest um den Beckenrand geschlungen. Es gelang mir nicht, ihn nach oben in sein Zimmer zu schaffen, also blieb ich schließlich auf, um immer wieder nach ihm zu sehen. Erst vor wenigen Stunden war ich ins Bett zurückgekrochen.

„Und das ist für dich“, sagt Daniel und überreicht mir mit großer Geste ein Geschenk.

„Sieht nicht wirklich wie ein Hundewelpe aus“, meine ich, gespielte Enttäuschung in der Stimme. Schon ewig wünsche ich mir einen Hund. Ich stelle es mir romantisch vor, lange Spaziergänge im Grünen zu machen, aber Daniel kann sich nicht mit dieser Vorstellung anfreunden. Mittlerweile ist die Ankündigung, er werde mir zu Weihnachten einen Welpen schenken, zu einem Witz zwischen uns geworden. Ich weiß, dass das nie geschehen wird.

„Nächstes Jahr“, meint er grinsend und küsst mich. „Außerdem glaube ich, dass die hier dir besser gefallen werden.“

Und er hat recht. Aufmerksam, wie er ist, hat er mir einen Satz Farben, Papier und ein paar schöne neue Buntstifte gekauft. Er weiß, dass ich mit dem Buch, an dem ich schon das ganze Jahr arbeite, nicht recht vorankomme.

„Ich dachte, sie könnten vielleicht deiner Kreativität auf die Sprünge helfen“, sagt er, als ich mich zu ihm hinüberbeuge, um ihn zu küssen.

„Danke, sie sind großartig – genau wie du.“

Ein paar Minuten bleiben wir so sitzen, eng umschlungen. Dann fragt Daniel: „Frühstück?“, und ich stürze mich auf das Rührei. Im Bett ist es warm und gemütlich. Ich seufze. Wenn wir doch dieses Jahr einfach mal zu Hause bleiben könnten. Aber das geht natürlich nicht. Also versuche ich nach dem Frühstück, Megan und Sam zum Aufstehen zu bewegen, aber beide machen keine Anstalten, sich zu rühren. Sie liegen immer noch im Bett, als Daniel und ich bereits geduscht und angezogen sind. Wir schauen einander schief lächelnd an und erinnern uns an die Zeiten, wo sie jetzt schon seit Stunden auf und wir mit den Nerven am Ende waren. Wie sehr sich das Leben doch verändert hat.

Schließlich gelingt es uns, sie mit sanfter Gewalt aus den Betten zu kriegen, und uns bleibt gerade genug Zeit, ein paar Geschenke auszupacken, bevor wir sie dazu drängen müssen, sich fertig zu machen, damit wir rechtzeitig zu meinen Eltern kommen. Entspannend ist das alles nicht. Eines Tages werde ich es schaffen, Weihnachten so zu feiern, wie ich es mir vorstelle. Eines Tages …

Endlich sitzen wir mit etlichen Taschen voller Geschenke im Auto. Megan jammert, sie wäre so gern im Bett geblieben, und Sam hockt in mürrischem Schweigen auf seinem Platz. Seine Augen sind gerötet und blutunterlaufen. Wer weiß, was er letzte Nacht in sich hineingekippt hat. Ich bin ziemlich sauer auf ihn, aber heute ist Weihnachten, also muss ich wild entschlossen fröhlich sein. Als ich im Autoradio einen Sender mit Weihnachtsliedern einschalte, stöhnt Sam, dass er davon Kopfschmerzen bekomme. Heldenhaft unterdrücke ich den Drang, ihn anzuschnauzen, daran sei er ja wohl selbst schuld – das scheint mir einer weihnachtlich frohen Stimmung nicht förderlich zu sein.

Zum Glück ist die Fahrt kurz, und während Daniel den Wagen abstellt, wanken wir anderen schwer beladen mit Geschenken ins Haus.

„Wir sind da-a!“, rufe ich, als ich die Haustür aufstoße. „Frohe Weihnachten!“

„Frohe Weihnachten, frohe Weihnachten!“ Dad hüpft in die Diele, die wie üblich mit grässlichen Papiergirlanden geschmückt ist, die wir vermutlich im Kindergarten gebastelt haben. Er trägt wie immer sein Weihnachtsmannkostüm. Das lässt er sich nicht nehmen, obwohl es inzwischen schon sehr fadenscheinig geworden ist. Im Hintergrund läuft Weihnachtsmusik, und ich beginne mich ein wenig zu entspannen. Mum wird wie immer in der Küche sein, Gemüse putzen und die Lieder mitsingen. Ich atme tief durch. Schließlich ist Weihnachten; ich muss meine durch Schlafmangel bedingte schlechte Laune ablegen.

Dad schwenkt eine Flasche Prosecco. Sein Gesicht ist ziemlich gerötet. Ungewöhnlich, dass er schon angefangen hat zu trinken, bevor wir da sind, aber das macht nichts.

„Hast du dieses scheußliche Kostüm immer noch nicht weggeworfen, Dad?“, frage ich lachend. Auch ein alljährlich wiederkehrender Familienwitz.

„Niemals!“, erklärt er. „Möchte jemand Prosecco?“

Ich nehme ein Glas, aber Daniel lehnt ab. Er hat sich dieses Jahr großzügig bereit erklärt zu fahren. Sam sieht aus, als ob schon der Gedanke allein Brechreiz in ihm auslöst, aber Megan erlaube ich ein kleines Glas.

„Wo ist Mum?“

Bilde ich mir das nur ein, oder weicht Dad tatsächlich meinem Blick aus?

„Küche“, sagt er.

Dad geht ganz in seiner Rolle als Gastgeber auf und führt Daniel und die Kinder ins Wohnzimmer. Ehrlich gesagt, muss ich lachen, dass er und Daniel sich inzwischen so gut verstehen. Wenn ich nur an Dads Entsetzen denke, als ich ihnen Daniel vorgestellt habe. Meine Eltern sind zwar nicht gerade Rassisten, aber ich schätze, wann immer sie sich ihren lang ersehnten Schwiegersohn vorstellten, sahen sie sicher keinen Schwarzen vor sich. Vor allem Dad hatte zunächst ausgesprochen arrogant reagiert. Ich erinnere mich noch daran, wie er Daniel einem endlosen Verhör zu seinen beruflichen Aussichten unterzogen hat. Ich hätte es Daniel nicht verübelt, wenn er meinen Eltern keine zweite Chance gegeben hätte, zumal seine eigene Mum trotz der kurzen Zeit, die ich sie kannte, sich als sehr viel weniger intolerant erwiesen hatte. Aber nach ihrem Tod vergaß Mum all ihre Vorurteile und erklärte: „Der arme Junge braucht eine Mutter.“ Ab dem Moment nahm sie ihn unter ihre Fittiche, und Dad tat es ihr rasch gleich. Inzwischen sind sie beste Freunde, und wer sie zusammen sieht, käme nie auf die Idee, dass es jemals Probleme gegeben haben könnte. Daniel ist von Natur aus schnell vergebungsbereit. Er sieht nur das Beste in ihnen, und dafür liebe ich ihn umso mehr.

Ich trolle mich in die Küche, um zu schauen, ob Mum vielleicht meine Hilfe braucht. Das tue ich immer, obwohl ich weiß, dass sie mich nur wegscheuchen wird, aber diesmal hat sie zu meiner Überraschung noch nicht einmal richtig angefangen, das Gemüse vorzubereiten. Sie wirkt ein wenig blass und erschöpft, und schon habe ich Schuldgefühle. Da ich intensiv mit meinem Buch beschäftigt war, habe ich sie im letzten Monat kaum besucht. Ganz plötzlich überfällt mich die Sorge, sie könnte krank sein.

„Alles in Ordnung, Mum?“

„Natürlich. Warum sollte etwas nicht in Ordnung sein?“, antwortet sie und greift nach einer Möhre, um sie klein zu schneiden. „Wenn du schon hier rumstehst, kannst du dich auch nützlich machen.“ Damit reicht sie mir ein Messer.

Irgendetwas stimmt hier nicht, und ich komme nicht dahinter, was, aber noch einmal nachzuhaken, ist sinnlos. Es ist zwar nicht so, dass ich mich mit meiner Mum nicht verstehe. Wir verstehen uns gut, und ich liebe sie sehr, aber wir haben keine so vertraute und innige Mutter-Tochter-Beziehung, wie viele meiner Freundinnen sie genießen. Meine Mum steht nicht auf Vertraulichkeit, Innigkeit und Nähe. Sie würde es überhaupt nicht verstehen, wenn ich plötzlich über meine Sorgen mit ihr sprechen wollen würde. Praktischen Rat zu geben, darin ist sie richtig gut, aber wenn es um Hilfe bei Gefühlsangelegenheiten geht, könnte man ebenso gut den Mond anheulen.

Gemeinsam putzen und schneiden wir Gemüse, im Hintergrund laufen Weihnachtslieder, und Mum startet wie jedes Jahre ihre Klage darüber, dass Ged und Lou es nie schaffen, pünktlich zu kommen. Das ist übrigens der Hauptgrund dafür, dass Daniel und ich immer zusehen, frühzeitig da zu sein, nur um ihr nicht das Gefühl zu geben, von niemandem geliebt zu werden. Obwohl mich das wurmt. Warum zum Teufel muss immer ich die Vernünftige von uns Geschwistern sein?

„Du weißt doch, dass sie einen weiteren Weg haben“, versuche ich mich in Diplomatie. „Außerdem ist Ged erst gestern aus Australien zurückgekommen. Wahrscheinlich leidet er noch unter einem heftigen Jetlag.“

Ged hatte ein Jahr Auszeit genommen, um „zu sich selbst zu finden“. Wenn ich auf die Idee käme, so etwas zu tun, würden Mum und Dad das für lächerlich halten, aber Goldjunge Ged, das Nesthäkchen der Familie, tut immer nur das, was er will, und kommt auch immer damit durch. Ich liebe meinen jüngeren Bruder sehr, aber manchmal habe ich es doch satt, dass er so ganz anders behandelt wird als ich, nur weil er ein Junge ist.

„Er bringt Rachel mit“, fährt Mum fort. „Habe ich dir das schon erzählt?“

„Nur so an die hundert Mal“, gebe ich lachend zurück. Rachel ist Geds neue Freundin. Mal sehen, ob sie länger aktuell bleibt als ihre Vorgängerinnen. „Aber versuch nicht wieder, die beiden zu verheiraten. Ged gibt sofort Fersengeld, wenn er glaubt, du hättest schon den Hochzeitstermin im Kalender vermerkt. Du hast Lou schon genug genervt wegen Joe. Du solltest beiden ein bisschen mehr Freiraum geben.“

Es klingelt an der Tür.

„Das werden sie sein“, sagt Mum, und ihre Miene hellt sich auf.

Dad ist als Erster an der Tür, und wir gesellen uns hinzu, um Hallo zu sagen.

Es ist tatsächlich Ged mit einem sehr hübschen blonden Mädchen im Schlepptau.

„Oh“, sagt Mum, und ihr fällt der Unterkiefer herab.

Tatsächlich: Oh. Geds hübsches blondes Mädchen ist offensichtlich schwanger.

Lou

Ich bin spät dran. Wie immer. Weihnachten hat mit einer sehr unschönen Überraschung begonnen. Ich hatte mich so darauf gefreut: mein erstes Weihnachten in einer richtigen Paarbeziehung. Jo und ich hatten uns darauf geeinigt, den ersten Feiertag jede bei ihrer Familie zu verbringen, denn ich hatte es immer noch nicht geschafft, meiner Familie meine Beziehung zu beichten. Aber wir hatten geplant, gemeinsam in meiner Wohnung in Kentish Town zu frühstücken und den zweiten Feiertag zu unserem Weihnachtstag zu machen. Ich habe Strümpfe für sie gefüllt und mich in Sachen Weihnachtsdeko ordentlich ins Zeug gelegt. Mein Weihnachtsbaum glitzert so schön wie nur irgend denkbar, sehr zur Belustigung meiner Mitbewohnerin Kate, die vor drei Tagen über die Feiertage zu ihrer Familie abgereist ist. Stundenlang habe ich Weihnachtsgebäck, Glühwein und Eierpunsch vorbereitet, ja sogar Mistelzweige über die Tür gehängt.

Alles war perfekt geplant. Ich wünschte mir so sehr, dass alles perfekt wird. Ich hätte wissen müssen, dass es nicht so laufen würde: Lou Holroyd und ihr spektakulär erbärmliches Liebesleben tragen wieder einmal den Triumph davon. Statt einen schönen Abend gemütlich daheim mit einer Flasche Sekt und Kuschelstunden auf dem Sofa zu verleben, hat Jo die Bombe platzen lassen – auf der Schwelle zum Wohnzimmer, direkt unter dem scheiß Mistelzweig, und ohne auch nur wahrzunehmen, wie viel Mühe ich mir gegeben habe.

„Es liegt nicht an dir, es liegt an mir, Babe.“ Das hat sie tatsächlich gesagt. Und ich weiß, dass es nicht stimmt, denn ihr anfängliches „Ich bin ein freier Geist und kann dir nicht geben, was du willst“ wandelte sich sehr schnell in: „Du bist so klettig und musst erst einmal lernen, mit dir selbst klarzukommen.“ Womit sie, angesichts dessen, dass ich jämmerlich heulend in der Ecke hockte, nicht allzu weit danebenlag.

Vermutlich hätte ich es kommen sehen müssen. Vor Weihnachten sind wir beide sehr eingespannt gewesen, und ich habe ihr ein paar Mal wegen Überstunden absagen müssen – ist es etwa meine Schuld, dass nach einer Weile, in der mein Job sicher schien, wieder alles auf der Kippe steht? Auch hatte ich das Gefühl, dass sie in letzter Zeit zurückhaltender war, aber ich habe das auf unser beider ziemlich hektisches Leben geschoben. Sie ist Helferin in einer gut gehenden Arztpraxis, und ich arbeite hart, um nach Möglichkeit nicht entlassen zu werden. Wir nehmen beide unsere Arbeit ernst; unter anderem diese Einstellung hat mich zu ihr hingezogen. Und natürlich auch die Tatsache, dass sie einfach hinreißend ist und ich mich unglaublich glücklich schätzte, von einer so tollen Frau wie Jo erwählt worden zu sein. Jetzt aber …

„Es ist definitiv vorbei.“ Das war ihr letzter Satz als Antwort auf mein jämmerliches Flehen, doch erst einmal nur eine Auszeit zu nehmen, um im neuen Jahr noch mal darüber nachzudenken und vielleicht einen Neuanfang zu wagen. Dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloss, und sie eilte zu ihren Freunden, ihrem anderen Leben, jenem Leben, zu dem sie mir kaum Zutritt gewährt hatte, und ließ mich frierend und einsam am Weihnachtsbaum zurück, der ohne sie kitschig und übertrieben herausgeputzt wirkte. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, glaube ich, dass sie sich immer ein wenig meiner geschämt hat. Manchmal hat sie sich von mir zurückgezogen, wenn ich meine Zuneigung zu ihr zu deutlich in der Öffentlichkeit zeigte. Und manchmal hat sie mich vor ihren Freunden abgekanzelt, wenn sie meinte, ich sei zu laut. Irgendwann hat sie aufgehört, Weihnachten zu erwähnen. Da hätte ich hellhörig werden müssen. Ich hätte es kommen sehen müssen. Andererseits – ich sehe es verdammt noch mal nie kommen.

Meine Erinnerungen an gestern Nacht sind verschwommen: Ich habe mich betrunken, die ganze Zeit geheult und dann zu allem Überfluss meinen Wecker nicht gehört. Jetzt fahre ich wie eine Irre – mit gebrochenem Herzen und einem ausgewachsenen Kater –, um rechtzeitig vor ein Uhr mittags bei meinen Eltern anzukommen und ihnen damit zu beweisen, dass ich nicht ihr missratenes Kind bin. Die arme alte kinderlose, alleinstehende Lou kommt ganz allein zum Weihnachtsfest – wieder einmal.

Die Fahrt von London nach Surrey ist unglaublich deprimierend. Die Straßen sind überwiegend leer – offensichtlich sitzt jeder bereits bei seiner Familie –, und der Anblick der mit Lichterketten geschmückten Weihnachtsbäume und Gärten all der anderen sorgt dafür, dass ich mich noch elender fühle als ohnehin schon. Es kommt mir so vor, als würde jeder feiern und gut drauf sein, während meine Welt gerade zusammengebrochen ist.

Während ich noch durch London fahre, vibriert andauernd mein Smartphone. Also werfe ich einen Blick darauf, als ich an einer Ampel halten muss. Drei Nachrichten von Beth.

Oh mein Gott!!! Geds Freundin ist schwanger, lautet die erste.

Gefolgt wird sie von: Mum sitzt weinend in der Küche und Dad ignoriert einfach alles.

Die letzte ist in Großbuchstaben geschrieben: SCHAFF SOFORT DEINEN HINTERN HIERHER. ICH KRIEGE DAS ALLEIN NICHT HIN!

Großartig. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ein weiteres Baby in der Familie, und es ist nicht von mir. Ich weiß, bis ich bei meinen Eltern angekommen bin, hat Mum sich mit der Überraschung angefreundet und betrachtet sie als frohe Botschaft. In ihren Augen kann Ged nichts Falsches tun; mit ihm ist sie nachsichtig ohne Ende. Und obwohl sie nicht gerade begeistert von der Aussicht auf ein unehelich geborenes Enkelkind sein dürfte, bezweifle ich keine Sekunde, dass sie binnen kürzester Zeit anfangen wird, Babyjäckchen zu stricken. Nachdem sie jahrelang ihrem Kummer darüber Ausdruck verliehen hat, nur zwei Enkelkinder zu haben, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie sich lange darüber ärgern wird. Na toll. Erst seit Kurzem hat sie das Lamento aufgegeben; jetzt hat sie wieder einen neuen Grund, mich zu bedrängen, wann ich ihr denn endlich auch ein Enkelkind zu schenken gedenke.

Die Ampel springt auf Grün, aber mein Fuß auf dem Gaspedal rührt sich nicht; ich bin tief in meiner eigenen Welt versunken. Eigentlich hatte ich heute sowieso nicht zum Familienfest fahren wollen. Viel lieber hätte ich mich in meinem Elend im Bett zusammengerollt und mir die Decke über den Kopf gezogen. Aber wenn ich mich vor dem Weihnachtsfest drückte, würde man mir das ewig unter die Nase reiben. Und jetzt? Ich habe mir immer Kinder gewünscht, Ged hingegen nie, und Beth sagt immer, Häuslichkeit und Familienleben seien auch nicht unbedingt das Gelbe vom Ei – eine verdammt undankbare Behauptung in meinen Augen. Sie hat solch ein Glück mit ihren Kindern. Es ist einfach nicht fair. Warum muss ausgerechnet ich diejenige sein, die allein dasteht? Durchaus möglich, dass ich nie ein Baby haben werde.

Tränen laufen mir über die Wangen, und plötzlich hänge ich schluchzend über meinem Lenkrad, und der Motor ist aus. Das ist grauenvoll. So kann ich nicht bei meinen Eltern aufkreuzen.

Es klopft an der Scheibe der Fahrertür. Als ich aufblicke, sehe ich einen Polizisten.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragt er, als ich die Scheibe herunterlasse. „Sieht leider so aus, als würden Sie ein bisschen den Verkehr aufhalten.“

Ich schaue nach hinten. Oh, Mist, irgendwie habe ich es geschafft, für die einzigen zehn Autos, die heute durch London fahren, einen Ministau zu verursachen, der die Aufmerksamkeit des einzigen Polizisten auf sich gezogen hat, der heute im Dienst zu sein scheint.

„Entschuldigen Sie, Officer“, murmele ich schniefend und lasse den Wagen wieder an.

„Kopf hoch“, sagt er, „heute ist Weihnachten.“

Ich wische mir die Tränen von den Wangen.

„Ja, genau das ist das Problem“, antworte ich und fahre davon.

Weihnachten. Zeit für Freude und Fröhlichkeit. Zeit für Gemeinschaft mit Freunden und Familie. Zeit für den einen ganz besonderen Menschen im Leben und die Zweisamkeit mit ihm. Mir war noch nie so wenig nach Feiern zumute wie heute.

Daniel

Daniel saß auf dem Sofa und unterhielt sich höflich mit Geds neuer Freundin Rachel. Sie war der Familie vorgestellt und ins Wohnzimmer geleitet worden, während seine Schwiegermutter Mary ihren Sohn Ged in die Küche beordert hatte, um ein nicht gerade subtiles ernstes Gespräch mit ihm zu führen. Beth war ebenfalls hineingezogen worden, aber ihr Vater, Fred, schien entschlossen, über dem Drama zu stehen. Er saß neben dem Weihnachtsbaum und kippte Prosecco in sich hinein, als gäbe es morgen keinen mehr. Irgendwie war er in sehr seltsamer Stimmung. Daniel hätte erwartet, dass er in irgendeiner Weise auf die Aussicht auf ein weiteres Enkelkind reagierte, aber er schien gar nichts davon mitbekommen zu haben.

Die Kinder dagegen fanden das Ganze höchst amüsant. Sie gaben sich Mühe, sich zu beherrschen, aber Daniel entging dennoch nicht, dass sie sich eifrig witzige Kommentare zuraunten, denn sie brachen immer wieder scheinbar grundlos in heftiges Gekicher aus. Er warf ihnen warnende Blicke zu, aber glücklicherweise schien Rachel nichts zu bemerken.

Sie war sehr schön und mindestens zehn Jahre jünger als Ged. Daniel hoffte inständig, dass ihr klar war, worauf sie sich einließ. Ged hatte nicht gerade eine gute Erfolgsbilanz bei Frauen. Hinter ihm lag eine lange Spur gebrochener Herzen, und Daniel hatte längst den Überblick darüber verloren, wie viele Stunden Beth im Laufe der Jahre damit verbracht hatte, Geds verflossene Freundinnen zu trösten.

„Wo habt ihr beiden euch denn kennengelernt?“, fragte er höflich, um Rachel die Befangenheit zu nehmen. Das arme Mädchen wirkte verständlicherweise ein bisschen verstört. Vermutlich hatte Ged sie nicht vorgewarnt, dass seine Eltern möglicherweise von der unverhofften Aussicht darauf, praktisch sofort Großeltern zu werden, nicht begeistert sein könnten.

„Oh.“ Ein strahlendes Lächeln glitt über ihre Züge. „Das war bei der Vollmondfeier in Thailand. Nichts als jämmerliche Loser um mich herum, und dann war da Ged und erwies sich als vollkommener Gentleman.“

Darauf würde ich wetten, dachte Daniel, aber er lächelte. „Das klingt großartig.“

Rachel erzählte, was für eine tolle Zeit sie zusammen gehabt hätten, erst in Thailand, dann in Singapur und anschließend auf Bali, bevor sie schließlich ihre Eltern in Australien besuchten. „Auf Bali bin ich schwanger geworden“, gestand sie. „Das war so romantisch.“

„Nun denn, herzlichen Glückwunsch“, erwiderte Daniel. „Ich wette, deine Eltern freuen sich?“

„Oh, sie sind begeistert. Mum ist ein bisschen sauer auf mich, weil ich mein Baby hier zur Welt bringen werde, aber ich möchte nun mal sein, wo Ged ist, und er wollte nach Hause. Er freut sich so auf das Baby, dass er jedem davon erzählen will.“

Tatsächlich? Daniel fragte sich, ob Ged diesbezüglich seine Meinung geändert hatte. Aber so, wie er Ged kannte, hatte der das Ganze ohnehin nicht wirklich durchdacht.

Es ging auf ein Uhr zu, und zum ersten Mal sah es nicht danach aus, als würde der Truthahn rechtzeitig fertig werden. Daniel konnte hören, dass die Stimmen in der Küche lauter wurden, und er überlegte, ob er hinübergehen und versuchen sollte, die Wogen zu glätten. Gerade wollte er aufstehen, als es an der Haustür klingelte und Lou ins Haus stürzte: atemlos, zu spät und verdächtig danach aussehend, als hätte sie geweint. Oh nein, arme Lou, was war jetzt wieder geschehen? Daniel mochte seine Schwägerin, aber sie geriet anscheinend immer an die falschen Männer, wenn es um ihr Liebesleben ging. Als sie beim letzten Mal Beth und Daniel besucht hatte, war sie so glücklich gewesen, und sie hatten beide gehofft, dass die Sache diesmal gut für sie laufen würde. Etliche Male hatten sie darum gebeten, Joe endlich kennenlernen zu dürfen, aber Lou hatte sie immer wieder hingehalten. Jetzt sah es ganz so aus, als hätte sich abermals einer aus dem Staub gemacht – keine Chance mehr, ihn kennenzulernen.

„Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe“, stieß sie hervor. „Der Verkehr war die Hölle.“

„Du kommst zu spät?“ Fred schaute auf, anscheinend schon etwas berauscht. Er stand auf, um seine Tochter zu begrüßen, und schwankte. Fast wäre er zurück in seinen Sessel gefallen. Daniel runzelte die Stirn. Es war normal, dass Fred am ersten Weihnachtstag gern einen hob, aber richtig betrunken hatte er ihn noch nie erlebt.

In der Küche erklang ein Schrei, dann fiel etwas krachend zu Boden.

Daniel und Lou sprangen sofort auf und rannten in die Küche, um nachzusehen, was los war, dicht gefolgt von den Kindern. Ihnen bot sich ein seltsamer Anblick: Mary hatte offenbar einen hysterischen Anfall, der Truthahn lag auf dem Boden, Ged und Beth wirkten wie vor den Kopf geschlagen.

„Alles kein Problem, Mary“, sagte Daniel, trat neben sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Komm schon, wir heben ihn einfach wieder auf. Ein bisschen Dreck bringt uns nicht um.“

„Der Scheißtruthahn interessiert mich nicht“, rief Mary, deren Tränen so abrupt versiegten, wie sie gekommen waren. Daniel war schockiert. Noch nie hatte er seine Schwiegermutter lautstark fluchen hören. Sie drehte sich zu ihnen um, im selben Moment, in dem ein sehr verwirrter Fred die Küche betrat.

„Alles in Ordnung hier drin?“

„Kann dir doch egal sein“, stieß Mary mit überraschender Verbitterung hervor.

„Mary, nicht heute“, warnte Fred.

„Und warum zum Teufel nicht? Nur, weil Weihnachten ist?“

„Ja, weil Weihnachten ist“, sagte Fred. Auch er wurde jetzt lauter, und Zornesröte kroch ihm den Hals hinauf. „Du weißt schon, Zeit für die Familie und so.“

„Kann mir freundlicherweise mal jemand erklären, was hier los ist?“, fragte Lou.

„Ich sage dir gern, was los ist“, erklärte Mary. Einen Moment herrschte Stille, und Daniel hielt unwillkürlich den Atem an. Noch nie hatte er seine Schwiegermutter so erlebt. Was um alles in der Welt ging hier vor? Mary ließ den Blick durch die Küche wandern, die Hände in die Hüften gestemmt. „Euer Vater ist ein Lügner und Betrüger und hat eine Affäre mit Lilian Mountjoy. Und ich habe die Nase gestrichen voll.“

Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Die gesamte Familie Holroyd war vor Schreck erstarrt. Genau in diesem Moment betrat Rachel die Küche. „Kann ich irgendwie helfen?“, fragte sie unschuldig.

ERSTER TEIL

Die Reise beginnt …

Januar bis März

Das kleinste Engelchen

Das Engelchen war sehr aufgeregt. Die gesamten himmlischen Heerscharen bereiteten sich auf das große Ereignis vor.

Das große Ereignis“, sagte Gabriel.

Es hatte schon ziemliche Aufregung gegeben wegen eines anderen Babys, das ein paar Monate zuvor geboren worden war, aber Gabriel sagte, dieses Baby sei noch sehr viel wichtiger. Dieses Baby werde die Welt retten.

Die himmlischen Heerscharen sollten losziehen und den Leuten davon erzählen, und zum ersten Mal würde auch das Engelchen mitkommen dürfen.

„Ist es heute so weit?“, fragte das Engelchen seine Mutter.

„Heute nicht“, sagte seine Mutter.

„Ist es heute so weit?“, fragte das Engelchen am nächsten Tag.

„Heute nicht“, sagte seine Mutter. „Aber bald.“

Die Tage kamen und gingen, und der richtige Tag kam und kam nicht, bis schließlich das Engelchen fragte: „Ist es heute so weit?“

Und seine Mutter sagte: „Ja, heute ist es so weit.“

„Hurra!“, schrie das Engelchen. Und es machte sich bereit, auf die Reise zu gehen.

Vanessa Marlow: Welches andere Baby?

Beth King: Ähm, Johannes der Täufer.

Vanessa Marlow: Was sind die himmlischen Heerscharen?

Beth King: Die Engel.

Vanessa Marlow: Was hält das Engelchen davon ab, auf die Reise zu gehen? Wie kommt es vom Weg ab? Wen besucht es unterwegs?

Beth King: Vanessa, daran arbeite ich gerade.

Vanessa Marlow: Kann es nicht um die Welt reisen und verschiedene Leute besuchen?

Beth King: Warum sollte es das tun?

1. Kapitel

Beth

Das Engelchen machte sich auf den Weg, und schon bald hatte es sich völlig verlaufen …

Ich sitze da und starre in die Luft. An dem Entwurf für diese beiden Doppelseiten arbeite ich nun schon seit Monaten. Ich habe meinem Verlag etwas Neues für die Buchmesse in Bologna im April versprochen. Sie wollen sie nutzen, um das Werk ausländischen Verlagsagenten anzubieten, aber nun rückt die Messe näher und näher, und ich komme einfach nicht voran. Noch nie habe ich so einen kreativen Hänger gehabt. Vor Lichtjahren, als meine ursprüngliche Lektorin Karen diese Idee aufgebracht hatte, waren wir beide völlig begeistert gewesen. Es gab ein sehr fruchtbares Brainstorming mit der Grafikabteilung, gefolgt von einem weinseligen Essen, und ich war absolut beflügelt wieder nach Hause gefahren. Diese Geschichte würde mein bisher größter Bucherfolg werden – das wusste ich ganz einfach.

Zuerst lief auch alles wie am Schnürchen. Ich legte einen groben Entwurf vor, der Karen sehr gefiel, und die ersten Bilder für Bologna im letzten Jahr zeichneten sich fast von selbst. Die nächsten gestalteten sich ein bisschen schwieriger, und dann war plötzlich Ende im Gelände. Ich kam keinen Schritt weiter, und für die Frankfurter Buchmesse im Oktober hatte ich nichts Neues vorzuweisen. Inzwischen war Karen in Mutterschaftsurlaub gegangen, und ihre Vertretung Vanessa erstickte auch so schon fast unter der Flut ihrer Aufgaben. Ich wollte ihr nicht auch noch meine Probleme aufbürden, und außerdem glaubte ich, mein Mangel an Begeisterung sei nur vorübergehend. Aber die Wochen vergingen, meine selbst gesetzten Fristen verstrichen eine nach der anderen, und ich begriff, dass ich etwas unternehmen musste. Also biss ich Ende November in den sauren Apfel und rief sie an.

Während Karen gelacht, mich geneckt und etwas Tröstliches gesagt hätte, saß Vanessa nur schweigend am anderen Ende der Leitung.

„Also, wie viel haben Sie schon?“, fragte sie schließlich. Sie konnte höchstens Mitte zwanzig sein, aber ihr Tonfall war unglaublich ernst. Ich fühlte mich, als wäre ich vor meinen Klassenlehrer zitiert worden, weil ich meine Hausaufgaben nicht gemacht hatte.

„Ich habe ein paar Grobentwürfe“, sagte ich in dem Bewusstsein, wie lahm das klang.

„Grobentwürfe?“ Sie klang so missbilligend, dass mir das Herz in die Hose rutschte. „Ich bin davon ausgegangen, dass inzwischen ein paar fertige Skizzen vorliegen. Wir wollen das Buch rechtzeitig vor Weihnachten im nächsten Jahr auf den Markt bringen.“

Ich auch, dachte ich, ich auch. Das lief gar nicht gut. Ich hätte jetzt wirklich ein bisschen Aufmunterung gebrauchen können. Karen hätte genau gewusst, was sie sagen musste, aber Vanessa fiel nichts weiter ein als: „Glauben Sie, dass Sie bis nach Neujahr ausgefeilte Skizzen erarbeiten können?“

Sie klang gereizt und verärgert, wodurch ich mich noch elender fühlte. Dabei war mir meine Verspätung schon peinlich genug, da konnte ich nicht auch noch eine Standpauke gebrauchen.

„Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht. Ich werde mein Bestes tun.“

Karen hätte ich einfach die Wahrheit gesagt. Hätte ihr gesagt, dass nichts funktionierte und dass ich in einer so tiefen kreativen Flaute steckte, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Aber Vanessa war für mich noch eine unbekannte Größe. Ich war mir nicht sicher, wie sie reagieren würde, also wagte ich nicht, ihr die Wahrheit zu sagen. Schon gar nicht, wenn ich mir damit einen Rüffel einhandelte.

Wieder Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann ein verärgerter Seufzer.

„Na schön, ich schätze, wir können nur hoffen, dass Ihr Bestes gut genug sein wird.“

„Das schätze ich auch“, sagte ich. Vanessa zog mich nur noch weiter herunter, und das war überhaupt keine Hilfe für mich. „Mehr kann ich nicht tun.“

„Gut“, erklärte sie knapp. „Ich freue mich darauf, im Januar zu sehen, was Sie geschafft haben. Ich hoffe doch, dass Sie dann etwas haben, was Sie mir zeigen können.“

„In Ordnung“, sagte ich und legte auf. Am liebsten hätte ich mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen.

Seit jenem Telefonat habe ich mir alle Mühe gegeben, aber irgendetwas fehlt. Der besondere Funke von was auch immer, das ein Beth-King-Bilderbuch zu etwas Besonderem macht (Sunday Times Bestseller!). Und ich weiß nicht, was ich tun soll.

Ich habe bewusst über die Weihnachtstage eine Arbeitspause eingelegt, in der Hoffnung, das werde mir guttun. Doch dann passierte die Sache mit Mum und Dad. Von dieser Überraschung habe ich mich immer noch nicht erholt. Ja, ich weiß, dass meine Eltern nie wie die Turteltäubchen waren, aber sie schienen sich doch gut zu verstehen, und ich bin davon ausgegangen, dass es immer so bleiben würde. Und so traf mich diese Neuigkeit wie ein Blitz aus heiterem Himmel.

Trotz aller Differenzen ist unsere Familie doch eine glückliche Familie. Jedenfalls habe ich das gedacht. Als Teenager habe ich mir Sorgen gemacht, meine Eltern könnten sich trennen – ich erinnere mich daran, dass sie damals viel gestritten haben. Aber heute? Ich werde demnächst vierzig, meine Mum geht auf die siebzig zu. Dieses Jahr hätte ein Jahr glücklicher Familienfeste werden sollen, zumal Sam achtzehn wird und demnächst ein Baby die Familie bereichert. Aber nein, Mum und Dad reden kaum noch miteinander. Mum hängt fast die ganze Zeit im Haus herum und lässt sich nicht überreden, mal rauszugehen, während Dad in mürrisches Schweigen verfallen ist. Und das bringt mich fast um. Ich habe meinen Vater immer angebetet. Um ehrlich zu sein, komme ich mit ihm besser zurecht als mit Mum. Als ich noch klein war, war er derjenige, mit dem ich kuscheln konnte. Derjenige, zu dem ich ging, wenn ich traurig oder ratlos war. Mum war schon immer eher der Reiß-dich-zusammen-Typ. Dad hingegen richtete mich jedes Mal auf, wenn ich das Gefühl hatte, einer Sache nicht gewachsen zu sein. Der Gedanke daran, dass er eine Affäre hat, macht mich krank. Obendrein mache ich mir Vorwürfe. Wenn ich ihn nicht dazu ermuntert hätte, den Kunstkurs zu besuchen, hätte er diese verdammte Lilian nie kennengelernt.

Andererseits – wie hätte ich vorhersehen sollen, dass so etwas passiert? Ich kann es nach wie vor kaum glauben, dass mein wunderbarer, lustiger, lieber Vater zu so etwas fähig ist. Ich bin wütend auf ihn, und ich mag dieses Gefühl ganz und gar nicht, aber er hat eine Wut in mir entfacht, wie ich sie so noch nie in meinem Leben empfunden habe. Ich weiß nicht, wohin das alles noch führen wird, aber ich schätze, dass ich letztlich die Scherben werde aufsammeln müssen. Diese Aufgabe kommt in unserer Familie eigentlich immer mir zu.

Und dazu kommt noch der Druck wegen meines Buches. Der Abgabetermin hängt wie ein Damoklesschwert über meinem Kopf, und ich bin so abgelenkt, dass der kreative Schub, den ich dringend brauche, sich einfach nicht einstellt.

Normalerweise würde ich versuchen, mit Daniel darüber zu reden. Er neigt zwar nicht dazu, sehr kritisch zu sein, aber seine aufmunternden Kommentare tun mir immer gut. Im Augenblick jedoch steht er selbst beruflich sehr unter Druck. Er ist noch dabei, sich an der neuen Schule einzuarbeiten, und an manchen Tagen kann ich sehen, dass er zu kämpfen hat. Im ersten Schulhalbjahr wird eine Prüfung der Schulaufsicht Ofsted erwartet, und er macht sich jetzt schon Sorgen deswegen. Als erster farbiger Schuldirektor in einer Schule der weißen Mittelschicht hängt schrecklich viel vom Ausgang dieser Prüfung ab. Und das, obwohl die Schule beklagenswert schlecht geleitet worden ist, bevor er diese Aufgabe übernommen hat.

Ich weiß, dass er unter enormem Druck steht, und ich will ihm nicht auch noch meine Sorgen aufbürden. Außerdem glaube ich, dass ihm das Zerwürfnis zwischen Mum und Dad ebenfalls sehr zu schaffen macht. Er hat meine Eltern immer gemocht, vor allem wegen seiner eigenen Situation, und jetzt das.

Das ist nicht gut. Ich schließe fest die Augen und versuche, mich auf die Arbeit vor mir zu konzentrieren.

Also – das Engelchen – wo ist es, und wohin geht es als Nächstes?

Ich stehe auf, um mir einen Kaffee zu machen. Ich kann mich einfach nicht konzentrieren. Mein kleiner Engel hat sich hoffnungslos verlaufen. Und mir, so fürchte ich, geht es nicht besser …

Daniel

„In den Fluren bitte nicht rennen!“, ermahnte Daniel zwei Schüler der siebten Klasse, die ihn nicht bemerkt hatten und mit Anlauf durch den Gang schlitterten. Verdutzt blieben sie stehen, stopften automatisch ihre Hemden wieder in die Hose und rückten ihre Krawatten zurecht. „Ja, Sir, entschuldigen Sie, Sir“, murmelten sie und machten sich aus dem Staub.

Daniel grinste in sich hinein. Er musste daran denken, wie Sam in dem Alter gewesen war. Der Umgang mit ihm war damals so einfach gewesen. Aber heute? Heute glich er einem geschlossenen Buch. Er schien nichts, aber auch gar nichts zu tun, um sich auf seinen Abschluss vorzubereiten, und jeder Versuch, mit ihm über seine Zukunft zu sprechen, stieß auf Feindseligkeit und Abwehr. Dank seiner langjährigen Erfahrungen im Umgang mit Teenagern wusste Daniel, dass es vermutlich am besten war, sich nicht einzumischen; irgendwann würde bei ihm von ganz allein der Knoten platzen. Aber selbst diesem Rat zu folgen, war entschieden schwerer, als ihn anderen Eltern zu geben. Beth machte sich so schrecklich viele Sorgen. Ständig wollte sie wissen, was Sam vorhatte, obwohl es für Daniel offensichtlich war, dass er das nicht immer sagen wollte. Wenn sie sich stritten, ging es meistens darum. Beth war eine großartige Mutter, aber manchmal wurde Daniel das Gefühl nicht los, dass sie sich viel zu oft in das Leben ihrer Kinder einmischte und dass sie besser daran täte, sie einfach in Ruhe zu lassen. Beth ihrerseits hielt ihren Mann für zu gelassen und hätte es gern gesehen, wenn er öfter ein Machtwort gesprochen hätte. Damit, dass sie dieses Dilemma in nächster Zeit würden lösen können, war eher nicht zu rechnen.

Nach dem kurzen Intermezzo mit den beiden Jungen eilte Daniel in sein Büro, um den Berg an Papierkram abzuarbeiten, der auf ihn wartete. Er liebte seine Arbeit, den Umgang mit den Kindern. Den Lehrerberuf hatte er gewählt, um etwas zu bewirken, genau wie vor langer Zeit ein paar seiner Lehrer etwas für ihn bewirkt hatten. Sein Vater hatte sich aus dem Staub gemacht, als Daniel zehn war. Danach war er eine Zeit lang so wütend und verbittert gewesen, dass es selbstzerstörerische Züge annahm. Ohne die Unterstützung eines Englischlehrers in der siebten und eines Mathematiklehrers in der neunten Klasse hätte er vielleicht nie seinen Weg gefunden. Nur zu leicht hätte er aus der Bahn geworfen werden können. Diese Erfahrung hatte ihn dazu motiviert, das Gleiche für andere zu tun.

Die Entscheidung, Lehrer zu werden, hatte er nie bereut, und die Arbeit an der neuen Schule machte ihm wirklich Spaß, denn hier herrschten gute Umgangsformen, und die meisten Schüler wollten lernen. Trotzdem war das nicht mehr die Welt, die er vor so vielen Jahren betreten hatte, und der Erfolgsdruck war immens groß. Der Gedanke an die Inspektion der Schulaufsichtsbehörde bereitete ihm schlaflose Nächte. Er wusste, dass seine Mitarbeiter in der Verwaltung ein gutes Team bildeten, aber er hätte gern noch ein paar mehr Ältere in diesem Team gehabt. Leider sah die Schulleitung sehr aufs Geld und legte weniger Wert auf Erfahrung. Ein achtundzwanzigjähriger Fachbereichsleiter war nun mal billiger als ein fünfundvierzigjähriger. Und so, wie das Budget aussah – die Planung fürs laufende Schuljahr bereitete ihm erhebliches Kopfzerbrechen –, hatte Sparen höchste Priorität. Er war dankbar für den Enthusiasmus und die Energie, die die neuen Lehrer in den Unterricht einbrachten, aber er machte sich Sorgen wegen ihres Mangels an Erfahrung. Noch ein Problem, das gelöst werden musste.

Sein Telefon meldete sich. Eine SMS von Beth. Er fand es schön, dass sie ihm tagsüber immer noch SMS schickte. Obwohl sie bei ihrer Heirat noch sehr jung gewesen waren – nach Ansicht einiger ihrer Freunde zu jung, zumal bereits ein Baby unterwegs war –, war ihre Ehe gut, und er war zufriedener als die meisten Leute in dieser Lage, die er kannte.

Ich komme kaum voran. Besteht die Aussicht, dass du zum Mittagessen nach Hause kommst?

Er lächelte. Achtzehn Jahre verheiratet und immer noch so verliebt in Beth wie bei ihrer ersten Begegnung. Wenn er doch nur Zeit hätte, mit ihr zu Mittag zu essen.

Tut mir leid, ich kann nicht. Besprechung. Aber lass uns heute Abend gemeinsam essen.

Und mit diesem aufmunternden Gedanken ging er mit neuer Entschlossenheit den Korridor hinunter. Solange Beth an seiner Seite war, konnte er mit allem fertig werden.

Lou

„Kann ich dir irgendetwas bringen, Mum?“

Als ich die Küche betrete, steht Mum am Fenster und starrt hinaus in den Garten. Sie trägt immer noch ihren Morgenmantel und sieht aus, als hätte sie kein Auge zugetan.

„Ein anderes Leben vielleicht?“ Ihr Tonfall ist verbittert.

Oh Gott, jetzt geht das schon wieder los. Jeden Tag seit meinem erneuten Einzug zu Hause verhält sie sich so. Es spielt keine Rolle, dass mein eigenes Leben ein riesiger Scherbenhaufen ist, seitdem Jo mich verlassen hat. Zu allem Überfluss bin ich unmittelbar nach Weihnachten auch noch entlassen worden. Mein Vorgesetzter hat gemeint, sie müssten Personal abbauen und es habe nichts mit mir persönlich zu tun. Trotzdem hatte mir genau das natürlich gerade noch gefehlt, nachdem Jo mir den Laufpass gegeben hat. Ohne Job kann ich die Miete für meine Wohnung nicht bezahlen. Wäre ich noch mit Jo zusammen, hätte ich bei ihr einziehen können, aber so konnte ich nirgendwo hin. Da blieb mir nichts anderes übrig, als wieder zu Hause einzuziehen. Lieber fühle ich mich bei meinen Eltern elend, als dass ich allein auf mich gestellt lebe.

Ich dachte, zu meinen Eltern zurückzuziehen, hätte vielleicht auch sein Gutes. Dass es Mum helfen würde, wenn ich da bin. Dass es auch mir irgendwie helfen würde. Ich dachte, so könnte ich mich von meinem eigenen Elend ablenken. Aber Mum nimmt mich kaum zur Kenntnis, und ich bin mir nicht sicher, ob meine Anwesenheit ihr irgendetwas bedeutet. Natürlich verstehe ich, wie ihr zumute ist. Mir wurde schon oft genug das Herz gebrochen, ich weiß, wie es ist, sitzen gelassen und betrogen zu werden. Jo hat zwar gesagt, es gebe keine andere, aber ich weiß nicht, ob ich ihr das glauben soll. Vielleicht liegt das aber auch an meiner eigenen Unsicherheit. Jedenfalls muss es grausam sein, nach über vierzig Jahren Ehe herauszufinden, dass der eigene Mann einen betrogen hat. Trotzdem hatte ich diese Reaktion nicht erwartet. Nicht diesen Schatten eines Menschen, der sich nicht rührt, nur stocksteif dasteht und das Schicksal einfach hinnimmt. Die Mum, die ich kenne, hätte niemals auf diese Weise aufgegeben. Warum kann sie nicht mehr wütend sein, so wie Beth und ich das sind? Es sieht so aus, als hätte ihr Lebensmut sie verlassen.

Am liebsten würde ich sie schütteln und ihr sagen: Tu etwas. Kämpfe um ihn. Aber das tut sie nicht. Beth glaubt, sie brauche nur Zeit, aber ich bin mir nicht sicher, ob meiner Schwester klar ist, wie schlimm es wirklich um sie steht. Sam und Megan halten es natürlich für saukomisch, dass ihr Großvater überhaupt eine Affäre haben kann. Sie können es nicht fassen, dass Menschen in den Siebzigern noch ein Sexleben haben. Doch die Sache ist ernst. Mum und Dad haben ihre Höhen und Tiefen erlebt, aber sie waren immer zusammen. Und die Situation wird nur noch komplizierter dadurch, dass Dad anscheinend eine Menge Zeit mit dieser Lilian verbringt, aber immer noch nicht offiziell ausgezogen ist. Er schläft im Gästezimmer und schleicht sich täglich davon, um sie zu sehen. Natürlich sagt er nie, wohin er geht und was er vorhat. Das liegt vermutlich daran, dass wir uns fürchterlich in die Haare gekriegt haben, als ich ihn das erste Mal danach gefragt habe. Es war grauenvoll. Dad ist eigentlich nicht der Typ, der einen lautstarken Streit vom Zaun bricht, und seitdem weigert er sich, mit mir über die Sache zu reden.

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Mein Leben lang schon bin ich es gewohnt, als die Bemitleidenswerte in der Familie zu gelten: Die arme Lou hat ihr Abitur vermasselt, die arme Lou kriegt keinen vernünftigen Job, die arme Lou hat keinen Mann – und jetzt bin ich hier und muss mich kümmern. Dabei habe ich nicht die leiseste Ahnung, wie man das macht.

„Ich dachte eher an so etwas wie eine Tasse Tee?“, schlage ich so munter wie nur möglich vor, aber Mum schaut mich nur ausdruckslos an.

„Warum nicht“, sagt sie. Ihre Augen wirken trübe und leblos. Es jagt mir Angst ein, wie schnell meine sonst so tatkräftige Mum sich in einen Zombie verwandelt hat. Seit Weihnachten hat sie kaum einmal das Haus verlassen, und ich werde von ihren Freunden, die sich nach ihr erkundigen, weil sie sich weigert, mit ihnen zu reden, mit besorgten Nachfragen bombardiert.

„Was hältst du davon, wenn wir ins Gartencenter fahren, um Kaffee zu trinken?“

Eigentlich würde ich ihr lieber vorschlagen, gemeinsam einzukaufen, aber ich weiß, dass ich damit keinen Erfolg haben werde. Seit zwei Wochen kümmere ich mich um die Einkäufe, da Dad absolut unfähig ist, irgendwelche Hausarbeiten zu übernehmen. Glückliche Lilian.

„Wozu?“, fragt Mum.

„Damit du endlich mal wieder aus dem Haus kommst“, erkläre ich fest. „Du brauchst das dringend. Vertrau mir. Ich kenne mich aus.“

Mir gehen all die Gelegenheiten durch den Kopf, bei denen andere genau das für mich getan haben: Sie haben mich davon abgehalten, mich in meinem Selbstmitleid zu suhlen, wenn ich nur im Schlafanzug dasitzen, Schokolade in mich hineinstopfen und zu viel Wein trinken wollte. Diesmal tue ich das nur deshalb nicht, weil Mum mich so sehr braucht, dass ich keine Zeit habe, mich in meinem Elend zu vergraben. Aber früher, wenn mir das Herz gebrochen worden war, hatte ich immer das Glück, dass jemand mir den nötigen Tritt verpasst und mich aus meiner Verzweiflung geholt hat. Ich weiß daher, dass das hilft.

„Also komm“, fahre ich fort. „Zeit, ein Bad zu nehmen und dich zusammenzureißen. Dad kommt niemals zu dir zurück, wenn du durch die Gegend schleichst wie ein verregnetes Novemberwochenende.“

„Werd nicht frech“, sagt Mum, und für einen Moment blitzt ihr altes Ich auf, was mich mit ein bisschen Hoffnung erfüllt. Langsam, aber sicher beginnt sie, sich ausgehbereit zu machen.

Erste Schritte nur, aber vielleicht schaffe ich es ja doch …

2. Kapitel

Beth

Ich sitze im Zug nach London, um mich zum ersten Mal persönlich mit meiner neuen Lektorin Vanessa zu treffen. Normalerweise genieße ich meine Besuche im Verlag. Bisher war das immer eine Gelegenheit, um das Neueste mit Karen auszutauschen, über die Arbeit zu reden und gemeinsam Ideen zu entwickeln – unsere Treffen waren immer kreativ, aufbauend und haben ungeheuer viel Spaß gemacht. Außerdem kam ich dadurch mal aus dem Haus.

Aber heute ist alles anders. Wenn Karen noch da wäre, hätte ich wenigstens das eine oder andere mit ihr diskutieren können, aber Vanessa kenne ich kaum. Ich versuche, ihr einen Vertrauensbonus zuzugestehen, aber bisher habe ich sie nur als ärgerlich herablassend und häufig sogar recht unhöflich empfunden. Ich weiß, dass ich ihr unvoreingenommen gegenübertreten sollte, aber mir fällt es zunehmend schwerer, Tipps von einer Frau anzunehmen, die vom Alter her glatt meine Tochter sein könnte, jedes Gespräch so angeht, als wäre ich ein Problem, das gelöst werden muss, und andauernd Sachen sagt wie: „Nun, es ist nicht unbedingt so, dass mir das nicht gefällt. Aber es fehlt das gewisse Etwas.“

Ich weiß, dass das gewisse Etwas fehlt. Aber sie ist meine Lektorin, eigentlich wäre es schön, wenn sie mir helfen könnte, dieses gewisse Etwas zu finden. Ihr jüngster Vorschlag, mein Engelchen auf eine Reise um die ganze Welt zu schicken, kommt mir unnötig kompliziert vor. „Das trägt dazu bei, dem Buch den internationalen Touch zu geben, der auf dem Bilderbuchmarkt so enorm wichtig ist“, meinte sie letzte Woche am Telefon.

„Ja, ich weiß, wie der Hase läuft“, sagte ich und biss mir dabei auf die Unterlippe. Seit zwanzig Jahren bin ich in diesem Geschäft, ich weiß, wie wichtig ausländische Lizenzausgaben sind; sie erhöhen die Druckauflage und verringern damit die Produktionskosten. Ohne sie wäre es sehr viel schwerer, ein Buch zu verlegen. Ein oder zwei meiner frühen Projekte sind gescheitert, weil sich zu wenige ausländische Verlage beteiligt haben. Vanessa muss mich nicht belehren, wie wichtig das ist. Sie gibt mir damit nur das Gefühl, dass sie mich für eine Idiotin hält, und das wiederum steigert meine Abneigung gegen sie.

Da aber all meine Versuche, die Geschichte zum Laufen zu bringen, scheitern, habe ich schließlich zugestimmt, mein Engelchen auf eine Reise zu schicken, die es nach London, Paris, New York, Berlin und Rom führt. Dabei hat außer Rom keine dieser Städte zur Zeit Jesu bereits existiert.

Mein Hinweis darauf wurde abgetan mit einem lässigen: „Oh, das spielt keine Rolle. Das ist symbolisch.“ Symbolisch wofür? Ich habe keine Ahnung.

Außerdem habe ich getan, worum sie mich gebeten hat, und ein paar Skizzen entworfen, die das Engelchen zeigen, wie es mit einer Taube auf der Nelsonsäule auf dem Trafalgar Square Freundschaft schließt und die Mona Lisa bittet, ihr den Weg zu zeigen. In Berlin genießt sie den Blick auf die Stadt vom Reichstag aus, und in Rom besucht sie den Vatikan.

Für mich ergibt das alles keinen Sinn. Jedes Mal, wenn ich das Engelchen zeichne, betrachte ich sie verwirrt und verzweifelt, denn genau so fühle ich mich. Ich weiß zwar, dass ich mit dem Buch nicht warm werde, aber ich glaube nicht, dass Vanessas Lösungsvorschlag mich weiterbringt.

Als ich im Verlag eintreffe, bleibt mir noch viel Zeit bis zur Besprechung, und mir ist speiübel. Was tue ich hier? Warum lasse ich zu, dass mein sicherer Instinkt von jemandem wie Vanessa einfach beiseitegefegt wird? Wenn ich genau wüsste, wie meine Geschichte aussehen soll, wäre ich in der Lage gewesen, mich zu wehren. Dummerweise weiß ich es aber nicht. Ich weiß nur, dass dieses Buch eine Katastrophe wird.

Vanessa lässt mich nicht lange warten. Wie ich mir schon gedacht habe, ist sie ein hübsches, fröhliches junges Ding, das vor Begeisterung übersprudelt. Plötzlich kommt mir der Gedanke, dass sie genauso nervös sein könnte wie ich.

„Ich fasse es einfach nicht, dass ich mit Ihnen zusammenarbeite, Beth“, sagt sie. „Als Kind habe ich Ihre Bücher geliebt.“

Na toll, jetzt fühle ich mich richtig alt. Aber es stimmt natürlich, mein erstes Bilderbuch ist vor siebzehn Jahren erschienen.

„Danke“, sage ich und ringe mir ein Lächeln ab. Immerhin ist das die erste ansatzweise positive Aussage mir gegenüber.

„Kommen Sie rein.“ Sie geleitet mich in einen hellen, luftigen Raum. „Ich habe unseren neuen Art Director gebeten, sich uns zuzugesellen. Ich hoffe, das ist Ihnen recht?“

„Ich wusste nicht, dass Sie einen neuen Art Director haben.“

„Oh ja, Andrea hat uns gleich nach Weihnachten verlassen. Hat Ihnen das niemand gesagt?“

„Nein.“ Mir schwindet der Mut. Verdammt. Andrea, die Vorgängerin des neuen Art Directors, hatte fünf Jahre für den Verlag gearbeitet. Sie, Karen und ich waren ein gutes, eingespieltes Team. Jetzt muss ich mich an ein weiteres neues Gesicht gewöhnen und noch eine unbekannte Größe überzeugen. Bin ich dieser Herausforderung im Augenblick wirklich gewachsen? Ich weiß es nicht, fühle mich in die Enge getrieben und gerate allmählich in Panik.

Die Tür wird aufgestoßen, und ein gut aussehender Mann Ende dreißig tritt ein. Ich schaue ihm in die Augen und bin wie gelähmt. Das kann nicht sein. Meine Beine drohen mich im Stich zu lassen, so groß ist der Schock.

„Beth, darf ich vorstellen? Jack …“

„Stevens“, stammele ich verwirrt, und das Blut schießt mir ins Gesicht. „Ja, wir – kennen – uns bereits …“ Ich gerate ins Stocken, dann versagt mir die Stimme.

Plötzlich bin ich wieder achtzehn, stehe an der Collegebar und erblicke Jack Stevens zum allerersten Mal. Er ist schön. Alle drehen sich nach ihm um, als er durch die Tür tritt. Ich sehne mich danach, dass er mich anschaut, aber natürlich tut er das nicht. Jedenfalls nicht bei dieser ersten Gelegenheit …

Jack Stevens. Hier. Wie ist das möglich? Ich habe ihn seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, und jetzt steht er direkt vor mir und sieht ganz genauso umwerfend aus wie bei unserer letzten Begegnung. Oh Gott.

„Lizzie Holroyd!“ Jack nimmt mich hocherfreut in den Arm. „Ich bin ja so ein Dummkopf. Ich habe es nicht geschnallt, als ich deinen Namen gelesen habe.“

Völlig überrumpelt erwidere ich seine Umarmung. Jack Stevens ist also der neue Art Director? Jack Stevens, den ich auf dem Kunst-College so erfolglos angehimmelt habe? Jack Stevens, den ich jahrelang nicht gesehen habe? Jack Stevens, der ganz offensichtlich noch immer diese hypnotisierenden blauen Augen hat, die ärgerlicherweise auch heute noch eine magische Wirkung auf mich haben? Ich bin zittrig, und mir ist schwindlig, ein Gefühl, als wäre ich gerade aus absoluter Finsternis in gleißendes Sonnenlicht getreten.

Jack Stevens, ein Explosionsknall aus meiner Vergangenheit. Der Eine, der mich verlassen hat. Und ausgerechnet er soll bei meinem neuen Buch mit mir zusammenarbeiten.

Lou

„Mum, wann sagst du Dad endlich, dass er ausziehen soll?“, frage ich, während wir an einem grauen Wintertag durchs Sainsbury’s schleichen. Immerhin haben wir diese Woche schon einen Schritt nach vorn geschafft: Es ist mir tatsächlich mehrfach gelungen, Mum dazu zu bringen, das Haus zu verlassen, aber nur mit sehr viel Mühe. Sie hat immer eine Ausrede parat, warum sie nicht vor die Tür möchte. Meistens ist ihr das Wetter zu schlecht. Aber heute hat für ungefähr fünf Minuten die Sonne geschienen, Grund genug für mich, sie zum Rausgehen zu überreden. Natürlich ist das inzwischen vorbei: Die Sonne ist hinter Wolken verschwunden.

„Aber wo soll er denn hin?“, fragt sie zurück.

„Mum“, sage ich bemüht freundlich, „er kann zu Lilian ziehen oder zu einem seiner Kumpel oder meinetwegen in ein Hotel. Das ist mir völlig egal. Du kannst jedenfalls nicht so weitermachen.“

Ehrlich gesagt: Ich kann es auch nicht. Mit den beiden unter einem Dach zu leben, ist eine schreckliche Prüfung. Die Atmosphäre im Haus ist entweder frostig, wenn die beiden ihre eisigen Forderungen auf dem Umweg über mich aneinander stellen, oder hochexplosiv, wenn sie sich richtig in die Haare kriegen. Wobei Letzteres so aussieht: Manchmal fällt Mum ein, dass sie wütend auf Dad ist, und sie rafft sich auf, ihn anzuschreien. Dann steht er da wie ein begossener Pudel und sagt nichts. Es treibt mich zum Wahnsinn, dass er nicht einmal versucht, sein Verhalten zu rechtfertigen. Er schaut nur aus tieftraurigen Dackelaugen und gibt Aussagen von sich wie: „Ich wollte nie, dass so etwas geschieht.“

„Du bist also durch Zauberei in Lilians Arme gefallen?“, habe ich ihn beim letzten Mal angefaucht. Daraufhin versank er nur noch tiefer in Selbstmitleid und meinte: „Ich erwarte nicht, dass du das verstehst.“

Er hat recht. Ich verstehe es nicht. Ich begreife einfach nicht, was er treibt, zumal in seinem Alter.

„Und wie soll er zurechtkommen?“, fährt Mum fort. „Du weißt doch, wie er ist. Er kann sich nicht mal ein Ei kochen.“

Und wessen Schuld ist das?, denke ich. Mum hat nie zugelassen, dass Dad irgendwelche Hausarbeiten übernimmt. Sie ist mindestens ebenso verantwortlich für seine völlige Unfähigkeit wie er selbst.

„Ich weiß, dass er ein hoffnungsloser Fall ist“, erwidere ich, „aber Mum, darüber darfst du dir nicht den Kopf zerbrechen. Du musst ihn ziehen lassen, um deiner selbst willen. Er hat dich betrogen. Er hat uns alle hintergangen.“

Noch während ich das ausspreche, wird mir klar, wie wütend ich tatsächlich auf Dad bin. Es ist, als hätte er mein gesamtes Weltbild demontiert; da mir eine Beziehung nach der anderen zu Bruch geht, hat die Stabilität ihrer Beziehung mir immer Halt gegeben. Wie soll ich überleben, wenn sich jetzt herausstellt, dass auch ihre scheinbar so stabile Ehe die ganze Zeit eine Lüge war?

Ich weiß, dass sie nicht vollkommen war, aber welche Ehe ist das schon? Mum und Dad haben immer ihr eigenes Leben geführt, mehr oder weniger parallel nebeneinanderher, aber dennoch haben sie immer den Eindruck erweckt, sie seien damit glücklich und zufrieden, auch wenn Mum sowohl Beth als auch mich damit in den Wahnsinn getrieben hat, dass sie Dad ständig alles hinterhergetragen hat. Obwohl ein Kind der Sechziger, hat sie den Feminismus völlig verschlafen. Das dürfte auch die Erklärung dafür sein, dass sie Ged so schrecklich verzieht. In ihren Augen kann er einfach nichts falsch machen. Typischerweise hat der Goldjunge sich seit Weihnachten weder hören noch blicken lassen, obwohl er und Rachel eine Wohnung in Südlondon bezogen haben und damit nicht gerade Millionen Meilen entfernt leben. Natürlich nimmt Mum ihn in Schutz. Schließlich „hat er ja so viel zu tun, jetzt, wo das Baby kommt und so“, aber mich bringt das auf die Palme. Ihm fiele doch kein Stein aus der Krone, wenn er Mum wenigstens ab und zu anrufen würde, um sich zu erkundigen, wie es ihr geht!

„Das verstehst du nicht“, sagt Mum. „Man kann zweiundvierzig Jahre Ehe nicht einfach so wegwerfen. Wenn es dir schon mal gelungen wäre, eine Beziehung länger als ein Jahr aufrechtzuerhalten, dann wüsstest du das.“

Verdammt. Manchmal kann sie echt grausam sein.

„Danke, dass du mich daran erinnerst, wie unzulänglich ich auf diesem Gebiet bin.“

„Oh, so habe ich es nicht gemeint“, erwidert sie und wirkt tatsächlich ein wenig beschämt. „Tut mir leid, Schatz, ich bin im Moment ein bisschen gereizt.“

„Ich habe auch nicht angenommen, dass du das so gemeint hast“, gebe ich seufzend zurück. „Aber trotzdem, du und Dad – das funktioniert nicht, richtig?“

Die Spannung, die zurzeit zwischen ihnen herrscht, ist unerträglich. Entweder reden sie kein Wort miteinander, oder sie gehen sich gegenseitig an die Gurgel. Abends sitzen wir schweigend zusammen, und die Zeit dehnt sich endlos. Manchmal lasse ich mir eine Ausrede einfallen, um aus dem Haus gehen zu können, wenn sie anfangen, sich darüber zu streiten, wer vergessen hat, die Mülltonne an die Straße zu stellen. Ehrlich, ich habe noch nie in meinem Leben so viele so lange Spaziergänge gemacht. Ich wünschte wirklich, ich steckte nicht mittendrin, zumal ich immer noch mit der Trennung von Jo zu kämpfen habe. Jeden Tag muss ich mich zusammenreißen, sie nicht anzurufen oder ihr eine SMS zu schicken, und jeden Tag wird der Kummer über meine Arbeitslosigkeit noch durch die schreckliche Atmosphäre daheim verstärkt. Ich wäre überall lieber als hier, aber im Augenblick bleibt mir keine andere Wahl. Ich bin achtunddreißig, Single, pleite und lebe bei meinen Eltern. Noch jämmerlicher kann es kaum kommen.

„Vielleicht hast du recht“, meint Mum, bleibt stehen und starrt die Gemüseauslagen an, als könnten die Möhren ihr die Antwort geben, die sie sucht. „Ich habe nur Angst davor, dass er nie wiederkommt, wenn er geht. Was soll ich denn dann tun?“

Als sie das sagt, wirkt sie so gequält und verletzlich, dass mein Ärger verfliegt. Sie ist in der Regel so tough und gut organisiert, dass ich leicht vergesse, wie alt sie ist: neunundsechzig. Mir fällt es ja schon schwer, mich nach der Trennung von Jo neu zu finden, wie schwer muss es dann erst für sie sein, nach all den Jahren einen Neuanfang zu wagen? Die längste Zeit ihres Lebens war sie verheiratet.

„Dann reißt du dich zusammen und baust dir ein Leben ohne ihn auf“, antworte ich. „Glaub mir, das ist das Einzige, was du tun kannst.“

Guter Rat, Lou, denke ich, während wir in Richtung Kasse gehen. Zu dumm nur, dass du das selbst nicht schaffst.

Daniel

„Setz dich gerade hin für Mr. King.“

Daniel seufzte beim Anblick des Schülers vor ihm. Jason Leigh war einer seiner intelligentesten Schüler. Beim General Certificate of Secondary Education, der in etwa dem Realschulabschluss entspricht, hatte er hervorragend abgeschnitten. Aber jetzt bei der Hochschulreife drohte er auf ganzer Linie zu versagen. Also hatte seine Mum um ein Gespräch mit dem Schuldirektor gebeten, um zu erfahren, was noch getan werden konnte, damit der Junge nicht durchfiel.

Daniels ehrliche Antwort lautete: nicht viel, wenn Jason selbst nicht zu dem Schluss kam, dass er ab sofort ordentlich Gas geben müsse. Aber er vermutete, dass war nicht die Antwort, die Mrs. Leigh hatte hören wollen. Soweit er das beurteilen konnte, war sie Teil des Problems: ein besonders übler Fall von Helikopter-Mutter, die ihrem Sohn ständig im Nacken saß und Stress machte.

Insgeheim verspürte Daniel Mitleid mit Jason, der offensichtlich die Nase voll hatte vom Bildungssystem und bei den Vorprüfungen haarsträubend schlechte Ergebnisse erzielt hatte. Wie durch ein Wunder und obwohl er sich ausgesprochen lustlos beworben hatte, hatten gleich zwei Universitäten ihm einen Studienplatz angeboten. Daniel vermutete, dass Jason, der mehr als fähig war, die geforderten Noten zu erzielen, sich nicht die Mühe machen würde, es auch nur zu versuchen.

„Wie siehst du das denn, Jason? Wie sind die Vorprüfungen gelaufen?“, fragte er, bemüht, Mrs. Leigh nicht zu beachten, die eindeutig das Gespräch an sich reißen wollte.

„Weiß nicht“, lautete die gemurmelte Antwort, und dabei sank Jason auf seinem Stuhl noch tiefer in sich zusammen. „Jason, sei nicht so unhöflich!“, funkte seine Mutter dazwischen.

Daniel winkte ab. Er war nicht der Meinung, dass Jason absichtlich unhöflich war. Er war einfach nur ein Siebzehnjähriger, der nicht einsah, wozu das Ganze gut sein sollte.

„Komm schon, Jason“, sagte Daniel. „Hier geht es nicht um mich oder deine Mum. Wir reden hier über deine Zukunft. Keiner von uns kann deine Prüfungen für dich ablegen.“

Jason zuckte die Achseln. „Wo liegt das Problem? Ist doch nicht so, dass es mir helfen würde, einen anständigen Job zu kriegen, wenn ich Französisch oder Spanisch kann.“

„Aber Jason“, mischte sich seine Mutter erneut ein. „Du liebst Spanisch und Französisch.“

„Nein, Mum“, widersprach Jason. Er wirkte müde und erschöpft. „Du liebst es, dass ich gut in Spanisch und Französisch bin.“

Dabei sackte er noch mehr in sich zusammen. Also änderte Daniel seine Taktik.

„Na schön, Jason, was würdest du denn lieber tun? Du kannst das Schuljahr auch wiederholen und im nächsten Jahr andere Fächer belegen, wenn du möchtest.“

Achselzucken. Und Schweigen.

„Komm schon, Jason, du musst dich doch für irgendetwas interessieren.“

„Computerspiele“, sagte Jason. „Ich würde gern Computerspiele entwickeln.“

„Das ist kein Beruf“, warf Mrs. Leigh frustriert ein. „Ich glaube nicht, dass man einen Abschluss in Computerspielen bekommt.“

„Sie würden sich wundern“, erwiderte Daniel, beugte sich vor und wandte sich wieder an Jason. „Also, warum hast du dich dann nicht für Informatik entschieden?“

„Mum hat gesagt, ich soll Sprachen wählen.“ Dabei warf Jason seiner Mutter einen übellaunigen Blick zu.

„Diese verdammten Computerspiele!“, schimpfte Mrs. Leigh. „Du verbringst viel zu viel Zeit damit.“

„Aber ich mag sie. Und ich bin gut darin. Ich muss nicht studieren, um einen Job in der Computerspielbranche zu kriegen.“

„Aber du könntest der Erste in der Familie sein, der die Universität besucht“, jammerte seine Mum. „Ehrlich, Mr. King, ich bin sicher, Ihre Kinder benehmen sich nicht so.“

„Ich glaube, alle Kinder benehmen sich manchmal so“, erwiderte Daniel und dachte dabei an Sam, der sich stundenlang in der Garage einschloss, um Schlagzeug zu spielen, und ähnlich wenig Zeit aufs Lernen verwandte wie Jason. Auch Sams Vorprüfungen waren nicht gerade gut gelaufen. Und die wütende Reaktion seiner Mutter hatte ihm nur ein Achselzucken und ein „Sind doch nur Vorprüfungen“ entlockt. Zu Daniels Ärger hatte das zu einer heftigen Auseinandersetzung geführt, infolge derer Beth und Sam mehrere Tage lang nicht mehr miteinander gesprochen hatten. Auch Daniel machte sich Sorgen um Sams Zukunft, aber manchmal dachte er, Beth stauche ihn zu sehr zusammen und mache damit alles nur noch schlimmer.

„Das ist also ein Beruf, den du dir vorstellen kannst, Jason?“, fragte Daniel.

„Auf jeden Fall“, erwiderte Jason, sofort besser gelaunt. Er stürzte sich förmlich auf das Thema, erwies sich als bestens informiert und erzählte sachkundig von den Spielen, die ihn interessierten, und von Computern ganz allgemein, bis Daniel der Kopf schwirrte.

„Ich könnte säckeweise Geld verdienen“, endete er schließlich. „Warum also soll ich Zeit auf ein Studium verplempern?“

„Jason!“ Seine Mutter stand kurz vor einem Schlaganfall. Daniel sah, wie eine Ader an ihrer Schläfe pulsierte. „Aber das bietet dir doch keine Sicherheit. Du musst studieren. Du musst einfach.“

Allmählich begann sie Daniel ein wenig leidzutun. Er wusste nur zu gut, wie schwer man es als Eltern manchmal hatte, besonders wenn es um einen renitenten Teenager ging. Er konnte sich vorstellen, dass Beth und er ein ähnliches Gespräch mit Sams Klassenlehrer würden führen müssen.

„Du brauchst vielleicht nicht unbedingt einen Universitätsabschluss, um in der Computerspielbranche zu arbeiten, Jason“, sagte er, „aber du bist ein kluger Junge, und ein Abschluss hat noch niemandem geschadet. Dir bleiben nur noch ein paar Monate bei uns. Warum versuchst du nicht wenigstens das zu erreichen, wozu du in der Lage bist? Es gibt Kinder an dieser Schule, die für deine Fähigkeiten morden würden. Du solltest sie nicht vergeuden.“

„Mag sein.“

„Mr. King hat recht“, mischte seine Mutter sich wieder ein, freundlicher diesmal. „Es ist einen Versuch wert, meinst du nicht?“

Jason nickte kaum merklich, den Blick auf die Tischplatte gesenkt.

„Also, was meinst du?“, fragte Daniel. „Lohnt es sich, dass du dich in den nächsten paar Monaten noch einmal richtig ins Zeug legst? Schaden kann es nicht, oder?“

„Ich schätze, nein.“

„Versuchst du es also?“

Jason zuckte die Achseln.

„Es liegt ganz bei dir“, fuhr Daniel fort, „aber wenn du es ernstlich angehen willst, wirst du den Förderunterricht besuchen müssen, den deine Lehrer anbieten. Sie opfern ihre wertvolle Freizeit, um zu helfen, Jason. Ich denke, du solltest es wenigstens versuchen.“

Jason hatte immerhin so viel Anstand, leicht beschämt zu wirken.

„Hör auf Mr. King“, sagte Mrs. Leigh ein wenig einlenkend. „Ich hatte nie die Chancen, die sich dir bieten. Wirf sie nicht einfach weg.“

„Außerdem musst du nicht schon dieses Jahr auf die Uni gehen“, fügte Daniel hinzu. „Du könntest dir ein Jahr Auszeit nehmen und in aller Ruhe ausloten, was du tun möchtest. Warum bittest du nicht um eine Berufsberatung bei Mr. Price? Vielleicht kann er dir ein paar Vorschläge machen?“

Zu seiner Erleichterung kam dieser Vorschlag offenbar gut an, und während sich die Unterredung dem Ende näherte, begannen sowohl Jason als auch seine Mutter zu lächeln. Wer weiß, vielleicht würde der Junge sie alle mächtig überraschen.

Daniel geleitete die beiden aus seinem Büro und setzte sich seufzend wieder an seinen Schreibtisch. Jason Leigh war Sam so ähnlich. Auch der glaubte, mit der Schule verplempere er nur seine Zeit, und zeigte so gut wie keinen Ehrgeiz. Daniel hatte keine Ahnung, wie er zu ihm durchdringen sollte. Was er auch sagte, er stieß auf taube Ohren. Daniel wollte keinesfalls so herrisch sein wie sein eigener Vater. Außerdem hatte er im Laufe der Jahre so viele Helikopter-Eltern gesehen, dass er sich bei seinen eigenen Kindern so wenig wie nur möglich einmischte. Vielleicht war das ja ein Fehler, wie Beth immer wieder behauptete.

„Kehr erst mal vor deiner eigenen Haustür!“, sagte er zu sich und machte sich wieder an seine Arbeit, in Gedanken immer noch bei der Frage, wie er den Abgrund überwinden konnte, der sich zwischen ihm und seinem Sohn aufgetan hatte.

3. Kapitel

Lou

Als wir wieder zu Hause sind und unsere Einkäufe auspacken, kommt mir der Gedanke, dass ich meinen Rat auch selbst beherzigen sollte. Seitdem Jo mich verlassen hat und ich arbeitslos bin, also seit etwa einem Monat, fühle ich mich hundeelend. Mir fehlt Jo so sehr, und ich muss mich schwer zusammenreißen, um sie nicht anzurufen, denn ich weiß, dass nichts Gutes dabei herauskommen kann. Ich habe kein Geld und bin emotional so am Boden, dass ich nicht einmal an Arbeit denken kann.

An meinem Beziehungsstatus kann ich nichts ändern, aber einen neuen Job zu finden, könnte meinem angeschlagenen Selbstbewusstsein wenigstens ein bisschen aufhelfen. Also lasse ich mich, kaum zu Hause angekommen, bei mehreren Arbeitsvermittlungsagenturen registrieren und beginne nach passenden Stellen zu suchen. Da ich nicht allzu lange an meinem letzten Arbeitsplatz war, ist mein Lebenslauf aktuell, und ich weiß, man wird mir ein gutes Zeugnis ausstellen. Mir wurde ja nicht gekündigt, weil man mit meiner Arbeit nicht zufrieden war. Es war Pech, dass die Firma in finanzielle Schwierigkeiten geriet, kurz nachdem ich dort angefangen hatte. Pech, dass Personaleinsparungen der Regel folgen: zuletzt eingestellt, zuerst entlassen.

Ich starre aus dem Fenster in das Grau des Januartages. Der Januar ist ein trostloser Monat, vor allem wenn man unglücklich ist. All die Hoffnung und freudige Erwartung der Weihnachtszeit ist vorüber, und man hat nichts, worauf man sich freuen kann. Vielleicht sollte ich irgendwohin verreisen, etwas Sonne tanken, um mich ein bisschen aufzuheitern? Und vielleicht sollte ich Mum dazu bringen, mich zu begleiten. Ich kann mich nicht erinnern, wann sie und Dad zum letzten Mal richtig verreist sind. Das würde uns beiden eine Chance geben, den Kopf wieder freizubekommen. Ich habe ein bisschen Geld gespart, und außerdem, wofür gibt es schließlich Kreditkarten?

Gerade habe ich eine Webseite aufgerufen, die Winterurlaube anbietet, da meldet sich mein Telefon. Jo. Mist, verdammter, dafür bin ich noch nicht bereit. Seit Neujahr hat sie mir mehrere SMS geschickt, aber ich habe sie ignoriert. Ich bin noch nicht stark genug, um mich mit ihr auseinanderzusetzen.

Wie geht es dir? Ich mache mir Sorgen um dich. xxx

Tatsächlich? Tatsächlich? Warum interessiert sie das überhaupt? Schließlich war sie diejenige, die mir das Herz gebrochen hat. Ich bin so sauer auf sie wegen dieser Behauptung, dass ich meinen Beschluss, jeden Kontakt zu vermeiden, beiseite fege, und bevor ich es mir anders überlegen kann, tippe ich zornig eine Antwort.

Beinahe hättest du mich getäuscht.

Nun sei nicht so, Lou Lou. Können wir nicht Freunde sein?

Natürlich können wir das nicht. Ich bin viel zu tief verletzt. Was denkt sie sich nur dabei? Am liebsten würde ich etwas sehr Unfreundliches antworten, aber ich weiß aus bitterer Erfahrung (oh ja, ich bin reich an bitteren Erfahrungen), dass das auch nicht helfen wird. Also begnüge ich mich mit:

Tut mir leid, dazu bin ich noch nicht bereit. Eines Tages vielleicht.

Wieder meldet sich das Telefon.

Das finde ich so schade. Hatten wir nicht eine schöne Zeit miteinander?

Ja, die hatten wir, denke ich. Außerdem auch weniger schöne Zeiten. Ich hatte gehofft, dass sie die Eine wäre, dass ich endlich jemanden gefunden hätte, mit dem ich mein Leben teilen konnte, aber für sie war ich offensichtlich nur ein kleines Zwischengeplänkel. All das kann ich ihr aber nicht mitteilen, ohne schrecklich bedürftig und jämmerlich zu klingen, und diese Befriedigung gönne ich ihr nicht.

Tut mir leid, Jo, so ist es nun mal. Keine SMS mehr, bitte.

Es sei denn, du willst mich zurückhaben – das würde ich am liebsten hinzufügen. Aber ich weiß, dass das nicht geschehen wird.

Ich schalte mein Telefon aus und wende mich wieder der Internetseite zu. Eine Woche Teneriffa – das sieht unglaublich verlockend aus. Das Leben ist zu kurz, um sich elend zu fühlen. Ich klicke auf den Link, bevor ich es mir anders überlegen kann, und buche kurzerhand unsere Flüge. Mum wird das vermutlich für eine ungehörige Einmischung halten, aber ich finde, wir haben uns beide redlich eine Auszeit verdient.

Beth

Die Besprechung ist eine einzige Tortur. Es ist so bizarr, dass Jack hier am Tisch sitzt, und aus irgendeinem Grund fällt es mir schwer, seinem Blick zu begegnen. Von Anfang an ist klar, dass meine Zeichnungen Vanessa überhaupt nicht gefallen, und sie lässt das mehr als deutlich durchblicken. Sie versucht nicht einmal, subtil vorzugehen oder den Schock ein wenig abzumildern. Meine anfängliche Wärme wandelt sich in Feindseligkeit, und als wir etwa die Hälfte der Besprechung hinter uns haben, koche ich innerlich vor Wut.

„Ich habe mir das Engelchen einfach nicht so vorgestellt“, sagt sie. „Ich finde, es müsste niedlicher sein.“

Da ist natürlich was dran. Mein Engelchen wirkt durchtriebener, als ich wollte, und leicht geistig minderbemittelt. Niedlich ist es definitiv nicht.

„Ich gebe zu, ich habe es noch nicht ganz richtig getroffen“, sage ich. „Aber Disney-Engel möchte ich auch nicht zeichnen.“

„Ich glaube, genau das wäre aber das Richtige“, widerspricht Vanessa. „Niedlich und süß – das verkauft sich zu Weihnachten gut, vor allem in den Vereinigten Staaten.“

Außerdem missfällt ihr der Entwurf, auf dem das Engelchen mit einer der Statuen auf dem Petersdom spricht.

„Hmm, mir ist nicht ganz klar, warum es nach Rom reisen sollte? Ich kann mich nicht dafür begeistern.“

Einer von mehreren ihrer Lieblingssprüche, die ich zu hassen beginne.

„Aber warum sollte sie dann nach Paris oder London reisen?“, werfe ich ein.

„Das verkauft sich bei den Amerikanern besser“, erwidert sie wie aus der Pistole geschossen. Aha, dann ist es also in Ordnung.

Bis zu diesem Punkt hat Jack geschwiegen, aber jetzt mischt er sich ein.

„Vielleicht ist die Story noch nicht ganz stimmig“, sagt er. „Vielleicht hat Beth genau damit Probleme. Ich weiß, ich bin gerade erst dazugestoßen, aber das Konzept bereitet mir ein wenig Kopfzerbrechen. Beth, gibt es einen Grund, warum der Engel die Metropolen bereist? Vielleicht habe ich etwas übersehen, aber für mich ergibt das keinen Sinn. Entschuldige, ich hoffe, du hältst mich nicht für überkritisch.“

Er lächelt mich an, mit diesem schiefen Lächeln, an das ich mich so lebhaft erinnern kann, und mein Herz stockt ganz kurz. Wieder mache ich einen Zeitsprung, zurück zu jenem ersten Abend, an dem er mich so angelächelt hat. Ich reiße mich zusammen und werfe ihm einen dankbaren Blick zu.

„Das war ursprünglich auch nicht so geplant“, erläutere ich. „Meine Story war im Grunde einfacher, aber ich hatte Probleme, sie stimmig auszuarbeiten. Deshalb hat Vanessa diesen Weg vorgeschlagen.“

Ich sage nicht, was ich wirklich denke, nämlich dass Vanessas Idee alles nur noch schlimmer gemacht hat. „Lohnt es sich, noch einmal einen Blick auf den Originalentwurf zu werfen?“, fragt Jack, und ich bin froh darüber.

Vanessa wirkt extrem verärgert. „Wir stehen schon unter enormen Zeitdruck, Jack. Ich denke, wir sollten bei der jetzigen Idee bleiben und daran arbeiten, bis alles passt.“

„Na schön“, meint Jack und zwinkert mir verschwörerisch zu. Ich fühle mich ein bisschen benommen, laufe rot an und wende den Blick ab. Zwar bin ich dankbar für seine Einmischung, aber zugleich stürzt er mich in tiefe Verwirrung. Noch habe ich nicht einmal den Schock des Wiedersehens verarbeitet. In unseren drei Jahren auf dem Kunst-College standen wir einander sehr nah. Allerdings hat er meine Gefühle nie ganz so erwidert, wie ich es mir gewünscht hätte. Für Jack war ich eine nette kleine Affäre. Ich hingegen war blind vor Liebe und glaubte in meiner Torheit, dass mehr daraus werden würde. Auf seine Weise war er mir gegenüber völlig ehrlich. Er sagte mir klipp und klar, er sei ein freier Geist, der sich nicht binden wolle. Aber ich war so vernarrt in ihn, dass ich viel zu lange an unsere Beziehung glaubte – bis zu dem Tag, an dem ich ihn mit meiner besten Freundin Kelly im Bett erwischte. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und trotz Jacks Beteuerungen, ich würde immer die Eine für ihn sein, zu der er stets zurückkehrte, kam ich endlich zur Vernunft. Danach lebten wir uns auseinander, und im Jahr darauf lernte ich Daniel kennen. Er war völlig anders als Jack: nett, teilnahmsvoll, witzig – es war leicht, sich in ihn zu verlieben. Das tat ich auch, Hals über Kopf, bevor ich es überhaupt richtig bemerkte, und dann wurde ich schneller schwanger als erwartet. Plötzlich war ich Mutter und Hausfrau, die sich um zwei kleine Kinder zu kümmern hatte, und Jack Stevens geriet völlig in Vergessenheit. Na ja, beinahe. Ab und zu verlor ich mich doch in abwegigen Tagträumen, was wohl geschehen würde, wenn ich Jack jemals wieder begegnete. Dennoch hatte ich nie ernstlich damit gerechnet.

Ich habe Daniel nicht einmal groß von ihm erzählt. Ich kam mir unglaublich dumm und naiv vor, weil ich auf Jack hereingefallen war, und zu Beginn unserer Beziehung wollte ich nicht, dass Daniel erfuhr, wie einfältig ich gewesen war. Im Laufe der Zeit wurde das Ganze dann einfach irrelevant. Jack Stevens war aus meinem Leben verschwunden, und ich hatte seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht. Ihm jetzt plötzlich persönlich wiederzubegegnen, ist ein gewaltiger Schock. Diese leuchtend blauen Augen hatte ich vergessen …

Die Besprechung endet ohne Ergebnis. Ich verspreche, wieder ans Werk zu gehen und sowohl den Text als auch die Zeichnungen zu überarbeiten. Während wir unsere Sachen zusammenpacken, schlägt Jack vor, gemeinsam einen Kaffee zu trinken, und bevor ich lange überlegen kann, sage ich Ja. Ich bin neugierig zu erfahren, was er so getrieben hat, und er erinnert mich an eine Zeit meines Lebens, die ich fast vergessen habe. An die Zeit, in der ich jung und ungebunden war und die Welt mit meiner Kunst verändern wollte.

„Sieh an, sieh an, Lizzie Holroyd“, sagt er, als wir uns in ein fast voll besetztes Café in der Nähe des Verlagshauses quetschen. „Du glaubst ja nicht, wie ich mich freue, dich wiederzusehen.“

Er wirft mir sein umwerfendes Lächeln zu, und mich schwindelt es ein wenig. Das ist doch verrückt. Was geht nur in meinem Kopf vor?

„Ich freue mich auch, dich zu sehen“, erwidere ich. Wenn man von dem leichten Schwindelgefühl absieht, wohlgemerkt. „Man nennt mich inzwischen übrigens Beth.“ Lizzie – den Namen habe ich zusammen mit Jack abgelegt, und Daniel kennt mich nur als Beth.

Jack zieht die Brauen hoch. „Also, Beth, wie ist das Leben als erfolgreiche Bilderbuchautorin?“, fragt er. „Ich habe immer gewusst, dass du es schaffen würdest.“

„Schmeichler“, sage ich, bin insgeheim aber erfreut. Abgesehen von meinen Empfindungen für ihn war Jack einer der begabtesten Studenten unseres Jahrgangs. Schon damals bedeutete mir seine Meinung viel, und ich bin überrascht, wie wichtig sie mir auch heute noch ist. „Ehrlich gesagt, kann ich ihm zurzeit nicht viel Freude abgewinnen. Dieses verdammte Buch bringt mich um“, sagte ich. „Ich hatte noch nie so viele Schwierigkeiten, eine Geschichte zu Papier zu bringen.“

„Du schaffst das“, sagt er. „Du bist abartig talentiert, weißt du? Das warst du schon immer.“

„Wirklich?“ Ich spüre, wie ich rot anlaufe.

„Großer Gott, ja. Dir stand der Erfolg quasi auf der Stirn geschrieben. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich freue, dich wiederzusehen. Und zu erfahren, wie toll du dich gemacht hast.“

Er wirkt so aufrichtig, so herzlich, dass es mir schwerfällt, mich an den Jack zu erinnern, der mir das Herz gebrochen hat. Ich kann nur an den Jack denken, in den ich mich damals verliebt habe. Mir ist, als hätte ich ein anderes Leben betreten, und für etwa eine Minute scheinen die inzwischen vergangenen Jahre wie ausgelöscht. Damals hatte ich keine Verantwortung zu tragen. Stattdessen hatte ich ehrgeizige Pläne, Ideen und Spaß. Wer war das Mädchen, das ich einmal war? Dieses lebenslustige, verliebte, hoffnungsfreudige Mädchen? Wo ist sie geblieben? Sie fehlt mir.

„Danke“, sage ich. Mein Herz pocht aufgeregt. Das ist lächerlich.

Jack hat sich gut gehalten. Er wirkt fit und gesund und sieht mit beinahe vierzig immer noch umwerfend gut aus.

„Und wie steht es mit dir?“, frage ich. „Hast du Kinder?“

„Eins“, antwortet er, „eine Tochter. Fünf Jahre alt. “

Er zeigt mir Fotos. Sie ist ein süßes kleines Ding.

„Ich lebe allerdings nicht mit ihrer Mutter zusammen. Meine Schuld.“ Er wirkt kleinlaut.

„Verstehe“, sage ich. Der Kater lässt das Mausen nicht. „Tut mir leid, das zu hören.“

„Meine Erfolgsbilanz bei Frauen ist ziemlich mau“, gibt er zu. „Vor allem wegen meiner blöden Angewohnheit, die Guten nicht zu halten …“

Er verstummt und schaut mich an, auf eine irgendwie bedeutsame Weise. Mist, er meint doch nicht etwa …? Mein Puls beschleunigt sich rasant bei dem Gedanken.

„Soll heißen, ich bin eher bindungsscheu.“

Er redet nicht von mir, rufe ich mich zur Ordnung. Er ist einfach nur freundlich.

„Ganz anders als du, wie ich sehe“, fährt er mit einem prüfenden Blick auf meine Ringe fort.

„Ja, seit achtzehn Jahren glücklich verheiratet mit Daniel“, sage ich und blicke ein wenig schuldbewusst auf meinen Ringfinger. „Zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen.“

Und dann ertappe ich mich dabei, wie ich ihm voller Begeisterung von ihnen erzähle. Gerade so, als könnte ich dadurch einen Schutzwall zwischen ihm und meinem pochenden Herzen errichten.

Denn es ist schön, hier mit Jack zu sitzen. Viel zu schön. Es fühlt sich gefährlich an. Ich sollte gehen.

„Ich freue mich wirklich sehr, dass du glücklich bist“, meint Jack. Es klingt nach aufrichtiger Freude.

„Danke, das bin ich.“

Das bin ich wirklich. Ich weiß, dass ich das bin, aber gerade jetzt, hier mit Jack an einem Tisch, bin ich auch innerlich zerrissen, und ein Teil von mir fragt sich, wie mein Leben auch hätte verlaufen können. Ob das Mädchen, das ich damals war, vielleicht nicht unter der Fülle an Pflichten verloren gegangen wäre, wenn ich und Jack zusammengeblieben wären. Ich denke daran, wie wir in der Collegebar gesessen und uns bei Bier und Chips über das Leben unterhalten haben.

„Damals war ich ein Idiot“, sagt er, und mir wird klar, dass das der Versuch einer Entschuldigung sein soll.

„Das ist lange her. Längst vergessen.“

„Jugend schützt vor Torheit nicht“, meint er lächelnd. „Dein Daniel ist ein Glückspilz.“

Der Blick, den er mir dabei zuwirft, spricht Bände. Ich meine Reue zu sehen, zusammen mit etwas anderem. Begehren? Einen Moment lang haut es mich regelrecht um. Ich muss mich wirklich zusammenreißen.

„Ich bin der Glückspilz“, entgegne ich fest. „Ich habe ein tolles Leben, wundervolle Kinder und einen fantastischen Mann. Ich bin wunschlos glücklich.“

Ganz bewusst gehe ich hinter meiner Mauer des vollkommenen Familienlebens in Deckung und versuche den gefährlichen Empfindungen zu entkommen, die Jack in mir weckt.

Ich glaube, er spürt das, denn schlagartig wendet er sich dem Geschäftlichen zu. „Wenn du gern noch mal über deine Geschichte und die Bilder reden würdest, melde dich bitte bei mir.“

„Danke für das nette Angebot“, sage ich und umarme ihn. Er erwidert die Umarmung herzlich, und ich löse mich mit leisem Bedauern von ihm. „Es war so schön, dich wiederzusehen.“

„Ganz meinerseits“, sagt er.

Ich sehe ihm nach, wie er zum Verlag zurückeilt, und drehe dabei seine Visitenkarte zwischen meinen Fingern. Nein, ich werde nicht auf sein Angebot zurückkommen, beschließe ich. Es war nett, sich mal wieder zu unterhalten, aber trotz Jacks umwerfend blauer Augen und seiner charmanten Art sollte die Vergangenheit bleiben, wohin sie gehört. In der Vergangenheit.

Daniel

Daniel kam erst spät von der Arbeit nach Hause und traf Beth in der Küche an, wo sie das Essen zubereitete, während die Kinder sich wie üblich in ihre Zimmer zurückgezogen hatten. So wenig Notiz wie die Kinder von ihnen nahmen, hätten sie ebenso gut unsichtbar sein können. Trotzdem war es immer schön, nach Hause zu kommen, zu Beth, zu ihrem gemeinsamen Leben. Er konnte sich glücklich schätzen, eine solche Familie zu haben, ein großes Einfamilienhaus und einen Garten. Nie hätte er sich in seiner Jugend, in der winzigen Wohnung, die er mit seiner Mum bewohnte, vorstellen können, jemals so zu leben.

„Hattest du einen guten Tag?“, fragte Beth und umarmte ihn zur Begrüßung. Er zog sie an sich, atmete ihren Duft ein. Für ihn sah sie immer noch ganz genauso toll aus wie an jenem Tag ihrer ersten Begegnung am College, als sie den Vorlesungsraum betrat und ihn anlächelte. Er hatte nur einen Blick auf das hübsche, extravagant gestylte Mädchen mit den langen Locken geworfen und war sofort hoffnungslos in sie verknallt gewesen. All die Jahre später war das immer noch der Fall.

„Viel zu tun“, antwortete er. „Wie war deine Besprechung?“

„Grauenvoll. Dieses Mädchen. Puh … Ich bin unsicherer denn je und befürchte, dass dieses verdammte Buch noch mein Tod sein wird.“

„So schlimm ist es bestimmt nicht“, sagte Daniel. Beth zerquälte sich immer so, wenn sie an einem Buch arbeitete, aber schließlich schaffte sie es jedes Mal. Wie sie das tat, versetzte ihn immer wieder in Erstaunen. Er war unglaublich stolz auf sie.

„Doch, das ist es. Und du rätst nie, wer dort neuer Art Director ist.“

„Wer denn?“

„Erinnerst du dich, dass ich dir mal von jemandem namens Jack Stevens erzählt habe?“

„Dem Typen vom College?“ Daniel hatte nur eine vage Erinnerung daran, dass Beth vor Jahren mal einen Freund namens Jack aus ihrer Zeit an der Kunsthochschule erwähnt hatte. Offenbar hatte er sie immer wieder ermutigt, als sie noch studierten, und ihr damit das Selbstvertrauen vermittelt, das sie brauchte, um zu tun, was sie heute tat. Aus irgendeinem Grund hatten ihre Wege sich nach dem College getrennt. Warum das so war, hatte sie nie näher ausgeführt.

„Genau der“, sagte Beth. „Die Welt ist klein, nicht wahr?“

„Oh ja. Wie ist er heute?“

„Genauso wie früher.“ Beth wirkte ein wenig zerstreut. „Immerhin weiß ich, dass er auf meiner Seite steht.“

„Das ist doch schon mal was“, meinte Daniel und seufzte. „Ich würde liebend gern noch ein bisschen mit dir plaudern, aber auf mich wartet ein Berg Papierkram. Wie lange dauert es noch bis zum Abendessen?“

„Du hast eine halbe Stunde.“

Daniel ging nach oben und steckte kurz den Kopf in Megans Zimmer.

Sie saß auf ihrem Bett, in eine Decke gewickelt, und starrte auf einen Bildschirm.

„Hattest du einen guten Tag?“, fragte er.

„Ganz okay.“ Sie schaute kaum auf.

„Ich hoffe, du sitzt an deinen Hausaufgaben.“

Megan errötete. „Nicht ganz. Ich schaue mir nur etwas auf YouTube an.“

„Nun, das solltest du dir anschauen, wenn du deine Hausaufgaben erledigt hast“, meinte Daniel. „Du weißt doch, du hast …“

„Ich habe nächstes Jahr meine Zwischenprüfungen und muss mich auf den Hosenboden setzen“, fiel Megan ihm ins Wort und verdrehte die Augen. „Ich weiß, Dad, und ich arbeite ja.“

„Gut“, sagte Daniel lächelnd. Megan hatte immer auf alles eine Antwort, aber wenigstens redete sie noch mit ihm.

Vor Sams Tür blieb er kurz stehen und dachte an Jason Leigh. Vielleicht brauchte auch Sam so einen Tritt in den Hintern.

Sam hockte genau wie seine Schwester vor einem Computer. Er saß an seinem Schreibtisch, mit dem Rücken zu Daniel.

„Na, wie läuft’s?“, fragte Daniel, um einen beiläufigen Tonfall bemüht. Er wusste nie, wie sein Sohn reagieren würde.

„Ganz gut“, sagte Sam.

„Was ist mit deinem Nachhilfeunterricht? Wie war er heute?“ Sam hatte in den Vorprüfungen sensationell schlecht abgeschnitten und war daher zu Nachhilfe in Wirtschaftslehre und Physik verdonnert worden.

„Bin nicht hingegangen.“

„Sam!“ Daniel reagierte entnervt. „Wir haben darüber gesprochen. Wenn du nicht bald Gas gibst, ist es zu spät.“

Sam zuckte mit den Achseln.

„Es ist mein Leben, Dad. Und ich werde demnächst achtzehn, also halt dich einfach raus.“

Daniel spürte, wie sich Anspannung in ihm aufbaute. Sam verhielt sich häufig respektlos, aber Daniel wollte ihn nicht zu sehr zusammenstauchen. Er hatte Angst, er könnte die gleichen Fehler machen wie sein eigener Vater Reggie. In seiner Kindheit hatte er viele heftige Standpauken über sich ergehen lassen müssen, wenn sein Vater betrunken nach Hause kam, und er hatte sich geschworen, er werde als Vater anders sein. Er erinnerte sich noch gut daran, dass er bei einem Diktat sehr schlecht abgeschnitten hatte und dafür von Reggie als Dummkopf beschimpft worden war. Daniel hatte sich allergrößte Mühe gegeben, seinen Kindern gegenüber nie ablehnend zu sein, und es war unglaublich frustrierend zu erleben, dass sich das jetzt anscheinend rächte.

„Du magst zwar schon fast achtzehn sein, aber noch lebst du unter meinem Dach“, sagte er, bemüht, Ruhe zu bewahren und nicht laut zu werden.

„Und?“ Sam drehte sich zu ihm um und schaute ihn an.

„Du könntest mir und deiner Mum wenigstens ein bisschen Respekt erweisen.“ Daniel spürte, wie seine Frustration sich in Zorn verwandelte angesichts der desinteressierten Miene seines Sohnes.

Sam sagte nichts und wandte sich wieder seinem Bildschirm zu. Daniel atmete tief durch. Er erinnerte sich plötzlich daran, wie er sich mit sechs Jahren unter seinem Bett versteckt hatte, weil Reggie an die Decke gegangen war, als Daniel eine Tasse zerbrochen hatte. So wütend er auch auf Sam war, er würde nicht zulassen, dass der Zorn die Oberhand über ihn gewann. Auf gar keinen Fall würde er das.

Also ging er stattdessen in sein Arbeitszimmer und fuhr seinen Rechner hoch, während er innerlich kochte. Was war nur schiefgegangen in seiner Beziehung zu Sam? Er hatte immer versucht, seinen Kindern gegenüber offen und ehrlich zu sein, aber im Laufe des letzten Jahres hatte Sam sich ihm gegenüber völlig verschlossen.

Seufzend öffnete er seine E-Mails und entdeckte im Posteingang einen Namen, der ihn erstarren ließ.

Reggie King. Dad?

Es lag schon ein paar Jahre zurück, dass Reggie sich das letzte Mal bei ihm gemeldet hatte, und das war Daniel durchaus recht. Jetzt verkrampfte sich sein Magen. Das Leben war sehr viel einfacher, wenn er nicht an Reggie dachte. Er las die E-Mail mit wachsendem Unbehagen.

Hi, Sohn, lange nicht gesehen. Im Februar komme ich zurück nach England. Vielleicht treffen wir uns auf einen Drink? Reggie.

Daniel starrte auf die Nachricht. Ihm schwirrte der Kopf. Vielleicht treffen wir uns nach fünf Jahren, in denen sie nur sehr sporadisch miteinander geredet hatten? Einfach so? Was zum Teufel wollte sein Vater von ihm?

4. Kapitel

Lou

Ich fahre bei Daniel und Beth vor, und wieder kann ich den Anflug von Neid nicht ganz unterdrücken, der mich jedes Mal befällt, wenn ich in die Einfahrt zu ihrem geräumigen, im georgianischen Stil gebauten Haus einbiege. Beth hat ein wunderschönes Haus, einen liebevollen Ehemann und großartige Kinder. Ich weiß, dass sie hart dafür gearbeitet und das alles verdient hat. Dennoch fällt es mir manchmal schwer, nicht daran zu denken, dass sie alles hat, was ich mir sehnlichst wünsche. Abgesehen vom Ehemann vielleicht. Aber eine feste Partnerin …

Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass Beth es immer leicht gehabt hat im Leben – ganz im Gegensatz zu mir. Ich habe die Schule hingeschmissen und es nicht auf die Uni geschafft. In unserer Kindheit war stets sie die Musterschülerin, die Hübsche, diejenige, die mit Jungs ging. Ich blieb immer in ihrem Schatten. Sie gab nie damit an, dennoch fühle ich mich neben meiner erfolgreichen großen Schwester unweigerlich als Versagerin; ich hasse das. Und ich hasse mich selbst für diese Gefühle.

„Lou, komm rein.“ Beth umarmt mich, und sofort fühle ich mich schäbig. Sie ist stets nett und freundlich; es ist nicht ihre Schuld, dass mein Leben ein einziger Katastrophenschauplatz ist.

Noch in Schlafanzug und Morgenmantel, die Haare nachlässig hochgesteckt, sodass ein paar widerspenstige Locken ihr über die Schultern fallen, sieht sie dennoch fabelhaft aus. Beth gehört zu diesen nervigen Typen, die selbst dann noch gut aussähen, wenn sie einen Mehlsack trügen. Sie wirkt ein bisschen zerstreut und hat Farbe an den Händen. Mir sinkt der Mut. Wenn Beth in einer kreativen Phase ist, stehen die Aussichten auf eine vernünftige Unterhaltung sehr schlecht.

„Entschuldige, störe ich gerade?“, frage ich. „Vielleicht sollte ich lieber ein andermal …“

„Nein, nein, ich freue mich, dich zu sehen“, fällt sie mir ins Wort. „Um ehrlich zu sein, läuft es gerade gar nicht gut. Ich kann eine Pause gebrauchen.“

Dabei reibt sie sich geistesabwesend übers Gesicht und hinterlässt auch dort Farbspuren.

„Wo liegt das Problem?“, frage ich und folge ihr in die Küche. Von dort habe ich freien Blick in den Wintergarten, dessen Boden mit Farbklecksen, Papier und zusammengeknüllten Zeichnungen übersät ist. „Nutzt du dein Atelier gar nicht?“

Daniel hat ihr im Garten ein Atelier für ihre Arbeit gebaut. Natürlich hat er das für sie getan.

„Zu kalt. Da drin frieren mir fast die Finger ab. Außerdem hilft manchmal ein Tapetenwechsel.“

„Aber im Moment nicht?“

„Im Moment hilft gar nichts.“ Beth wirkt verzagt. „Welchem Umstand verdanke ich das Vergnügen deines Besuchs? Mum und Dad, nehme ich an? Tut mir leid, ich hätte längst mal vorbeischauen sollen.“

Es hat mich tatsächlich erstaunt, dass Beth nicht öfter vorbeigekommen ist. Sie hat sich oft bei mir beklagt, dass Mum von ihr erwarte, rund um die Uhr für sie verfügbar zu sein. Jetzt, wo wir eine echte Krise haben und ich zufällig wieder zu Hause bin, scheint sie alles mir überlassen zu wollen.

Beth und ich haben uns seit Weihnachten immer wieder über die Situation mit unseren Eltern unterhalten. Daniel hat sogar Dad auf einen Drink in eine Kneipe eingeladen. Nichts hat geholfen. Dad sagt nichts anderes, als dass er sich verliebt hat. Wie ein liebeskranker Teenager. Ich habe versucht, Dads Standpunkt nachzuvollziehen, obwohl ich immer noch wütend auf ihn bin, aber ich begreife ihn einfach nicht. Ich habe ihn gefragt, was ihn an Lilian so begeistert. Er sagt, er hat sie im Kunstkurs kennengelernt, zu dem Beth ihn ermutigt hat – ich schätze, sie hat deswegen Schuldgefühle –, und sie haben Freundschaft geschlossen.

„Lilian ist so ganz anders als deine Mum“, meint er. „Irgendwie künstlerisch. Ein freier Geist. Mir war gar nicht klar, wie sehr ich verdummt war, bis sie wie ein frischer Wind durch mein Leben geweht ist. Ich weiß, wie schwer es dir fallen muss, das zu akzeptieren.“

Es ist nicht schwer. Es geht nicht. Ich akzeptiere es nicht und werde es auch nicht akzeptieren. Schon allein die Vorstellung, dass mein Dad eine Affäre hat, ist völlig grotesk. Ganz ehrlich, manchmal können Männer solche Jammerlappen sein. Ein Grund von vielen, warum mir Frauen lieber sind. Obwohl … meine Erfolgsbilanz ist auch nicht gerade umwerfend.

„Was gibt es Neues?“, fragt Beth, als wir uns bei einer Tasse Kaffee zusammensetzen.

„Mum hat Dad endlich aufgefordert auszuziehen.“

„Das ist nicht dein Ernst?“ Beth wirkt ehrlich schockiert. „Ich glaube immer noch, dass sie sich irgendwie wieder zusammenraufen. In ihrem Alter können sie sich doch nicht trennen. Das ist absurd.“

„Ich weiß. Aber so können sie auch nicht weitermachen. Du hast doch gesehen, wie scheußlich sie sich gegenseitig behandeln. Mit ihnen unter einem Dach zu leben, ist die Hölle.“

„Gibt es irgendeine Chance, dass Dad seine Meinung noch ändert?“ Beth greift nach jedem Strohhalm, und ich verstehe nur zu gut, warum. Aber wenn sie die letzten Wochen mit den beiden unter einem Dach gewohnt hätte, wäre ihr klar, warum Dad ausziehen muss. Wie es jetzt läuft, ist es unfair Mum gegenüber.

„Das halte ich ehrlich gesagt nicht für möglich. Ich glaube, sogar Ged hat es versucht.“

Seit das Ganze ins Rollen gekommen ist, glänzt Ged vor allem durch Abwesenheit. Einmal hat er Dad aber tatsächlich angerufen, ich schätze, Rachel hatte ihm einen Tritt in den Hintern versetzt. Weiß der Himmel, was sie von der Familie hält, in die sie da hineingeraten ist.

„Wie geht es Mum?“ Beth schaut schuldbewusst drein. „Ich nehme mir immer wieder vor, zu kommen und selbst nach ihr zu sehen, aber ich habe so viel zu tun. Du weißt ja, wie das ist.“

Ja, das weiß ich. Es ärgert mich zwar, dass Beth nicht öfter bei Mum vorbeischaut, aber irgendwie kann ich ihr das nicht wirklich verübeln. Ich bin auf Mum und Dad gerade angewiesen, aber wenn ich die Chance hätte, täte ich wahrscheinlich dasselbe wie Ged und würde Reißaus nehmen. Vielleicht ist es an der Zeit, mich darum zu kümmern.

Also beschränke ich mich darauf zu sagen: „Mum würde sich sicherlich freuen, dich zu sehen“, und erzähle ihr, dass ich beschlossen habe, mit Mum zu verreisen.

„Das wird uns beiden guttun.“

„Das ist eine großartige Idee“, sagt Beth, „aber kannst du dir das leisten? Wir können uns an den Kosten beteiligen, wenn nötig.“

„Ich wollte eigentlich alles selbst bezahlen, aber angesichts der Preise habe ich meine Meinung geändert und Dad gesagt, dass er zumindest für Mum die Kosten übernehmen muss. Ich schätze, das ist er ihr schuldig.“

„Mit Sicherheit ist er das“, stimmt Beth zu. „Ich will das alles immer noch nicht wahrhaben. Ich kann einfach glauben, dass keiner von uns das hat kommen sehen.“

„Ich auch nicht.“

„Wahrscheinlich weiß man nie, was in anderer Leute Ehen so läuft“, meint Beth.

„Vermutlich.“

„Dad und diese Lilian …“

Einen Moment herrscht Schweigen, und dann kommt ein seltsamer Laut aus ihrer Kehle. Ich schaue sie an. Sie fängt an zu lachen, hält die Hand vor den Mund.

„Ich weiß, es ist unrecht von mir, aber mal ehrlich – in seinem Alter! Was denkt er sich nur dabei?“

„Ich glaube nicht, dass es viel mit Denken zu tun hat“, erwidere ich, und Beth kreischt empört auf.

„Daran möchte ich gar nicht denken“, meint sie hilflos kichernd. „Wir sollten nicht darüber lachen, aber mal ehrlich: Die Vorstellung von ihm mit einer anderen Frau als Mum – das ist doch verrückt.“

Damit ist es auch um meine Fassung geschehen, und wir schütten uns aus vor Lachen, bis uns die Tränen über die Wangen laufen. Nach all der aufgestauten Wut ist das eine wunderbare Erleichterung.

„Ich dachte ehrlich, das alles würde irgendwie von allein vorübergehen“, meint Beth, als sie sich wieder gefangen hat. „Aber offensichtlich habe ich mich geirrt. Tut mir leid, ich habe so viel Stress mit diesem Buch, dass ich ihnen nicht so viel Zeit gewidmet habe, wie ich hätte sollen.“

„Mach dir darüber keinen Kopf. Du hast eine Menge um die Ohren, und ich muss momentan wenigstens nicht arbeiten.“

„Danke, Lou. Ich weiß das zu schätzen.“

„Schon gut“, sage ich und setze ein Lächeln auf. Ernüchterung macht sich in mir breit. Gute alte Lou, die ewige Junggesellin, deren Leben so unausgefüllt ist, dass sie die Last schultern kann. „Ich helfe gern.“

Daniel

Schreckliche Kopfschmerzen plagten Daniel nach der stressigen Lehrerkonferenz. Sie hatten über die Budgetkürzungen für dieses Schuljahr sprechen müssen, und es gab von mehreren Seiten Widerspruch, als Daniel und der Schatzmeister darauf hinwiesen, dass sie die Gürtel enger schnallen müssten. Vor allem Jim Ferguson hatte sich lautstark zu Daniels Vorschlag geäußert, die Einführung eines neuen Computersystems, für das er sich besonders eingesetzt hatte, auf Eis zu legen. Leider kostete das alte System sie sehr viel Zeit und Energie, aber unterm Strich hatte die Schule einfach nicht genug Geld, um die Programme einzuführen, die Daniel zur Verbesserung der Effektivität hatte nutzen wollen. Sie würden damit noch ein Jahr warten müssen, auch wenn er nicht glaubte, dass die Prüfer der Schulaufsichtsbehörde das berücksichtigen würden, wenn sie irgendwann aufkreuzten. Er konnte nur hoffen, dass er sich damit keinen Ärger einhandelte.

Daniel eilte in sein Büro, machte sich einen Kaffee und setzte sich wieder an den Papierkram. Es gab immer so unglaublich viel zu tun. Selten kam er vor halb sieben Uhr aus der Schule weg und war entsprechend dankbar dafür, dass er jetzt nur noch solch einen kurzen Heimweg hatte. Das war wesentlich angenehmer als seinerzeit, als er noch in London gearbeitet hatte und selten vor zwanzig Uhr zu Hause gewesen war. So bekam er wenigstens noch ein bisschen was von seiner Familie zu sehen, auch wenn er dann jeden Abend noch stundenlang in seinem Arbeitszimmer zu tun hatte.

Nicht, dass Beth das zurzeit groß aufgefallen wäre. Sie war so mit ihrem neuen Buch und ihren Sorgen um ihre Eltern beschäftigt, dass sie manchmal kaum wahrzunehmen schien, wenn er nach Hause kam. Er war an ihre Geistesabwesenheit gewöhnt, wenn die Muse sie geküsst hatte, aber diesmal war es heftiger als sonst. An den meisten Tagen fand er sie in ihrem Atelier vor, wo sie mürrisch auf Papierbögen starrte und darüber ganz und gar vergessen hatte, das Abendessen vorzubereiten. Offenbar gefiel ihr nichts von dem, was sie bisher geschaffen hatte. Das machte sie gereizt und bissig. Daniel hatte das Gefühl, auf rohen Eiern zu gehen. Am Abend zuvor hatten sie sich sogar gestritten und waren beide brummig zu Bett gegangen. Das zerrte an den Nerven.

Daniel hatte es noch nicht geschafft, Beth gegenüber zu erwähnen, dass Reggie ihn kontaktiert hatte. Einerseits lag das daran, dass er in Versuchung war, die E-Mail zu ignorieren. Andererseits daran, dass er wusste: Beth würde wollen, dass er sich mit seinem Vater traf. Sie war schon ihr ganzes Eheleben bemüht, ihren Mann und ihren Schwiegervater, dem sie nur einmal vor sehr langer Zeit begegnet war, wieder miteinander zu versöhnen. Bei der Gelegenheit hatte Reggie all seinen Charme spielen lassen. Entsprechend überrascht war Beth von der für Daniel so untypischen Unhöflichkeit seinem Vater gegenüber. Damals hatten sie sich deswegen gestritten, denn Beth verstand einfach nicht, warum Daniel seinen Vater nicht wieder in sein Leben lassen konnte.

Vielleicht hätte er Beth mehr über seine Kindheit erzählen sollen, aber die war einfach zu trostlos verlaufen. Im Laufe der Jahre hatte Beth mehrfach versucht, ihn zum Reden zu bringen, aber Daniel hatte mit der Vergangenheit abgeschlossen und wollte sie ruhen lassen. Was ihm damals geschehen war, belastete ihn viel zu sehr, und er schämte sich irgendwie dafür. Außerdem hasste er die Verbitterung und den Zorn, die er Reggie immer noch entgegenbrachte. Er hatte stets befürchtet, diese Gefühle könnten das Leben, das er sich aufgebaut hatte, vergiften. Deshalb hatte er schon früh beschlossen, sie in sich zu vergraben und nie an sie zu denken. Meistens funktionierte diese Strategie.

Beth war ihrer eigenen Familie so eng verbunden, dass er ihr nicht erklären konnte, was für ein mieser Vater Reggie gewesen war. Obwohl Daniel sich aus frühester Kindheit vage einiger glücklicher Familienausflüge entsann, hatte er Reggie hauptsächlich betrunken und aggressiv in Erinnerung. Mit acht flüchtete er sich regelmäßig mit einem Buch in sein Bett und hielt sich mit dem Kissen die Ohren zu, um seinen Dad nicht herumbrüllen zu hören. Er hatte mit ansehen müssen, wie seine Mum davon regelrecht aufgerieben wurde, bis sie Reggie schließlich nach einem Streit, an den Daniel sich immer noch gut erinnern konnte, vor die Tür setzte. Danach hatte er nur noch seine Mum als seine Familie empfunden, obwohl Reggie ihn noch gelegentlich besucht hatte. Seine Eltern stammten beide aus Jamaica, hatten aber keinen Kontakt mehr zu ihren Familien, die ihre Ehe nie gutgeheißen hatten. „Wie recht sie doch hatten“, seufzte Mum einmal. „Aber wenigstens habe ich dich.“

Daniel vergötterte seine Mum, aber er hatte sich immer eine größere Familie gewünscht. Das war einer der Gründe, warum er sich so bedingungslos an Beths Familie angeschlossen hatte. Sie bot ihm alles, was ihm gefehlt hatte. Das Leben mit Beth schenkte ihm eine Freude, die er nie im Leben erwartet hatte. Sie hatten sich am College kennengelernt. Daniel hatte beschlossen, Lehrer zu werden, was ganz im Sinne seiner Mutter war. Dann lernte er Beth kennen und verliebte sich Hals über Kopf in sie. Es war eine Zeit, in der eigentlich alles hätte perfekt sein können. Aber dann, aus heiterem Himmel, bekam seine Mutter Krebs. Die Krankheit war so aggressiv, dass sie unmittelbar vor der Hochzeit ihres Sohnes starb. Um seine Trauer zu lindern, nahm Daniel sich vor, von nun an nur noch nach vorn zu blicken und niemals zurück. Reggie zerrte ihn zurück an einen dunklen Ort, an den er keinesfalls zurückkehren wollte. So einfach war das – auch wenn Beth das nicht begreifen konnte.

Sie hatte Familie so ganz anders erlebt als er selbst, dass er manchmal das Gefühl hatte, sie könnte nicht verstehen, was seine Kindheit so vergiftet hatte. Es war einfacher, mit der Vergangenheit abzuschließen, nach vorn zu schauen und ihre Familie zu seiner eigenen zu machen. Und jetzt drohten ihre Eltern sich zu trennen, und das entzog ihm den Boden unter den Füßen. Kein Wunder, dass Beth sich so elend fühlte. Er musste versuchen, irgendwie einen Ausgleich dafür zu schaffen.

Noch einmal öffnete er Reggies E-Mail, starrte ein paar Sekunden darauf und beschloss dann, es hinter sich zu bringen. Beth konnte er später, wenn Reggie wieder in den Vereinigten Staaten war, immer noch davon erzählen.

Hi, Reggie, schön, von dir zu hören. Hab wahnsinnig viel zu tun wegen der Schulaufsichtsbehörde und jede Menge Stress. Vielleicht beim nächsten Mal, wenn du hier bist? Daniel.

Eine Sekunde schwebten seine Hände über der Tastatur, unschlüssig, ob er auf Senden drücken sollte. Nein, im Moment hatte er viel zu viel um die Ohren und konnte sich nicht auch noch mit seinem Vater auseinandersetzen. Das Leben war schon stressig genug. Daniel schickte die Mail ab.

Beth

Die E-Mail kam heute Morgen. Ich habe sie schon mindestens ein Dutzend Mal gelesen, um eine möglicherweise darin versteckte Absicht zu finden. Jack Stevens ist schon immer aalglatt gewesen. Umwerfend gut aussehend, charismatisch, aber durch und durch aalglatt, wie ich zu meinem Leidwesen herausfinden musste. Das Wiedersehen mit ihm hat mich jedoch an den Menschen erinnert, der ich war, als wir noch miteinander verbandelt waren: jemand, dem viele Türen offen standen. Die Jahre als Mutter und Ehefrau haben einige davon verschlossen. Die Schwangerschaft mit Sam setzte meiner beruflichen Laufbahn ein vorläufiges Ende, und zu den Bilderbüchern gelangte ich nur per Zufall. Daniel kannte jemanden vom College, der im Verlagswesen arbeitete, und ermöglichte mir meine erste Veröffentlichung. Er hat meine Bemühungen immer sehr unterstützt, obwohl er keine Ahnung hatte, was alles zum kreativen Arbeiten gehört. Geschichten für Kinder zu schreiben, kam mir gerade recht, als meine eigenen Kinder noch klein waren, und die Arbeit ließ sich gut mit meinem Dasein als Mutter vereinbaren. Aber auf dem College hatte ich andere Pläne gehabt. Ich wollte eine avantgardistische Künstlerin werden und den Turner-Preis gewinnen. Oder meine geliebte Bildhauerei weiterentwickeln. Oder einer neuen Generation von Künstlern eine inspirierende Lehrerin sein. Daniel hat diese Seite an mir nie verstanden, also habe ich auch nie mit ihm darüber gesprochen. Jack hingegen …

Jack hatte immer instinktiv erfasst, was ich meinte, wenn ich von meiner Kunst sprach. Er hatte tolle Ideen, wie man das Beste aus meiner Arbeit machen konnte. Oft saßen wir bis in die frühen Morgenstunden zusammen und schmiedeten Pläne für die Zukunft. Damals bildete ich mir ein, wir könnten ein richtiges Paar werden und eine feste Beziehung haben statt der halbherzigen Augenblicke, die so viel zu versprechen schienen und doch immer wieder zu nichts führten.

Jack Stevens. Ich weiß noch, wie er in meinem ersten Jahr an der Kunstschule war. Er glich einem äußerst selbstbewussten, prahlerisch umherstolzierenden Pfau. Damit war er einer von vielen, und dennoch hatte er etwas an sich, das ihn von allen anderen abhob. Jack machte damals eine Bowie-Phase durch, und, oh, er sah gut aus – unglaublich gut. Er hatte ein schmales, kantiges Gesicht, umwerfende Wangenknochen und blaue Augen, die einen magisch anzogen und einen glauben machten, er könne einem bis tief in die Seele schauen. Natürlich wusste er das und versammelte schnell einen Zirkel von Freunden beiderlei Geschlechts um sich. Seine sexuellen Präferenzen waren nie ganz eindeutig. Er spielte damit, noch bevor das in Mode kam, aber aus irgendeinem Grund gestand er mir eines Tages im Zustand völliger Trunkenheit ein, er sei durch und durch hetero. Das war, als wir einander noch kaum kannten.

Zuerst versuchte ich ihm keine weitere Beachtung zu schenken, weil ich glaubte, eine so schillernde Persönlichkeit wie Jack könne sich nicht für mich interessieren, aber zu meiner Überraschung suchte er immer wieder meine Nähe. Dann, eines Abends in einem Club, kamen wir miteinander ins Gespräch, und wir fühlten unmittelbar eine Verbindung zwischen uns. Ich wusste, dass ich mir das nicht nur einbildete, und am Tag danach lud Jack mich zum Kaffee ein. Obwohl ich ahnte, dass ich mir Probleme einhandeln würde, ließ ich mich darauf ein, denn er gab mir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

„Die anderen sind nichts“, pflegte er zu sagen, „aber du bist meine Muse.“

Das war ungeheuer schmeichelhaft, und jung und naiv, wie ich war, glaubte ich ihm. Die Vorstellung, Jack zu inspirieren, berauschte mich. Sein Zimmer war voller Zeichnungen von mir – er überredete mich sogar, für ihn Modell zu stehen. Obwohl es Anzeichen dafür gab, dass da noch andere Frauen waren, verschloss ich die Augen davor, denn er sagte mir immer, ich sei der einzige Mensch, der ihm etwas bedeute. Ich schätze, ich wollte das einfach glauben. Bis zu dem Augenblick, an dem mir schließlich klar wurde, dass er mich die ganze Zeit belogen hatte …

Ich schaue mich in meiner schönen hellen Küche um, in der dank meiner Arbeit wieder einmal Chaos herrscht (Memo an mich: aufräumen, bevor Daniel heute Abend nach Hause kommt; die Unordnung treibt ihn zum Wahnsinn), und ich weiß, dass Jack mir niemals solch ein Zuhause geboten hätte. Mein Leben mit Daniel verläuft in geordneten, ruhigen, stabilen und sicheren Bahnen. Das alles wäre mit Jack nicht möglich gewesen. Wahrscheinlich wären wir irgendwo auf einem Hausboot gelandet. Oder hätten als Hausbesetzer geendet. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass ich mit ihm jemals Kinder gehabt hätte. Vermutlich wäre in dem Fall die ganze Arbeit an mir hängen geblieben. Anders als Daniel taugt Jack einfach nicht zum Vater. Jedenfalls taugte er damals nicht dazu. Heute vielleicht, aber ich bezweifle es. Nach Jack war es so leicht gewesen, mich in Daniel zu verlieben. Den guten, grundsoliden, verlässlichen, gut aussehenden Daniel. Ich weiß, dass er mich nie enttäuschen wird.

Ich betrachte meinen Ehering. Solide. Verlässlich. Langweilig …? Ich weiß, das ist unfair, aber ich fühle, wie mein neunzehnjähriges Ich sich auflehnt und seine Stimme in meinem Kopf erhebt. Damit hast du dich also zufriedengegeben, Lizzie? Aber nein, das freigeistige Mädchen von damals habe ich tief in dem Herzen vergraben, das Jack Stevens gebrochen hat. Außerdem hätte sie niemals die glücklichen Jahre erlebt, die ich mit Daniel hatte. Ich weiß, dass Jack mir das nicht gegeben hätte.

Erneut lese ich seine E-Mail.

Hi Lizzie,

war schön, dich letzte Woche wiederzusehen, nach so langer Zeit. Freut mich, dass es dir so gut geht. Wenn du dich irgendwann mal mit mir treffen und über das Buch plaudern möchtest, würde es mich sehr freuen, dir zu helfen.

Alles Liebe, Jack

Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll. Ja, nicht einmal, ob ich überhaupt reagieren soll. Aber dann denke ich, warum eigentlich nicht? Ich interpretiere viel zu viel in diese Mail hinein. Er ist einfach nur freundlich. Hier geht es um die Arbeit und sonst nichts.

Das klingt großartig, Jack, schreibe ich zurück. Vielleicht können wir uns mal zum Plaudern verabreden.

Er antwortet prompt.

Was hältst du von einem gemeinsamen Kaffee? Falls du Zeit hast, könntest du nächste Woche nach London kommen.

Vielleicht in ein paar Wochen?, schlage ich vor.

Ich will nicht den Eindruck erwecken, zu erpicht auf dieses Treffen zu sein, aber ganz ehrlich, ich komme mit dem Buch einfach nicht voran und bin sicher, es kann nicht schaden, mit ihm darüber zu reden. Zwei alte Freunde, die sich einfach mal so treffen. Wenn Jack in etwas richtig gut ist, dann in der Lösung kreativer Probleme. Es kann doch nur von Vorteil sein, wenn mir das hilft, meine Schreibblockade zu überwinden, oder? Es ist absolut nichts dabei … Das sage ich mir wieder und wieder.

5. Kapitel

Lou

„Dein Pass, Mum“, sage ich, als wir uns dem Check-in-Schalter nähern. Ehrlich, es ist, als hätte man ein Kleinkind dabei. Ich musste alles für diese Reise organisieren. Mir ist schleierhaft, wie es ihr je gelungen ist, mit uns irgendwohin zu fahren, als wir noch klein waren. Bei jeder noch so winzigen Entscheidung erweist sie sich als vollkommen hilflos.

„Ich bin sicher, er ist irgendwo hier drin.“ Mum wirkt komplett durcheinander und beginnt, in ihrer Tasche zu kramen, in der sie hauptsächlich Papiertaschentücher aufzubewahren scheint. Sie nimmt alles heraus und entschuldigt sich wortreich bei dem Mann hinter uns. Innerlich winde ich mich vor Verlegenheit, aber der Mann lächelt uns mitfühlend zu.

„Oh, nein“, sagt Mum. „Ich finde ihn einfach nicht.“

„Bist du sicher?“, frage ich. Ich weiß, dass sie den Pass eingesteckt hat, bevor wir von zu Hause weggefahren sind.

„Ich bin sicher.“ Jetzt liegt auch ihre Geldbörse auf dem Boden, zusammen mit einer Haarbürste, einem Lippenstift und ihrer Kosmetiktasche.

„Mum, das musst du alles in deinen Koffer packen“, erkläre ich. „Du darfst keine Flüssigkeiten mit an Bord nehmen. Das habe ich dir doch gesagt.“

Drei Mal habe ich es ihr bereits gesagt, aber wie so vieles andere, was ich gesagt habe, hat sie es ignoriert. Damals, im Mittelalter, als Mum das letzte Mal ein Flugzeug bestiegen hat, gab es die Regel bezüglich Flüssigkeiten im Handgepäck noch nicht. In den letzten zehn Jahren haben meine Eltern sich auf Campingurlaub in New Forest beschränkt, und wenn ihnen mal nach Abenteuer zumute war, sind sie nach Frankreich gefahren.

„Hast du das, Schatz?“, fragt sie. „Ich kann mich nicht erinnern.“

Wir hocken uns auf den Boden und schauen ihre Habseligkeiten durch, dann lasse ich sie den Koffer öffnen. Dem Mann hinter uns bedeute ich, er möge vorgehen, aber er meint netterweise, er könne warten.

„Oh, ich weiß jetzt, wohin ich ihn getan habe“, sagt Mum schließlich. Sie beginnt wieder in ihrem Koffer zu kramen, und siehe da, der Pass ist in einem von ihren Höschen eingewickelt. „Sicherheitshalber.“

Unser Freund in der Warteschlange lächelt mich an, und ich wäre am liebsten gestorben. Immerhin scheint Mum nicht zu merken, was für ein Chaos sie verursacht. Abgesehen von dem Mann hinter uns wirken die wartenden Passagiere ein bisschen aufgebracht.

Schließlich sind wir so weit und können endlich an den Check-in-Schalter herantreten. Gott sei Dank habe ich online gebucht, sodass wir jetzt wenigstens schon den ganzen Papierkram erledigt haben und das Einchecken nicht lange dauert. Ich nehme Mums Pass und ihre Bordkarte an mich, bis wir die Sicherheitskontrolle passiert haben. Prompt löst sie dort Alarm aus, weil sie zerstreut ihre Uhr in die Jackentasche gesteckt hat. Dann stellt sich heraus, dass sich in ihrer Handtasche ganz unten noch eine Parfumflasche befindet. Sie wird konfisziert, und Mum ist am Boden zerstört.

„Aber das ist mein Rive Gauche“, jammert sie. „Dein Vater hat es mir in Paris gekauft. Er mochte den Duft immer so sehr.“

Warum um alles in der Welt hat sie das mitgenommen? Als Erinnerung an all das, was sie verloren hat?

„Mum!“ Ich bin ungeheuer frustriert. „Dad ist nicht hier, weißt du noch? Warum kaufst du dir nicht ein anderes Parfum?“

„Ich mag das Rive Gauche“, erwidert sie störrisch, und ich sehe, sie wird nicht nachgeben.

„Na schön, wir kaufen es dir im Duty-free-Shop“, erkläre ich. Wenn das so weitergeht, werde ich sie womöglich erwürgen, bevor der Flieger abhebt.

Ich fühle mich gemein, weil ich so wütend bin. Mum ist aufgeregter als normal, denn sie und Dad haben beschlossen, es sei besser, dass er auszieht, während wir im Urlaub sind. Beth und Daniel kümmern sich um den Umzug, wofür ich ihnen unendlich dankbar bin. Ich weiß, wie schwer das für Mum sein muss. Dennoch macht es mich verrückt, dass sie sich so hilflos gebärdet. Ich werde das Gefühl nicht los, dass die nächste Woche sich endlos ziehen wird.

Aber tatsächlich lebt sie ein wenig auf, als wir Gatwick Village erreichen. Die Läden gefallen ihr, und sie kauft nicht etwa eine Flasche Rive Gauche, sondern gleich zwei, und bezahlt mit ihrer und Dads gemeinsamer Kreditkarte. Offensichtlich hat er sie noch nicht gekündigt. Dass er Schuldgefühle hat, erkennt man auch daran, dass er sich keinerlei Gedanken darüber gemacht hat, wie viel Geld wir wohl ausgeben. Und er hat sich auch nicht als kleinlich erwiesen, als ich ein Vier-Sterne-Hotel gebucht habe.

Als wir uns in die Schlange einreihen, um das Flugzeug zu besteigen, benimmt Mum sich wie ein aufgedrehter Hundewelpe.

„Es ist so lange her, dass ich geflogen bin“, sagt sie wieder und wieder. „Dein Dad fliegt gar nicht gern. Danke, Lou, dass du das organisiert hast.“

Weniger begeistert ist sie, als sie feststellt, dass während des Fluges kein Film gezeigt wird.

„Ich bin sicher, bei meinem letzten Flug wurde ein Film gezeigt“, sagt sie. Billigfluglinien kennt sie noch nicht. Und geradezu entsetzt ist sie, als sie erfährt, dass alles bezahlt werden muss.

„Du meinst wirklich, wir müssen fürs Essen bezahlen?“, fragt sie aufgebracht. „Ich mag diese kleinen Flugzeugmahlzeiten. Die waren immer gratis.“

„Dann warst du wohl die Einzige, die sie gemocht hat“, erwidere ich. „Lass uns einfach einen Snack und ein Glas Wein nehmen.“

Unser Freund aus der Check-in-Schlange hat den Platz neben uns und stellt sich als James Horton vor. Er ist Witwer und will seine Tochter und die Enkelkinder auf Teneriffa besuchen. Er ist ausgesprochen nett und freundlich, dennoch hätte ich erwartet, dass Mum ihn nach ein paar höflichen Bemerkungen einfach ignoriert. Zu meiner großen Erleichterung aber verstehen sie sich blendend. Es stellt sich heraus, dass James nicht allzu weit entfernt von Wottonleigh wohnt, und so finden er und Mum jede Menge Gesprächsstoff. Ich lehne mich zurück und lese auf meinem Kindle. Zu schade, dass James nicht in unserem Hotel untergebracht ist. Es sieht ganz so aus, als könnte er Mum blendend unterhalten. Aber so kann ich mich wenigstens auf diesem Teil der Reise entspannen …

Daniel

„Ist das jetzt alles?“ Sam, Beth und Daniel hatten Freds Habseligkeiten hinten in ihrem Volvo verstaut. Megan war mit Freundinnen unterwegs, und Sam hatte sich widerwillig dazu nötigen lassen zu helfen. Fred schien nicht allzu viel mitzunehmen. Daniel vermutete, dass seinen Schwiegervater immense Schuldgefühle plagten und er deshalb nicht den Eindruck erwecken wollte, Ansprüche zu stellen. Er wirkte ein wenig ausweichend und konnte niemandem so recht in die Augen sehen.

Daniel konnte immer noch nicht ganz glauben, was geschehen war. In den letzten Wochen hatten er und Beth immer wieder lang und breit darüber gesprochen, vor allem weil keiner von ihnen es hatte kommen sehen. Was zum Teufel konnte einen Mann in Freds Alter dazu treiben, alles für eine neue Liebe aufzugeben? Das wirkte so befremdlich. Und es verunsicherte Daniel zutiefst. Immer war er davon ausgegangen, dass seine Schwiegereltern zusammenbleiben würden bis zum letzten Atemzug. Ihre Ehe war unauffällig verlaufen, aber stabil, und für Daniel fühlte es sich an, als wäre ihm eine der großen Gewissheiten seines Lebens abhandengekommen.

Fred konnte es sich anscheinend nicht einmal selbst erklären. Auf Beths Betreiben hin war Daniel ein paar Mal mit seinem Schwiegervater einen trinken gegangen, um unter vier Augen über die Sache reden zu können.

„Ged zu fragen, ist sinnlos“, meinte Beth. „Entweder er klopft Dad einfach nur auf die Schulter und meint Das hast du fein hingekriegt!, oder er ärgert sich über ihn. So oder so kommt nichts Konstruktives dabei heraus.“

Allerdings glaubte Daniel nicht, dass seine Einmischung mehr gebracht hatte. Fred hatte einfach nur dagesessen, in sein Glas gestarrt und gesagt: „Das habe ich nicht gewollt. Ich weiß, dass ich Mary und die Kinder verletzt habe, aber als ich Lilian kennengelernt habe, habe ich mich verliebt. Und mir wurde klar, was mir bisher gefehlt hat. Ich weiß, dass niemand das wirklich versteht.“

„Nun, ich verstehe es jedenfalls nicht“, sagte Daniel, während ihm etwas ganz anderes durch den Kopf ging. Liebe? Er kann doch wohl nur Lust meinen.

„Es ist so, Daniel“, fuhr Fred fort. „Ich werde dieses Jahr zweiundsiebzig. Vielleicht bleibt mir nicht mehr viel Zeit. Den Rest meines Lebens wäre ich gern glücklich.“

„Und diese Lilian macht dich glücklich?“

„Ja, das tut sie. Sie war plötzlich einfach da, und es hat mir den Atem verschlagen. Seit sehr langer Zeit habe ich keine solchen Empfindungen mehr gehabt.“

„Aber ich dachte, du und Mary, ihr wärt ein so gutes Paar.“

„Mary und ich, nun, wir haben uns schon lange auseinandergelebt“, erwiderte Fred seufzend. „Du kennst sie ja. Alles muss so sein, wie sie es sich vorstellt. Ich fühle mich in meinem eigenen Zuhause eingeengt. Lilian ist ein freier Geist, und sie hat mich daran erinnert, dass auch ich ein freier Geist bin. Weißt du, ich war mal so wie Beth. Ich habe die Kunst geliebt und wäre gern auf die Kunsthochschule gegangen, aber damals tat jemand wie ich das einfach nicht. Also habe ich geheiratet und mir einen Job in einer Versicherung gesucht. Mit Mary hatte ich immer das Gefühl, dass irgendetwas in meinem Leben fehlt. Ich weiß, es klingt kitschig, aber mir ist, als würde Lilian mich erst zu einem ganzen Menschen machen.“

Und mehr hatte er zu dem Thema nicht sagen wollen. Das machte Daniel traurig und jagte ihm ein wenig Angst ein. Bisher war er immer davon ausgegangen, dass er und Beth genauso solide Partner waren wie ihre Eltern. Dass nach so langer Zeit nichts das Boot ihrer Ehe zum Kentern bringen konnte. Aber wenn Mary und Fred sich trennten, wie konnte er dann noch sicher sein, dass die Beziehung zwischen ihm und Beth so stabil war, wie er immer geglaubt hatte? Seitdem sie zusammen waren, quälte ihn der Gedanke, nicht gut genug für sie zu sein – diese Unsicherheit wurzelte zweifellos in seiner Kindheit. So früh vom Vater verlassen, hatte Daniel sich sein Leben lang unzulänglich gefühlt. Stets blieb ein Rest Zweifel, ob Reggie nicht seinetwegen abgehauen war, obwohl Mum immer wieder versichert hatte, das sei nicht der Fall. Auch Beth sagte, es sei dumm, so etwas zu glauben, aber dennoch nagte tief in seinem Inneren die Angst, sie könne eines Tages beschließen, das Gleiche zu tun. Und jetzt, wo Mary und Fred auseinandergingen, wurde diese Angst nur noch größer. Vermutlich hatten auch die beiden geglaubt, ihre Ehe sei unerschütterlich. Konnte dasselbe also auch ihm und Beth passieren?

Daniel schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Es ging ihnen gut zusammen, sie standen nur unter dem ganz normalen Druck, unter dem alle standen: die Kinder, die Arbeit, Geldsorgen. Es war einfach etwas beunruhigend, dass ein hohes Alter offenbar nicht vor Untreue schützte, mehr nicht.

Er und Sam stiegen in den Volvo, während Beth und Fred mit dem uralten Toyota seines Schwiegervaters fuhren. Den Wagen behielt er, weil Mary keinen Führerschein hatte. Was völlig in Ordnung war, solange Lou im Elternhaus lebte, aber Daniel war sich darüber im Klaren, dass das kein Dauerzustand sein und irgendwann Probleme auftauchen würden. Egal, darüber konnten sie sich den Kopf zerbrechen, wenn es so weit war.

„Will Grandpa das allen Ernstes durchziehen?“, fragte Sam, als Daniel losfuhr und die schäbige Wohnung ansteuerte, die Fred für die nächsten paar Monate gemietet hatte. Zur großen Erleichterung aller war er nicht sofort bei Lilian eingezogen. Das wäre mehr als peinlich gewesen.

„Sieht ganz so aus“, meinte Daniel.

„Ich dachte immer, alte Menschen treiben’s nicht mehr miteinander“, fuhr Sam fort. „Ich meine, kriegt er überhaupt noch einen hoch?“

„Ich habe nicht die leiseste Ahnung, und ich werde ihm diese Frage auch ganz gewiss nie stellen. Und um Himmels willen, rede nicht so in Gegenwart deiner Mutter.“

Sam grinste.

„Natürlich nicht. Aber du musst doch zugeben, dass das witzig ist. Mein Grandpa, der Aufreißer.“

„Ich glaube nicht, dass dein Grandpa das so witzig findet.“

„Nein, aber trotzdem. Das sind Gene, die ich geerbt habe. Voll krass!“

Jetzt musste sogar Daniel lachen. Die Vorstellung war zu komisch, und zum ersten Mal seit Monaten redete sein Sohn mal wieder mit ihm.

„Wage es ja nicht, Mum zu verraten, dass ich gelacht habe“, sagte Daniel, als sie vor dem Mietshaus einparkten.

„Das fiele mir im Traum nicht ein“, meinte Sam und zwinkerte Daniel verschwörerisch zu.

„Besser so. Deine Mum würde mich umbringen.“

„Meine Lippen sind versiegelt.“

„Gut“, sagte Daniel, und sie grinsten sich an.

Er hatte das Gefühl, seit Ewigkeiten mal wieder einen Draht zu seinem Sohn gefunden zu haben. Daniel wünschte sich nur, es wäre unter anderen Umständen geschehen.

Beth

Die Fahrt zu Dads neuer Wohnung ist eine Tortur. Ihn sein Zeug packen zu sehen in dem Wissen, dass Mum in ein leeres Haus zurückkehren wird, hat mich zur Weißglut gebracht. Ich habe mich immer besser mit Dad verstanden als mit Mum. Wir sind beide künstlerisch veranlagt. Ich darf gar nicht daran denken, dass ich diejenige war, die ihm vorgeschlagen hat, mit dem Malen anzufangen, weil ich glaubte, das würde ihm guttun – welche Ironie, was dabei herausgekommen ist. Ich bin stinksauer, weil er Mum das angetan hat. Wie konnte er nur! Daniel hat er erzählt, er sei verliebt. In seinem Alter! Das ist einfach lächerlich! Von Lust getrieben ist er, das ist etwas ganz anderes.

Dad versucht, eine höfliche Unterhaltung in Gang zu bringen, aber ich ignoriere ihn. Ich fürchte, wenn ich etwas sage, platzt es aus mir heraus und ich finde kein Ende. Das will ich nicht. Vielleicht begreift Dad das, denn er gibt seine Versuche, mit mir zu plaudern, auf. Den Rest der Fahrt legen wir schweigend zurück.

Wir erreichen das Mietshaus als Erste, und Dad öffnet verlegen die Tür zu seiner neuen Wohnung.

„Willkommen in meinem neuen Zuhause“, sagt er. Es ist scheußlich. Die Küche ist winzig und verdreckt. Das Bad ebenso. Es gibt ein kleines Wohn-Esszimmer, das in Brauntönen gestrichen ist, und ein deprimierend wirkendes Schlafzimmer mit einem durchgelegenen Doppelbett. Die Wohnung ist ungefähr so mies wie meine Studentenunterkünfte seinerzeit, und ich finde es unendlich traurig, dass mein Dad in seinem Alter ein solches Loch bezieht. Einen Augenblick lang würde ich ihn am liebsten ganz fest umarmen und ihm sagen, wie leid es mir tut, aber dann fällt mir wieder ein, dass er sich das Ganze selbst zuzuschreiben hat, und schon bin ich wieder stinksauer.

Dad räuspert sich.

„Sieh mal, Beth, ich weiß, dass ich mich danebenbenommen habe, aber ich bin immer noch dein Vater …“

„Hör auf“, sage ich, „bitte hör auf.“ Ich bin noch nicht bereit für ein vertrauliches Gespräch zwischen Vater und Tochter. Ich will nicht hören, wie er versucht, sein Verhalten zu rechtfertigen oder sich dafür zu entschuldigen. Noch bin ich zu sehr von Zorn erfüllt. Möchte ihn bestrafen für das, was er Mum angetan hat, was er uns allen angetan hat.

Weitere Unterhaltungsversuche bleiben mir erspart, denn Daniel und Sam trudeln mit Freds restlichen Habseligkeiten ein, und die nächste halbe Stunde geht dafür drauf, Kartons in die Wohnung zu schleppen und auszupacken. Das Ganze ist zutiefst verstörend, und keiner von uns redet viel. Ich krame einen überzähligen Teekessel aus unserem eigenen Haushalt hervor und brühe Tee auf. Ich weiß, dass Dad bestimmt nicht ans Einkaufen gedacht hat, deshalb habe ich ihm ein paar Vorräte besorgt. Wie er damit zurechtkommen wird, weiß Gott allein. Kochen kann er nämlich nicht.

Mein Telefon meldet sich. Jack. Oh. Freude durchzuckt mich kurz, aber ich unterdrücke sie sofort. Wir sind dazu übergegangen, uns hin und wieder eine SMS zu schicken, aber gerade jetzt ist er der Letzte, von dem ich hören möchte.

„Wer ist das?“, fragt Daniel.

„Niemand“, weiche ich aus. „Jemand vom Verlag.“

Aus irgendeinem Grund habe ich es nicht geschafft, Daniel zu erzählen, dass ich mit Jack in Kontakt stehe. Ich weiß selbst nicht, warum nicht. Schließlich tun wir nichts Verbotenes. Andererseits, wenn ich nichts Verbotenes tue, warum quälen mich dann Schuldgefühle? Irgendwie freue ich mich wirklich darauf, Jack wiederzusehen, aber ich finde nicht die richtigen Worte, um Daniel davon zu erzählen. Mir ist, als hätte ich ein kostbares Geheimnis, das ich nicht mit ihm teilen will. Kurz stockt mir der Atem? Was treibe ich da eigentlich? Einen Moment frage ich mich, ob es wohl so zwischen Dad und Lilian angefangen hat – mit Lügen und Heimlichkeiten?

Das ist lächerlich. Ich bin ganz anders als mein Dad. Ja, ich hege eine unangemessene Schwärmerei für einen Mann, in den ich einst verliebt war, aber das heißt ja schließlich nicht, dass ich dem Taten folgen lassen werde. Und dass ich Daniel nichts davon erzähle, zeigt ja nur, wie unwichtig die ganze Sache ist. Außerdem hat Jack gar keine Ahnung, was ich für ihn empfinde. All das spielt sich ausschließlich in meinem Kopf ab, und weiter wird es auch nicht kommen.

Wir bleiben nicht lange in Dads Wohnung. Ich umarme ihn steif und verspreche, ihn in der kommenden Woche anzurufen, aber erst einmal bin ich froh, abhauen zu können. Obwohl Dad derjenige ist, der aus der Ehe ausbricht, riecht seine neue Wohnung nach Traurigkeit und Versagen. Wenn ich zu lange dort bleibe, fange ich womöglich noch an, Mitleid mit ihm zu haben, und ich finde nicht, dass er das verdient hat.

Wieder zu Hause, bestelle ich etwas zu essen beim Chinesen. Megan ist auch wieder da. Wie immer bekomme ich nur eine einsilbige Antwort auf meine Frage, wo sie denn gewesen sei, aber als wir uns vor dem Fernseher versammeln, um zu essen und gemeinsam einen Film anzuschauen, scheint sie sich zu entspannen und wird gesprächiger. Es ist seit Ewigkeiten das erste Mal, dass wir alle an einem Samstagabend zu Hause sind, und es ist richtig gemütlich. Ich kuschele mich an Daniel und bin dankbar für all das, was ich habe. Ich bin mit meiner Familie zusammen, zu der ich gehöre. Mein Telefon meldet sich erneut. Schon wieder eine SMS von Jack. Daniel streicht mir über die Haare, und ich drücke seine Hand. Höchste Zeit, diesen dummen Fantasien ein Ende zu bereiten. Ich schalte mein Telefon ab, ohne zu antworten.

6. Kapitel

Beth

Nach einer halben Woche gerät meine Entschlossenheit ins Wanken. Ich habe endlich den nächsten Satz Zeichnungen für Das kleinste Engelchen fertiggestellt und weiß, dass ich es immer noch nicht ganz richtig getroffen habe. Mein Engelchen wirkt nun zwar ein bisschen niedlicher, aber es gelingt mir einfach nicht, es vom Grimassenschneiden abzuhalten. Statt es im Vatikan landen zu lassen, schicke ich es jetzt auf den Markusplatz, wo es mit den Möwen spricht. Die geben ihm den Rat, ein Boot zu besteigen, das nach Osten fährt. Warum, weiß ich selbst nicht, und genauso wenig ist mir klar, wohin es sich anschließend wenden soll. Schließlich entscheide ich mich für die Pyramiden – Ägypten scheint so oder so in etwa der richtige nächste Schauplatz zu sein. Also schicke ich es dorthin und mache es mit einem ziemlich gelangweilten Kamel bekannt. Um ehrlich zu sein: Mein Kamel gefällt mir wirklich gut. Es wirkt angemessen sarkastisch.

Kaum habe ich die Bilder abgeschickt, erhalte ich einen Anruf von Vanessa.

„Oje, Beth, ich fürchte, das ist nicht ganz das, was ich mir vorgestellt habe“, sagt sie. „Mir ist nicht klar, was ein Kamel in der Geschichte zu suchen hat.“

Ich hätte gedacht, dass ein Kamel besser in die Weihnachtsgeschichte passt als eine Möwe, aber was soll ich dazu sagen?

„Ich dachte, das Kamel könnte dem Engel den Weg zu den Weisen aus dem Morgenland zeigen“, erkläre ich.

„Oh ja, ich verstehe.“ Vanessas Tonfall lässt erkennen, dass sie keineswegs versteht. „Es ist nur so, Beth, es haut mich nicht wirklich um.

Das hätte ich mir denken können. Am liebsten würde ich irgendetwas zerschlagen.

Einen Moment herrscht Schweigen in der Leitung. „Na schön“, meint sie dann, „mal sehen, was die Marketingabteilung dazu meint.“

Oh Gott. Mir sinkt der Mut. Wenn die Lizenzabteilung glaubt, diese Geschichte nicht verkaufen zu können, dann bin ich geliefert. Was, wenn sie entscheiden, mich einfach fallen zu lassen? Ich weiß, wie eng der Bilderbuchmarkt zurzeit ist; vielleicht finde ich dann nie wieder einen neuen Verlag.

„Ich setze mich noch mal dran“, sage ich und versuche die Gedanken zu ordnen, die mir durch den Kopf schwirren. „Vielleicht finde ich ja einen anderen Ansatz.“

Lust habe ich dazu absolut keine, aber ich bin so verunsichert, dass ich sie beschwichtigen will.

„Das wäre toll, Beth, wirklich“, sprudelt sie hervor. „Ich habe einfach Bedenken, dass es den Verkauf beeinträchtigen könnte. Ich finde, ein Kamel ist nicht niedlich genug. Könnte der Engel nicht stattdessen einem Lamm begegnen?“

Na toll, jetzt sind wir also wieder beim Niedlichen. Aber wenigstens passt ein Lamm in die Geschichte. Manchmal glaube ich, dass Vanessa und ich in Parallelwelten leben.

„Ich werde darüber nachdenken“, sage ich. „Nächste Woche schicke ich die neuen Entwürfe.“

„Großartig. Ich freue mich darauf.“

Damit endet das Gespräch, und ich setze mich wieder an meine Zeichnungen, aber nichts funktioniert. Anscheinend kann ich auch Schafe nicht niedlich zeichnen. Sie sehen entweder geistig minderbemittelt aus oder verdrossen. Das hat bestimmt nichts damit zu tun, wie ich mich fühle, ganz bestimmt nicht … Als Daniel nach Hause kommt, bin ich geradezu verzweifelt.

„Was ist los?“, fragt er und küsst mich auf den Scheitel. Sofort fühle ich mich besser.

„Was, wenn ich ausgebrannt bin?“, frage ich. „Etwas anderes kann ich doch nicht.“

„Sei kein Narr“, widerspricht er. „Du packst das. Du findest immer einen Weg.“

Ich wünsche mir mehr von ihm als das, aber Daniels Glaube an mich ist unerschütterlich. Er sieht nicht, dass gelegentliche Aufmunterungen im Moment einfach nicht reichen. Nur dieses eine Mal hätte ich gern, dass er meine kreative Seite verstehen und mir echte, hilfreiche Tipps geben könnte. Aber das tut er nicht. Er ist unendlich stolz auf alles, was ich erreicht habe. Das weiß ich. Aber dass sich ein Großteil meines Lebens in meinem Kopf abspielt und dass ich ständig fürchte, die Muse könne mich eines Tages verlassen, das kann er nicht nachvollziehen. Dass Jack genau das kann, ist mir klar, aber ich weiß nicht, wie ich Daniel erklären soll, dass wir uns unverbindlich verabredet haben. Dann öffnet Daniel selbst mir den Ausweg, auf den ich gehofft habe.

„Hast du mit deinem Kumpel Jack darüber gesprochen?“, fragt er. „Könnte er dir vielleicht helfen?“

„Ich glaube schon“, sage ich und schaue zu ihm hoch. „Wenn es dir nichts ausmacht?“

„Warum sollte es mir etwas ausmachen?“ Daniel wirkt verwirrt, und ich fühle mich schuldig, bis mir wieder einfällt, dass er nicht wissen kann, was in mir vorgeht, und dass ich ihm nie erzählt habe, wie viel Jack mir einst bedeutet hat. Vielleicht sollte ich es ihm sagen. Aber jetzt, nach so langer Zeit, wirkt das vermutlich verdächtig. Als ich Daniel kennenlernte, wollte ich endgültig mit Jack abschließen; das Thema jetzt plötzlich anzusprechen, wäre komisch. Es ist verständlich, dass mein Wiedersehen mit Jack die Erinnerung an die alten Gefühle erneut geweckt hat, aber daraus wird sich nichts ergeben. Ich muss mich also nicht schuldig fühlen. Wie üblich mache ich aus einer Mücke einen Elefanten. Und Jack könnte mir wirklich helfen. Er hatte immer gute Ideen, wenn es um meine Arbeit ging.

Also schicke ich ihm am nächsten Tag eine SMS.

Buchkrise! Hilfe! Können wir uns treffen?

Klar, lautet die Antwort. Hast du nächsten Montag schon etwas vor?

Ich lese den Text wieder und wieder und begreife: Darin steckt nichts außer professioneller Freundlichkeit. Ich war also wegen nichts und wieder nichts beunruhigt. Absurderweise bin ich ein wenig enttäuscht, ihn so falsch verstanden zu haben. Dann rufe ich mich zur Ordnung. Tagträumereien über Jack sind lächerlich, und ich brauche seine Hilfe. Zum ersten Mal seit Monaten scheinen mir die Probleme, die ich mit meinem Buch habe, nicht unüberwindlich, und das kann doch nur eine gute Sache sein.

Lou

Unser Urlaub auf Teneriffa macht Spaß. Jetzt, wo wir hier sind und nicht dem gewohnten Tagesablauf unterliegen, lebt Mum sichtlich auf. Es ist warm und sonnig genug, um morgens auf dem Balkon zu frühstücken, und wir haben schon etliche Ausflüge gemacht. Ich habe sogar einen Wagen gemietet, und wir sind auf den Teide gefahren – eine ziemlich grauenhafte Erfahrung, denn es war sehr neblig, und bei jeder Kurve hat Mum geschrien. Außerdem quietschte sie jedes Mal, wenn sich zwischen den Wolken eine Lücke auftat und sie sehen konnte, wie hoch oben wir waren.

James, unser Bekannter vom Flughafen, wohnt ganz in der Nähe und hat sich ein oder zwei Mal in der Stadt auf einen Kaffee mit uns getroffen. Mum scheint ziemlich viel Gefallen an ihm zu finden, ebenso wie er an ihr. Ich bin froh darüber. Sie wirkt jetzt viel weniger traurig als vorher, und ich könnte schwören, dass sie sogar ein bisschen mit James flirtet. Als er ihr einen Einkaufstrip vorschlägt, lasse ich sie deshalb mit Freuden allein losziehen. Ich bin mehr als zufrieden, einen Nachmittag für mich am Pool verbringen zu können, obwohl unerwünschte Gedanken an Jo sich immer wieder aufdrängen. So weit von zu Hause weg habe ich mehr Zeit, an sie zu denken. In meinem letzten Urlaub waren wir gemeinsam in Griechenland. Das war eine so schöne Zeit, und jetzt bin ich hier – allein. Ich schüttele entschlossen den Kopf. Nein, ich werde mir diesen Urlaub nicht verderben, indem ich mich meinem Elend hingebe. Auf keinen Fall.

Ich sitze am Pool, lese mein Buch und genieße die Wintersonne. Es ist schön, weit weg von zu Hause zu sein, und ich werde sogar ein wenig braun. Als ich aufblicke, sehe ich auf der anderen Seite des Pools eine Frau, die mich anschaut. Sie lächelt, ich lächele zurück, und Sekunden später kommt sie zu mir herüber und stellt sich als Maria vor. Sie ist eine sehr hübsche Spanierin, mit langen dunklen Locken, schönen braunen Augen und fröhlichem Lächeln. Ich schätze sie ein paar Jahre jünger, als ich es bin. Sie ist mir augenblicklich sympathisch; irgendetwas an ihr spricht mich sehr an.

„Bist du allein hier?“, fragt sie.

„Nein, zusammen mit meiner Mum“, erwidere ich. Himmel, wie traurig das klingt. Eine alleinstehende Frau mittleren Alters, die mit ihrer kurz vor der Scheidung stehenden Mutter Urlaub macht. Na, egal, diese Frau ist vermutlich ohnehin hetero.

„Magst du eine Sangria?“, fragt Maria. Wir setzen uns an die Poolbar, und schon bald sind wir in ein Gespräch vertieft. Auch sie ist Single und arbeitet für einen hier ansässigen Immobilienmakler. Offensichtlich sucht die Firma noch Mitarbeiter.

„Klingt großartig“, sage ich. „Im Moment bin ich arbeitslos.“

„Du solltest hierbleiben“, erwidert meine neue Freundin, „und auch hier arbeiten. Ich habe einen tollen Job. Es macht Spaß, sich um die ganzen Ferienwohnungen zu kümmern. Dir würde es auch Spaß machen.“

„Das würde ich gern tun, aber Mum …“

Ich erkläre ihr die momentane Lage, und sie erweist sich als ungeheuer teilnahmsvoll.

„Deine arme Mama“, sagt sie. „Dein Papa ist sehr ungezogen.“ Ihr Akzent ist einfach entzückend.

„Ich weiß“, sage ich. „So etwas hat er noch nie getan. Es ist total verrückt und schwierig. Er hat Mum so übel verletzt. Es fällt mir sehr schwer, ihm zu verzeihen.“

„Paah, Männer!“, stößt sie hervor und wirft die langen Haare schwungvoll nach hinten. In diesem Moment weiß ich Bescheid. In meinem Bauch regen sich Schmetterlinge. Vielleicht habe ich bei ihr ja doch eine Chance.

Normalerweise neige ich nicht dazu, die Initiative zu ergreifen, aber Sonne und Sangria machen mich ein bisschen verwegen. Mum wird vermutlich nichts mitkriegen, wenn ich mit meiner neuen Freundin ausgehe. Schließlich habe ich sie nie darüber aufgeklärt, dass Joe gar kein Mann war.

„Hast du heute Abend schon etwas vor?“, frage ich mit einer Selbstsicherheit, die ich normalerweise nicht kenne. „Wir könnten gemeinsam etwas trinken gehen.“

Maria lächelte mich auf eine Weise an, dass mir ganz anders wird. „Ich habe nichts vor“, sagt sie, „und würde gern mit dir etwas trinken gehen.“

Als Mum und James zurückkommen, freut sie sich zu hören, dass ich etwas vorhabe. Es stellt sich heraus, dass James Mum zum Essen eingeladen hat.

„Gut gemacht, Mum“, sage ich. Ich freue mich, dass jemand sie zum Lächeln gebracht hat, auch wenn sich vermutlich nichts daraus ergibt und obwohl ich mir eigentlich wünsche, dass sie und Dad wieder zueinanderfinden. Aber diese Selbstbestätigung kann sie auf jeden Fall gut gebrauchen.

„Wir gehen doch nur essen“, sagt sie, und ich lache. „So fängt es an.“

Zum ersten Mal seit Weihnachten fühle ich mich lebendig und positiv gestimmt. Ich verwende eine Ewigkeit darauf, das richtige Outfit für das Treffen mit Maria zu wählen, und schminke mich sorgfältiger als seit Monaten. Als ich fertig bin, gefällt mir, was ich im Spiegel sehe. Außerdem bin ich ein bisschen nervös. Auch wenn es kein richtiges Date ist, glaube ich doch, dass ich Maria mag, und ich möchte, dass sie mich mag. Einen Moment verspüre ich Panik, frage mich, ob ich das wirklich durchziehen will. Dann reiße ich mich zusammen. Wie üblich neige ich zu vorschnellem Handeln. Zwischen mir und Maria wird nichts passieren, aber ein netter Abend mit ihr kann mir nur guttun. Ich kann es kaum erwarten.

Daniel

Als Daniel nach Hause kam, musste er feststellen, dass Reggie erneut einen Kontaktversuch unternommen hatte. Diesmal hatte er angerufen und mit Beth gesprochen. Das wollte er nach einem harten Tag in der Schule ganz und gar nicht hören. Und er wollte genauso wenig mit Beth darüber streiten.

„Warum hast du mir nicht gesagt, dass dein Dad in England ist?“, fragte sie. „Er will dich unbedingt treffen.“

„Ich wusste, dass du mir damit in den Ohren liegen würdest.“

„Allerdings – er ist dein Dad!“

„Ja, nun, das zwingt mich dennoch nicht, mich mit ihm zu treffen.“

Beth wurde etwas milder. „Schau, angesichts dessen, wie idiotisch mein eigener Dad sich im Moment benimmt, kann ich verstehen, dass du deinen nicht sehen willst, aber …“

„Gut. Dann hast du es ja begriffen“, fiel Daniel ihr schärfer ins Wort, als er eigentlich beabsichtigt hatte. „Ich hoffe, du hast ihm nichts versprochen.“

„Habe ich nicht. Ich habe ihm gesagt, er solle später noch mal anrufen.“

„Oh, nein“, stöhnte Daniel. Ihm war klar, dass er unvernünftig reagierte, aber Beths gut gemeinte Einmischung ging ihm tierisch auf die Nerven. Sie würde nie begreifen, warum er Reggie aus seinem Leben heraushalten wollte. „Ich will ihn nicht sehen. Und nicht mit ihm reden.“

„Das weiß ich“, erwiderte Beth, offensichtlich bemüht, ihn zu beschwichtigen. „Aber was ist mit den Kindern? Haben sie nicht das Recht, ihren Großvater kennenzulernen?“

„Damit ist er dir also gekommen?“, fragte Daniel verbittert. Diese Taktik hatte sein Vater schon etliche Male ihm gegenüber benutzt.

„Nun, ganz unrecht hat er damit ja nicht.“

„Und wenn ich nun sage, dass er dieses Recht an dem Abend verwirkt hat, an dem er mich und Mum im Stich gelassen hat?“, fauchte Daniel verärgert. „Jetzt, wo sich gezeigt hat, dass auch dein Dad keine reine Weste hat, dachte ich eigentlich, dass du mich besser verstehst.“

Kaum hatte er das gesagt, wünschte er auch schon, er hätte es nicht getan, denn Beth wirkte, als hätte er ihr einen Fausthieb in den Magen versetzt.

„Das ist etwas anderes“, widersprach sie, „und unfair.“

„Tatsächlich?“ Daniel atmete tief durch, um wieder etwas runterzukommen. „Sieh mal, Beth, du hast das nie begriffen, aber mein Dad ist nicht so wie deiner. Er ist kein lieber netter Typ, der zu einem fröhlichen Familientreffen vorbeikommt. Das wird nie geschehen.“

„Das sagst du jedes Mal“, erwiderte Beth, eindeutig nicht gewillt, die Sache ruhen zu lassen. Warum nur musste sie so beharrlich sein? „Aber warum nicht?“

„Lass gut sein, Beth. Bitte.“ Daniel war plötzlich unendlich müde. Er hasste es, über diese Dinge zu reden. Hasste es, an die Vergangenheit zu denken. „Reggie war ein schrecklicher Vater. Er hat mir die Kindheit vergiftet. Ich will ihn nicht in die Nähe meiner Familie lassen. Ich will ihn nicht sehen. Und damit hat sich’s!“

„Wenn ich es aber will?“, mischte Sam sich ein, der unbemerkt hereingekommen war und das Gespräch mit angehört hatte. „Ich würde gern mehr über deine Seite der Familie wissen. Megan möchte das auch. Wir würden gern etwas über ihn erfahren. Wir wissen alles über Mums Familie und nichts über deine.“

„Tut mir leid, wenn du das so empfindest, Sam, aber das kommt nicht infrage“, sagte Daniel.

„Ich verstehe nur nicht, warum“, ließ Sam nicht locker.

„Der Mann ist ein Albtraum, und er hat deine Großmutter sehr unglücklich gemacht. Ich will so wenig wie möglich mit ihm zu tun haben.“

„Das ist lange her“, wiegelte Sam frustriert ab. „Was, wenn er sich geändert hat?“

„Nicht lange genug für mich“, erwiderte Daniel, inzwischen zornig. „Ich werde ihm nie verzeihen können, was er uns angetan hat.“

„Trotzdem ist er mein Großvater“, widersprach Sam, „und ich habe das Recht, ihn kennenzulernen.“

„Na schön.“ Resigniert warf Daniel die Hände hoch. „Dann nimm du Kontakt mit ihm auf. Ihr dürft ihn alle treffen, aber ich will ihn nicht in diesem Haus haben. Niemals! Habt ihr verstanden?“

Er stand auf, verließ das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. So wütend war er schon sehr lange nicht mehr gewesen. Vor allem erbitterte ihn, dass Reggie Ärger machte, auch ohne dass sie sich trafen. Vermutlich war es ganz natürlich, dass die Kinder neugierig waren, aber Daniel hatte sein Leben lang darum gekämpft, sie von seinem Vater fernzuhalten. Sam war beinahe achtzehn, und Daniel konnte ein Kennenlernen nicht mehr verhindern. Er schloss die Augen und versuchte Ruhe zu bewahren. Sie hatten das Recht, ihren Großvater zu treffen, aber keiner von ihnen hatte eine Ahnung, worauf er sich einließ.

7. Kapitel

Lou

Um drei Uhr morgens schleiche ich mich in unser Apartment und komme mir dabei wie ein schuldbewusstes Schulmädchen vor. Maria und ich hatten einen fantastischen Abend. Wir sind durch die Schwulen-Clubs von Los Americanos gezogen, ich habe geflirtet, getanzt und getrunken. So viel Spaß hatte ich schon ewig nicht mehr. In einer Bar namens Chaplins haben wir uns eine urkomische Drag-Show angesehen, und dann waren wir tanzen. Gegen Ende des Abends haben wir unsere Telefonnummern und unsere Facebookprofile ausgetauscht und einander versprochen, Kontakt zu halten. Ich habe Maria alles über Jo erzählt. Deshalb ist an diesem Abend tatsächlich nichts passiert, aber es bleibt die köstliche Aussicht, dass etwas passieren könnte. Irgendwann in der Zukunft. Wenn sonst nichts dabei herauskommt, habe ich immerhin eine Freundin gewonnen. Es war schön, mit Maria auszugehen. Sie hat mir das Gefühl gegeben, wieder jung und unbeschwert zu sein. Allerdings hatte ich mir nicht vorgestellt, erst um diese Zeit wieder ins Zimmer zu stolpern. Beinahe muss ich über mich selbst lachen: Ich bin achtunddreißig und kann nach Hause kommen, wann immer ich will. Aber ich bin nie so spät zu meiner Mum nach Hause gekommen, seit ich zwanzig war, und ich bin genauso nervös wie damals, während ich mich auf Zehenspitzen hereinschleiche.

Zu meiner Überraschung brennt im Bad Licht. Verdammt, Mum ist offenbar noch wach. Das war’s also mit meinem Plan, mich heimlich, still und leise ins Bett zu schleichen. Dann höre ich eine Männerstimme. Verflucht noch mal, hat Mum etwa James mit hierhergenommen?

Zaghaft klopfe ich an die Tür und werde Zeuge einer Szene, mit der ich nie gerechnet hätte. Mum hockt auf dem Boden, über die Kloschüssel gebeugt, und übergibt sich. James sitzt neben ihr und tätschelt ihr uneffektiv den Rücken.

„Was zum …?“ Oh Gott, ich hätte sie nie alleinlassen dürfen. Sie hat eine Lebensmittelvergiftung, und das ist nur meine Schuld.

„Ähm, es tut mir wirklich leid.“ James wirkt beschämt. „Ich fürchte, deine Mutter hat im Restaurant vielleicht zu viel Wein getrunken. Sie hat immerzu gesagt, sie wolle noch mehr.“

Mum? Betrunken? Habe ich etwa soeben eine Parallelwelt betreten? Mum trinkt nur zu Weihnachten Alkohol, und auch dann immer nur in Maßen.

„Geht es dir gut, Mum?“

Mum hebt den Blick und schaut mich aus trüben, tränenverschleierten Augen an. „Ich bin eine neunundsechzigjähre Frau, die gerade von ihrem Mann verlassen wurde. Mein ganzes Leben war umsonst. Natürlich geht es mir nicht gut.“

Und dann beginnt sie zu schluchzen, heftig, laut und steinerweichend. Dem armen James ist das sichtlich peinlich. Er wirkt, als würde er sich am liebsten sofort aus dem Staub machen, und wer wollte ihm das verübeln? Wahrscheinlich hatte er auf einen netten, entspannten Abend gehofft. Auf das hier war er nicht vorbereitet.

„Vielen Dank, dass Sie sich um sie gekümmert haben“, sage ich. „Jetzt übernehme ich.“

„Ihre Mutter ist eine wunderbare Frau“, erklärt James, als ich ihn zur Tür begleite. „Wenn ich das so sagen darf: Ich glaube, Ihr Vater ist ein Idiot.“

„Sie dürfen“, erwidere ich, „Sie haben nämlich recht.“

Nur gut, dass Dad jetzt nicht hier ist. Ich würde ihm nämlich ordentlich die Meinung geigen.

Als ich zurück ins Bad komme, sitzt Mum auf dem Boden und wäscht sich das Gesicht mit einem Waschlappen. Es ist grässlich, sie in diesem Zustand zu sehen.

Normalerweise kommt es nur sehr selten vor, dass ich Mum umarme. Sie hat nicht viel für solche Zärtlichkeiten übrig, aber jetzt ist sie so ein Häuflein Unglück, dass ich sie unwillkürlich in meine Arme schließe.

„Ich bin so eine Idiotin“, sagt sie. „Schau mich nur an, eine betrunkene alte Närrin, die wegen eines Mannes heult.“

„Da bist du nicht die Erste“, erwidere ich und drücke sie an mich. Sie fühlt sich knochig an und unbeholfen. Großer Gott, sie hat stark an Gewicht verloren. „Und es ist nicht deine Schuld. Dad ist ein Arschloch.“

„Ich dulde nicht, dass du so über ihn redest“, widerspricht sie. „Es muss meine Schuld sein. Offenbar war ich ihm keine gute Ehefrau.“

„Mum“, erwidere ich sanft, „ich weiß, dass es heißt: Zum Tango gehören zwei. Aber in diesem Fall ist Dad der Schuldige.“

Das ruft erneutes Schluchzen hervor, und ich drücke sie noch einmal fest an mich und streiche ihr übers Haar. Plötzlich fühle ich mich an meine Kindheit erinnert: Ich war sechs, und Mum hielt mich im Arm, als mir schlecht war. Als wir noch klein waren, war sie immer für uns da, und auf ihre Weise ist sie das auch jetzt noch, wo wir längst erwachsen sind. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das immer bemerkt habe.

„Aber ich habe mein Leben verschwendet“, klagt Mum. „Zweiundvierzig Jahre Ehe, und was ist davon geblieben?“

„Unsinn, du hast doch uns. Du warst eine wundervolle Mutter. Natürlich hast du dein Leben nicht verschwendet.“

„Findest du?“ Sie schaut mich aus verquollenen Augen an. Plötzlich kommt sie mir älter vor, verletzlicher. Mir ist, als hätten wir die Rollen getauscht und ich wäre die Erwachsene. Ich hasse es, Mum so zu sehen; es ist ein merkwürdiges Gefühl, zur Abwechslung mal diejenige zu sein, die die Zügel in der Hand hält, aber auch ein überraschend gutes.

„Ach, Mum“, sage ich und drücke sie an mich. Ich wünschte, das wäre ihr nie passiert. Ich wünschte, Dad würde erkennen, dass er einen Riesenfehler gemacht hat, und alles würde wieder normal werden. „Du bist die Beste. Und wenn wir nach Hause fahren, werden wir Dad daran erinnern, was er einfach so aufgibt.“

Beth

An dem Tag, an dem ich nach London fahre, um mich mit Jack zu treffen, bin ich schrecklich nervös. Ich frage mich, ob es Daniel aufgefallen ist, dass ich irgendwie anders bin, wenn ich gelegentlich Jacks Namen erwähne. Ich hoffe nicht. Ich weiß, dass da nichts läuft. Ich weiß, dass nichts passieren kann. Aber das Wiedersehen mit Jack war ein Katalysator, der mich daran erinnert hat, wie das Leben sein könnte. Ich liebe meine Familie und vergöttere sie. Natürlich tue ich das. Aber manchmal wird mir die damit verbundene Last einfach zu viel. Daniel ist ein großartiger Vater, aber er hat einen anspruchsvollen Job. Auch jetzt noch, wo die Kinder älter sind, bleibt es an mir hängen, ihre Aktivitäten zu organisieren, sie von Partys abzuholen, sie rechtzeitig zu Kursen anzumelden. Manchmal habe ich den Eindruck, das Leben aller anderen sei wichtiger als mein eigenes. Ich stehe eindeutig am unteren Ende der Skala. Wenn ich Jack eine SMS schicke oder an ihn denke, vergesse ich all das. Ich habe das Gefühl, eine Tür in eine andere Welt zu durchschreiten, in der ich nicht mehr nur Mutter und Ehefrau bin. Dort bin ich Beth, und ich bin frei.

Ich bin viel zu früh dran, also bestelle ich mir in dem Café, in dem wir uns verabredet haben, einen Cappuccino. Schluckweise trinke ich ihn, bemüht, nicht zu sehr wie eine Frau zu wirken, die sich auf eine Verabredung freut. Trotz meiner guten Vorsätze bin ich ein wenig aufgeregt.

Ich hole meinen Skizzenblock und mein Manuskript hervor und gehe beides noch einmal durch – stirnrunzelnd versuche ich, mich aufs Geschäftliche zu konzentrieren. Die Geschichte ergibt einfach keinen Sinn. Ich wünschte, ich könnte Vanessa überzeugen, dass meine ursprüngliche Idee trotz all ihrer Schwächen besser war als das.

„Du siehst aus, als würde die ganze Welt auf deinen Schultern lasten.“

Plötzlich steht er da, und mein Herz setzt einen Schlag aus. Ich ertrinke förmlich bei seinem Anblick. Oh Gott, was tue ich hier? Es geht um die Arbeit, Beth, ermahne ich mich. Hör auf, an anderes zu denken. Aber … ich bekomme keine Luft und spüre, dass mir übel wird. Genauso habe ich mich damals oft gefühlt. Hör auf, sage ich mir. Reiß dich zusammen.

„Ich schaue mir an, was ich bisher gemacht habe, und glaube, dass nichts davon funktioniert“, sage ich. Hoffentlich ist meine Stimme nicht so zitterig, wie ich mich fühle. „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Vanessa scheint keine meiner Ideen zu mögen.“

„Ich bin sicher, dass es nicht so schlimm ist, wie du denkst. Lass mich einen Kaffee bestellen, und dann gehen wir alles gemeinsam durch. Möchtest du auch noch einen?“

Ich nicke stumm. In seiner Gegenwart bin ich kaum in der Lage, zusammenhängende Sätze von mir zu geben. Glücklicherweise scheint Jack nicht zu merken, wie durcheinander ich bin. Während er die Getränke holt, gewinne ich die Kontrolle über mich zurück.

„Es ist so schön, dich wiederzusehen, Lizzie“, sagt er. „Du siehst sehr gut aus. Die Ehe scheint dir zu bekommen.“

„Das tut sie“, erwidere ich. „Und mich nennt wirklich niemand mehr Lizzie.“

„Alte Gewohnheiten lassen sich nicht so leicht verändern“, meint er leichthin. „Für mich wirst du immer Lizzie bleiben.“ Er lächelt. Was für ein Lächeln. Ich hatte vergessen, wie leicht man sich in diesem Lächeln verlieren kann. Eine Minute schweige ich, bis Jack mich wieder zurück auf die Erde holt und mich darum bittet, ihm meine Arbeit zu zeigen.

Schweigend schaut er die Seiten durch, und ich denke: Oh Gott, er findet es grässlich. Überrascht stelle ich fest, wie wichtig mir ist, was er von meiner Arbeit hält. Jack hat immer absolut ehrlich gesagt, was er denkt. Ich muss seine Meinung hören, selbst wenn sie mir nicht gefällt.

„Nun, du hast kein bisschen nachgelassen.“ Endlich lehnt er sich zurück, und er lächelt. „Lizzie – Beth –, die sind wunderbar.“

„Tatsächlich? Ich habe das Gefühl, diesmal völlig auf dem Holzweg zu sein.“

„Stimmt schon, an der Geschichte selbst musst du noch arbeiten. Aber dein Engelchen … Wow, das hat so viel Charakter.“

„Vanessa mag es gar nicht.“

„Vanessa hat im Moment ziemliche Mühe damit, im Verlag durchzuhalten. Es ist schwer, in Karens Fußstapfen zu treten, und du bist ganz schön einschüchternd.“

„Ich? Einschüchternd?“ Ich bin völlig perplex. Meine Familie würde über diese Vorstellung lachen.

„Nun, das warst du schon immer ein wenig“, erklärt Jack. „Am College warst stets du diejenige, die wusste, welchen Weg sie einschlagen wollte und was sie tat. Du warst dir deiner Vision so sicher.“

„War ich das?“ Ich lache. „Das Einzige, woran ich mich aus meiner Collegezeit noch erinnere, ist, dass ich immer nur improvisiert habe. Jedenfalls glaube ich, du irrst dich. Vanessa kann unmöglich von mir eingeschüchtert sein. Ich bin eine alte, vergangene Größe – sie ist die Zukunft. Wenn überhaupt, dann bin ich diejenige, die sich eingeschüchtert fühlen sollte. Sie hat mich völlig durcheinandergebracht mit diesem verdammten Buch. Ich hatte eine so einfache klare Idee, und sie hat sie unnötig verkompliziert.“

„Tja, warum kehrst du dann nicht zu deiner ursprünglichen Idee zurück?“, fragte Jack. „Ich weiß, dass die Erzählung selbst nicht in mein Fachgebiet fällt, aber ich ziehe immer das Einfache dem Komplizierten vor.“

„Aber sie versuchen doch schon, Vanessas Version zu verkaufen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich jetzt noch mal ganz von vorn anfangen kann.“

„Ich denke, du solltest zurück zum Kern der Geschichte“, erwidert Jack. „Vergiss sämtliche Anregungen von anderen, auch von mir, und erzähl deine Geschichte auf deine Weise. Ich weiß, dass du das kannst.“

„Tatsächlich?“

„Ja“, sagt er. Ganz kurz legt er seine Hand auf meine. Ich empfinde ein absurdes Kribbeln und lasse sie ein bisschen länger liegen, als ich eigentlich sollte. Der Reiz des Verbotenen ist stark, aber ich habe alles unter Kontrolle. Ein bisschen unschuldiges Flirten schadet schließlich niemandem, solange es dabei bleibt.

„Jetzt fühle ich mich schon sehr viel besser. Auch du hast kein bisschen nachgelassen.“

Jacks Anziehungskraft beruhte immer auch darauf, dass er mein Selbstwertgefühl enorm stärkte. Vor allem zu Anfang unserer Beziehung, bevor ich erkannte, wie treulos er sein kann.

„Das freut mich zu hören“, sagt Jack in einem Ton, der mein Herz zum Jubeln bringt.

Ich wechsele das Thema und versuche, das Gespräch in sichere Bahnen zu lenken.

„Wie läuft es denn bei dir bei der Arbeit?“, frage ich und räuspere mich. „Ich hätte mir nie vorstellen können, dass du mal im Kinderbuchbereich arbeitest.“

„Habe ich auch nicht immer. Erst nachdem meine Tochter Tash auf die Welt kam. Die Bücher, die sie las, fand ich toll, und ich hatte die Nase voll von meinem Job in der Unterhaltungsliteratur. Dann kam das Stellenangebot als Art Director für Smart Books. Gesucht wurde jemand mit Erfahrungen auf anderem Gebiet, ein Quereinsteiger – zum Glück für mich. Ich habe es nicht bereut.“

„Das klingt wunderbar“, sage ich. „Siehst du Tash häufig?“ Ich gehe davon aus, dass Jack nicht das Sorgerecht für seine Tochter hat, da er nicht mit ihrer Mutter zusammenlebt. Einen Moment wirkt er traurig, und ich sehe kurz ein wenig von seiner ernsteren Seite.

„Nicht so oft, wie ich es gern hätte“, meint er seufzend. „Ihre Mum ist nach Kent gezogen, in die Nähe ihrer Familie. Aber ich gebe mir Mühe. Sie ist mein Ein und Alles. Sie kann zwar ein bisschen primadonnenhaft sein, aber ich halte große Stücke auf sie.“

„Warte nur, bis sie erst ein Teenager ist“, erwidere ich. „Primadonna beschreibt meine Tochter bis aufs i-Tüpfelchen.“

Jack lacht.

Anschließend gehen wir meine Zeichnungen durch und tauschen Ideen aus. Das Ganze ist wirklich hilfreich und inspirierend. Zum ersten Mal seit Monaten halte ich es für möglich, das Projekt doch noch zum Laufen zu bringen. Ich genieße Jacks Gesellschaft so sehr, dass ich völlig das Zeitgefühl verliere. Als ich schließlich auf meine Uhr schaue, stelle ich fest, dass es schon viel später ist, als ich dachte. Es wird höchste Zeit aufzubrechen, obwohl ich gern den ganzen Tag geblieben wäre.

„Ich danke dir vielmals, dass du dir Zeit für mich genommen hast“, sage ich. „Das war wirklich nett von dir.“

„Gern geschehen, Beth. Du weißt, dass ich immer Zeit für dich haben werde.“

Wie er das sagt, jagt mir einen leisen Schrecken ein. Oh Gott, was, wenn ich mir nicht nur etwas einbilde? Was dann?

Daniel

„Wie war’s in London?“ Offensichtlich war Beth gerade erst zurückgekommen, denn im Flur, wo sie ihre Taschen abgelegt hatte, herrschte Chaos, und sie war dabei, halbherzig in den Küchenschränken nach etwas Geeignetem fürs Abendessen zu suchen.

„Gut“, antwortete sie. „Jack hat mir sehr geholfen.“

„Na prima. Meinst du, du kannst Vanessa doch noch überzeugen?“

„Keine Ahnung. Anscheinend findet sie mich einschüchternd.“

Daniel lachte und setzte seiner Frau einen Kuss auf die Stirn. „Dich? Ehrlich?“

„Genauso habe ich auch reagiert.“

„Wer ist einschüchternd?“, fragte Megan, die gerade die Küche betrat. „Und wann gibt es Abendessen?“

„Deine Mum, und ich weiß es nicht“, erwiderte Daniel.

Megan holte sich eine Schweinefleischpastete aus dem Kühlschrank und brach in Gelächter aus. „Mum ist die am wenigsten einschüchternde Person, die ich kenne.“

„Ist es wirklich so schwer, sich mich als Furcht einflößend vorzustellen?“, fragte Beth ein wenig betrübt lächelnd.

„Ja“, sagte Megan und fing wieder an zu kichern.

„Ich fürchte ja“, bestätigte Daniel. „Aber das ist in Ordnung. Ich liebe dich so, wie du bist.“

Es klingelte an der Tür.

„Wer mag das denn jetzt sein?“, sinnierte Beth. „Wir erwarten doch niemanden, oder?“

„Nein“, antwortete Daniel. „Ich habe mich eigentlich auf einen ruhigen Abend gefreut.“

Ganz gegen seine Gewohnheit kam Sam die Treppe heruntergerannt. „Ich mach schon auf!“, rief er.

Daniel und Beth schauten sich überrascht an. Vielleicht hatte er eine Freundin, von der sie nichts wussten. Im Flur herrschte einen Moment Stille, dann Stimmengemurmel, bevor Sam jemanden in die Küche führte.

Daniel stand wie erstarrt vor Schock; er konnte einfach nicht fassen, was er sah.

„Reggie?“, fragte er ungläubig. „Was tust du denn hier?“

Nein. Beth konnte seinen Vater unmöglich hinter seinem Rücken eingeladen haben. Oder vielleicht doch? Wütend wandte Daniel sich seiner Frau zu. „War das deine Idee?“

„Nein, war es nicht.“

„Schon in Ordnung“, meinte Reggie, sichtlich verlegen. „Der Augenblick ist offenbar ungünstig.“

„Nicht doch, bitte“, widersprach Beth mit gezwungenem Lächeln ihrem Schwiegervater. „Es ist schön, dich wiederzusehen.“

Sie funkelte Daniel an, der ihren Blick ebenso zornig erwiderte.

„Nun, wenn du ihn nicht eingeladen hast, wer war es dann?“

„Ich“, meldete sich Sam und trat vor. „Ich hielt es für eine gute Idee, dass du und Grandad sich mal sehen.“

„Sam!“ Beth war eindeutig schockiert. „Das hättest du nicht tun sollen, ohne vorher mit uns darüber zu reden.“

„Warum nicht?“, fragte Sam aufmüpfig. „Nur weil ihr Reggie nicht sehen wollt? Ich will es.“

Reggie wirkte extrem peinlich berührt. „Es tut mir leid. Ich wollte keinen Streit auslösen.“

„Ist schon gut“, wiegelte Beth ab und machte Daniel damit noch wütender. „Aber trotzdem, Sam. Das hättest du nicht tun sollen.“

„Ich begreife nicht, warum das so ein großes Problem ist“, sagte Sam.

„Das ist ein großes Problem, weil du hinter meinem Rücken gehandelt hast“, erklärte Daniel. „Ich gehe jetzt, und wenn ich zurückkomme, will ich diesen Mann nicht mehr in meinem Haus sehen.“

Damit stand er auf und ging hinaus. Seine Familie starrte ihm schockiert hinterher.

8. Kapitel

Beth

Ich fühle mich, als hätte mich der Schlag getroffen. Zum einen, weil Sam sich offensichtlich kein bisschen überlegt hat, was er tut, und zum anderen, weil Daniel einfach weggegangen ist. Eigentlich neigt er überhaupt nicht zu dramatischen Gesten – wenn überhaupt, dann sind die eher von mir zu erwarten. Was in aller Welt ist hier eigentlich los? Obendrein muss ich mich jetzt mit seinem Vater auseinandersetzen, der in meiner Küche steht und so peinlich berührt wirkt, wie ich mich fühle.

„Es tut mir wirklich leid“, sage ich. „Es ist schön, dich zu sehen, aber ich fürchte, Sam hat einen Fehler gemacht. Ich will nicht unhöflich sein, aber wahrscheinlich ist es besser, wenn du wieder gehst.“

„Dad ist ein totaler Versager“, sagt Sam. „Er benimmt sich wie ein Kleinkind.“

„Das reicht jetzt, Sam. Dies ist unser Haus. Du hättest uns informieren sollen.“

„Du hast recht, ich sollte gehen“, sagt Reggie. „Ich bin hier eindeutig unerwünscht.“

„Ich will nicht, dass du gehst“, erklärt Sam störrisch.

„Sam, das hast du nicht zu entscheiden“, sage ich. „Im Moment halte ich es für besser, wenn dein Großvater geht. Es gibt aber keinen Grund, warum du ihn nicht besuchen solltest. In Ordnung?“

„In Ordnung“, lautet die mürrische Antwort.

„Das tut mir wirklich sehr leid“, wiederhole ich, als ich meinen Schwiegervater zur Haustür begleite. „Normalerweise ist Daniel nicht so grob.“

„Nun, er ist vermutlich der Meinung, gute Gründe dafür zu haben. Ich war nicht gerade der beste Vater der Welt.“

„Was ist zwischen euch beiden denn eigentlich vorgefallen?“ Ich bin neugierig. Daniel spricht nie über seinen Vater, nur über seine Mutter, die er angebetet hat. Ich habe mich oft gefragt, warum, aber wenn ich ihn darauf anspreche, verschließt er sich völlig. Einmal habe ich ihn gefragt, ob sein Dad ihn geschlagen habe. Er meinte nur, nein, das nicht, aber diese Zeit seines Lebens sei eine so unglückliche gewesen, dass er nicht daran denken wolle. Ich kann sehen, dass es ihn aufwühlt, über die Vergangenheit nachzudenken. Und im Laufe der Jahre habe ich gelernt, dass es besser ist, das Thema ruhen zu lassen. Manchmal aber frage ich mich schon, ob es nicht gut für ihn wäre, darüber zu reden. Und gerade jetzt habe ich nicht die leiseste Ahnung, was in ihm vorgeht. Ich wünschte, ich wüsste es.

„Das ist lange her, und ich war in einer schlechten Verfassung“, meint Reggie seufzend. „Zu viel Sprit, fürchte ich. Jedenfalls war ich nicht da, als Daniel mich brauchte, und ich bedaure das. Ich kann ihm nicht verübeln, dass er mich hasst, aber inzwischen ist eine Menge Wasser die Themse hinuntergeflossen. Ich würde wirklich gern die Sache wieder ins Lot bringen.“

„Ich kann versuchen zu helfen“, sage ich, „aber Daniel kann sehr starrköpfig sein.“

„Tja, genauso wie sein alter Herr“, meint Reggie mit schiefem Lächeln.

„Und dein Enkel.“ Ich seufze. „Liegt wohl in der Familie.“

„Er scheint ein guter Junge zu sein.“

„Meistens.“ Ich will nicht darüber reden, dass ich mich im Umgang mit Sam häufig als völlig unfähige Mutter fühle.

„Ja dann, Beth, es war nett, dich zu sehen“, sagt Reggie. „Vielleicht können wir uns bald mal wieder treffen.“

„Vielleicht.“ Damit schließe ich die Tür.

Ich denke an Daniels Gesichtsausdruck, als er seinen Dad anstarrte. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, Reggie so bald wiederzusehen.

Daniel

Daniel stieg in sein Auto und fuhr einfach los. Er fuhr und fuhr, ohne darauf zu achten, wohin. Er merkte nicht, wo er war, bis er sich schließlich in der Evelyn Avenue in Tooting wiederfand, viele Meilen von seinem jetzigen Zuhause entfernt, und vor dem Mietshaus anhielt, in dem er aufgewachsen war. Sie hatten im obersten Stockwerk eines heruntergekommenen alten viktorianischen Hauses gewohnt, in einer Wohnung mit Schiebefenstern, in der es im Sommer brüllend heiß und im Winter eiskalt war. Jetzt saß er da und starrte das Gebäude an, das inzwischen saniert und für eine neue Generation herausgeputzt worden war. Jene Wohnung hatte so viel Zorn und Verbitterung erlebt. Erfüllt von Erinnerungen daran, wie oft sein Vater herumgeschrien, seine Mutter geweint und er selbst sich irgendwo verkrochen und sich meilenweit weggewünscht hatte, fragte er sich, ob der Zorn wohl Teil des Gebäudes geworden sein mochte; ob Elend und Verfall sich in den Wänden eingenistet hatten.

Sein ganzes Leben lang war er hiervor davongelaufen. Davongelaufen vor der Wut, mit der er aufgewachsen war. Vor den Verletzungen, die seine Eltern einander zugefügt hatten. Daniel war stolz auf sein ausgeglichenes Gemüt – es gehörte zu den Dingen, die ihn zu einem guten Lehrer machten. Sowohl zu Hause als auch in der Schule hob er kaum einmal die Stimme, und wenn sich Ärger in ihm breitmachen wollte, stemmte er sich mit aller Macht dagegen. Dennoch merkte er jetzt, dass er angesichts dessen, was Sam sich geleistet hatte, vor Wut kochte. Am liebsten hätte er mit voller Wucht zugeschlagen, auf irgendwen – irgendwas – eingeprügelt. Wie konnte Sam nur hinter seinem Rücken so etwas tun? Daniel hatte zweifelsfrei deutlich gemacht, dass er nichts mit seinem Vater zu tun haben wollte, und dennoch hatte Sam ihn eingeladen. Der kurze Augenblick der Einigkeit, den sie an jenem Tag erlebt hatten, als sie Fred beim Umzug halfen, war dahin. Es sah so aus, als würde Sam grundsätzlich das Gegenteil von dem tun, was Daniel tat und wollte – nur, um ihn zu reizen –, und seine Taktik war verdammt erfolgreich.

Frustriert hämmerte Daniel mit den Händen aufs Lenkrad. Was zum Teufel tat er überhaupt hier? Er sollte lieber nach Hause fahren. So benahm man sich einfach nicht.

Von Beth traf eine SMS ein: Er ist fort. Komm bitte nach Hause.

Daniel atmete tief durch. Er würde nicht zulassen, dass Erinnerung und Zorn die Oberhand gewannen. Auf keinen Fall.

Bin auf dem Weg.

Als er wieder zu Hause ankam, hatte er es geschafft, sich zu beruhigen.

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