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Grausamer Tod - vier Thriller von Erica Spindler

DIE ANGST IM NACKEN

Vor mehr als zwanzig Jahren hat Harlow Anastasia Grail einen wahren Albtraum überlebt. Ein Verrückter hat sie entführt und ihr den kleinen Finger abgeschnitten. Um die traumatische Vergangenheit vergessen zu können, hat Harlow ihren Namen geändert und alle Brücken hinter sich abgebrochen. Nun der Schock: Der Albtraum ist nicht vorbei - der Mann von damals lebt. Aus Angst um ihr Leben beauftragt die junge Autorin Detective Quentin Malone. Schon bald verbindet die beiden eine leidenschaftliche Affäre. Doch kann sie ihm wirklich trauen? Und welche Rolle spielt der attraktive Psychologe Dr. Ben Walker? Ein dramatischer Wettlauf um Leben und Tod beginnt...

BLUME DES SATANS

"Paradise Christian Church" - so heißt die Kirche, in der die Pfarrerin Rachel Howard sich besonders engagiert um Jugendliche kümmert. Aber dann verschwindet sie spurlos.
Zusammen mit dem Ex-Cop Rick Wells, der auf Key West eine Bar betreibt, versucht Liz etwas über den Verbleib ihrer Schwester harauszufinden. Vergeblich. Stattdessen entdecken sie Entsetzliches: Der düstere Satanskult "Gehörnte Blume" begeht offensichtlich Ritualmorde an Jugendlichen ...

STADT DES SCHWEIGENS

Die Journalistin Avery ermittelt auf eigene Faust. Denn für sie steht fest, dass der lange zurückliegende Mord an einer jungen Frau in Verbindung steht mit dem erschütternden Tod ihres Vaters. Auch der attraktive Rechtsanwalt Hunter, der durch Avery endlich wieder erfährt, was Liebe ist, glaubt daran. Als erneut die grausam zugerichtete Leiche einer jungen Frau gefunden wird, kommen sie der schrecklichen Wahrheit auf die Spur. Und geraten ins Visier des Mörders.

IM SCHATTEN DES MÖRDERS

Janes Glück bricht zusammen wie ein Kartenhaus: Mit Drohbriefen meldet sich der Mann zurück, der sie vor vielen Jahren fast getötet hätte. Will er sein Werk vollenden? Steckt er auch hinter den jüngsten Frauenmorden? Oder muss Jane tatsächlich Angst vor ihrem eigenen Mann haben?
Für die Polizei ist er tatverdächtig. Doch welche Rolle spielt Janes Halbschwester Stacey, die die Ermittlungen leitet? Sie wollte sich schon längst einmal an der Schwester rächen, die immer auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen scheint. Wem also kann Jane noch vertrauen? Sie zieht in den Kampf - um ihr Leben und für die Liebe.


  • Erscheinungstag: 21.01.2016
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 1872
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955765316
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Erica Spindler

Grausamer Tod - vier Thriller von Erica Spindler

Erica Spindler

Die Angst im Nacken

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Margret Krätzig

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © dieser Ausgabe 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Bone Cold

Copyright © 2001 by Erica Spindler

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: iStock

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-372-4

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

PROLOG

Juni 1978

Südkalifornien

Die dreizehnjährige Harlow Anastasia Grail litt Todesangst, während sie sich mit dem weinend an sie gekauerten Timmy in eine Ecke des dunklen, fensterlosen Raumes drückte.

Der Filzteppich roch leicht nach Urin, genau wie die Matratze, auf der sie vor Stunden mit Timmy erwacht war. Oder vor Tagen? Harlow hatte jegliches Zeitgefühl verloren, seit sie mit Timmy von Monica, der Kinderschwester, der ihr Vater vertraut hatte, in ein fremdes Auto gelockt worden war.

Er hatte drinnen gewartet, der Mann, den Monica Kurt nannte.

Harlow schauderte bei der Erinnerung an sein kaltes Lächeln. Sie hatte sofort gewusst, dass er ihr und Timmy etwas antun wollte. Schreiend hatte sie nach dem Türgriff gelangt. Er hatte sie festgehalten, bis Monica ihr etwas spritzte, das ihre Welt in Dunkelheit versinken ließ.

„Ich will nach Hause!“, wimmerte Timmy. „Ich will zu Mom.“

Beschützend zog Harlow den Jungen enger an sich. Es war ihre Schuld, dass er hier war. Sie musste sich um ihn kümmern, sie war für ihn verantwortlich. „Es wird alles gut. Ich beschütze dich.“

Aus dem Nachbarzimmer klang eine Fernsehreportage herüber:

„… im Entführungsfall der kleinen Harlow Grail und ihres Freundes Timmy Price. Harlow Grail, Tochter der Schauspielerin Savannah Grail und des Schönheitschirurgen Cornelius Grail aus Hollywood, war aus den Stallungen des Familienanwesens entführt worden. Der sechsjährige Sohn der Haushälterin war Harlow offenbar in die Stallungen gefolgt und wurde ebenfalls entführt. Die Behörden glauben, dass er nur ein zufälliges Opfer ist, und die FBI-Agenten …“

Ein Krachen, dann das Geräusch von splitterndem Holz. „Diese Hurensöhne!“

„Kurt, beruhige dich …“

„Ich habe ihnen gesagt, was passiert, wenn sie die Polizei einschalten! Diese dämlichen Hollywood-Arschlöcher! Ich habs Ihnen gesagt …“

„Kurt, um Himmels willen, nicht …“

Die Tür flog auf und krachte gegen die Wand. Kurt stand im Rahmen, heftig atmend, das Gesicht weiß vor Wut. Monica und die andere Frau, die sie Sis nannten, verharrten ängstlich hinter ihm.

„Deine Eltern haben nicht auf mich gehört!“, sagte er leise, mit vor Hass vibrierender Stimme. „Schade um euch.“

„Lassen Sie uns gehen!“, flehte Harlow und hielt Timmy fest. Der Junge drückte sich hysterisch schluchzend an sie.

Kurt lachte grausam. „Verwöhnte kleine Göre. Wie soll ich bekommen, was ich haben will, wenn ich euch gehen lasse?“

Er war mit wenigen Schritten bei ihr und entriss ihr Timmy.

„Ha’low!“, schrie der Junge angstvoll auf.

„Lassen Sie ihn los!“ Als sie aufsprang, ihm zu helfen, schossen Monica und Sis vor und hielten sie zurück. Harlow wehrte sich, doch die beiden waren stark. Sie hielten sie an den Armen fest, dass sich ihre Nägel in ihr Fleisch bohrten.

Kurt warf den zappelnden Jungen auf die schmutzige Pritsche und hielt ihn nieder. „Sieh gut hin, Prinzessin!“, forderte er sie auf. „Sieh dir an, was deine Eltern angerichtet haben. Sie haben nicht auf mich gehört. Ich hatte sie gewarnt, sich nicht an die Behörden zu wenden. Ich habe ihnen gesagt, welche Konsequenzen das hat. Sie haben das zu verantworten, diese dummen Hollywood-Arschlöcher.“ Damit schnappte er sich ein Kissen und presste es Timmy auf das Gesicht.

„Nein!“ Ihr Schrei hallte von den Wänden wider. „Nein!“

Timmy kämpfte. Er zerkratzte Kurt die Hände, heftig zunächst, dann langsam schwächer werdend. Harlow sah entsetzt zu und flehte tränenüberströmt um sein Leben.

Schließlich lag Timmy still. „Nein!“, schrie sie noch einmal. „Timmy!“

Kurt richtete sich auf. Er drehte sich ihr zu, die Lippen zu einem bösen Lächeln verzogen. „Du bist dran, Prinzessin.“

Er und Monica zerrten sie in die Küche. Sie sagte sich, dass sie kämpfen müsse, doch das lähmende Entsetzen ließ sie nur noch flehen. Monica zerrte ihr die rechte Hand über das fleckige abgesplitterte Porzellanspülbecken.

„Bereit oder nicht, es geht los“, sagte Kurt.

Harlow sah das Aufblitzen von Metall, eine Art Schere oder Zange, und wollte aufschreien.

Er nahm ihre rechte Hand, die Zange schloss sich um den kleinen Finger. Ein heißer, betäubender Schmerz, dann das Knacken von Knochen.

Der Spülstein färbte sich rot. Harlows Blick verschwamm, und die Welt versank in Dunkelheit.

Der Schmerz zog Harlow in heftigen an- und abschwellenden Wellen von der bandagierten Hand den Arm hinauf. Wenn er besonders schlimm war, erfüllte bitterer stählerner Geschmack ihren Mund und verursachte ihr Übelkeit. Sie biss sich fest auf die Unterlippe, um nicht laut loszuheulen. Sie musste leise sein, absolut still. Kurt und die anderen glaubten, sie schliefe, benebelt von den Schmerztabletten, die Monica ihr gegeben hatte. Doch sie hatte nur so getan, als hätte sie sie geschluckt.

Eine neue Schmerzwelle verging, und Harlow hatte einige Sekunden Ruhe vor den Qualen. Tränen des Entsetzens und der Hoffnungslosigkeit standen ihr in den Augen. Eine neue Schmerzwelle zog heran. Schwindelig, am Rande einer Bewusstlosigkeit, bekam sie kaum noch Luft. Sie durfte jetzt nicht ohnmächtig werden. Sie durfte Schmerz und Angst nicht nachgeben. Nicht wenn sie überleben wollte. Ihre Eltern würden heute Nacht das Lösegeld zahlen. Sie hatte Kurt zu den anderen sagen hören, dass er sie gehen ließe, sobald er das Geld habe.

Er log, dieser gemeine Bastard. Er hatte Timmy umgebracht, obwohl der Junge ihm nichts getan hatte. Der liebe kleine Timmy. Er hatte nur nach Hause gewollt.

Und dieser dreckige Mistkerl würde auch sie umbringen, gleichgültig, was er den anderen versprach. Auch wenn sie erst dreizehn war, sie war nicht dumm, sie hatte die Gesichter von allen dreien gesehen und konnte sie identifizieren. Dieses Risiko würde Kurt nicht eingehen.

Harlow erhob sich vorsichtig von der Pritsche, damit die Federn nicht quietschten, und kroch über den Filzteppich zur Tür. Sie presste das Ohr daran. Kurt sagte etwas, aber sie konnte nicht genau verstehen, was. Es betraf sie und die Geldübergabe.

Es geschieht heute Nacht!

Harlow eilte zur Pritsche zurück, legte sich hin und schloss die Augen. Sie hörte das Klicken des Türknaufs, der gedreht wurde, dann das leise Aufschwingen der Tür. Jemand trat ein und blieb neben ihrer Pritsche stehen.

Die Tür war wieder nicht abgeschlossen. Warum sollten sie sie auch verschließen? Die gehen davon aus, dass ich wegen der Medikamente fest schlafe.

Ihr Besucher beugte sich über das Bett, und Harlow merkte, dass es die ältere Frau war, Sis. Sie erkannte es an ihrem Geruch nach Rosen und Babypuder, süße Düfte, die den Gestank von Zigaretten nur teilweise überlagerten.

Sis beugte sich zu ihr herunter. Harlow spürte ihren Atem auf dem Gesicht und zwang sich, vollkommen still zu liegen und nicht zurückzuweichen.

„Süßes Lamm“, flüsterte Sis. „Es ist jetzt fast überstanden. Sobald Kurt das Geld hat, wird alles gut.“

Er ist losgefahren, es zu holen. Die Zeit läuft ab.

„Ich konnte ihn vorhin nicht aufhalten. Er war außer sich. Er … Deine Eltern hätten sich ihm nicht widersetzen sollen. Es war ihr Fehler. Sie tragen die Verantwortung …“ Sie sprach weinerlich. „Ich habe getan, was ich konnte. Du musst verstehen, er …“

Du hast nicht getan, was du konntest. Du hättest Timmy retten können, du alte Hexe! Du hast immer so viel Aufhebens um ihn gemacht, aber du hast keinen Finger gerührt, ihn zu retten. Ich hasse dich!

„Ich komme zurück.“ Die Frau presste ihr einen Kuss auf die Stirn. Harlow hätte fast aufgeschrien. „Schlaf schön, kleine Prinzessin. Es ist bald vorbei.“

Die Frau verließ den Raum und zog die Tür zu. Harlow lauschte aufmerksam auf das Klicken, das ein Abschließen der Tür angezeigt hätte.

Nichts.

Sie öffnete die Augen einen Spalt. Sie war allein. Vorsichtig richtete sie sich mit heftigem Herzklopfen auf, besorgt, mit dem kleinsten Geräusch die ältere Frau zu alarmieren. Offenbar hatte sie sich zu schnell aufgesetzt. Benommen vor Schwindel, musste sie sich an der Pritschenkante festhalten. Sie verharrte und atmete tief ein und aus, bis ihr Kopf klarer wurde.

Reglos wartete sie noch einen Moment und sammelte ihre Gedanken. Soweit sie es in den letzten Tagen mitbekommen hatte, wurde sie in einem kleinen, relativ abgelegenen Haus festgehalten. Sie hatte keine Geräusche von Verkehr oder Passanten gehört, und niemand hatte an der Tür geläutet. Am Morgen hatten die Vögel gezwitschert, und nachts hörte sie zweimal Kojoten heulen.

Wenn ich nun niemand finde, der mir hilft? Was, wenn ich mich verlaufe? Wenn der heulende Kojote mich findet und zerreißt?

Handle oder stirb, sagte sie sich zitternd. Kurt würde sie töten. Wenn sie davonlief, hatte sie zumindest eine Chance. Ihre einzige.

Harlow erhob sich von der Pritsche und schwankte leicht. Vorsichtig schlich sie zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Der Raum dahinter schien leer zu sein. Der Fernseher lief, war aber ohne Ton. Eine Zigarette brannte im Aschenbecher auf der Armlehne des Sessels, und ein Kringel beißender Rauch stieg zur Decke.

Ich muss los! Ich muss rennen!

Bei dem Gedanken setzte sie sich auch schon in Bewegung. Sie erreichte die Haustür, entriegelte sie und riss sie auf. Mit einem leisen, unwillkürlichen Aufschrei taumelte sie in die dunkle, sternenlose Nacht und begann zu rennen, blindlings, schluchzend, über verdorrte Erde und durch ein Dickicht. Sie fiel kopfüber in einen Graben, zog sich wieder heraus, rappelte sich auf und lief weiter.

Sie erreichte eine verlassene Straße. Und sofort keimte Hoffnung in ihr. Hier musste jemand sein, irgendwer …

Im selben Moment kam ein Auto den Hügel herauf. Seine Scheinwerfer durchschnitten die Dunkelheit, trafen auf sie. Sie stand wie erstarrt, zitternd, zu schwach und erschöpft, um auch nur zu winken. Die Lichter kamen näher, der Fahrer hupte.

„Helft mir!“, flüsterte sie und fiel auf die Knie. „Bitte, helft mir!“

Das Auto kam mit kreischenden Rädern zum Stehen. Eine Tür ging auf, Schritte auf dem Asphalt.

„Frank, nein!“, bat die Frau. „Was ist, wenn …“

„Um Himmels willen, Donna, ich kann nicht einfach … Oh mein Gott, es ist ein Kind!“

„Ein Kind?“ Die Frau stieg aus dem Wagen. Harlow hob den Kopf, und die Frau japste: „Du lieber Himmel, sieh dir ihr rotes Haar an. Sie ist es. Die Kleine, nach der alle suchen. Harlow Grail.“

Der Mann gab einen ungläubigen, skeptischen Laut von sich. Er sah sich um, als werde ihm plötzlich klar, dass sie in Gefahr sein könnten.

„Das gefällt mir nicht“, sagte die Frau ängstlich. „Lass uns weiterfahren.“

Der Mann stimmte zu. Er hob Harlow hoch und hielt sie vorsichtig auf den Armen. „Es wird alles gut“, tröstete er leise auf dem Weg zu seinem Auto. „Wir bringen dich heim. Du bist in Sicherheit.“

Harlow ließ sich zitternd an ihn sinken und wusste, dass sie sich nie wieder sicher fühlen würde.

1. KAPITEL

Mittwoch, 10. Januar 2001,

New Orleans, Louisiana.

„Timmy! Nein!“

Anna saß kerzengerade im Bett, in kalten Schweiß gebadet. Timmys Name und ihr Schrei schienen von den Schlafzimmerwänden zurückzuhallen.

Erschrocken zog sie sich die Bettdecke unters Kinn und sah sich ängstlich um. Als sie eingeschlummert war, hatte die Nachttischlampe noch gebrannt. Sie schlief immer bei Licht. Doch jetzt war alles dunkel. Die Schatten in den Zimmerecken schienen sie zu necken. Versteckte sich dort jemand? Wenn ja, wer?

Kurt. Er holte sie, um zu beenden, was ihm vor dreiundzwanzig Jahren nicht gelungen war. Um sie zu strafen – für ihre Flucht und das Durchkreuzen seiner Pläne.

Bereit oder nicht, es geht los.

Anna sprang aus dem Bett und lief den Flur hinunter ins Bad. Sie konnte gerade noch den Toilettendeckel hochreißen, beugte sich vor und übergab sich, bis ihr Magen leer war.

Sie wischte sich den Mund mit einem abgerissenen Streifen Toilettenpapier ab, den sie in die Toilette warf und abzog. Ihre rechte Hand schmerzte. Sie brannte, als hätte Kurt ihr soeben den kleinen Finger abgetrennt, um ihn als Warnung an ihre Eltern zu schicken.

Doch dieses Verbrechen war vor einer Ewigkeit geschehen. Sie war noch das Kind Harlow Anastasia Grail gewesen, die kleine Hollywoodprinzessin. Heute hatte sie eine andere Identität.

Sie drehte den Hahn am Waschbecken auf und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser.

Sie lebte in Sicherheit, in ihrem eigenen Apartment. Außer zu ihren Eltern hatte sie alle Verbindungen zu ihrer Vergangenheit gekappt. Keiner ihrer Freunde oder Geschäftspartner kannte ihre wahre Identität. Nicht mal ihr Verleger oder ihr Literaturagent. Sie war jetzt Anna North, und das schon seit vielen Jahren.

Selbst wenn Kurt nach ihr suchen sollte, würde er sie nicht finden. Sie zog das Handtuch aus der Ringhalterung und trocknete sich das Gesicht. Kurt würde nicht nach ihr suchen. Dreiundzwanzig Jahre waren vergangen. Das FBI war damals sicher gewesen, dass der Mann, den sie als Kurt kannte, keine Gefahr für sie darstellte. Sie glaubten, dass er nach Mexiko geflohen war. Die Entdeckung von Monicas Leiche in der Grenzstadt von Baja California sechs Tage nach ihrer Flucht hatte diese Annahme gestützt.

Verärgert über ihre Angst, warf sie das Handtuch auf die Ablagefläche. Wann würde sie das alles endlich hinter sich lassen? Wie viele Jahre mussten noch vergehen, ehe sie ohne Licht schlafen konnte?

Wenn Kurt gefasst worden wäre, hätte sie ihn vergessen und nie mehr darüber nachgedacht, ob er sich rächen wollte. Ihre Flucht hatte die Lösegeldübergabe hinfällig gemacht. Vermutlich hatte er sie verflucht.

Sie betrachtete sich streng im Spiegel. Wenn sie ihre Albträume schon nicht kontrollieren konnte, dann wenigstens ihr Leben. Sie hatte nicht vor, sich von ihren Ängsten beherrschen zu lassen.

Wieder im Schlafzimmer, holte sie Shorts aus der Kommode und zog sie zu ihrem T-Shirt an. Da sie nicht schlafen konnte, wollte sie wenigstens arbeiten. Sie hatte eine neue Idee für eine Geschichte. Warum nicht jetzt damit anfangen? Aber zunächst brauchte sie Kaffee.

Auf dem Weg in die Küche kam sie an ihrem Büro vorbei – ein Schreibtisch in der Ecke des Wohnzimmers – und schaltete den Computer ein. Im Flur ging sie zur Wohnungstür und prüfte gewohnheitsmäßig den Sicherheitsriegel.

Im selben Moment pochte jemand an die Tür, und sie sprang erschrocken zurück.

„Anna! Ich bin es, Bill …“

„Und Dalton!“

„Alles in Ordnung bei dir?“

Bill Friends und Dalton Ramsey, ihre Nachbarn und besten Freunde. Gott sei Dank!

Sie öffnete, und die beiden standen besorgt im Flur. Von dort kam auch das Jelpen von Judy und Boo, den beiden Hunden des Paares. „Was um alles in der Welt … du hast mich zu Tode erschreckt.“

„Wir hörten dich schrei…“

„Ich hörte dich schreien“, korrigierte Bill. „Ich war auf dem Rückweg …“

„Er hat mich sofort geholt.“ Dalton hielt eine kleine Marmorbuchstütze hoch, eine Kopie von Michelangelos David. „Den habe ich mitgenommen, nur für alle Fälle.“

Anna unterdrückte ein Lächeln. Sie stellte sich vor, wie Dalton – in den Fünfzigern und sanftmütig – ein Stück Marmor gegen einen Einbrecher schleuderte. „Für welche Fälle? Dass meine Bibliothek aufgeräumt werden muss?“

Bill kicherte, Dalton schniefte pikiert. „Für den Fall der Verteidigung natürlich.“

Zur Verteidigung gegen einen Einbrecher, der längst über alle Berge ist, bis meine Freunde sich gesammelt, eine Waffe ausgewählt und sich zu meiner Tür durchgeschlagen haben. Dem Himmel sei Dank, dass ich nie wirklich Hilfe gebraucht habe.

Sie verkniff sich ein Lachen und schwang die Tür weiter auf. „Ich danke für eure Fürsorge. Kommt herein, ich mache uns Kaffee zu den Beignets.“

„Beignets?“, fragte Dalton unschuldig. „Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst.“

Anna drohte mit dem Zeigefinger. „Netter Versuch, aber ich rieche sie. Weil ihr mir zu Hilfe gekommen seid, müsst ihr sie zur Strafe mit mir teilen.“

Beignets, die schmalzgebackenen, üppig mit Puderzucker bestreuten Teigrechtecke, machten – wie alles in New Orleans – süchtig.

Und sie waren bestimmt nicht für Leute wie Dalton geeignet, der angeblich auf sein Gewicht achtete.

„Er hat mich dazu verleitet“, sagte er beim Eintreten mit einem vorwurfsvollen Blick zu Bill. „Du weißt, ich schlage nie solche Schwelgereien vor.“

„Richtig.“ Bill verdrehte die Augen. „Und wessen Figur deutet eine gewisse Neigung zu Schwelgereien an?“

Dalton wandte sich Hilfe suchend Anna zu. Bill war zehn Jahre jünger als er, schlank und athletisch. „Das ist nicht fair. Er isst alles und setzt nicht an. Ich esse nur eine Winzigkeit und …“

„Winzigkeit? Hah! Frag ihn nach den Knabbereien.“

„Ich hatte einen schlechten Tag. Ich brauchte etwas, um mich aufzumuntern.“

Anna hakte sich bei beiden unter und führte sie in die Küche. Ihr Albtraum war schon fast vergessen. Die beiden brachten sie stets zum Lachen. Es erstaunte sie immer wieder, dass diese unterschiedlichen Typen ein Paar waren. Sie erinnerten sie an einen Pfau und einen Pinguin. Bill war unverblümt und manchmal provozierend, Dalton hingegen ein spröder Geschäftsmann, dessen Pingeligkeit oft ziemlichen Wirbel verursachte. Trotz aller Unterschiede waren sie seit zehn Jahren zusammen.

„Ich weiß nicht, wer schuld ist an der Schwelgerei, ich bin nur froh, dass jemand die Idee dazu hatte. Eine Beignet-Orgie morgens um zwei ist genau das, was ich brauche.“

Vor allem aber war sie dankbar für die Freundschaft der beiden. Sie war ihnen in ihrer zweiten Woche in New Orleans begegnet, als sie sich auf eine Anzeige als Verkäuferin in einem Blumenladen im French Quarter gemeldet hatte. Obwohl sie keine besondere Erfahrung mitbrachte, war sie immer sehr geschickt im Arrangieren von Blumen gewesen. Außerdem brauchte sie einen Job, der ihr Zeit und die notwendige Energie ließ, ihrem eigentlichen Traumberuf nachzugehen, dem der Schriftstellerin.

Dalton erwies sich als Besitzer des Ladens, und sie hatten sich auf Anhieb gemocht. Er hatte Verständnis für ihre Träume gezeigt und ihr gratuliert, dass sie den Mut aufbrachte, sie zu verfolgen. Und im Gegensatz zu den anderen Arbeitgebern, mit denen sie gesprochen hatte, war er nicht pikiert gewesen, weil sie die Arbeit in seinem Laden „Die Perfekte Rose“ als Job betrachtete und nicht als Lebensaufgabe.

Dalton hatte sie mit Bill bekannt gemacht, und die beiden Männer hatten sie unter ihre Fittiche genommen. Sie hatten ihr auch die leere Wohnung in Daltons Mietshaus im French Quarter angeboten. Die zwei lebten ebenfalls in dem Haus, quasi Tür an Tür mit ihr. Nach ihrem Einzug hatten sie ihr mit Rat und Tat zur Seite gestanden, damit sie sich schneller eingewöhnte. Sobald sie die zwei besser kannte, hatten sie Anteil an ihren schriftstellerischen Versuchen nehmen dürfen. Und es waren Bill und Dalton gewesen, die ihr nach jeder Ablehnung Mut gemacht und jeden Erfolg mit ihr gefeiert hatten.

Es waren liebe Freunde, und sie würde es mit dem Teufel persönlich aufnehmen, für sie einzutreten. Die beiden täten dasselbe für sie, davon war sie überzeugt.

Es gibt nur einen Teufel. Kurt.

Als lese er ihre Gedanken, sagte Dalton plötzlich besorgt: „Mein Gott, Anna, wir haben dich gar nicht gefragt, ob du in Ordnung bist.“

„Mir geht es gut.“ Sie gab Milch in eine Kasserolle und stellte sie auf den Herd. Dazu holte sie drei Becher aus dem Schrank und gefrorene Kaffeewürfel aus dem Eisfach. „Es war nur ein böser Traum.“

Bill half ihr und gab einen Würfel des gefrorenen Kaffeekonzentrats in jeden Becher. „Nicht schon wieder.“ Er drückte sie kurz. „Arme Anna.“

„Das kommt von diesen krankhaften Geschichten, die du schreibst“, vermutete Dalton und arrangierte kunstvoll die Beignets auf einer Platte. „Davon bekommst du Albträume.“

„Krankhafte Geschichten? Danke, Dalton.“

„Finster meinetwegen“, schränkte er ein. „Verdreht. Angst einflößend. Besser?“

„Ja, danke.“ Sie goss die heiße Milch in die Becher und reichte jedem seinen Café au lait.

Sie trugen Kaffee und Gebäck zu dem kleinen Bistrotisch, nahmen Platz und langten zu. Dalton hatte recht. Ihre Krimis waren von der Kritik genau mit seinen Worten beschrieben worden, allerdings auch als packend und fesselnd. Es wäre schön, wenn sie genügend Auflage hätten, dass sie davon leben könnte.

Sie stehen sich nur selbst im Weg, hörte sie ihren Agenten sagen.

„Und das von einer so nett und normal wirkenden Lady“, bemerkte Bill gespielt entsetzt. „Woher stammen nur diese Ideen? Welche Horrorvorstellungen lauern hinter diesen arglosen grünen Augen?“

Anna gab sich amüsiert. Bill konnte nicht wissen, wie nah er mit seiner Neckerei der Wahrheit gekommen war. Sie war Zeugin größter menschlicher Rohheit geworden. Sie wusste aus erster Hand, zu was Menschen fähig waren.

Dieses Wissen stahl ihr den Seelenfrieden und manchmal, wie heute Nacht, auch den Schlaf. Es beflügelte aber auch ihre Fantasie, was sich in dunklen, unheimlichen Geschichten über Gut gegen Böse niederschlug.

„Wusstet ihr denn nicht“, begann sie leichthin, „dass alle meine Recherchen authentisch sind? Also schaut bitte nicht in den Kofferraum meines Wagens, und vergewissert euch, dass eure Türen nachts verschlossen sind.“ Sie senkte die Stimme. „Wenn ihr wisst, was gut für euch ist.“

Für den Bruchteil einer Sekunde starrten die Männer sie an, dann lachten sie. „Sehr witzig, Anna. Besonders, da das Homo-Pärchen in deiner geplanten neuen Geschichte verprügelt wird.“

„Da wir gerade davon sprechen“, wandte Bill ein und wischte an seinem Platz den Puderzucker von der Tischplatte. „Hast du schon eine Reaktion auf deine neue Buchidee bekommen?“

„Noch nicht, aber ich habe sie ja erst vor ein paar Wochen eingeschickt. Ihr wisst, wie langsam Verlage sein können.“

Bill schnaubte angewidert. Als Werbe- und Public-Relations-Experte stand er die meiste Zeit beruflich unter Dampf. „In meinem Metier könnten die keine zwei Minuten bestehen. Die gingen unter wie nix.“

Anna stimmte gähnend zu, legte eine Hand vor den Mund und gähnte wieder.

Dalton sah auf seine Uhr. „Großer Gott, ich hatte keine Ahnung, dass es schon so …“, er wandte sich Anna zu. „Ach, ich hätte fast vergessen, dir zu sagen, du hast wieder einen Brief von deinem kleinen Fan bekommen. Von der aus Mandeville, auf der anderen Seite des Lake Pontchartrain. Er kam heute in die ‚Perfekte Rose‘.“

Einen Moment wusste Anna nicht, wovon er sprach. Dann erinnerte sie sich. Vor einigen Wochen hatte sie den Fanbrief einer Elfjährigen namens Minnie erhalten. Ihr Agent hatte ihn mit einem Packen anderer Briefe an sie weitergeleitet.

Obwohl sie leicht beunruhigt gewesen war, dass ihre für Erwachsene geschriebenen Romane von einem Kind gelesen wurden, war der Brief charmant gewesen. Die Kleine hatte sie an das Mädchen erinnert, das sie selbst vor der Entführung gewesen war, ein Kind, das die Welt als wunderbaren Ort voller lächelnder Gesichter erlebte.

Minnie hatte ihr versprochen, falls Anna ihr antworte, werde sie auf ewig ihr treuester Fan sein. Auf die Rückseite des Umschlags hatte sie Herzen und Blümchen gemalt und die Buchstaben V.M.E.K., versiegelt mit einem Kuss.

Anna war so angetan gewesen, dass sie den Brief sofort beantwortet hatte.

Dalton zog den neuen Umschlag aus der Jacke seines Trainingsanzugs und reichte ihn ihr. Anna runzelte die Stirn. „Du hast ihn mitgebracht?“

Bill verdrehte die Augen. „Er hat ihn sich geschnappt, nachdem er den David aus seiner Waffenkollektion ausgewählt hatte. Ich konnte ihn gerade noch daran hindern, auch noch Muffins zu backen.“

Dalton schnaubte gekränkt. „Ich habe versucht zu helfen. Das nächste Mal lasse ich es.“

„Hör nicht auf ihn“, riet Anna ihm, nahm den Brief und warf Bill einen warnenden Blick zu. „Du weißt, was für ein Lästermaul er ist.“

Bill deutete auf den Brief. Der Umschlag war wie der vorherige mit Herzchen, Blümchen und den Buchstaben V.M.E.K. verziert. „Er kam direkt zur ‚Perfekten Rose‘, Anna. Nicht über deinen Agenten.“

„Direkt in den Laden?“ Erschrocken erkannte sie ihren Fehler. In ihrem Eifer, dem Kind zu antworten, hatte sie, alle Vorsicht außer Acht lassend, das Briefpapier der „Perfekten Rose“ genommen, einige Zeilen darauf gekritzelt und den Brief in die Post gegeben.

Wie hatte sie so dumm sein können? So sorglos?

„Öffne ihn“, drängte Bill. „Lass uns schauen, was drinsteht. Du bist doch neugierig.“

Sie war neugierig. Nichts war so befriedigend, wie von einem Leser zu hören, wie gut ihm ihr Werk gefiel. Andererseits hatte dieser Kontakt zu Fremden und das Wissen, dass sie durch die Romane Einblick in ihre Gefühle und Gedanken bekamen, auch etwas Beklemmendes.

Durch ihre Arbeit bekamen diese Menschen irgendwie Zugang zu ihrem Leben.

Sie öffnete den Umschlag, zog den Brief heraus und las. Bill und Dalton ebenfalls, indem sie ihr über die Schulter blickten.

Anna las die letzten Zeilen mehrfach und mit Beklemmung. Er machte ihr Angst? Er gab ihnen nicht häufig Pizza und Cheetos?

„Was glaubst du, wer dieser ‚er‘ ist?“, fragte Dalton. „Ihr Dad?“

„Ich weiß nicht“, erwiderte sie stirnrunzelnd. „Er könnte ihr Großvater oder ein Onkel sein. Offenbar lebt sie mit ihm zusammen.“

„Wenn ihr mich fragt, klingt das ein bisschen unheimlich.“ Bill verzog skeptisch das Gesicht. „Und was meint sie damit, ‚wenn er sie rauslässt, sieht sie sich Dawson’s Creek an‘? Das klingt, als wäre sie eine Gefangene oder so.“

Die drei sahen sich stumm an. Anna räusperte sich und zwang sich zu lachen. „Kommt schon, Jungs, ich bin hier die Autorin. Ihr zwei sollt mich auf den Boden der Realität zurückholen.“

„Richtig.“ Dalton lächelte schwach. „Welches Kind bekommt schon genug Fast Food? Als ich dreizehn war, hielt ich meine Eltern für Monster und fühlte mich missbraucht.“

„Dalton hat recht“, stimmte Bill zu. „Außerdem, wenn dieser Typ so schlecht wäre, wie wir unterstellen, würde er Minnie kaum gestatten, mit dir zu korrespondieren.“

„Stimmt.“ Anna seufzte erleichtert, faltete den Brief und steckte ihn in den Umschlag zurück. „Es ist zwei Uhr früh, und wir sind alle überspannt. Ich glaube, wir brauchen Schlaf.“

„Einverstanden.“ Bill erhob sich. „Trotzdem, Anna, ich wünschte, du hättest ihr nicht auf dem Briefpapier des Ladens geantwortet. Wenn man bedenkt, was für Bücher du schreibst, kann man nicht ausschließen, dass mal ein durchgeknallter Fan dich auszuforschen versucht.“

„Ist schon okay.“ Sie rieb sich die Gänsehaut auf den Armen. „Was kann es schon schaden, wenn eine Elfjährige weiß, wo ich arbeite?“

2. KAPITEL

Donnerstag, 11. Januar,

French Quarter.

„Was sagst du da, Anna?“, fragte Jaye Arcenaux. „Glaubst du, diese Kleine ist so ein Fan, der dich verfolgt? Das wäre ja cool.“

Jaye, Annas „kleine Schwester“, war vor einigen Wochen fünfzehn geworden, und jetzt war alles „cool“ oder „total abartig“.

Anna zog amüsiert eine Braue hoch. „Cool? Das glaube ich kaum.“

„Du weißt, was ich meine.“ Sie beugte sich zu ihr hinüber. „Also, glaubst du das?“

„Natürlich nicht. Ich sage nur, dass etwas an diesem Brief eigenartig war und dass ich nicht weiß, ob ich ihn beantworten soll.“

„Was meinst du mit eigenartig?“ Jaye langte über den Tisch und naschte einen von Annas Schokokeksen. „Dalton sagte, ihr hättet alle drei Gänsehaut bekommen.“

„Er übertreibt. Es war spät, und wir waren müde. Aber es klang ein wenig so, als ginge es bei ihr zu Hause recht eigentümlich zu. Ich bin ein bisschen besorgt.“

„Jetzt redest du von meinem Fachgebiet. Ich habe so ziemlich alles an häuslichen Eigentümlichkeiten erlebt, was sich denken lässt.“

Das stimmte, und es tat Anna unendlich leid. Allerdings zeigte sie das nicht. Jaye wollte kein Mitleid. Sie akzeptierte ihre Vergangenheit, wie sie war, und erwartete, dass andere das auch taten.

„Eigentlich wollte ich ganz gern deine Meinung dazu hören.“ Anna zog den Brief hervor und zeigte ihn Jaye. „Vielleicht interpretiere ich mehr hinein, als da ist. Spannende Geschichten zu erfinden ist schließlich mein Beruf.“

Während Jaye las, betrachtete Anna sie. Jaye war trotz ihrer Jugend bereits eine hinreißende Schönheit mit ihrem ebenmäßig geschnittenen Gesicht und den großen dunklen Augen. Bis vor einer Woche, als sie einer schockierten Anna die soeben flammend rot gefärbte Mähne gezeigt hatte, waren ihre Haare von einem warmen Mokkabraun gewesen.

Jayes Schönheit wurde nur von der Narbe gestört, die ihr diagonal über den Mund verlief. Ein Abschiedsgeschenk ihres brutalen Vaters. Volltrunken hatte er wütend eine Bierflasche nach ihr geworfen, die sie am Mund traf und ihr die Lippen spaltete. Der Bastard hatte nicht mal für ärztliche Hilfe gesorgt. Als die Schulkrankenschwester am folgenden Montagmorgen die Verletzung untersuchte, war es zu spät gewesen, die Wunde zu nähen.

Allerdings war es noch rechtzeitig gewesen, den Sozialdienst einzuschalten. Ab da war Jaye auf dem Weg in ein besseres Leben gewesen und ihr Vater auf dem Weg in den Knast.

Bei Recherchen für ihren zweiten Roman hatte Anna Kontakt zur Organisation B.B.B.S.A., Big Brothers and Big Sisters of America, „Große Brüder und Schwestern Amerikas“, bekommen, die Jugendlichen in Not zur Seite stand. Sie hatte einige der älteren Mädchen interviewt und war tief bewegt gewesen von ihren Geschichten, die von Not, Rettung und Zuneigung handelten.

Die Mädchen hatten sie an sich selbst in diesem Alter erinnert. Auch sie war verstört und einsam gewesen und hatte in Zeiten emotionaler Turbulenzen dringend einen Halt gebraucht.

Kurz entschlossen war sie selbst eine „große Schwester“ geworden. Schließlich hatte sie nichts zu verlieren, wenn sie versuchte, in dem Programm mitzuarbeiten.

Sie und Jaye waren jetzt zwei Jahre „Schwestern“.

Im Laufe dieser Zeit waren sie sich nahegekommen. Das war nicht einfach gewesen. Zunächst hatte Jaye nichts mit ihr zu tun haben wollen. Sie war zynisch gewesen für ihr Alter. Da sie ein Leben lang gekränkt und belogen worden war, reagierte sie auf Annäherung mit Zorn und Misstrauen. Sie hatte aus ihrer Ablehnung keinen Hehl gemacht.

Doch Anna war beharrlich geblieben. Zwei Jahre lang hatte sie jedes Versprechen gehalten, zugehört, anstatt zu tadeln, und einen Rat nur erteilt, wenn sie darum gebeten wurde. Dabei war sie ihren Ansichten treu geblieben und hatte jeden Test bestanden. Schließlich hatte Jaye angefangen, ihr zu vertrauen und sie zu mögen.

Diese Zuneigung beruhte auf Gegenseitigkeit, womit Anna beim Einstieg in das Programm nicht gerechnet hatte. Sie hatte nur helfen wollen und bekam im Gegenzug eine Freundschaft geschenkt, die eine Lücke in ihrem Leben ausfüllte, von der sie nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab.

Jaye sah auf. „Du bildest dir das nicht ein. Dieser Typ klingt nach einer üblen Bazille.“

„Bist du sicher?“

„Du wolltest meine Meinung hören.“

„Was meinst du mit übler Bazille?“

„Dass er alles sein kann, von einem Riesen A-loch bis zu einem Perversen, der lebenslang hinter Gitter gehört.“

Anna hörte den bitteren Unterton. „Das ist ein ziemlich breites Spektrum.“

„Ich bin kein Psychiater.“ Jaye gab ihr achselzuckend den Brief zurück. „Ich denke, du solltest ihr antworten.“

Anna verzog die Lippen, nicht so sicher wie ihre junge Freundin, dass sie die Korrespondenz fortsetzen sollte. „Ich bin erwachsen, sie ist ein Kind. Das macht die Kommunikation nicht gerade einfach. Ich möchte schließlich nicht, dass mir ihre Eltern Einmischung vorwerfen. Und ich kann sie ja nicht gut nach ihrem Vater ausfragen.“

„Dir fällt schon was ein.“ Jaye wischte sich mit der Serviette den Mund ab. „Dieses Kind braucht eine Freundin.“

Anna zog unsicher die Stirn kraus. Ein Teil von ihr, der, der immer auf Nummer sicher gehen wollte, drängte sie, den Brief in den Abfall zu werfen und Minnie und ihre Probleme zu vergessen. Der andere Teil stimmte Jaye zu. Minnie brauchte sie. Und sie konnte einem Kind in Not keine Hilfe verweigern.

„Isst du den letzten Keks noch?“, unterbrach Jaye ihre Gedanken.

„Gehört dir.“ Anna schob ihr den Teller zu. „Du bist in letzter Zeit ziemlich hungrig. Ist Fran keine gute Köchin?“, fragte Anna mit Bezug auf Jayes Pflegemutter.

„Gute Köchin?“ Jaye schnitt eine Grimasse. „Sie ist die schlechteste Köchin auf diesem Planeten.“

„Aber sie ist nett, oder?“

Jaye zuckte die Achseln. „Ich glaube, sie ist ganz okay. Wenn sie nicht gerade auf ihrem Besenstiel reitet oder im Mondschein schwarze Katzen und kleine Kinder opfert.“

„Sehr lustig, Naseweis.“

Eigentlich mochte Anna Jayes neue Pflegemutter, aber irgendetwas störte sie. Sie schien sich zu sehr zu bemühen, als müsse sie die Rolle der Pflegemutter spielen, da sie nicht aus ihrem Herzen kam. Dieser Eindruck hatte Anna vom ersten Moment an beunruhigt. Trotzdem hatte sie immer gehofft, dass Jaye Fran Clausen und ihren Mann Bob mochte.

Minuten später verließen sie das CC Coffeehouse im French Quarter. Auf dem Gehweg fragte Anna: „Also, wie läuft’s denn so?“

„Schule oder zu Hause?“

„Beides.“

„Schule ist okay. Zu Hause auch.“

„Überschütte mich bitte nicht mit so vielen Details. Ich bin ja überwältigt.“

Jaye grinste. „Sarkasmus, Anna? Cool.“

Anna lachte. Gut gelaunt setzten sie ihren Weg fort und blieben gelegentlich vor einer Geschäftsauslage stehen. Anna gefielen die Gerüche, die Geräusche und die pittoresken Ansichten, die das Flair des French Quarter ausmachten: eine Mischung von meist alt und manchmal neu, von aufgetakelt und elegant, von köstlich und widerlich. Inmitten von Touristen und Einheimischen, Straßenkünstlern und Obdachlosen hatte es ihr hier auf Anhieb gefallen.

„Sieh dir das an“, sagte Jaye und blieb vor einer Auslage mit Pelzimitatjacken stehen. Sie deutete auf eine Bomberjacke im Zebramuster. „Ist das cool oder was?“

„Es ist cool“, stimmte Anna zu. „Möchtest du sie anprobieren?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nur wenn sie sie verschenken. Außerdem passt sie nicht zu meinem Haar.“

Anna warf Jaye einen Seitenblick zu. „Ich gewöhne mich langsam an deinen Rotschopf. Jedenfalls könnten wir jetzt echte Schwestern sein.“

Jaye errötete erfreut. Sie gingen weiter, und nach einer Weile fragte sie: „Habe ich dir eigentlich von dem Typen erzählt, der mir gefolgt ist?“

Anna blieb erschrocken stehen. „Jemand ist dir gefolgt?“

„Ja, aber ich bin ihm entwischt.“

„Wann und wo ist das passiert?“

„Neulich. Auf dem Heimweg von der Schule.“

„Wie sah er aus? War das nur das eine Mal, oder ist er dir schon früher gefolgt?“

„Ich habe ihn nicht so genau gesehen. Aber soweit ich feststellen konnte, war er bloß so’n oller Perverser.“ Jaye zuckte wieder die Achseln. „Keine große Sache.“

„Es ist eine sehr große Sache. Hast du es deiner Pflegemutter erzählt? Hat sie die Polizei …“

„Mein Gott, Anna, krieg dich wieder ein. Wenn ich gewusst hätte, dass du ausflippst, hätte ich nichts gesagt.“

Anna beherrschte sich. Wenn sie überreagierte, würde Jaye ihr in Zukunft nichts mehr erzählen. Das musste sie vermeiden. Jaye besaß die Gewitztheit des Straßenkindes. Sie war kein Naivchen, das sich leicht von einem Fremden hereinlegen ließ. Sie hatte eine Weile auf der Straße gelebt, ein Umstand, der Anna stets schaudern ließ. „Tut mir leid, alte Leute machen sich eben schnell Sorgen.“

„Du bist nicht alt“, korrigierte Jaye.

„Alt genug, darauf zu bestehen, dass du zur Polizei gehst, solltest du diesen Typen noch einmal sehen. Einverstanden?“

Jaye zögerte und nickte dann. „Einverstanden.“

3. KAPITEL

Donnerstag, 11. Januar,

der Irische Kanal.

Detective Quentin Malone betrat Shannons Taverne und rief einer Gruppe Kollegen einen Gruß zu. Für viele Bewohner von New Orleans läutete der Donnerstagabend den offiziellen Beginn des Wochenendes ein. Bars, Restaurants und Clubs der Stadt profitierten von dem Wunsch, es sich gut gehen zu lassen. Shannons Taverne bildete keine Ausnahme.

In dem Stadtteil gelegen, den man den Irischen Kanal nannte – nach den irischen Einwanderern, die sich hier niedergelassen hatten –, trafen sich bei Shannon vor allem Arbeiter, Anwohner und Polizisten. Den siebten Distrikt des New Orleans Police Department hatte Shannon zu seinem Stammlokal erkoren.

Shannon McDougall, Besitzer und Namensgeber der Taverne, ein ehemaliger Maurer mit Händen wie Klodeckel, hatte kein Problem damit. Cops als Gäste hielten das Gesindel fern. Drogendealer, Schläger und Nutten blieben draußen auf der Straße. Als Dank an die Jungs in Blau nahm er von den älteren Beamten kein Geld. Bei den Jüngeren war das etwas anderes. Wie bei der Truppe mussten sie sich erst mal die Sporen verdienen. Trotzdem waren Trinkgelder jederzeit willkommen. Und am Monatsersten sah man häufiger Geldscheine von einem dankbaren Detective oder Lieutenant in McDougalls Schürzentasche wandern.

Detective Quentin Malone fiel eindeutig in die Kategorie älterer Beamter. Mit siebenunddreißig hatte er sechzehn Jahre Polizeidienst abgeleistet. Außerdem war er Teil einer NOPD-Familiendynastie. Sein Großvater, Vater, drei Onkel und eine Tante waren im Polizeidienst. Von seinen sechs Geschwistern hatten nur zwei nicht den Polizistenberuf gewählt. Patrick, der Buchhalter geworden war, und Patti, die Jüngste der Malones, die am College Kunst studierte.

Quentin schlenderte auf ein Bier an die Bar und wurde von einem kecken dreiundzwanzigjährigen Barmädchen mit blonden Stoppelhaaren aufgehalten. Sie hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, wie sehr sie an ihm interessiert war. Doch ein Mädchen im Alter seiner jüngsten Schwester war nichts für ihn. Dabei hätte er sich sonderbar gefühlt.

„He, Malone.“ Sie lächelte ihn an. „Hab dich eine Weile nicht gesehen.“

„Ich war beschäftigt.“ Er beugte sich vor und küsste ihr die Wange. „Alles klar bei dir, Suki?“

„Kann mich nicht beklagen. Trinkgelder waren gut.“ Sie blickte zu einer Gästegruppe, die sich an einem Tisch niederließ. „Muss gehen. Wir reden später.“

„Sicher.“

Sie ging davon und blickte über die Schulter zurück. „John junior war da. Er bat mich, dir zu sagen, du sollst eure Mutter anrufen.“

Quentin lachte. John jr. war der älteste der Geschwister und das selbst ernannte Familienoberhaupt. Hatte man ein Problem, ging man zu John jr. Gab es Familienzwist untereinander, ging man auch zu John jr. Glaubte umgekehrt John, dass etwas in der Familie nicht stimmte, nahm er die Dinge in die Hand. Quentin überlegte, dass er vermutlich ein Sonntagsdinner zu viel seiner Mutter versäumt hatte.

„Botschaft erhalten, Suki. Danke.“

Er ging an die Bar. Shannon hatte schon gezapft und schob ihm das Bier zu. „Geht aufs Haus.“

„Danke, Shannon. Hast du Terry heute Abend gesehen?“ Er bezog sich auf seinen Partner Terry Landry.

„Ist dort.“ Shannon wies mit dem Daumen auf das Hinterzimmer. „Als ich ihn das letzte Mal sah, zerbrach er gerade sein Queue. Schien ein bisschen daneben zu sein heute Abend. Du weißt, was ich meine.“

Quentin nickte. Er wusste nur zu gut, was Shannon meinte. Sein Partner steckte in einer ziemlichen Lebenskrise. Seine Frau, mit der er seit zwölf Jahren verheiratet war, hatte ihn kürzlich hinausgeworfen, weil mit ihm nicht zu leben sei.

Quentin zweifelte nicht an dieser Feststellung. Berufsbedingt war mit keinem Cop leicht zu leben. Und mit Terry war es bei seinem aufbrausenden Temperament und seiner Neigung zu ausgelassenem Feiern sicher noch schwieriger.

Trotzdem war er ein guter Vater und ein hingebungsvoller Ehemann. Er liebte seine Familie, und Quentin fand, das zählte einiges.

Terry nahm den Bruch sehr schwer. Er war zornig und tief gekränkt, und er vermisste seine beiden Kinder. Er trank zu viel, schlief zu wenig, und sein Verhalten wurde zunehmend irrational. Mit ihm zu arbeiten glich allmählich einem Drahtseilakt.

Doch Terry war viele Male für ihn da gewesen, und jetzt war er an der Reihe, ihn zu unterstützen. Partner hielten zusammen.

Quentin deutete auf das Hinterzimmer. „Ich denke, ich stehe ihm mit Rat und Tat zur Seite. Ich möchte nicht, dass er seine Miete verjubelt.“

Shannon grinste und ging kopfschüttelnd die Bar hinunter zu einem anderen Gast.

Quentin durchquerte den noch leeren Raum. In gut einer Stunde würde es hier von Gästen nur so wimmeln. Die Musik würde aus den Boxen plärren, dichter Zigarettenrauch würde die Menge umwabern, und ein Dutzend oder mehr Paare würden sich auf der provisorischen Tanzfläche drehen. Doch im Moment war von der Bar zum Hinterzimmer noch freie Bahn.

Bis ihm Louanne Price den Weg vertrat und ihn aufhielt. Der Frau mit dem Gesicht eines Engels und dem Körper eines Playboy-Bunnies waren schon viele Männer anbetend vor die Füße gefallen. Das Problem war, jeder Mann in der Nähe von Louannes Füßen lief Gefahr, einen Tritt in den Bauch zu bekommen – oder tiefer.

So war sie nun mal. Doch das Leben war zu kurz für einen Tritt in die edlen Teile, selbst wenn dem eine Reise ins Paradies vorangegangen war.

Sie kam näher, bis sich ihre Körper berührten, stellte sich auf die Zehenspitzen, legte ihm die Hände auf die Schultern und lehnte sich an ihn. „Malone, Süßer, was muss ich tun, um in den Genuss deiner irischen Leidenschaft zu kommen?“

Er schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln. „Ach, Louanne“, erwiderte er gedehnt. „Du weißt, Dickey würde mir in den Hintern treten, wenn ich auch nur in deine Richtung schielte.“ Dickey war ihr Vater und Sergeant beim NOPD. „Deshalb muss ich dich aus der Ferne anschmachten.“

„Ich finde, das ist ein Verbrechen. Und du bist als Cop zur Gesetzestreue verpflichtet.“ Sie fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar. „Er müsste es ja nicht erfahren. Es könnte unser kleines Geheimnis bleiben.“

Quentin schob sie scheinbar bedauernd von sich. Er mochte es durchaus, wenn Frauen die Initiative ergriffen. Doch Louannes Hang zur Verschlagenheit und Unaufrichtigkeit stießen ihn ab.

„Tut mir leid, Baby. Du weißt, dass es im NOPD keine Geheimnisse gibt. Wenigstens keine, die nicht jeder kennt. Bis später.“

Ohne einen Blick zurück ging er weiter. Er fand Terry, wie Shannon prophezeit hatte, mit einem Billardqueue in der Hand am Spieltisch, eine Zigarette im Mundwinkel. Er sah zu Quentin auf, der Blick benebelt vom Alkohol.

Terry war offenbar bereits eine Weile hier.

„Wird aber auch Zeit, dass du auftauchst. Die Nacht ist schon halb rum.“

„Nur wenn du schon so betrunken bist, dass du in etwa einer Stunde bewusstlos wirst.“ Quentin schlenderte heran, zog sich einen Stuhl vom Nebentisch und setzte sich rittlings darauf. „Habe dich beim Captain gedeckt.“

Terry machte seinen Stoß, zog das Queue zurück und verfolgte den Ball. Der fiel ins Loch. „Und wo war ich? Auf dem Klo?“

„Du bist zu Penny gefahren, um dich auszusprechen.“

„Dieses Luder. Nein, danke.“

Quentin zuckte zusammen. Er kannte Penny Landry seit über zehn Jahren. Sie war alles Mögliche, aber bestimmt kein Luder. Terry war zwar gekränkt und verbittert, trotzdem konnte er ihm das nicht durchgehen lassen.

Er trank einen Schluck Bier und sagte ruhig: „Mir scheint, sie tut nur, was ihrer Ansicht nach für sie und die Kinder am besten ist.“

Terry verfehlte seinen Stoß und fluchte. Sein Gegner, ein Mann, den Quentin schon viele Male hatte gewinnen sehen, lächelte und machte sich zum Stoß bereit.

Terry trank sein Bier aus und sah Quentin an. „Auf wessen Seite bist du, Partner?“

„Ich wusste nicht, dass ich Partei für eine Seite ergreifen muss.“

„Aber das musst du, verdammt.“

„Penny ist eine Freundin.“ Quentin sah ihn ruhig an.

„Ich weiß nicht, ob ich Partei ergreifen kann.“

Terry lief rot an. „Das ist ja wohl klasse. Wunderbar! Mein bester Freund sagt mir, dass er …“

„Acht in die Ecke.“

Sie drehten sich um und sahen, wie der andere den Stoß erfolgreich ausführte.

„Revanche?“, fragte er.

„Nein, verdammt. Der Tisch gehört dir.“ Terry wandte sich wieder an Quentin. „Ich brauch was zu trinken.“

Das Letzte, was sein Partner brauchte, war noch mehr Alkohol. Das Offensichtliche zu betonen hätte jedoch keinen Sinn gehabt und Terry nur wütend gemacht. Sie verließen das Billardzimmer und gingen wieder nach vorn.

In den wenigen Minuten, die sie im Hinterzimmer gewesen waren, hatte sich die Menschenmenge im Gastraum verdoppelt.

Quentin sah einige Kollegen, darunter seine Brüder Percy und Spencer. Sie entdeckten ihn und kamen auf ihn zu.

„Was hältst du davon, wenn wir hier abhauen und uns was zu futtern besorgen? Ich bitte Percy und Spencer mitzukommen.“

„Bloß nich’.“ Terry sprach schleppend. „Die Nacht ist jung und voller Möglichk… Aber hallo, wen haben wir denn da?“

Quentin sah in Terrys Blickrichtung. Auf der Tanzfläche tobte sich eine junge Frau im hautengen Minikleid aus. Ihre offenbar gefärbte rote Mähne fiel in Wellen herab. Beim Tanzen fuhr sie sich mit den Händen hindurch, wobei ihre goldenen Armreifen klimperten. Es war nicht auszumachen, ob sie mit einem Mann oder mit mehreren tanzte oder nur für alle eine Show abzog.

Eine Show war es zweifellos. Einige Gäste versammelten sich, um zuzusehen. Quentin und Terry gesellten sich dazu.

Nach einem Moment sah Quentin seinen Partner an. „Ich weiß nicht, Terry. Sie sieht …“

„Sie sieht gut aus. Verdammt gut.“

Quentin hatte sagen wollen, dass diese Frau nicht so aussah, als würde sie sich mit jedem einlassen, schon gar nicht mit einem Cop, es sei denn heimlich. Sie wirkte nicht gerade wie ein verwöhntes reiches Luder, aber wie eine Aufsteigerin. Eine von diesen Frauen, denen Prestige, Position und Armani-Anzüge wichtig waren.

Sie suchte sich Typen aus, die ihr das bieten konnten. Ein Cop war unter ihrem Niveau. Heute Nacht hatte sie aber offenbar Lust gehabt, sich in die Niederungen des gewöhnlichen Lebens zu begeben.

Seine Brüder hatten sich zu ihnen durchgekämpft. Percy fragte: „Was gibt’s, großer Bruder? He, Terry.“

Quentin warf seinen Brüdern einen Blick zu. Die Familienähnlichkeit war offenkundig. Beide besaßen das Markenzeichen der Malones, blaue Augen und dunkle, lockige Haare. Percy musste seine schlaksigen einsneunzig noch ausfüllen, und Spencer hatte das Profil eines Preisboxers, der ein paar Schläge zu viel auf die Nase bekommen hatte. „Im Augenblick versuche ich meinen Partner davon abzuhalten, sich zum Idioten zu machen.“

Die jüngeren Malones folgten Quentins Blickrichtung. Percy grinste. „Heiße Frau, keine Frage. Hast du Lust auf Brandblasen, Terror?“, fragte er und nannte Terry bei dem Spitznamen, den er sich im ersten Jahr im Polizeidienst eingehandelt hatte. „Spencer hier ging schon vor zehn Minuten in Flammen auf.“

„Kein Kommentar“, grollte Spencer und warf seinem Bruder einen gereizten Blick zu.

Terry strich sich das Haar zurück. „Dann seht einem Profi bei der Arbeit zu, Jungs.“

Die drei Malones johlten. „Ich weiß nicht“, rief Quentin ihm nach. „Du bist schon eine Weile aus der Übung.“

Terry grinste keck und überlegen zurück. „Einmal ein Ladykiller, immer ein Ladykiller.“

Groß, schlank, mit dunklen Haaren und Augen und überdies gewieft genug, den charmanten Dialekt seiner Cajun-Vorfahren taktisch klug einzusetzen, war Terry in der Tat ein Frauenschwarm. Quentin schätzte seine Erfolgsaussichten auf über fünfzig Prozent.

Sein Freund schlenderte zu der Frau hinüber, begann im Rhythmus der Musik zu schwingen und kam ihr immer näher. Sie drehte ihm den Rücken zu und tanzte, ohne aus dem Takt zu geraten.

Terry blickte zu seinen Freunden hinüber. Quentin machte mit der Hand die Geste eines abstürzenden Flugzeugs. Percy und Spencer kicherten.

Terry gab nicht auf und versuchte es erneut. Wieder zeigte sie ihr Desinteresse. Diesmal deutlicher.

Beim dritten Versuch begnügte sie sich nicht mit Andeutungen. Sie hörte auf zu tanzen, sah ihm kalt in die Augen und sagte ihm, er solle sich verziehen. Als sie davonwirbelte, wackelte sie mit ihren Hüften, als wolle sie ihn bewusst provozieren.

Alles andere als abgeschreckt, ging Terry zu seinen Freunden zurück. „Sie will mich, gar keine Frage.“

Die drei johlten vor Lachen. Spencer beugte sich zu Terry vor. „Runde eins: Rotschopf ein Punkt, Terror null Punkte.“

Quentin riet kopfschüttelnd. „Gib auf, Partner, die Lady ist nicht interessiert.“

Terry lachte. „Sie ziert sich bloß. Warts nur ab, sie kommt zurück.“

„Klar kommt sie zurück, um dir eine zu scheuern“, konterte Percy und fragte Quentin: „Warum versuchst du es nicht, Bruderherz? Probier’s mit deinem legendären Lächeln.“

„Nein, danke.“ Quentin trank einen Schluck Bier. „Ich liebe mein Ego zu sehr, um es ramponieren zu lassen.“

„Ja, richtig.“ Spencer wandte sich an Terry. „Kennst du die Geschichte von der süßen kleinen Miss Davis? Sie war Quentins Englischlehrerin im letzten Jahr der Highschool.“

„Oh bitte“, stöhnte Quentin auf, „nicht wieder!“

Terry sank auf einen Barhocker und deutete Shannon an, ihm noch etwas zu trinken zu geben. „Davon weiß ich nichts, klär mich auf.“

„Nun“, begann Spencer, „wie es aussah, hatte der große Bruder die Nase nicht genug in die Bücher gesteckt und sich eine dicke Sechs eingehandelt.“

„Es sah ziemlich finster für ihn aus“, führte Percy weiter aus. „Möglicherweise hätte er den Abschluss nicht geschafft. Als Folge: Sommerschule, ein Tritt von Dad in den Hintern. Das ganze Programm.“

Terry gähnte. „Hat die Geschichte eine Pointe?“

Die beiden Jüngeren grinsten. „Gerüchte besagen, dass nach einigen privaten Treffen mit der hübschen Miss Davis die Sechs wie durch Zauberei in eine Drei verwandelt wurde“, erklärte Spencer.

„Schöne Zauberei. Er hat dieses teuflische Lächeln an ihr ausprobiert, das …“

„Teuflisches Lächeln? Jetzt hört aber auf.“ Quentin verdrehte die Augen.

Ihn ignorierend, machte Percy weiter, wo Spencer unterbrochen worden war. „Obwohl er darüber schweigt, hat er wohl mehr benutzt als sein Lächeln, Leute, glaubt’s mir.“

„Stimmt das, Partner?“ Terry zog die Brauen hoch. „Du hast dir mit Süßholzraspeln ein Diplom erschlichen?“

Quentin verzog verärgert das Gesicht, weil seine Brüder dieses Thema angeschnitten hatten. Er fand es einigermaßen peinlich, wenn ein erwachsener Mann hauptsächlich wegen seines Erfolges beim anderen Geschlecht berühmt war. „Werdet erwachsen, Jungs. Befasst euch mit wichtigeren Dingen.“

Die drei amüsierten sich, der Abend ging weiter, und damit wuchs Terrys Entschlossenheit, doch noch bei der Rothaarigen zu landen – im selben Maße, wie ihre Entschlossenheit wuchs, ihn abzuwimmeln.

Für Quentin sah es fast nach einem Spiel der Frau aus, Terry aufzureizen. Sie tanzte mit jedem, der sie aufforderte – manchmal sogar mit zweien gleichzeitig –, nur mit seinem Partner nicht. Gerade so, als wolle sie austesten, wie weit sie ihn treiben konnte.

Nicht sehr viel weiter, dachte Quentin bei sich, als er merkte, wie die Stimmung seines Freundes von keck über ärgerlich nach kampflustig wechselte.

Quentin sah Ärger voraus, und der kam schneller als geahnt.

„Entschuldigung“, sagte die Rothaarige laut und drehte sich zu Terry um. „Haben Sie ein Problem?“

„Yeah, Baby“, erwiderte er schleppend. „Der Typ, mit dem du tanzt, ist ein Stockfisch. Komm her zu mir und lerne einen echten Mann kennen.“

Quentin spannte sich unwillkürlich an, als der andere die Hände ballte. Die Frau legte ihm begütigend eine Hand auf den Arm und maß Terry mit einem vernichtenden Blick. „Davon träumst du, Versager. Kapiert? Nicht jetzt und nicht in Zukunft. Verzieh dich!“

Terry verzog abfällig den Mund. Quentin fluchte leise und stieß seinen Bruder Spencer an, der sich gerade mit Shannon unterhielt. „Es könnte Ärger geben. Hol Percy.“ Damit ging er auf die Tanzfläche.

„Sie haben die Lady gehört“, sagte der Tanzpartner der Frau und baute sich so imposant wie möglich vor Terry auf. „Sie ist nicht interessiert. Hauen Sie ab!“

Terry ignorierte ihn. Seine ganze Aufmerksamkeit und Wut galten der Frau. „Wie haben Sie mich genannt?“, fragte er so laut, dass es in der ganzen Bar zu hören war. Ein Raunen ging durch die Menge.

„Du hast mich gehört, Bulle!“ Sie hielt zwei Finger hoch und formte damit ein V. „Versager mit einem großen V.“

Terry drehte durch und stürzte sich auf den Tanzpartner der Frau. Quentin hatte es kommen sehen und sprang dazwischen.

Blindwütig schlug Terry zu und traf Quentin an der Schulter. Percy und Spencer schnappten sich Terry. Der wehrte sich, verfluchte die beiden, weil sie ihn zurückhielten, und schlug nach Percy, so gut er konnte.

Am Ende waren alle drei Malones nötig, Terry in die Gasse hinter der Bar zu bugsieren.

Der Schock der kühlen Nachtluft brachte ihn halbwegs wieder zur Vernunft. Erschöpft ließ er sich gegen eine Mauer sinken, und Quentin gab seinen Brüdern ein Zeichen, wieder hineinzugehen.

Allein mit seinem Kollegen, machte Quentin seinem Ärger Luft. „Reiß dich zusammen, Terry! Wir sind in Shannons Lokal, um Himmels willen. Du bist ein Cop. Was denkst du dir eigentlich?“

„Ich habe gar nicht gedacht.“ Terry fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. „Es war diese Tussi. Sie hat mich wirklich auf hundert gebracht.“

„Das ist keine Entschuldigung. Vergiss sie. Sie ist es nicht wert.“

Terrys Augen wurden feucht, und er wandte rasch den Blick ab. „Als sie da drinnen … ich musste an Penny denken. Als sie mich rauswarf, nannte sie mich … einen Versager …“

Er schien an dem Wort zu ersticken.

„Es ist hart, Terry, ich weiß.“ Quentin legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Was hältst du davon, wenn wir hier abhauen?“

„Um was zu tun? Nach Hause gehen? Ich habe kein Zuhause mehr. Erinnerst du dich? Penny hat mir mein Zuhause und meine Kinder genommen.“

„Penny ist nicht dein Feind, Terry. Und du bekommst sie nicht zurück, indem du sie dazu machst. Du willst sie doch zurück, oder?“

Terry sah ihn an. „Was glaubst du wohl? Natürlich will ich sie zurück. Ich liebe sie.“

„Dann zeig es ihr. Versuch es mit Romantik. Pralinen, Blumen, führ sie zum Dinner aus, bemüh dich um sie.“

„Na klar“, erwiderte Terry geringschätzig, „der schlaue Malone weiß alles über Frauen. Vor allem natürlich über meine.“

Quentin ignorierte das und schrieb seinen Sarkasmus den Eheproblemen und dem Alkohol zu. „Kaum. Aber wir reden hier nicht über Raketentechnik. Wutausbrüche werden ihr Herz wohl nicht erweichen. Kennst du den Song ‚Versuch’s mit ein wenig Zärtlichkeit‘?“

Terry verzog verbittert das Gesicht. „Was ist eigentlich los mit dir, Partner?“ Er beugte sich wütend zu Quentin vor. „Was ist die vielen Male passiert, wenn meine Frau dich zum Dinner eingeladen hatte? Wovon hast du genascht, während ich das übrig gebliebene Fleisch runterwürgen durfte?“

Quentin beherrschte sich. „Am Morgen wirst du diese Bemerkung bereuen“, sagte er leise, aber ernst. „Und weil du es im Moment schwer hast, lasse ich es durchgehen. Dieses eine Mal. Noch so eine Anspielung, und ich verzeihe dir nicht mehr. Kapiert?“

Terry sackte in sich zusammen. „Ich bin ein Lump, ein totaler Versager, wie die Tussi gesagt hat. Wie meine alte Dame es immer vorausgesagt hat, ein wertloses Nichts.“

„Das ist doch Mist, und das weißt du. Du bist betrunken und tust dir selber leid. Nur lass deinen Zorn nicht an mir aus, Partner, ich bin auf deiner Seite.“

Terry rappelte sich auf. „Ich gehe wieder rein. Ich will nicht, dass diese Schlampe oder sonst wer denkt, sie hätte gewonnen.“

Der Rest des Abends verging wie im Nebel. Die Menge wurde größer und lauter. Die Rothaarige schien sich zu langweilen und beschloss, ihre Reize anderswo zur Schau zu stellen. Die Auseinandersetzung zwischen ihr und Terry war anscheinend vergessen. Auf dem Höhepunkt des nächtlichen Treibens verlor Quentin Terry aus den Augen und traf ihn erst wieder, als das Lokal um zwei Uhr früh schloss.

„Shannon.“ Terry gab dem Barbesitzer einen Klaps auf den Rücken und sagte lallend: „Tut mir leid. Hätte …“, er schwankte, und Quentin stützte ihn am Arm, “… in dein’ Lokal nichts anfangen dürfen.“

„Schon okay, Terry.“ Der bullige Wirt winkte ab. „Du hast viel um die Ohren und musstest ein bisschen Dampf ablassen.“

„Das is’ keine Enschulligung.“ Gefährlich schwankend schüttelte er Quentins Hand ab, holte eine Geldnote aus der Hosentasche und steckte sie Shannon zu. „Nimm, das is’ meine Enschulligung.“

Quentin bemerkte den Schein in Shannons Hand und sah Terry schockiert an. Fünfzig Dollar! Wo zum Teufel hat Terry fünfzig Dollar her?

Shannon musste sich dasselbe gefragt haben, denn seine Brauen schossen fragend in die Höhe, ehe er die Banknote in seiner Schürzentasche verschwinden ließ.

Quentin wandte sich an seine Brüder, die geblieben waren, um ihm zu helfen, Terry heimzubringen. „Ich empfehle, wir bringen unsere fast schlafende Schönheit hier nach draußen.“

Terry konnte kaum gehen. Quentin schaffte ihn mithilfe seiner Brüder zu seinem Bronco und reichte Percy Terrys Autoschlüssel. „Wir treffen uns dort.“

„Klar, Quent.“ Sein jüngster Bruder sah ihn mit seinen lebhaften blauen Augen ernst an. „Das war ein Fünfziger, den Terry Shannon gegeben hat.“

Quentin runzelte die Stirn. „Ich hab’s bemerkt.“

„Das ist eine Menge Geld, um es so rauszuwerfen.“

„Kann man wohl sagen.“ Besonders bei einem Cop, der eine Familie unterstützen und zwei Haushalte führen musste. Es sei denn, dieser Cop war käuflich. Das war Terry nicht. Darauf hätte Quentin sein Leben verwettet. „Vergiss es, Percy.“ Er sah, welche Fragen seinem Bruder durch den Kopf gingen. „Ich bin erledigt. Lass uns die Sache hinter uns bringen.“

Das beharrliche Klingeln des Telefons riss Quentin aus tiefem Schlaf. Leise schimpfend nahm er den Hörer ab. „Malone hier.“

„Nimm dein Bett und wandle“, sagte der Einsatzleiter. „Zeit, zur Arbeit zu gehen.“

Quentin fluchte leise. Ein Anruf vom Revier um diese Zeit konnte nur eines bedeuten. „Wo?“, fragte er mit schlaftrunkener Stimme.

„In der Gasse hinter Shannons Taverne.“

Das machte ihn hellwach. Er richtete sich auf. „Sagtest du, hinter Shannons Taverne?“

„Sagte ich. Weiblich. Weiß. Tot.“

Scheiße. „Du musst nicht so verdammt fröhlich dabei klingen. Bist du ein Ungeheuer?“

„Was soll ich sagen? Ich liebe meine Arbeit.“

Er sah auf seine Uhr und schätzte ab, wann er am Tatort sein konnte. „Hast du Landry schon angerufen?“

„Kommt als Nächstes.“

„Ich mache das.“

„Viel Glück.“

Kann ich gebrauchen. Quentin legte auf und wählte die Nummer seines Partners.

4. KAPITEL

Freitag, 12. Januar,

5 Uhr 45 morgens.

Der Tatort ähnelte Dutzenden anderer, an denen Quentin über die Jahre gearbeitet hatte. Die Jahreszeit änderte sich, die Anzahl der Toten und die Menge des Blutes. Die Aura der Tragödie änderte sich nicht, ebenso wenig der Geruch. Die perverse Zerstörung eines Lebens schrie so laut, dass weder Geplauder noch geschmacklose Witzeleien es übertönen konnten.

Diese Bluttat war nur ungewöhnlich, weil sie so nah an einem vertrauten Lokal geschehen war. Ein Mord war nicht die Art Publicity, die ein Barbesitzer brauchte. Was Morde anging, war es eine ruhige Nacht in New Orleans gewesen. Deshalb würde diese Tote auf der Titelseite erscheinen. Pech für Shannon.

Quentin schwang sich aus seinem Bronco. Das Pflaster war nass, die Luft feucht, und die Kälte zog ihm in die Knochen. Er blickte zum dunklen, sternenlosen Himmel und kroch tiefer in sein Jackett. Viele Stadtbewohner beklagten die Augusthitze in New Orleans. Aber aus seiner Sicht war Höllenfeuer immer noch besser als Grabeskälte. Was vielleicht daran lag, dass er zu viel Zeit mit Toten verbracht hatte.

Er zeigte dem Uniformierten an der Absperrung seinen Ausweis und duckte sich unter dem gelben Band hindurch, um zu der Leiche zu gelangen.

„Verdammt kalte Nacht, um zu sterben“, sagte der Mann und kuschelte sich fröstelnd in seinen Mantel.

Quentin antwortete nicht, sondern ging zum nächsten Beamten, einem Neuling, der viel mit seinem Bruder Percy zusammen war. „He, Mitch.“

„Detective.“ Er trat von einem Bein auf das andere. „Mann, ist das kalt.“

„Wie ’ne Hexentitte.“ Quentin ließ den Blick schweifen. „Bin wohl der Erste.“

„Ja, stets zur Stelle.“

„Habt ihr was angefasst?“

„Nein. Habe den Puls gefühlt, den Führerschein geprüft und Bericht erstattet.“

„Gut. Was haben wir?“

„Weiblich. Weiß. Laut ihrem Führerschein hieß sie Nancy Kent. Sieht aus, als hätte er sie zuerst vergewaltigt.“

Quentin sah den Neuling an. „Ist der Leichenbeschauer unterwegs?“

Mitch nickte.

„Wer hat sie gefunden?“

„Der Müllmann.“ Mitch deutete mit dem Daumen in Richtung der Müllcontainer, hinter deren Schmalseite zwei Beine hervorlugten. Der Rest des Körpers war verdeckt. Gegen den dunklen Asphalt wirkten die Beine weiß wie Fischbäuche. Ein Fuß war nackt, der andere steckte in einem hochhackigen Riemchenpumps.

Quentin spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten.

„Ich habe Namen und Angestelltennummer des Fahrers notiert“, sagte Mitch. „Er musste weiter. Er kannte den Ablauf. Hat vor zehn Jahren wohl schon mal eine Leiche gefunden.“

„Ich sehe sie mir an. Wenn mein Partner kommt, schick ihn zu mir.“

Quentin näherte sich langsam und nahm den Boden rechts und links genau in Augenschein. Mit dem Gefühl, das Unausweichliche tun zu müssen, richtete er den Blick schließlich auf das Opfer. Sie lag, Gesicht nach oben, auf dem Asphalt, Augen offen, die Beine gespreizt. Ihr schwarzes Minikleid war über die Hüften hinaufgeschoben, der schwarze Tangaslip halb heruntergerissen. Ihr langes rotes Haar fiel wirr über das Gesicht und bedeckte teilweise den im stummen Schrei geöffneten Mund.

Die Frau aus der Bar, die sich geweigert hat, mit Terry zu tanzen!

„Verdammt!“, stieß er aus, und sein Atem bildete eine Wolke.

Als er Schritte hörte, drehte er sich um. Terry kam, das Gesicht war so blass wie das der Toten. „Die Spurensicherung ist gerade vorgefahren.“ Er rieb sich die Hände. „Könnte dieser Irre sich eine üblere Nacht ausgesucht haben …“

„Wir müssen reden. Sofort.“

Terrys Blick ging an Quentin vorbei zu dem Opfer. Der Laut, den er ausstieß, hätte von einem kleinen gefangenen Tier stammen können. Er sah Quentin an. „Oh Scheiße!“

„Gut erkannt, Partner“, erwiderte er ernst. „Und du steckst drin.“

5. KAPITEL

Freitag, 12. Januar,

Revier des siebten Distrikts.

Zwei Stunden später klopfte Quentin an die offene Bürotür seiner Vorgesetzten. Captain O’Shay, eine schlanke Brünette mit durchdringendem Blick, sah auf. Sie wirkte nicht glücklich, die beiden so früh am Morgen zu sehen. Terry machte einen nervösen Eindruck. Diese Unterredung konnte sowohl einen guten wie einen schlechten Ausgang nehmen. Captain O’Shay missbilligte es, wenn ihre Beamten an Wirtshausschlägereien beteiligt waren oder Auseinandersetzungen mit Frauen hatten, die Stunden später tot aufgefunden wurden.

„Eine Minute?“, fragte Quentin mit raschem Lächeln. Falls er gehofft hatte, sie damit zu entwaffnen, war es Energieverschwendung. Patti O’Shay hatte sich in einer von Männern dominierten, manchmal frauenfeindlichen und oft chauvinistischen Berufswelt hinaufgekämpft. Ihren Rang als Captain hatte sie durch brillante Polizeiarbeit, einzigartige Zielstrebigkeit und die Fähigkeit, den größten Spruchbeuteln schlagfertig über den Mund zu fahren, erworben. Es gab keinen härteren Captain im ganzen Polizeidienst als Patti O’Shay.

„Wir haben hier möglicherweise eine heikle Situation“, sagte Quentin.

Sie runzelte die Stirn und winkte beide herein. Ihr Blick wanderte kurz zu Terry. „Sie sehen beschissen aus.“

Nicht gerade die Eröffnung, die man sich wünscht.

„Wir waren gestern Abend in Shannons Taverne.“

„Welche Überraschung.“ Sie faltete die Hände vor sich auf dem Schreibtisch. „Da wurde doch dieses Mädchen gefunden.“

„Richtig. In der Gasse hinter der Bar.“

„Was war genau?“

„Sie hieß Nancy Kent.“ Terry räusperte sich und fuhr fort: „Sechsundzwanzig. Kürzlich geschieden. Ein Partymädchen. Kam durch die Scheidung ganz schön zu Geld. Offenbar hat sie es letzte Nacht herumgezeigt.“

Quentin übernahm. „Der Leichenbeschauer nennt als Todeszeitpunkt irgendwann zwischen halb eins und drei Uhr früh.“

Captain O’Shay schien das zu überdenken. „Das heißt, Kent wurde entweder noch zur Öffnungszeit der Bar oder in der Stunde nach der Schließung umgebracht. Zu der Zeit dürfte sich die Gästeschar beträchtlich ausgedünnt haben.“

„Nicht gestern Nacht, Captain“, sagte Terry. „Um halb zwei war die Party noch in vollem Gang. Shannon musste die Hartnäckigsten um zwei regelrecht hinauswerfen. Er drohte, die Polizei zu rufen.“

Sie ignorierte sein Grinsen – ein Drittel der Hartnäckigen waren Polizisten gewesen – und wandte sich an Quentin. „Was ist mit Shannon?“

„Ich habe ihn befragt“, erwiderte er. „Er war ziemlich erschüttert. Er hat weder etwas gehört noch gesehen. Suki und Paula, die beiden Kellnerinnen, die mit ihm abschlossen, konnten auch keinen Hinweis geben.“

„Gibt es einen Verdacht gegen Shannon?“

„Ausgeschlossen. Außerdem hat er ein Alibi. Bis der Laden geschlossen wurde, war er hinter der Bar. Nachdem er zugesperrt hatte, war er mit Suki und Paula zusammen. Die drei sind zusammen gegangen.“

Terry ergänzte: „Gewöhnlich bringt Shannon den Abfall in den Container, während die Mädchen die Bar sauber machen. Aber gestern Abend schnappten sich beide Mädchen ihre Taschen, und sie gingen zusammen hinaus.“

„Um welche Zeit war das?“

„Zwischen drei und drei Uhr zehn.“

„Und keiner hat irgendwas gesehen?“

Sie klang ungläubig, und Quentin erklärte: „Die Gasse ist kaum beleuchtet. Die drei waren erledigt und hatten es eilig heimzukommen. Außerdem kabbelten Suki und Paula sich wegen Trinkgeld. Das Opfer war auch von dem Abfallbehälter verdeckt.“

Captain O’Shay nickte zögernd. „Was ist mit der Todesursache?“

„Wir müssen die Obduktion abwarten, aber der Leichenbeschauer meint, Tod durch Ersticken.“

Captain O’Shay zog die Brauen hoch. „Ersticken? In einer Gasse?“

„Ja, ungewöhnlich. Offenbar wurde sie vorher vergewaltigt. Blutergüsse und Risse in der Schamgegend und an den Innenseiten der Schenkel.“

„Hat die Spurensicherung etwas gefunden?“

„Ein paar Haare, ein paar Fasern unter ihren Nägeln.“

Terry rückte sich unbehaglich zurecht.

„Was ist mit ihrem Exmann?“ Captain O’Shay sah Terry an.

„Ein älterer Mann.“ Seine Stimme schwankte. „Brach zusammen und brabbelte wie ein Baby, als wir es ihm sagten. Angeblich liebte er sie immer noch und hatte gehofft, sie käme zu ihm zurück.“

„Klingt, als hätte er ein Motiv.“

„Aber keine Gelegenheit.“ Quentin erläuterte: „Als Terry älter sagte, meinte er alt. Sauerstoffgerät, Rollstuhl, Pflegeschwester. Das ganze Programm.“

„Alt, aber sehr reich“, fügte Terry hinzu. „Adresse in Old Metairie. Mitglied im Country Club. Alles, was sonst noch dazugehört. Sie hätte sich wohl nicht träumen lassen, dass sie als Erste dran glauben muss.“

Captain O’Shay sah ihn scharf an. „Hatte sie einen Liebhaber?“

„Ihr Ex wusste von keinem“, erwiderte er rasch. „Wir hören uns weiter um.“

„Und wieso haben wir hier eine heikle Situation?“ Sie sah wieder Terry an, der sich unter ihrem Blick unbehaglich wand. „Wie schon gesagt, waren wir gestern Nacht in Shannons Taverne. Das Opfer tobte sich aus und tanzte ziemlich aufreizend. Sie zog eine richtige Schau ab, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Patti O’Shay zog wieder die Brauen hoch. „Nein, ich glaube nicht.“

Quentin sah seinen Partner warnend an. Die Tour „Sie war selbst schuld“ zog bei Patti O’Shay nicht. Damit brachte man sie höchstens gegen sich auf.

Terry erkannte seinen Fehler, räusperte sich und änderte die Taktik. „Ich wollte nur sagen, ich hab’s bei ihr probiert. Mehr als einmal.“

„Und sie war nicht interessiert.“

„Ja.“ Er errötete leicht. „Ich hatte ein bisschen zu viel getrunken und …“ Er suchte nach Worten, die ihn in einem günstigeren Licht dastehen ließen.

Da ihm nichts einfiel, ergänzte ihre Vorgesetzte: „Und Sie haben das Nein nicht akzeptiert.“

„Wie gesagt, ich hatte ein bisschen zu viel getrunken.“

Captain O’Shay stand auf und kam um den Schreibtisch herum. Sie setzte sich auf die Kante, blickte auf ihren Detective hinab und zwang ihn, sie anzusehen. „Und Sie denken, das macht schlechtes Benehmen verzeihlich?“

„Nein, Captain“, erwiderte er betreten.

„Ich bin froh, dass wir da einer Meinung sind, Detective. Was geschah als Nächstes?“

„Ich drängte zu sehr. Es gab einen Wortwechsel zwischen mir und dem Opfer. Ich geriet mit dem Typ, mit dem sie zusammen war, fast aneinander.“

Captain O’Shay war nicht erfreut. „Fast?“

„Malone hat mich gerettet.“

Sie sah Quentin an. Der nickte, und sie ging ans Fenster und blickte in den kalten sonnigen Tag hinaus. Ohne sich umzudrehen, sagte sie: „Ich will einen Bericht. Von beiden. Einen genauen.“

„Ja, Captain.“

Sie drehte sich um. „Ich weiß, dass Sie Probleme in Ihrem Privatleben haben, Detective Landry. Brauchen Sie Urlaub, bis sich alles geklärt hat?“

Er sprang auf. „Ausgeschlossen! Ich werde verrückt, wenn ich nicht arbeiten kann.“

Sie zögerte einen Moment und nickte. „Also gut. Aber ich möchte nicht, dass sich so etwas wie gestern Nacht wiederholt. Ich werde nicht zulassen, dass Sie dieses Department in den Schmutz ziehen. Ist das klar?“

„Ja, Captain.“

„Gut. Noch etwas. Ich werde den Fall an Johnson und Walden übergeben.“

„An diese Möchtegern-Discjockeys?“

„Das ist doch Blödsinn, Captain!“

Die Detectives Johnson und Walden zogen durch die Namensähnlichkeit mit New Orleans’ beliebtesten Radiomoderatoren Johnson und Walton immerwährenden Spott auf sich. Während die beiden Discjockeys kreativ, innovativ und lustig waren, konnte man die beiden Detectives nur als humorlose Langweiler bezeichnen.

„Landry“, fuhr sie fort, als hätten die beiden nicht widersprochen, „Sie sind ab sofort raus aus dem Fall. Quentin, du assistierst den anderen.“

„Assistieren?“ Er sprang auf. „Captain O’Shay, bei allem nötigen Respekt …“

„Interessenkonflikt“, erklärte sie nur und schnitt ihm das Wort ab. „Stunden bevor Nancy Kent vergewaltigt und ermordet wurde, hatte einer meiner Detectives eine hitzige Auseinandersetzung mit ihr. In aller Öffentlichkeit. Damit ist er automatisch ein Verdächtiger.“ Sie sah von einem zum anderen. „Wie klug wäre es wohl von mir, diesen Detective weiter an dem Fall arbeiten oder seinen Partner die Ermittlung leiten zu lassen? Zweifellos mehr als unklug.“

„Und wenn Terry von jedem Verdacht befreit ist?“, fragte Quentin.

„Dann ist der Fall hoffentlich gelöst. Falls nicht, reden wir noch mal darüber.“

Aber erhofft euch nicht zu viel. „Ist das alles?“

„Landry, Sie dürfen sich entfernen. Malone, wir reden noch privat.“ Sobald Terry die Tür geschlossen hatte, fragte sie: „Ist es genau so abgelaufen, wie Landry erzählt hat?“

„Haargenau.“

„Und was geschah nach dem Zwischenfall mit der Frau?“

„Wir haben weitergefeiert. Kurz nach zwei habe ich ihn heimgefahren.“

„Er konnte nicht mehr selbst fahren?“

„Er war sturzbetrunken.“

„Und es ist hundertprozentig sicher, dass er nichts mit dem Fall zu tun hat?“

„Ja, verdammt.“ Quentin wandte kurz den Blick ab. „Terry kann das unmöglich getan haben. Er konnte kaum laufen, geschweige denn eine Frau überwältigen und ermorden.“

Sie schwieg einen Moment und nickte dann. „Ich stimme der Einschätzung zu, aber ich werde ihn beobachten. Ich werde nicht zulassen, dass einer meiner Detectives im Dienst ausrastet.“

„Er ist okay, Captain. Er …“

„Er ist nicht okay“, korrigierte sie kurz angebunden. „Und das weißt du, Detective Malone. Lass dich von ihm nicht mit in die Gosse ziehen.“

Sie kehrte an ihren Schreibtisch zurück, ein Zeichen, dass die Unterredung beendet war. Quentin ging zur Tür und drehte sich noch einmal um. „Tante Patti?“ Sie blickte auf. „Grüß Onkel Sam von mir.“

„Grüß ihn selbst.“ Ein Lächeln umspielte ihren Mund und milderte ihre Züge. „Und ruf meine Schwester an. Wie ich von John jr. hörte, vernachlässigst du sie.“

Leise lachend verabschiedete er sich mit einem kurzen militärischen Gruß.

6. KAPITEL

Freitag, 12. Januar,

Uptown

Dr. Benjamin Walker hatte Kopfschmerzen, als stecke sein Schädel in einer Klammer. Dennoch bemühte er sich, den Ausführungen seines Patienten über dessen widersprüchliche Gefühle nach dem kürzlichen Tod der Mutter zu folgen. Ben arbeitete jetzt seit drei Monaten mit diesem Mann und begann erst an der Oberfläche des Schadens zu kratzen, den sein Patient durch eine kalte, lieblose Jugend erlitten hatte.

„Es ist nicht in Ordnung, Dr. Walker. Sie war meine Mutter, und sie ist tot. Tot.“ Der Mann rang die Hände. „Sollte ich nicht etwas empfinden über den Verlust?“

„Was glauben Sie, was Sie fühlen sollten, Rick?“

Der Mann sah ihn aus geröteten Augen an. „Trauer, Bedauern, Wut. Ich weiß nicht, aber irgendetwas, um Himmels willen, müsste ich doch fühlen.“

Ben ging auf das Letzte ein. „Wut? Das ist ein starkes Gefühl, Rick, eines der stärksten.“

Sein Patient sah ihn verständnislos an. „Wut? Das habe ich nicht gesagt.“

„Doch, haben Sie.“

„Unmöglich. Ich habe meine Mutter geliebt.“

„Es ist verständlich, dass Sie ärgerlich, ja sogar wütend sind.“

„Wirklich?“ Der Mann schien erleichtert. „Weil sie weg ist?“

„Könnte sein? Zumindest teilweise.“ Ben faltete die Hände im Schoß und gab sich unbeteiligt. „Es könnte auch andere Gründe haben.“

„Welche. Was unterstellen Sie?“

„Denken Sie darüber nach, Rick. Sie müssen mir die Gründe nennen.“

Ben lehnte sich zurück und wartete schweigend. Er ließ seinem Patienten Zeit zum Nachdenken. Eines Tages würde Rick Richardson reden, davon war er überzeugt. Dann würde es geradezu aus ihm hervorbrechen. Beängstigend. Er hatte einen unterschwelligen Zorn an Rick bemerkt, vor allem auf Frauen. Das war bei der Erwähnung eines banalen Streits mit seiner Frau durchgeblitzt und in seiner Haltung gegenüber seiner Vorgesetzten. Wortwahl, Körpersprache und leichte Veränderungen der Mimik waren verräterisch gewesen.

Ben vermutete, dass die wahre Ursache für Rick Richardsons unbewältigten Zorn seine dominante und ihn ablehnende Mutter war. Sein Patient war nur bisher nicht bereit, das zuzugeben. Dass sie gestorben war, ehe sie ihre Probleme ausräumen konnten, verstärkte nur seine Wut, die sich nach außen oder nach innen richten konnte.

Er rechnete damit, dass ihnen einige schwierige Sitzungen bevorstanden.

„Sie war eine gute Mutter, Dr. Walker“, sagte Rick plötzlich in trotzigem Ton. „Eine sehr gute Mutter.“

„War sie das?“

Rick sprang auf und ballte die herabhängenden Hände zu Fäusten. An seiner Stirn trat eine Vene hervor. „Was zum Teufel soll das heißen? Sie haben sie doch gar nicht gekannt! Sie wissen nichts über unsere Beziehung oder über sie als Mensch.“

„Ich weiß, was Sie mir erzählt haben“, erwiderte Ben ruhig. „Und ich würde wirklich gern mehr erfahren.“

Rick starrte ihn einen Moment an und wandte den Blick ab. „Ich möchte jetzt nicht darüber reden.“

Ben sah seinen Patienten ruhelos im Raum hin und her gehen. „Warum nicht?“

Rick drehte sich ruckartig zu ihm um. „Weil ich nicht will! Reicht das nicht als Begründung? Warum müssen Sie so auf mir herumhacken? Genau wie meine Frau. Wie meine Mut… Scheiße.“

„Hat Ihre Mutter auf Ihnen herumgehackt?“

Er errötete. „Ich sagte, ich will nicht darüber reden.“

„Gut. Wir haben noch ein paar Minuten übrig. Reden Sie, worüber Sie möchten.“

Wie erwartet, wählte sein Patient das weniger emotionsbeladene Thema des Jobs und ging weiter hin und her. Ben verfolgte seine Bewegungen. Dabei erhaschte er in dem großen, goldgerahmten Spiegel auf der gegenüberliegenden Wand einen Blick auf sich selbst. Der Spiegel war ein Luxusgegenstand, ein Geschenk, das er sich zu seinem fünfundzwanzigsten Patienten gemacht hatte.

Der fünfundzwanzigste Patient. Vor anderthalb Jahren hatte er noch in einer aufstrebenden psychiatrischen Praxis in Atlanta gearbeitet, mit dem Angebot einer Partnerschaft auf dem Tisch. Er hatte darauf verzichtet und war seiner alten Mutter nach New Orleans gefolgt.

Ihr Umzug war ein Schock für ihn gewesen. Sie hatte einfach ihre Sachen gepackt und war gegangen. Später hatte sie darauf beharrt, es sei doch sein Vorschlag gewesen. Letztlich hatte er ihren spontanen Einfall jedoch als Glücksfall und als Weckruf empfunden.

Ihr bizarres Verhalten hatte ihn gezwungen, sich intensiver mit ihr zu befassen. Dabei hatte er gemerkt, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Etwas, das über reine Vergesslichkeit hinausging. Die Testergebnisse hatten ihm bestätigt, sie litt an Alzheimer im Frühstadium.

Er war entsetzt gewesen und hatte sich Vorwürfe gemacht, so unaufmerksam gewesen zu sein. Schließlich war er Doktor der Psychologie. Er hätte merken müssen, was mit ihr los war, und das lange bevor sie in diesen Zustand geriet. Seit Jahren verwechselte sie Menschen und Ereignisse, vergaß Verabredungen und besondere Daten. Er hatte sich eingeredet, dass viele Menschen im Alter vergesslich wurden, bis er nicht mehr umhinkonnte, sich den Tatsachen zu stellen.

Ein halbes Jahr nach ihrer Ankunft in New Orleans hatte er sie überzeugt, dass sie glücklicher – und sicherer – in einem Altenheim lebte.

„Ich habe wieder davon fantasiert zu sterben.“

Ben richtete sich auf, sofort auf seinen Patienten konzentriert. „Erzählen Sie mir davon, Rick.“

„Da gibt es nichts zu erzählen.“

„Wenn das stimmte, hätten Sie es nicht erwähnt. Haben Sie davon fantasiert, Ihr Leben zu beenden? Oder haben Sie sich nur vorgestellt, wie die Welt ohne Sie wäre?“

„Ich bin … einfach verschwunden. Ich war da, und plötzlich war ich weg.“

Ben war erleichtert. Kein Kliniker, der sein Geld wert war, nahm Todesfantasien eines Patienten auf die leichte Schulter. Sich vorzustellen, einfach zu verschwinden, war jedoch weniger alarmierend. Rick hatte schon von ähnlichen Vorstellungen berichtet, immer in Zeiten großer emotionaler Belastung.

„Wie haben Sie sich dabei gefühlt?“, fragte Ben.

„Zornig.“ Rick blieb stehen. Sein attraktives Gesicht war durch starke Emotionen verzerrt. Ben konnte allerdings nicht entscheiden, ob durch Schmerz oder Wut. „Niemand schien es zu bemerken oder zu kümmern. Sie feierten die Party einfach weiter.“

Die Party. Das Leben. Ben verstand. Er beugte sich vor. „Denken Sie darüber nach, ob diese Fantasien Ihre Gefühle über den Tod der Mutter widerspiegeln. Ihre Ambivalenz, Ihren Zorn und Ihre Isolation. Wir sprechen in der nächsten Sitzung kommende Woche darüber.“

Ben stand auf, ein Zeichen, dass ihre Zeit vorüber war. Er brachte Rick an die Praxistür, wünschte ihm eine angenehme Woche und sagte Gute Nacht.

Er sah seinen Patienten den Warteraum durchqueren und kehrte lächelnd, voller Vorfreude an den Schreibtisch zurück. Rick war heute sein letzter Patient gewesen. Sobald er die Notizen über die Sitzung überflogen und den Schreibtisch aufgeräumt hatte, gehörte das Wochenende ihm.

Und er hatte vor, es ganz seinem Buch zu widmen: einer Abhandlung über die Auswirkungen früher Kindheitstraumata – besonders physischer, psychischer und sexueller Misshandlungen – auf die Persönlichkeitsentwicklung.

Die Idee dazu war im ersten Jahr seiner Arbeit als praktizierender Kliniker entstanden, als er an einer Klinik in Atlanta gearbeitet hatte. Die Idee hatte sich im nächsten Jahr verfestigt, als er der „Peachtree Road Psychiatergruppe“ beigetreten war. Die Patienten hätten kaum unterschiedlicher sein können als in beiden Einrichtungen, und doch sah er immer wieder dieselben Auswirkungen von Kindheitstraumata auf die spätere Persönlichkeit.

Zwei Dinge hatte er gelernt: zum einen, dass Kindesmisshandlungen alle sozialen, ökonomischen und ethnischen Grenzen übersprangen. Und zum anderen, dass sich die Folgen dieser Misshandlungen in vorhersehbaren Mustern pathologischer Erscheinungen beim späteren Erwachsenen zeigten. Er hatte nach Arbeiten anderer Wissenschaftler zu diesem Thema gesucht und sich in die Forschungen von Klinikern vertieft.

Als sich diese Nachforschungen ansammelten, war in ihm der Wunsch entstanden, sie in einem Buch zusammenzufassen. Er betrat damit kein Neuland. Sein Buch war nicht das erste zu diesem Thema und würde nicht das letzte sein. Er wollte es jedoch populärwissenschaftlich schreiben, sodass es den normalen Leser ansprach. Sein Ziel war es, durch Aufklärung zu helfen.

Einmal begonnen, wurde das Schreiben zu einer Besessenheit, der er so viel Zeit wie möglich widmete.

Beim Verlassen der Praxis sah er sich wieder kurz im geschliffenen Glas seines antiken Spiegels. Es war ein flüchtiger Blick, und er blieb erschrocken stehen. Für den Bruchteil einer Sekunde war er sich fremd vorgekommen.

Wie wer, um Himmels willen? Wie der Mann im Mond? Wie Rick Richardson? Er dachte an seinen blendend aussehenden Patienten. So auszusehen, davon konnte er nur träumen. Er betrachtete sich erneut im Spiegel: mittelgroß, mittelschlank, mittelbraunes Haar und braune Augen. Und eine Brille, die ihn wie den Bücherwurm aussehen ließ, der er war.

Er würde nie ein Ladykiller werden. Seinetwegen fielen die Frauen nicht reihenweise in Ohnmacht.

Das war auch okay so. Darauf legte er keinen Wert.

Er war klug und zuverlässig und ein guter Sohn. Und eines Tages, wenn er die richtige Frau fand, würde er ein treu sorgender Ehemann und Vater sein.

Er fühlte sich wohl in seiner Haut. Er mochte den Ben Walker, der er geworden war, und ihm gefiel der Weg, den er eingeschlagen hatte.

Lächelnd schaltete er das Licht in der Praxis aus, verschloss die Tür hinter sich und ging in den Warteraum.

Er war ein Einmannunternehmen. Er hatte nicht mal eine Empfangssekretärin. Er brauchte keine. Seine Termine machte er selbst. Wenn er Sitzungen hatte, nahm ein Telefondienst alle Anrufe entgegen, und ein Computerprogramm half ihm bei der Buchführung. Bisher war sein Kontakt zu Versicherungsfirmen minimal gewesen. Er war autark und hatte nichts mehr gemein mit der Psychiatergruppe in Atlanta mit ihren Luxusräumen und den zwanzig Angestellten.

Aber er vermisste das nicht. Er gehörte hierher. Wenn die Praxis größer wurde, würde er vermutlich jemand anstellen müssen. Den Tag bedauerte er heute schon. Seine Praxis nahm eine Hälfte eines Doppelhauses im Garden District ein. Die andere bewohnte er. Das war bequem, intim und heimelig. Durch Angestellte würde sich das ändern. Andererseits waren Veränderungen unvermeidbar und ein unausweichlicher Teil des Lebens.

Ben ging zu dem niedrigen Tisch, legte die Magazine zusammen und bemerkte den großen Umschlag, der gegen eines der Sofakissen gelehnt war. Er nahm ihn an sich. In die obere linke Ecke war sauber sein Name geschrieben. Ansonsten war das Päckchen durch nichts gekennzeichnet.

Neugierig öffnete er es. Ein Roman kam zum Vorschein, ein Thriller von Anna North. Die Autorin war ihm unbekannt. Während er das Buch umdrehte, flatterte eine Notiz zu Boden. Kurz und rätselhaft stand darauf:

Morgen, 15 Uhr. E! Unterhaltungskanal.

Ben fragte sich stirnrunzelnd, wer ihm das hinterlassen haben könnte? Und warum?

Er blätterte das Buch durch, fand jedoch keine Antwort darauf. Vermutlich hatte einer seiner Patienten es für ihn hingelegt, ohne es zu erwähnen, oder es abgelegt, während er in einer Sitzung war.

Er hatte heute sechs Patienten gehabt. Er zählte sie an den Fingern ab und konnte sich bei keinem vorstellen, warum er ihm ein Buch hinlegen sollte. Während er in einer Sitzung gewesen war, hätte allerdings auch jeder Fremde ins Wartezimmer gehen können.

Die Frage blieb: warum? Um das Rätsel zu lösen, würde er morgen E! einschalten.

7. KAPITEL

Samstag, 13. Januar,

French Quarter.

Kurz nach zwei kehrte Anna von ihrer Halbtagsstelle in der „Perfekten Rose“ heim. Fröstelnd blickte sie zum grauen Himmel und wünschte, der vom Meteorologen auf Kanal 6 vorausgesagte Sonnenschein würde sich endlich zeigen. Der Winter hatte gerade erst begonnen, und sie sehnte schon sein Ende herbei.

Nach ihrem Lunch mit Jaye am Donnerstag war sie beunruhigt an ihre Arbeit zurückgekehrt. Dass Jaye verfolgt worden war, machte ihr zu schaffen. Sie hatte sogar daran gedacht, ihre Pflegemutter oder die Polizei zu benachrichtigen, den Gedanken jedoch wieder verworfen. Zum einen, weil Jaye über eine Einmischung wütend gewesen wäre, und zum anderen, weil sie sich geeinigt hatten, dass Jaye zur Polizei ging, sollte der Mann noch einmal auftauchen. Anna war nicht ganz zufrieden mit diesem Kompromiss, wollte die Sache jedoch vorläufig auf sich beruhen lassen.

Sie holte den Schlüssel aus der Tasche. Zusätzlich zu ihren Sorgen um Jaye beunruhigten sie Minnie und der ominöse „Er“ aus ihren Briefen.

Da Jaye vermutlich recht hatte und Minnie eine Freundin brauchte, hatte sie den Brief beantwortet. In fröhlichem Plauderton hatte sie einige Fragen über Minnies Eltern und ihr Verhältnis zu ihnen eingeflochten. Inzwischen fragte sie sich, ob sie subtil genug gewesen war und Minnies Leute sie nicht durchschauten – und ihr die Hölle heißmachten.

Anna öffnete die Tür zum Hof ihres Mietshauses, blieb stehen und winkte dem alten Mr Badeaux von gegenüber zu. Als aufmerksamer Nachbar verbrachte Alphonse Badeaux die meiste Zeit des Tages mit seiner uralten einäugigen Bulldogge Mr Bingle auf den Eingangsstufen seines Doppelhauses.

Alphonse, zweimaliger Witwer, schwatzte mit jedem, der des Weges kam, und wusste fast alles über die Leute im Umkreis etlicher Blocks.

„Sie haben heute ein Päckchen bekommen“, rief er, stand auf und kam herüber. „Ich habe den Boten gesehen, weiß aber nicht, von wem es ist. Geht mich auch nichts an.“

Anna schmunzelte darüber. „Hat er es über das Tor geworfen?“ Falls niemand im Haus war, den Toröffner zu betätigen, wurden die Päckchen häufiger in den Hof geworfen. Das war kein Problem, solange es nicht unerwartet regnete. Da das in New Orleans aber häufiger vorkam, hatte sie schon einige durchweichte Päckchen erhalten.

„Nein.“ Er kratzte sich am Kopf. „Irgendwer hat den Toröffner gedrückt. Ging rein und kam nach vier Minuten wieder raus. Weiß aber nicht, wer. Geht mich nichts an.“

„Danke, Alphonse. Ich werde mal sehen, was es ist.“ Sie blickte über die Straße zu Mr Bingle, der auf den Eingangsstufen fläzte. „Ansonsten ist alles okay mit Ihnen und MrBingle?“

„Einigermaßen.“ Er fuhr sich mit einer Hand über das alte, wettergegerbte Gesicht. „Ich mag die Kälte nicht. Geht mir in die Knochen.“

„Ich weiß, was Sie meinen. Es ist feucht.“

Er nickte und deutete mit dem Daumen auf seinen Hund. „Scheint den alten Mr Bingle nicht zu kümmern. Kalt oder heiß, nass oder trocken, der alte Bingle merkt den Unterschied nicht.“

Der Hund hob den Kopf und sah sie mit seinem verbliebenen Auge an. Anna berührte ihren Nachbarn lächelnd am Arm. „Kommen Sie mal auf eine Tasse heiße Schokolade zu mir hoch. Wenn ich das selbst sagen darf, mein Gebräu ist umwerfend gut.“

„Das ist sehr lieb von Ihnen, Miss Anna. Mache ich gern. Sehen Sie jetzt nach Ihrem Päckchen.“

„Ja, mache ich.“ Sie ging in den Hof und schloss das Tor hinter sich.

Wie viele alte Gebäude im French Quarter, dem Vieux Carré, war ihres um einen zentralen Hof herum gebaut. In früheren Zeiten dienten diese Höfe mit ihren Ziegelmauern und der üppigen Vegetation den Anwohnern als Zuflucht vor der Sommerhitze. Heute waren sie eine Oase der Ruhe vor dem Lärm der Stadt.

Anna ging die schmale Treppe in die erste Etage hinauf. Tatsächlich lehnte ein wattierter Umschlag an ihrer Tür. Sie nahm ihn, schloss ihre Wohnungstür auf und trat ein. Nachdem sie ihre Tasche auf den Flurtisch gelegt hatte, nahm sie das Päckchen genauer in Augenschein. Es trug nur ihre Adresse, aber sonst keinen weiteren Hinweis. Kein Poststempel, kein Absender oder Firmenaufdruck.

Seltsam, dachte sie, öffnete den Umschlag und nahm eine Videokassette heraus mit dem Aufdruck: „Interview Savannah Grail“.

Mutter. Anna lächelte. Natürlich. Beim letzten Gespräch hatte ihre Mutter erwähnt, dass ihr Agent ihr einige neue Möglichkeiten eröffnet hatte. Dieses Interview war vermutlich eine davon.

Sie schaltete den Fernseher an und schob das Band in den Videorekorder. Mit einem Glas Wasser und einer Handvoll Cracker aus der Küche setzte sie sich. Ihre Mutter vermisste die Schauspielerei, das Scheinwerferlicht und die Verehrung der Fans. Es fehlte ihr, ein Star zu sein.

Schon lange war sie keiner mehr. Nach der Entführung seinerzeit war es mit der schon abflachenden Karrierekurve noch einmal kurz bergauf gegangen. Doch das hatte nicht lange angehalten. Sie war bereits fünfundvierzig gewesen. Ein Alter, in dem bei weiblichen Hollywoodstars die Metamorphose zur Filmmutter beginnt. Diese Rollen gingen jedoch an Schauspielerinnen mit Oscar-Format. Etwas, das ihre Mutter auch in ihren besten Zeiten nicht gehabt hatte.

Es war eine traurige Tatsache, aber für ihre Mutter gab es keine Arbeit mehr, mal abgesehen von einem gelegentlichen Werbefilm oder einer Rolle in einer lokalen Theaterproduktion.

Savannah hatte Mühe gehabt, das zu akzeptieren, aber sie hatte es überlebt. Nach dem Scheitern ihrer Ehe hatte sie Kalifornien verlassen und war in ihre Heimatstadt Charleston zurückgekehrt.

Dort war sie immer noch ein Star. Sie war die Savannah North – eine Rolle, die ihr auf den Leib geschrieben war.

Lächelnd machte Anna es sich auf dem Boden bequem und drückte die Starttaste. Gleich darauf erschien ihre Mutter im blauen Seidenkostüm mit Diamantschmuck auf der Bildfläche.

Anna aß Cracker und verfolgte, wie ihre Mutter vor der Kamera lebendig wurde und den Interviewer anlächelte, jeder Zoll ein Star. Sie war immer noch bildschön, immer noch der rothaarige, grünäugige Blickfang, den das Publikum – vor allem das männliche – so geliebt hatte.

Der Interviewer machte sich an die Arbeit und blieb im Hintergrund. Da Anna vertraut mit Filmarbeit war, wusste sie, dass viele Interviews so entstanden. Das Gesicht des Interviewers wurde später wahlweise eingefügt.

Der Mann fragte ihre Mutter nach ihrer Arbeit und ihrem früheren Status als Filmgöttin. Er fragte nach Filmen und Fernsehserien, in denen sie der Star gewesen war. Sie sprachen über das Hollywood der Fünfzigerjahre, über die damaligen Stars und Savannahs amouröse Abenteuer.

Dann nahm das Interview eine andere Wende. Der Videofilmer befragte Savannah nach ihrem Privatleben, ihrer Scheidung, ihrem Umzug nach Charleston und nach ihrem einzigen Kind, ihrer Tochter Harlow Grail.

Anna straffte sich mit einem unguten Gefühl. Der Interviewer fragte weiter, obwohl ihre Mutter deutliche Zeichen des Unmuts zeigte. Er sprach über die tragische Entführung und ihre Auswirkungen auf Savannahs Ehe und Harlows Psyche.

Anna beobachtete die Reaktionen ihrer Mutter auf die Fragen und bemerkte das Geschick des Interviewers. Er wechselte zwischen Schmeichelei und Vorwurf, Bewunderung und Argwohn und wusste nicht nur, wie er die Themen anschneiden musste, sondern auch wann. Er ging so weit zu behaupten, ihre Karriere habe von der Tragödie profitiert.

Das machte Anna wütend. Sie durchschaute sein manipulatives Spiel, ihre Mutter offenbar nicht. Savannah klappte regelrecht zusammen und begann sich zu rechtfertigen.

Er nutzte ihr Unbehagen und holte zum Todesstoß aus. „Es ist einfach tragisch“, sagte er leise, „dass Harlow die Entführung trotz ihrer Stärke und ihres Mutes nie überwunden hat. Es muss schmerzlich für Sie gewesen sein, dass sie so ganz in der Versenkung verschwand. Ich kann mir gut vorstellen, wie zornig und hilflos Sie sich fühlen müssen.“

„Harlow ist ganz gewiss nicht in der Versenkung verschwunden!“, trumpfte sie stolz auf, ihre Tochter zu verteidigen. „Sie ist Krimiautorin und lebt in New Orleans. Und sie ist ziemlich erfolgreich, möchte ich hinzufügen. Ihre ersten beiden Bücher bekamen überschwängliche Kritiken.“

„Eine Krimiautorin“, sagte der Interviewer leise. „Es erstaunt mich, dass ich nicht früher davon gehört habe. Vermutlich hätte schon der Name Harlow Grail sie zum Bestseller gemacht, denken Sie nicht auch?“

„Sie hat ein Pseudonym angenommen. Nach allem, was sie durchgemacht hat, meidet sie das Rampenlicht. Sicher verstehen Sie das.“

Der Interviewer gab einen Laut der Zustimmung von sich und fügte, für Anna verlogen klingend, hinzu: „Das verstehe ich völlig. Aber sicher können Sie uns ein wenig mehr erzählen. Schließlich hielt Harlows albtraumhafte Entführung und ihre heldenhafte Flucht Amerika zweiundsiebzig Stunden in Atem. Wir bangten um sie und bejubelten sie. Sie war und ist immer noch eine unserer Heldinnen. Können Sie uns wenigstens einen ihrer Buchtitel nennen?“

„Ich wünschte, ich könnte, aber …“

„Wer ist der Verleger? Doubleday, Cheshire House?“ Er sah an ihrer Mimik, dass der letzte Name richtig war. „Cheshire House verlegt große Namen des Genres. Gehört Harlow auch dazu?“

Aufgebracht drückte Anna den Pausenknopf. Der eigene Blutstrom dröhnte ihr in den Ohren, während sie auf das Standbild ihrer Mutter starrte. Savannah hatte fast alles über sie preisgegeben, bis auf ihren Namen und die Telefonnummer. Wahrscheinlich musste sie dankbar sein, dass nicht auch noch ihre Adresse oder der Blumenladen genannt worden waren.

Beruhige dich, keine Panik! Schätze den Schaden nüchtern ein.

New Orleans war eine große Stadt mit einer großen Autorengemeinde. In keiner Veröffentlichung des Verlages erschien ihre Anschrift. Außerdem hatte ihre Mutter kein Erscheinungsdatum ihrer Bücher erwähnt. Und Cheshire House verlegte viele Autoren.

Sie drückte auf den Startknopf und ließ das Video weiterlaufen. Ihre Mutter sah geschafft aus, den Tränen nahe. Der Interviewer ließ es gut sein. Einen Moment später wurde die Mattscheibe dunkel, bis auf einige in Weiß geschriebene Worte.

Überraschung, Prinzessin. E!. Heute um drei.

8. KAPITEL

Samstag, 13. Januar,

15 Uhr 10.

Ben verpasste am Samstagnachmittag die ersten zehn Minuten der Sendung auf E!. Das Programm befasste sich heute mit rätselhaften Ereignissen in Hollywood.

Ben ließ sich aufs Sofa fallen und lehnte sich erschöpft zurück. Bei seinen Recherchen gestern Abend war er eingeschlafen. Er erinnerte sich nur vage, dass er irgendwann in der Nacht ins Bett gewankt war. Erwacht war er vor Anbruch der Morgendämmerung, hatte angezogen quer über dem Bett gelegen und sich gefühlt, als hätte er stundenlang den Mond angeheult, anstatt am Schreibtisch zu schlafen.

Das Programm wurde für eine Werbeeinblendung unterbrochen. Der Moderator bat das Publikum, am Gerät zu bleiben, und kündigte das nächste Thema an: ein Märchen, das zum Albtraum wurde. Die Entführung der Harlow Anastasia Grail.

Ben beugte sich aufmerksam vor. Die Grail-Entführung gehörte zu den Fällen, die in regelmäßigen Abständen immer wieder von den Medien aufgegriffen wurden. Der Fall besaß alle Elemente, die ihn zeitlos spannend machten. Schöne Menschen mit Hollywood-Verbindungen, Reichtum, Kinder in Gefahr, ein sowohl tragisches wie triumphales Ende und ein ungelöstes Rätsel.

Der Moderator kehrte zurück und fasste die Geschichte der kleinen Hollywoodprinzessin, die auf dem elterlichen Anwesen in Beverly Hills mit ihrem Freund entführt wurde, kurz zusammen. Anhand alter Nachrichtensendungen und nachgespielter Szenen wurde das Ganze noch einmal dargestellt, inklusive Harlow Grails dramatischer Flucht.

Ben nahm jedes Wort begierig auf. Was war mit Harlow geschehen? Was war nach dieser Tortur aus ihr geworden? Wie hatte der Horror jener drei Tage den Menschen beeinflusst, der sie heute war? Welche Auswirkungen hatte es auf ihre Entscheidungen und Beziehungen im Leben?

Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, wurde ein kürzlich aufgenommenes Interview mit Savannah Grail eingeblendet. Minuten später widmete sich das Programm einem anderen Rätsel.

Ben schaltete den Fernseher aus und lehnte sich zurück. Harlow Grails Geschichte wäre eine unglaubliche Bereicherung für sein Buch. Als Kind hatte sie eine grausame Erfahrung überlebt, was zweifellos ihr späteres Leben beeinflusst hatte. Mit dieser Geschichte würde sein Buch Beachtung finden.

Er zog die Brauen zusammen und rekapitulierte noch einmal, was er aus der Sendung erfahren hatte. Savannah Grail hatte verraten, dass ihre Tochter in New Orleans lebte, Krimiautorin war und bei Cheshire House verlegt wurde. Ihre Tochter schrieb unter einem Pseudonym und wachte eifersüchtig über ihre Privatsphäre.

Ben stand auf und ging zum Schreibtisch. Dort lag das Buch, das er tags zuvor in seinem Warteraum gefunden hatte. Es war bei Cheshire House verlegt, und die Autorin hieß Anna North.

Natürlich. North war Savannah Grails Mädchenname, das hatte er soeben aus der Fernsehsendung erfahren. Anna war eine Zusammensetzung aus Anastasia und Savannah. Die Autorin Anna North war offenbar die entführte Hollywoodprinzessin Harlow Grail.

Stirnrunzelnd blickte Ben auf den Roman in seiner Hand. Welcher seiner Patienten hatte ihm das Buch hingelegt und warum?

Er würde nachfragen müssen, beginnend mit den sechs Leuten, die gestern bei ihm waren.

9. KAPITEL

Samstag, 13. Januar,

16 Uhr.

Die Sonne ließ sich, wie versprochen, endlich blicken, und kaltes Licht ergoss sich auf den Küchentisch. Anna saß da und starrte ins Leere, als das Telefon plötzlich läutete.

Da sie nicht abnahm, schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Sie hatte den Lautsprecher so leise gestellt, dass sie nicht mitbekam, wer am Apparat war. Sie wollte nicht schon wieder hören, wie erstaunt jemand über ihre wahre Identität war.

Mit ihrer Mutter und ihrem Vater hatte sie bereits gesprochen. Ebenso mit einem halben Dutzend Freunden, ihrem Agenten und ihrer Lektorin. Alle hatten ihr letztes Buch zugeschickt bekommen mit der Aufforderung, E! einzuschalten. Einer nach dem anderen hatte sein Erstaunen geäußert, dass sie Harlow Grail, die gekidnappte Hollywoodprinzessin, war. Und immer wieder war die Frage gestellt worden, warum sie es nicht erzählt habe.

Einige, wie ihre Lektorin, waren begeistert gewesen über die Neuigkeit. Endlich hätten sie die ideale Werbeidee, um ihr neues Buch auf die Bestsellerlisten zu hieven.

Ihr Agent hingegen hatte sauer reagiert, weil sie ihm eine so wichtige Information vorenthalten hatte. Wie sollte er sie angemessen vertreten, wenn er nicht einmal wisse, wer sie eigentlich sei?

Anna grübelte, wer ihr das angetan hatte. Und warum?

Es klopfte an der Wohnungstür, dann ertönte Daltons Stimme. „Wir sind es, Dalton und Bill!“

Sie erhob sich schwerfällig und ging zur Tür. Als sie öffnete, standen ihre Freunde grinsend davor.

„Wir haben versucht anzurufen.“

„Zuerst war dauernd besetzt …“

„Dann hast du nicht abgenommen.“

„Ihr habt die Sendung gesehen“, stellte sie fest.

„Natürlich haben wir. Du böses, böses Mädchen.“ Dalton drohte ihr spielerisch mit dem Finger. „Dabei dachten Bill und ich, wir würden dich kennen.“

„Wir haben dich immer für ein offenes Buch gehalten“, sagte Bill und trat über die Schwelle. „Dann erhielten wir deine Notiz wegen der Sendung heute.“

Dalton schloss die Tür hinter ihnen. „Nett, Anna, aber du hättest es uns doch einfach sagen können.“

Anna brachte vor Verzweiflung keinen Ton mehr heraus. Sie drehte ihren Freunden den Rücken zu und legte zitternd eine Hand vor den Mund.

Wer steckt dahinter? Wer weiß, wo ich lebe, und kennt auch noch alle mir wichtigen Leute?

„Anna, was ist los?“, fragte Dalton besorgt.

„Diese Notiz war nicht von mir“, erklärte sie mit tränenerstickter Stimme.

„Das verstehe ich nicht. Wenn sie nicht von dir war, von wem dann?“

„Ich weiß nicht.“ Sie wandte sich ihren Freunden zu. „Aber ich denke … ich fürchte …“

Kurt. Er hat mich gefunden.

„Ich glaube, ich setze mich lieber.“

Sie ging zur Couch und ließ sich darauf sinken. Die zwei folgten ihr und setzten sich stumm rechts und links neben sie. Niemand drängte sie zum Reden, wofür sie ihnen dankbar war. Sie verabscheute es zutiefst, vor Dritten in Tränen auszubrechen, und rang um Fassung.

Sobald sie sich wieder in der Gewalt hatte, erzählte sie ihnen von ihrer Vergangenheit: von der idyllischen Kindheit, von ihren Eltern, der Entführung, dem Entsetzen über Timmys Ermordung und ihrer Flucht in letzter Minute.

Sie rieb sich fröstelnd die Arme. „Nach der Entführung änderte sich mein Leben“, fuhr sie leise fort. „Ich veränderte mich. Ich fühlte mich nicht mehr sicher. Ich traute niemandem mehr. Ich hatte ständig Angst.“

Ihre Freunde schwiegen betreten. Nach einigen Sekunden räusperte Dalton sich. „Soll das heißen, er hat den kleinen Jungen vor deinen Augen umgebracht?“

Tränen kamen ihr, als eine Flut entsetzlicher Bilder vor ihrem geistigen Auge vorüberzog: der kämpfende Timmy, während Kurt ihm das Kissen auf den Kopf presste. Schlagende Arme und Beine, ein zuckender Körper, dann Totenstille.

Am liebsten hätte sie laut geschrien. Die Erinnerung war immer noch unerträglich lebendig.

Schließlich fand sie ihre Stimme wieder. „Danach ging er auf mich los.“

„Dein Finger.“

Sie nickte, und Bill schloss seine Hand um ihre. „Kein Wunder, dass du Angst hast, Anna. Wie schrecklich.“

„Ihr zwei habt nicht als Einzige diesen Hinweis auf die Sendung erhalten.“ Sie atmete tief durch. „Fast alle Leute, die mit mir zu tun haben, bekamen so eine Botschaft. Meine Eltern, Freunde, mein Agent und meine Lektorin.“ Sie erzählte, wie sie beim Heimkommen den Umschlag mit der Videokassette gefunden hatte. Das Video mit dem Interview ihrer Mutter, das auch in der Sendung gelaufen war. „Das Video endete mit der Botschaft, ich solle mir das Programm heute ansehen.“

„Du glaubst doch nicht, dass deine Mutter …“

„Nein.“ Anna schüttelte den Kopf. Dennoch verletzte es sie, welchen Anteil ihre Mutter an der Aufdeckung ihrer Identität hatte. Sie fühlte sich verraten. Weder ihre Mutter noch ihr Vater verstanden so ganz, warum sie große Angst davor hatte, ihre Identität preiszugeben.

„Vor etwa einem Jahr nahm ein unabhängiger Videofilmer Kontakt zu meiner Mutter auf. Er stellte angeblich eine Serie über die Leindwandgöttinnen der Fünfziger zusammen und wollte auch sie interviewen. Sie gab das Interview und hörte bis heute nichts mehr von ihm.“

„Das erklärt noch nicht, warum sie im Interview so viel über dich verraten hat“, erwiderte Dalton ärgerlich. „Also wirklich.“

Anna sah kurz auf ihre Hände und hob den Blick wieder. „Es ist passiert. Sie ist nicht meine Feindin, sie will mir nicht …“

Schaden! Irgendwer will mir schaden!

Einige Sekunden schwiegen alle, dann umarmte Dalton sie. „Arme, süße Anna. Man hat dich gezwungen, Farbe zu bekennen.“

Bill fragte stirnrunzelnd: „Erinnert sich deine Mutter zufälligerweise noch an den Namen des Videofilmers?“

„Nein, aber sie hat seine Visitenkarte. Sie sucht danach.“

„Ich sag dir was“, erwiderte Bill. „Ich habe einige Freunde bei den Fernsehproduktionen. Ich werde sie anrufen und fragen, ob jemand herausfinden kann, von wem E! den Beitrag gekauft hat. Mit etwas Glück lässt sich zurückverfolgen, woher er stammt.“

„Danke.“ Sie legte ihre Hand auf seine. „Das wäre sehr hilfreich.“

„Hast du eine Ahnung, wer hinter alledem stecken könnte?“

„Nein, ich …“ Anna wand sich um eine Antwort herum, weil ihr Verdacht so lächerlich klang. „Wie ihr wisst, wurde Kurt nie gefasst, aber das FBI behauptet, er stelle keine Bedrohung dar.“

„Du glaubst, dass dieser Kurt dahintersteckt?“

„Ich weiß, es klingt verrückt, aber … es könnte sein.“

Dalton zog sie fester an sich und warf Bill einen warnenden Blick zu. „Ich halte das für höchst unwahrscheinlich.“

„Allerdings“, stimmte Bill zu. „Warum sollte Kurt dich gerade jetzt verfolgen? Es ist so viel Zeit vergangen.“

„Um eine alte Rechnung zu begleichen“, erwiderte sie leise. „Um sich zu rächen, weil ich seine Pläne vereitelt habe.“

Wieder schwiegen ihre Freunde. Diesmal sprach Bill als Erster. „Denken wir mal genau nach, Anna. Ich verstehe, warum du dich von diesem Mann bedroht fühlst. Aber warum sollte er dich zwingen, deine Identität preiszugeben?“

„Genau“, pflichtete Dalton bei. „Wenn Kurt auf Rache aus ist, warum rächt er sich nicht einfach? Entführt dich und bringt dich um?“

„Danke, Dalton.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Erinnere mich, dass ich Einbruchssicherungen installieren lasse.“

Bill zog die Stirn kraus. „Dass Kurt dich verfolgt, ergibt einfach keinen Sinn, Anna. Sieh dir die Fakten an. Dreiundzwanzig Jahre sind vergangen. Dieser Kurt hat sich mit Sicherheit auf andere Verbrechen verlegt. Vielleicht sitzt er sogar im Gefängnis. Vielleicht ist er tot.“

Sie massierte ihre deformierte Hand. „Das würde ich gern glauben. Ich habe aber das schreckliche Gefühl, er hat mich gefunden.“

„Du musst zur Polizei gehen.“ Dalton sah Bill um Bestätigung bittend an und bekam sie. „Je eher, desto besser.“

„Und was soll ich der Polizei erzählen? Dass jemand meine Romane mit seltsamen Botschaften an meine Freunde schickt? Die lachen sich ja schimmelig.“

„Nein, du erzählst ihnen von deinem Verdacht. Bei deiner Vergangenheit und den letzten Ereignissen glaube ich kaum, dass sie lachen werden.“

„Stimmt“, sagte Bill. „Wenn es auch sonst nichts bringt, so werden sie doch wenigstens aufmerksam gemacht. Was hast du zu verlieren?“

Leider hatte sie wenig Vertrauen in die Polizei oder das FBI. Wenn die damals nicht versagt hätten, könnte Timmy noch leben. Das verschwieg sie jedoch und versprach leise: „Ich denke darüber nach. Okay?“

„Bestimmt“, drängte Dalton. „Ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt.“

„Ich verspreche, darüber nachzudenken.“

Sie redeten noch eine Weile, und als Anna ihnen versicherte, sie komme allein zurecht, verabschiedeten sie sich.

Auf dem Weg zur Tür blieb Bill stehen und sah sie noch einmal an. „Wie hat Jaye die Neuigkeit aufgenommen? Sie kann so empfindlich sein.“

Anna erschrak. Bis zu diesem Augenblick hatte sie nicht an Jaye gedacht. Alle Menschen, die ihr wichtig waren, hatten inzwischen angerufen – außer Jaye!

Schuldbewusst schluckte sie trocken. Ausgerechnet Jaye, deren Vertrauen so schwer zu gewinnen gewesen war, die von jedem, dem sie Liebe und Vertrauen geschenkt hatte, belogen und betrogen worden war. Sie würde ihr die Unaufrichtigkeit schwer ankreiden und sie als weiteren Verrat in einer langen Liste vorangegangener einstufen.

Anna verabschiedete eilig ihre Freunde und lief zum Telefon. Sie prüfte den Anrufbeantworter, stellte fest, dass ihre junge Freundin sich nicht gemeldet hatte, und wählte ihre Nummer.

Jaye weigerte sich, ans Telefon zu kommen.

Besorgt kündigte Anna Jayes Pflegemutter an, dass sie zu ihnen kommen werde. Sie musste so schnell wie möglich ein klärendes Gespräch mit Jaye führen.

Anna schaffte es in Rekordzeit zu den Clausens. Doch ihre Hoffnung, Jaye verständlich machen zu können, warum sie ihre Vergangenheit geheim gehalten hatte, erfüllte sich nicht. Jaye blieb abweisend, und ihr Verhältnis war schwer gestört.

„Ich kann es erklären, Jaye“, versuchte sie es erneut.

„Da gibt es nichts zu erklären.“ Jaye zog kurz die Schultern hoch. „Ich habe dir vertraut, und du hast mich belogen.“

„Das habe ich nicht.“ Anna streckte bittend die Hand aus, doch Jaye schnaubte nur verächtlich. Die Sonne sank, und Abenddämmerung umgab sie auf der Veranda. „Hör mir zu, Jaye. Ich bin nicht mehr diese Harlow Grail. Sie existiert nicht mehr. Als ich herzog, habe ich sie abgelegt. Ich habe dir gesagt, wer ich bin. Anna North.“

Jaye schlang fröstelnd die Arme um sich. „Das ist doch Quatsch! Anna North bist du nur zum Teil.“

„Ich habe meinen Namen geändert, ich bin umgezogen. Ich habe wirklich alles hinter mir gelassen, auch meine Eltern.“

„Erwachsene machen das immer so, was? Sie rechtfertigen ihre Fehler und tun so, als würden die Jugendlichen nicht klar denken können.“

„So ist das nicht. Ich versuche dir nur etwas klarzumachen. Ich möchte, dass du verstehst, warum …“

„Warum du mich angelogen hast? Ich bin erst fünfzehn, aber ich weiß, wie mies das ist.“ Ihre Verachtung traf Anna tief. „Wie oft habe ich gehört: ‚Du musst dich der Vergangenheit stellen, um sie zu bewältigen.‘ Wie oft hast du das gepredigt!“

„Ich habe nicht gelogen. Ich bin jetzt Anna North. Harlow Grail existiert nur noch in der Erinnerung der Menschen. Ich habe diese Identität zurückgelassen.“

„Hast du nicht!“, begehrte Jaye auf. „Das geht gar nicht. Ich weiß das, weil kein Tag vergeht, an dem ich nicht an meinen Dad und das zurückdenke, was er getan hat.“ Um Fassung ringend, hob sie trotzig das Kinn. „Wenn du Harlow Grail wirklich zurückgelassen hättest, würdest du dich nicht so sehr bemühen, dich zu verstecken.“

Sie hat recht, verdammt. Wie kann jemand in dem Alter so weise sein? „Unsere Situationen sind nicht vergleichbar.“

Jaye spannte sich an, rötliche Flecken auf den Wangen. „Verstehe. Meine Meinung und meine Ansichten sind unbedeutend, weil ich ja nur ein dummes Kind bin.“

„Nein, deine Situation ist anders, weil dein Dad im Gefängnis sitzt.“ Sie hielt ihre verstümmelte Hand hoch. „Der Mann, der mir das hier angetan hat, wurde nie gefasst. Ich verstecke mich nicht vor meiner Vergangenheit, ich verstecke mich vor ihm. Ich habe Angst.“

Jaye schien für einen Moment milder gestimmt, und Anna glaubte schon, sie überzeugt zu haben. Doch der Moment verstrich, und Jaye schüttelte den Kopf. „Echte Freunde sind hundertprozentig ehrlich zueinander. Ich war es. Aber du … Ich weiß nicht mal, wer du bist.“

„Tut mir leid, Jaye. Verzeih mir.“ Sie streckte ihr wieder eine Hand hin. „Bitte.“

„Nein.“ Jayes Augen füllten sich mit Tränen, und sie wich einen Schritt zurück. „Du hast mich angelogen. Ich kann und will nicht mehr deine Freundin sein!“

Sie drehte sich um, rannte ins Haus und schlug die Tür zu.

Es brach Anna das Herz.

10. KAPITEL

Mittwoch, 17. Januar,

French Quarter.

In den nächsten vier Tagen rief Anna Jaye mindestens zweimal täglich an, und jedes Mal weigerte sie sich, mit ihr zu sprechen.

Der Bruch ihrer Freundschaft hinterließ eine große Lücke in Annas Leben. Nur Bill und Dalton glaubten unerschütterlich daran, dass Jaye ihr bald verzieh und sich wieder bei ihr meldete.

Anna hoffte es, sie kannte Jaye jedoch zu gut. Wenn sie sich von einem ihr nahestehenden Menschen hintergangen fühlte, beendete sie die Beziehung radikal, ja brutal. Das war eine Art Schutzmechanismus vor weiteren Kränkungen.

Allerdings hätte sie nie geglaubt, dass Jaye auch ihr gegenüber darauf zurückgreifen würde.

Seufzend ging sie durch die Eingangstür der „Perfekten Rose“. Dalton war heute Morgen vor ihr da. Er stand hinter der Kasse und zählte das Geld in der Lade.

„Entschuldige, dass ich so spät bin“, sagte sie, zog ihre Jacke aus und ging auf den Arbeitsraum zu.

Er sah lächelnd auf. „Guten Morgen.“

„Was ist daran gut?“

„Ich vermute, Jaye will immer noch nicht mit dir reden.“

„Da vermutest du richtig.“ Sie hängte ihre Jacke auf den Haken an der Tür und band sich die Schürze um. „Ihre Pflegemutter beginnt sich über meine Anrufe zu beschweren. Heute sagte sie mir klipp und klar, Jaye werde zurückrufen, wenn sie mit mir reden wolle.“

Er zog die Stirn kraus. „Charmant. Sie scheint in dieser Sache nicht auf deiner Seite zu stehen.“

„Kaum.“ Anna ging zur Kasse. „Irgendwie bin ich für alle der Feind.“

„Jaye kriegt sich schon wieder ein. Wenn sie dir fehlt, fehlst du ihr auch.“

Die Sache mit Jaye belastete sie sehr, und sie wechselte das Thema. „Mein Agent hat heute Morgen angerufen, deshalb komme ich so spät.“

„Endlich! Was sagen sie zu dem neuen Buch?“

„Sie wollen es …“, sie hielt eine Hand hoch, um ihn an einer voreiligen Gratulation zu hindern, “… aber zu ihren Bedingungen.“

„Zu ihren Bedingungen? Was heißt das?“

„Das heißt, sie wollen das Buch nur, wenn sie die Werbung dafür nach ihren Vorstellungen gestalten dürfen. Ihrer Ansicht nach ist mit Harlow Grail wohl sehr viel mehr Kasse zu machen als mit Anna North.“

„Das verstehe ich nicht.“ Er furchte wieder die Stirn. „Deine neue Geschichte hat doch gar nichts mit deiner damaligen Entführung zu tun.“

„Offenbar ist meine Vergangenheit aber genau der Haken, mit dem man die Medien ködern kann“, erklärte sie bitter. „Wie mir mein Agent verdeutlichte, sind meine Bücher nur irgendwelche spannenden Geschichten. Zu etwas Besonderem macht sie lediglich die Tatsache, dass sie von der kleinen, gekidnappten Hollywoodprinzessin Harlow Grail geschrieben wurden.“

„Das sitzt. Tut mir leid, Anna.“

„Es wird noch schlimmer. Wenn ich ihre Werbepläne nicht unterstütze, lassen sie mich fallen. Ich bin für sie nicht profitabel genug.“

„Sie wollen alles oder nichts.“

„Offensichtlich.“ Sie zählte das Geld in den Bankbeutel, froh, etwas tun zu können. „Mein Agent möchte meine Zustimmung. Er versteht mein Zögern nicht. Er sagt, die meisten Autoren würden für die Chance morden, endlich den großen Durchbruch zu erleben und viel Werbung zu erhalten. Außerdem sei die Katze jetzt sowieso aus dem Sack, und die Welt sei nicht stehen geblieben.“

„Netter Bursche, so verständnisvoll.“

„Ich habe mir immer eingebildet, er sei auf meiner Seite. Jetzt merke ich, dass er auf der Seite steht, wo das Geld zu holen ist.“

Dalton drückte sie kurz an sich. „Was hast du vor?“

„Ich weiß noch nicht. Ich möchte das Angebot annehmen. Immerhin habe ich hart gearbeitet, um veröffentlicht zu werden. Du weißt, wie viel mir Schreiben bedeutet.“ Ihre Augen glitzerten feucht, und sie kämpfte gegen die Tränen an. „Aber ich kann mir nicht vorstellen, im Fernsehen und Radio über das zu reden, was mir widerfahren ist. Ich kann mir nicht vorstellen, Fremden mein Privatleben zu offenbaren. Ich weiß, was es für verrückte Typen da draußen gibt, Dalton. Ich weiß es.“ Sie presste eine Faust auf die Brust. „Und ich kann mich nicht so bloßstellen. Ich kann mich nicht so angreifbar machen.“

„Und wenn du es nicht tust …“

„Verliere ich alles, wofür ich gearbeitet habe.“ Tränenerstickt fügte sie hinzu: „Es ist so unfair.“

Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich bin für dich da, falls du mich brauchst.“

„Ich weiß.“ Sie lehnte sich an ihn, die Wange an seiner Schulter. „Dafür bin ich dir auch sehr dankbar.“

Die Türglocke läutete, und Bill trat ein. In seinem marineblauen Westenanzug mit weißem Hemd sah er aus wie ein Bankier.

„In flagranti ertappt“, neckte er, „und ich dachte, ich könnte euch vertrauen.“

Anna löste sich von Dalton und lächelte ihn liebevoll an. „Wenn ich auch nur den Hauch einer Chance hätte, würde ich ihn dir sofort wegnehmen.“

Bill legte gespielt schockiert eine Hand aufs Herz. „Und ich dachte immer, du wolltest mich.“

Sie lachte kopfschüttelnd, dankbar, solche Freunde zu haben. „Was tust du so früh am Morgen hier? Du siehst so …“

„Langweilig aus?“, beendete er den Satz und blickte angewidert an sich hinab. „Treffen mit einer Gruppe von Leuten, die unsere Veranstaltung Kunst im Park finanzieren will. Aus irgendeinem Grund geben die ihr Geld lieber Männern in blauen Anzügen. Da mach sich einer einen Vers drauf.“ Er kam an den Tresen und fragte Dalton: „Hast du ihr den Brief gegeben?“

Anna warf einen Blick über die Schulter und erwischte Dalton dabei, wie er Bill ein Zeichen gab, den Mund zu halten. Sie fragte stirnrunzelnd: „Was für ein Brief, Dalton?“

„Sei mir nicht böse. Er kam gestern, während du beim Lunch warst.“

„Er ist von deinem kleinen Fan“, fügte Bill hinzu und rieb sich die Hände. „Die Saga geht weiter.“

Dalton sandte Bill einen strafenden Blick und zog den Umschlag aus der Schürzentasche. Er hielt ihn Anna hin. „Ich weiß, wie ihr letzter Brief dich bedrückt hat. Und gestern warst du so niedergeschlagen, dass ich dir den Tag nicht noch mehr verderben wollte. Dann wollte ich ihn dir gleich heute Morgen geben, aber …“

„Ich habe dir keine Gelegenheit gelassen. Ist schon okay, Dalton.“ Sie nahm den Brief, ein wenig besorgt, aber auch voller Hoffnung. Sie hatte viel über Minnie nachgedacht und ihre Briefe mehrfach gelesen. Allmählich war sie zu der Überzeugung gelangt, dass das Mädchen ein Entführungsopfer war.

In ihrer Sorge hatte sie schließlich eine Freundin beim Sozialdienst angerufen und ihr alle Briefe vorgelesen. Ihre Freundin hatte die Briefe ebenfalls für verdächtig gehalten und Annas Befürchtungen geteilt. Ohne konkrete Beweise, die Aussage eines Tatzeugen oder das geschriebene Eingeständnis des Mädchens, misshandelt zu werden, waren ihr jedoch die Hände gebunden.

Trocken schluckend öffnete Anna den Brief. Sie hoffte, ihre Sorge würde zerstreut, fürchtete aber, es kam anders.

Der Brief begann wie die vorangegangenen, mit Grüßen, einigen Sätzen über Tabitha und Erzählungen kleiner Ereignisse aus Minnies Leben. Doch dann folgte eine erschreckende Wende:

„Er plant etwas Böses. Ich weiß nicht, was, aber ich habe Angst. Um dich. Und um die andere. Ein anderes Mädchen. Ich versuche, mehr herauszukriegen.“

Anna las die wenigen Zeilen erneut mit zunehmender Beklemmung. Sie hob den Kopf und sah ihre Freunde an. „Er wird es wieder tun.“

Die Männer tauschten besorgte Blicke. „Was tun, Anna?“, fragte Dalton.

„Ein anderes Mädchen.“ Mit zitternder Hand gab sie ihm den Brief. „Ich glaube, er will ein weiteres Mädchen entführen.“

Bill sah Dalton über die Schulter, um den Brief ebenfalls zu lesen. Als er fertig war, stieß er einen Pfiff aus. „Gefällt mir aber gar nicht, wie das klingt.“

„Mir auch nicht.“ Dalton furchte die Stirn. „Was willst du tun?“

Anna dachte einen Moment darüber nach. Sie hatte nur wenige Möglichkeiten. Schließlich traf sie die einzig sinnvolle Entscheidung, band die Schürze ab, holte ihre Jacke aus dem Arbeitsraum, zog sie über und sagte ihren besorgten Freunden: „Ich gehe zur Polizei.“

Vierzig Minuten später schüttelte Anna Detective Quentin Malone die Hand. „Setzen Sie sich.“ Er deutete auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Verzeihen Sie, dass Sie warten mussten. Wir sind heute unterbesetzt. Die halbe Mannschaft liegt mit Grippe flach.“

Sie zog ihre Jacke aus und nahm Platz. „Das sagte man mir am Empfang. Der Beamte sagte mir auch, dass Sie sich meinen Fall anhören wollen, aber ein anderer ihn später bearbeiten wird.“

„Ich gehöre eigentlich zum Siebten Revier.“ Er setzte sich ebenfalls und faltete die Hände vor sich auf dem Schreibtisch. „Mein Partner und ich helfen hier heute nur aus.“

„Und Sie hatten zufällig das Glück, mich zu erwischen.“

„Ja, Ma’am, so ist das.“ Er maß sie schwach lächelnd mit einem wohlwollenden Blick. „Ich hatte das Glück.“

Vermutlich sah er das so. Groß, breitschultrig und gut aussehend, war er vermutlich selten ohne willige weibliche Begleitung. Und so wie er sie ansah, erwartete er offenbar, dass sie ebenfalls auf ihn flog.

Bedaure, Junge. Nicht in diesem Jahrhundert. Männer, die sich für Gottes Geschenk an die Weiblichkeit hielten, waren ihr ein Gräuel. Aufgewachsen in der Filmbranche, war ihr dieser Typus häufiger begegnet, als ihr lieb war. Diese arroganten, narzisstischen Typen sahen lieber in den Spiegel als in die Augen einer Frau.

„Wenn Sie so unterbesetzt sind, bin ich ja direkt froh, Ihnen keinen Mord melden zu müssen.“

„Darüber bin ich auch froh. Morde sind übel. Je weniger, desto besser.“

Sie runzelte die Stirn, leicht aus der Balance gebracht. „Versuchen Sie, witzig zu sein?“

„Und versage offenbar jämmerlich.“ Wieder blitzte dieses Lächeln auf, das ihr Herz offenbar schneller schlagen lassen sollte. Er nahm einen Spiralnotizblock zur Hand und bat: „Erzählen Sie mir einfach, was Sie heute herführt.“

Sie tat es, berichtete, wie sie einen Fanbrief von Minnie bekommen, ihn beantwortet und noch zwei weitere Briefe erhalten hatte.

Sie holte die Briefe aus der Handtasche und gab sie ihm. Während sie weitersprach, überflog er sie. „Etwas an der Situation dieses Mädchens erscheint mir sehr bedenklich. Zuerst war ich nur besorgt, aber nach dem letzten Brief habe ich Angst um Minnie.“

„Deshalb sind Sie hier? Weil Sie Angst um das Mädchen haben?“

„Ja. Um sie und auch um das andere Mädchen, das Minnie in ihrem Brief erwähnt.“

Er blickte auf, doch seine Miene blieb neutral.

Eindringlich fügte sie hinzu: „Ich glaube, Minnie wurde entführt. Ich glaube, der Mann, den sie mit Er bezeichnet, ist ihr Entführer. Und ich glaube, er plant die Entführung eines weiteren Mädchens.“

Detective Quentin Malone schwieg einen Moment und lehnte sich dann in seinem Sessel zurück, dass die Federn quietschten. „Sie interpretieren eine Menge in diese Briefe hinein, Miss North. Diese Minnie schreibt nicht, dass sie gegen ihren Willen festgehalten wird oder in irgendeiner Gefahr schwebt.“

„Das muss sie auch nicht. Lesen Sie die Briefe, lesen Sie zwischen den Zeilen. Es steht alles drin.“

„Sie sind Krimiautorin, nicht wahr?“

„Ja, aber was hat das damit zu tun …“

„Diese Art Geschichten sind Ihr Metier.“

Zornesröte überzog Annas Wangen. „Glauben Sie, ich habe das erfunden? Halten Sie das hier für eine Art Recherche?“

„Das habe ich nicht gesagt.“ Er beugte sich wieder vor und sah sie unverwandt an. „Ich habe eine andere Theorie zu diesen Briefen. Eine, an die Sie vielleicht noch nicht gedacht haben.“

„Nur zu, ich höre.“

„Haben Sie nie in Erwägung gezogen, dass diese Briefe möglicherweise eine Finte sind?“

„Eine Finte? Wie meinen Sie das?“

„Ich meine, dass diese Briefe vielleicht nicht von einem elfjährigen Mädchen stammen. Vielleicht ist diese Minnie irgendein durchgeknallter Fan, der auf sich aufmerksam machen will und sein krankes Spiel mit Ihnen treibt.“ Er machte eine Pause, um die Wirkung seines Einwandes abzuwarten. „Oder jemand gibt sich als Minnie aus, um in Ihre Nähe kommen zu können.“

„Das ist doch lächerlich.“

„Ist es das?“ Er sah sie skeptisch an. „Sie schreiben düstere Thriller. Es gibt eine Menge gestörter Leute, die sich, aus welchen Gründen auch immer, auf Sie und Ihre Geschichten fixiert haben könnten. So etwas geschieht.“

Sie begann zu zittern und faltete die Hände im Schoß, um sie still zu halten. Das Kinn leicht vorgereckt, widersprach sie: „Das erscheint mir höchst unwahrscheinlich. Das kaufe ich Ihnen nicht ab.“

„Das sollten Sie aber.“ Er beugte sich weiter zu ihr vor. „In Anbetracht Ihrer persönlichen Geschichte sollten Sie die Sache sehr ernst nehmen.“

„Verzeihung“, erwiderte sie verblüfft, „aber was wissen Sie über meine persönlichen …“

„Denken Sie nach, Miss North. Bei Ihrer Vorgeschichte sind Sie ein leichtes Opfer, um auf eine solche Finte hereinzufallen. Offenbar verspüren Sie einen starken Drang, um nicht zu sagen, Sie sind besessen davon, Kindern in Not zu helfen …“

„Besessen davon, Kindern in Not zu helfen? Da bin ich aber anderer Ansicht. Und was wissen Sie überhaupt von meiner persönlichen Vorgeschichte?“

Er lehnte sich wieder zurück. „Verzeihen Sie, Ma’am, aber sogar große dumme Bullen wie ich können eins und eins zusammenzählen. Sie sind die Autorin Anna North, Sie schreiben Krimis für Cheshire House. Sie sind eine Rothaarige mit grünen Augen und ungefähr sechsunddreißig Jahre alt. Und Sie leben in New Orleans.“ Er deutete auf ihre im Schoß gefalteten Hände. „Außerdem fehlt Ihnen der rechte kleine Finger.“

Sie kam sich albern und bloßgestellt vor und ärgerte sich, dass er die ganze Zeit gewusst hatte, wer sie war, ohne es zu sagen. Dieser miese Macho. Sie würde ihn als eitlen Dummkopf, der nie Erfolg bei Frauen hat, in ihren nächsten Roman einbauen.

Sie bedachte ihn mit einem frostigen Blick. „Und manchmal gucken große dumme Cops E!?“

Sein flüchtiges Lächeln besagte, ach, lassen Sie das, und er schloss seinen Notizblock. „Es ist tatsächlich ein Hobby von mir, mich mit berühmten, ungelösten Kriminalfällen zu befassen. Ihr Fall ist einer von den interessantesten.“

„Ich fühle mich geschmeichelt“, erwiderte sie sarkastisch. „Haben Sie ihn schon gelöst?“

„Nein, Ma’am, aber Sie werden es als Erste erfahren, wenn es so weit ist.“ Er gab ihr die Briefe zurück, stand auf und signalisierte so das Ende der Besprechung.

Sie erhob sich wütend. „Es wird mir nicht den Atem verschlagen.“

Er wirkte nicht etwa gekränkt, sondern amüsiert, was sie noch wütender machte. „Sie irren sich, Detective. Diese Briefe wurden von einem Kind geschrieben. Man muss sie sich nur genau ansehen, um es zu erkennen. Und dieses Kind ist in Gefahr.“

„Tut mir leid, ich sehe das anders.“

„Also werden Sie wegen dieser Sache nichts unternehmen?“, fragte sie ungehalten. „Wollen Sie nicht mal das Postfach oder die Telefonnummer überprüfen?“

„Nein. Allerdings sieht Detective Lautrelle die Sache vielleicht anders. Er wird morgen zurückerwartet. Ich werde ihm Bericht erstatten.“

„Zweifellos einen unvoreingenommenen.“

Er ignorierte ihren Sarkasmus. „Natürlich. Und ich rate Ihnen, vorsichtig zu sein, Miss North. Melden Sie uns ungewöhnliche Ereignisse oder Begegnungen. Seien Sie zurückhaltend bei neuen Bekanntschaften.“ Er machte eine Pause. „Sie haben bei der Beantwortung dieser Briefe doch nicht Ihre Anschrift genannt, oder?“

Nein, aber eine Adresse, unter der ich sechs Tage die Woche anzutreffen bin. Wie konnte ich nur so dumm sein? „Meine Anschrift?“, wiederholte sie ausweichend und wollte gegenüber diesem Besserwisser nicht eingestehen, wie sorglos sie gewesen war. „Nein, habe ich nicht.“

„Gut.“ Er gab ihr Detective Lautrelles Karte. „Falls sich etwas Ungewöhnliches ereignet, rufen Sie Lautrelle an. Er wird Ihnen weiterhelfen können.“

Sie steckte die Karte ein, ohne einen Blick darauf zu werfen. Dann ging sie zur Tür des kleinen würfelförmigen Büros und blieb dort noch einmal stehen. „Wissen Sie, Detective Malone, nachdem ich Sie kennengelernt habe, wundert es mich nicht, dass es so viele ungelöste Kriminalfälle gibt.“

11. KAPITEL

Quentin sah Anna North amüsiert, aber auch bewundernd nach, als sie davonging. Harlow Grail in seinem Büro, wer hätte das gedacht?

Bei ihrer Entführung war er vierzehn gewesen. Er erinnerte sich, wie sein Vater und seine Onkel zusammengesessen und den Fall diskutiert hatten. Er hatte Harlow Grails Bild in den Fernsehnachrichten und in der Zeitung gesehen und sie für das hübscheste Mädchen auf der Welt gehalten.

In seiner Fantasie hatte er ihren Fall gelöst und war ein großer Held geworden. Als er von ihrer Flucht hörte, hatte er gejubelt. Doch sein Vater und seine Onkel hatten geglaubt, etwas an der Sache stimme nicht.

Die Entführung der Harlow Grail hatte ihn wie den Rest des Landes immer wieder fasziniert. Ihr Fall war der erste aus einer ganzen Reihe ungelöster Fälle gewesen, die er über die Jahre studiert hatte.

„He, Partner.“ Terry schlenderte heran und blieb neben ihm stehen. Er deutete in die Richtung, in die Anna gegangen war. „Wer war denn das Sahnestückchen?“

„Sie heißt Anna North.“

„Hat sie jemand umgebracht?“

Quentin warf ihm einen Seitenblick zu. „Nur auf dem Papier. Sie ist Krimiautorin.“

„Ohne Scherz? Was wollte sie von dir? Sollst du der Held ihres nächsten Buches werden?“

Angesichts ihrer Skepsis bezüglich seiner Fähigkeiten bezweifelte er das sehr. Eher würde sie ihn zu einem Opfer machen, das einen blutigen, grausamen Tod starb. „Ja“, erwiderte er dennoch leise, „etwas in der Art.“

Terry deutete zum Empfangstresen. „Wir können gehen. LaPinto und Erickson sind gerade eingetrudelt.“

Quentin sah zu den beiden hinüber. „Die sehen mitgenommen aus.“

„Ich schlage vor, wir machen uns dünn, solange wir noch können.“

Quentin stimmte zu. Sie trugen sich aus und traten in den grauen, frostigen Tag hinaus. Terry schloss fröstelnd den Reißverschluss seiner Lederjacke. „Diese verdammte Kälte geht mir langsam auf den Senkel. Um Himmels willen, wir leben hier in New Orleans.“

„Es könnte schlimmer sein“, meinte Quentin mit Blick zum Himmel. „Es könnte schneien.“

„Mal den Teufel nicht an die Wand. Denk an den letzten Schneefall. Ein paar Flocken, und diese Stadt versinkt im Chaos. Wir würden rund um die Uhr im Einsatz sein.“

Sie erreichten den Bronco, und Quentin schloss die Türen auf. Nachdem sie eingestiegen waren und sich angeschnallt hatten, wandte sich Terry ihm halb zu und fragte interessiert: „Also, was wollte der Rotschopf? Will sie dich wirklich in ihrem Buch erwähnen?“

Quentin lächelte bittersüß. „So wie unsere Begegnung ablief, bestenfalls als Leiche.“

Terry lachte. „Du bist zweifellos ein Charmeur.“ Er rückte näher an Quentin heran. „Wenn sie dich nicht zu ihrem nächsten Helden machen will, was wollte sie dann?“

„Sie hat ein paar beunruhigende Fanbriefe erhalten.“

„Drohungen?“

„Nicht gegen sie. Angeblich ist der Fan ein Kind, ein elfjähriges Mädchen.“

„Angeblich?“

„Ich habe da meine Zweifel.“ Quentin erzählte ihm die ganze Geschichte. „Miss North glaubt, dieses Kind sei in Gefahr. Ich informiere Lautrelle, sobald er wieder zum Dienst erscheint. Er kann der Sache nachgehen, wenn er meint, da ist was dran.“

Terry legte den Kopf gegen die Stütze und schloss die Augen. „Nachdem ich sie gesehen habe, steht mein Entschluss fest. Ich lasse mich ins Achte Revier versetzen und übernehme Lautrelles Fälle.“

„Gib auf, Terror, bei der kannst du nicht landen. Die ist weit jenseits deiner Möglichkeiten.“

Terry lächelte, ohne die Augen zu öffnen. „Bist du dir da so sicher? Ich habe schon Bräute flachgelegt, die mehr Klasse hatten als die.“

„Bräute flachgelegt?“ Quentin lachte. „Da bin ich mir sicher.“ Er überquerte die Poydras Street und fuhr Richtung Uptown. „Wie ist es gestern beim PID gelaufen?“ Die „Public Integrity Division“ war eine Art Abteilung für innere Angelegenheiten. Terry war am Tag nach dem Kent-Mord zur Befragung vorgeladen worden und gestern noch einmal.

„Sie haben mir eine ganze Wagenladung Fragen zu Nancys Ermordung gestellt und ließen mich dann gehen. Nicht zuletzt wegen deiner Aussage. Danke dafür.“

„Ich habe nur meine Version der Ereignisse wiedergegeben.“ Er streifte ihn lächelnd mit einem Blick. „Keine große Sache. Du nennst die Verblichene beim Vornamen?“

„Nach der letzten Woche gehört sie praktisch zur Familie.“

Sie fuhren schweigend weiter, bis sie das Siebte Revier erreichten. Quentin parkte den Bronco, sie stiegen aus und gingen ins Gebäude. Nachdem sie sich eingetragen hatten, trennten sich ihre Wege. Während Quentin durch den Dienstraum ging, rief Johnson ihn heran.

„Was ist los?“

Er schob den Aktenordner über den Schreibtisch. „Wirf einen Blick darauf.“

„Der Kent-Mord?“ Er schlug den Ordner auf. „Was haben wir?“

„Offizielle Todesursache ist Ersticken. Wurde vorher vergewaltigt.“

Quentin überflog den Bericht des Gerichtsmediziners. Abgesehen von Prellungen und Rissen im Schambereich war sie relativ unversehrt. Ein paar Hautabschürfungen am Hinterkopf, an Armen und Beinen, das war’s.

„Eigenartig“, sagte er leise.

„Was?“

„Sie hat sich nicht besonders heftig gewehrt.“

„Denkst du, sie kannte den Typen?“

„Ja, vielleicht. Haben die Auskratzungen unter den Fingernägeln was gebracht?“

„Nichts. Der Bluttest ist zurück. Unser Täter ist 0 positiv. Wie fast die Hälfte der Bevölkerung von New Orleans.“

„Außer mir“, sagte Quentin und blätterte den Bericht weiter. „Ich bin A positiv.“ Er stutzte stirnrunzelnd. „Du und Walden, ihr habt keine Frauen in der Bar befragt?“

„Die Kellnerinnen. Ansonsten haben wir uns auf die Jungs konzentriert. Warum?“

„Denk mal nach, Johnson. Da ist diese hinreißende Frau, die mit ihrem exhibitionistischen Getanze die Aufmerksamkeit aller Männer in der Bar auf sich lenkt. Im Prinzip beschneidet sie damit die Chancen aller anderen anwesenden Frauen. Richtig?“

„Richtig.“ Der andere Detective kratzte sich am Kopf. „Also?“

„Also bleiben ein paar ziemlich frustrierte Hennen zurück. Und was passiert, wenn Hennen frustriert sind?“

„Sie hacken aufeinander ein.“

„Nicht in diesem Fall. Sie beobachten Nancy Kent und ihr Treiben auf der Tanzfläche und ihren Erfolg bei Männern sehr genau. Wir müssen mit diesen Ladys reden.“

Johnson nickte. „Das ergibt Sinn.“

Quentin richtete sich auf. „Ich statte Shannon heute Nachmittag einen Besuch ab, hole mir eine Namensliste und beginne sie abzuarbeiten.“

„Heiliger Bimbam“, erwiderte Johnson, „ich glaube, er hat einen Plan.“

12. KAPITEL

Mittwoch, 17. Januar,

15 Uhr.

Ben hielt vor dem Blumenladen an. Das Schild über der Tür versprach: „Die Perfekte Rose“.

Der Arbeitsplatz von Anna North.

Es war nicht schwierig gewesen, sie zu finden. Sie hatte ihr letztes Buch der Organisation „Big Brothers, Big Sisters of America“ und ihrer „kleinen Schwester“ Jaye gewidmet. Die örtliche Direktorin der Organisation war eine Bekannte von ihm. Er hatte Kontakt zu ihr aufgenommen, und sie hatte vorgeschlagen, er solle Anna in der „Perfekten Rose“ aufsuchen.

Ben räusperte sich. Vielleicht hätte er besser vorher angerufen. Es wäre höflich gewesen, andererseits aber auch leichter, ihn am Telefon abzuwimmeln. Er wollte sich jedoch nicht abweisen lassen. Dieses Interview für sein Buch war ihm wichtig, es war ihm ein wirkliches Anliegen.

Seit der Sendung über ungelöste Rätsel Hollywoods in E! dachte er viel über Anna North nach und hatte sogar ihre Bücher gelesen. Dabei hatte er zwischen den Zeilen eine Menge über sie erfahren. Aufgrund dieser Informationen und seiner Kenntnisse über ihre Vergangenheit und Gegenwart versuchte er, ihre Reaktion auf sein Erscheinen einzuschätzen. Sie würde ärgerlich sein, dass er sie entdeckt hatte, und wenn er sie so gut verstand, wie er glaubte, würde es sie auch ängstigen. Er musste vermeiden, dass sie wie ein in die Enge getriebenes Tier reagierte, und sie für sich einnehmen.

Tief durchatmend schob er die Tür des Blumenladens auf. Anna erschien im Durchgang zum Arbeitsraum. Er erkannte sie an ihrer herrlichen roten Mähne, die der ihrer Mutter sehr glich.

„Guten Morgen“, grüßte er und kam lächelnd an den Tresen.

Sie erwiderte sein Lächeln. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

Der Augenblick der Wahrheit. „Ich bin Benjamin Walker.“ Er streckte ihr die Hand hin. „Dr. Benjamin Walker.“

Etwas erstaunt gab sie ihm die Hand. „Schön, Sie kennenzulernen.“

„Ganz meinerseits.“

„Also, was kann ich für Sie tun? Wir haben schöne neue Hortensien bekommen. Und unsere Rosen sind immer …“

„Perfekt?“ Er lächelte. „Eigentlich bin ich Ihretwegen hier.“

„Meinetwegen?“

„Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, dass ich Ihre Arbeit bewundere.“

„Meine Arbeit? Oh, Sie meinen die Blumenarrangements. Tut mir leid, ich fürchte, ich kann dieses Lob nicht einheimsen, obwohl ich es gerne täte. Dalton Ramsey ist der Besitzer des Ladens und die künstlerische Kraft hinter unseren Kreationen.“

„Sie missverstehen mich, Anna. Ich bin ein Fan Ihrer Romane.“

Sie wurde bleich. „Meine Ro… Woher wissen …“

„Justine Blank ist eine Bekannte von mir. Sie sagte mir, wie ich Sie erreichen kann.“

Anna schien verwirrt und beunruhigt, deshalb erläuterte er rasch: „Ich bin Psychologe und ziemlich harmlos, wie Justine bestätigen kann. Mein Spezialgebiet sind die Auswirkungen von Kindheitstraumata auf Persönlichkeit und Verhalten von Erwachsenen. Ihr Fall hat mich immer interessiert, und als ich erfuhr, dass Harlow Grail und die Autorin Anna North ein und dieselbe Person sind, nahm ich mir die Freiheit, Sie aufzusuchen. Ich hoffe, Sie sind bereit, mit mir zu reden.“

Sie schien darüber nachzudenken, und allmählich kehrte sogar etwas Farbe in ihre Wangen zurück. „Sie haben am Samstag die Sondersendung über ungelöste Rätsel Hollywoods gesehen und haben eins und eins zusammengezählt.“

„Ja. Und ich entdeckte in Ihrem Roman Killing Me Softly Ihre Hingabe an die Organisation B.B.B.S.A. Da fiel mir ein, dass Justine mir bestimmt sagen konnte, wie ich Sie erreiche. Und ich hatte recht.“

Sie wandte kurz den Blick ab. Er sah jetzt deutlich, wie verärgert sie war. „Mein Fall, wie Sie es nennen, hat viele Leute interessiert. Aber mich nicht. Ich habe im Gegenteil alles getan, ihn zu vergessen. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich habe zu arbeiten.“

„Bitte, Miss North, hören Sie sich an, was ich zu sagen habe.“

„Ich glaube kaum.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Indem Sie mich aufgespürt haben, wie bei einer kindlichen Schatzsuche, haben Sie meine Privatsphäre verletzt. Das schätze ich nicht.“

„Es macht Ihnen Angst. Das verstehe ich.“

Stirnrunzelnd erwiderte sie: „Ich habe nicht gesagt, dass es mir Angst macht.“

„Das war auch nicht nötig. Es macht Ihnen natürlich Angst. Sie haben etwas Furchtbares erlebt. Sie wurden entführt und gegen Ihren Willen festgehalten. Sie waren wehrlos und ausgeliefert. Sie wurden körperlich misshandelt und mussten hilflos zusehen, wie ihr Freund umgebracht wurde. Diese Tortur machte Ihnen klar, zu welchen krankhaften, bösartigen Taten Menschen fähig sind. Weil Sie das wissen, verstecken Sie sich vor der Öffentlichkeit, um nie wieder in so eine Situation zu geraten. Sie wollen keinem Fremden je wieder Macht über sich geben.“

Nach einer kurzen Pause setzte er seine Analyse fort: „Deshalb änderten Sie Ihren Namen und ließen Ihre Vergangenheit hinter sich. In der Anonymität fühlen Sie sich sicher. Und mein Auftauchen heute nimmt Ihnen diese Sicherheit.“

„Woher wissen Sie all das über mich?“, fragte sie nach einem Moment mit bebender Stimme. „Wir sind uns nie begegnet.“

„Aber ich kenne Ihre Vergangenheit. Und ich habe Ihre Romane gelesen.“ Er legte ihr seine Visitenkarte in die kalte Hand. „Ich schreibe ein Buch über die Auswirkungen von Kindheitstraumata auf die Persönlichkeit. Ich möchte Sie zu diesem Thema befragen und Ihre Geschichte hinzufügen, um aufzuzeigen, wie Ihre Tortur Sie und Ihr späteres Leben geformt hat. Das wäre eine große Bereicherung für das Buch.“

Er sah ihr an, dass sie ablehnen wollte. Der angespannte Gesichtsausdruck sagte alles. „Denken Sie darüber nach. Bitte. Mehr verlange ich nicht.“

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verließ den Laden.

13. KAPITEL

Donnerstag, 18. Januar,

8 Uhr 45 morgens.

Die nächsten vierundzwanzig Stunden vergingen für Anna wie im Schneckentempo. Sie war nervös, blickte sich ständig angstvoll über die Schulter und fürchtete, in jeder Menschenmenge lauere Gefahr. Sie achtete auf jedes Quietschen und Knarren ihres alten Hauses und hörte auf jeden Schritt im Flur vor ihrer Tür.

Schlaflos wälzte sie sich im Bett, dachte an ihre Vergangenheit und fürchtete, von ihr eingeholt worden zu sein. Als sie schließlich doch einschlummerte, erwachte sie sofort wieder mit einem entsetzten Schrei und Timmys Namen auf den Lippen. Timmys, nicht Kurts, das war seltsam und beängstigend.

Anna war unschlüssig, wem sie mehr die Schuld an ihrem Zustand gab. Ben Walker, weil er sie aufgestöbert hatte, oder Detective Malone, weil er den Keim des Zweifels an Minnies Briefen in ihr gesät hatte.

Vermutlich war es eine Kombination von beidem. Die größere Schuld gab sie jedoch Detective Malone. Bis zu dem Gespräch mit ihm hatte sie keinen Argwohn gegen den Briefeschreiber gehegt.

Leise schimpfend stieg sie aus der Dusche. Dieser verdammte Malone machte sie schreckhafter, als sie es ohnehin schon war. Erst machte er ihr Angst, und dann rührte er keinen Finger, um ihr zu helfen. Sie schüttelte leicht den Kopf. Nein, Minnie war kein besessener Fan, der irgendein Spiel mit ihr trieb. Sie war ein Kind. Sie schrieb wie ein Kind, und sie dachte wie ein Kind. Und sie brauchte ihre Hilfe.

Und sie würde ihr helfen, ob mit oder ohne die Polizei.

Anna sah auf die Uhr, trocknete sich ab und zog sich an. Sie musste erst gegen Mittag im Blumenladen sein. Damit hatte sie volle drei Stunden, ein paar Nachforschungen zu betreiben.

Sie zog die Schuhe an und band sie zu. Letzte Nacht hatte sie die Nummer angewählt, die Minnie in ihrem ersten Brief genannt hatte. Ein Mann hatte geantwortet. Das war eine Enttäuschung gewesen. Sie hatte gehofft, Minnie direkt zu sprechen. Ihren Mut zusammennehmend, hatte sie sich nach dem Mädchen erkundigt.

Der Mann hatte volle fünfzehn Sekunden geschwiegen und dann ohne ein Wort aufgelegt. Da hatte sie sicher gewusst, dass Minnie ihre Hilfe brauchte.

In der Hoffnung, Minnie doch noch zu sprechen, hatte sie die Nummer noch ein halbes Dutzend Mal angewählt, zuletzt heute Morgen, jedoch ohne Erfolg. Sie wollte heute über den See nach Mandeville fahren – eine Schlafstadt am Nordrand des Lake Pontchartrain –, um zu sehen, wo Minnie lebte. Sobald sie dort war, würde sie ihre nächsten Schritte erwägen.

Eine Stunde später wusste sie, dass sie mit dieser Adresse nicht viel anfangen konnte. Sie gehörte nicht zu einem Wohnhaus, sondern zu einem Post- und Kopierladen.

Anna überprüfte die Anschrift erneut und betrat den Laden. Lächelnd ging sie auf den Mann hinter dem Tresen zu und stellte sich vor. „Ich bin Schriftstellerin und korrespondiere mit einem weiblichen Fan. Sie gab diese Adresse als ihre Anschrift an.“ Sie reichte ihm den Briefumschlag. „Ich habe ihr geantwortet, und deshalb weiß ich, dass sie meine Briefe erhält. Aber jetzt frage ich mich, wie das sein kann.“

Der Mann, der sich als der Ladenbesitzer zu erkennen gab, reichte ihr lächelnd den Umschlag zurück. „Einer der Vorzüge, bei uns ein Brieffach zu mieten anstatt bei der Post, ist es, dass Sie hier sogar eine Straßenadresse bekommen anstatt nur einer Postfachnummer.“

„Soll das heißen, diese Person hat hier bei Ihnen ein Brieffach gemietet?“

Der Mann lächelte wieder. „Das ist korrekt. Sehen Sie, eine Straßenanschrift suggeriert Beständigkeit. Das wiederum bedeutet Solvenz. Verlässlichkeit. Glauben Sie es oder nicht, eine Straßenanschrift ist nützlich, wenn man sich um einen Job oder einen Kredit bewirbt. Es gibt noch weitere Vorzüge unserer Brieffächer. Hierher liefern auch Zusteller, die an kein Postfach liefern, Federal Expres zum Beispiel. Außerdem bieten wir noch weitere Dienstleistungen an, wie einen Versanddienst. Das kostet natürlich extra.“

Der Typ war von seiner Geschäftsidee überzeugt. Sie hatte Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. „Klingt nach einer tollen Dienstleistung.“

„Ist es.“ So wie er sie ansah, wollte er sie vermutlich sofort als Kundin eintragen. „Ich hole Ihnen einige Informationsblätter.“

Ehe sie ablehnen konnte, hatte er schon einen kleinen Prospekt unter dem Tresen hervorgeholt. „Für den Fall, dass Sie ihn brauchen sollten.“

Sie dankte ihm, steckte den Prospekt ein und kam auf den eigentlichen Grund ihres Besuches zurück. „Ich muss dieses Mädchen, das mir schrieb, unbedingt finden. Gibt es eine Möglichkeit, ihre richtige Anschrift von Ihnen zu bekommen?“

„Tut mir leid.“ Ein Kunde betrat den Laden, und der Blick des Mannes schweifte hinüber zu ihm, dann zurück zu ihr. „Die kann ich Ihnen nicht geben.“

„Auch nicht, wenn es sich um einen Notfall handelt?“

„Wir garantieren unseren Kunden völlige Verschwiegenheit. Es sei denn, ein Gerichtsbeschluss verpflichtet uns zur Nennung der Adresse.“

Sie senkte vertraulich die Stimme. „Es ist wirklich sehr wichtig für mich herauszufinden, wer dieses Brieffach gemietet hat.“

„Tut mir leid, ich kann Ihnen keine Auskunft geben.“

Sie senkte die Stimme noch mehr. „Ich weiß, es klingt verrückt, aber dieses kleine Mädchen ist in Gefahr. Könnten Sie Ihre Regeln nicht dieses eine Mal beugen? Bitte!“

Sein Ausdruck wechselte von hilfreich zu ärgerlich. Er kaufte ihr die Geschichte vom gefährdeten Kind offenbar nicht ab. Sie versuchte es trotzdem noch einmal. „Bitte! Ich schwöre Ihnen, es ist eine Sache von Leben und Tod. Ein elfjähriges Mädchen …“

„Nein“, entgegnete er scharf. „Ich mache keine Ausnahme. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, ich habe einen Kunden.“

Anna verließ frustriert den Laden und ärgerte sich erneut über Detective Malones nachlässige Haltung in dieser Sache. Wenn Malone den Ladeninhaber nach der Adresse des Brieffachmieters fragen würde, bekäme er sie. Da wäre bestimmt kein Flehen nötig.

Was sollte sie jetzt tun?

Der Name war immerhin ein Anhaltspunkt. Minnie hatte den Familiennamen Swell, ungewöhnlich in diesem Teil des Landes.

Jo und Diane, im Green Briar Shop!

Natürlich. Jo Burris und Diane Cimo kannten fast jeden am Nordufer. Falls jemand namens Swell jemals ihre Boutique betreten hatte, würden sie sich erinnern.

Anna stieg in ihr Auto und fuhr über den Highway 22 auf die Service-Street. Sie war den beiden Frauen seinerzeit bei ihrem ersten Besuch am Nordufer begegnet, als sie eher zufällig deren Boutique betreten hatte. Warmherzig, lustig und offen, wie die beiden waren, hatten sie ihr das Gefühl gegeben, eine alte Freundin zu sein. Als sie anderthalb Stunden später mit einem Packen neuer Kleidung, die sie sich nicht leisten konnte, die Boutique verlassen hatte, war sie um zwei Freundinnen reicher, die nicht mit Gold aufzuwiegen waren.

Jos Geschäft lag bei einem älteren Einkaufscenter, ein paar Minuten vom Zentrum Mandevilles entfernt. Anna parkte vor dem Laden, stieg aus und ging hinein. Die Glocke über der Tür läutete, und Jo, eine attraktive Frau unbestimmten Alters, sah vom Auspacken eines Paketes auf.

Sie lächelte warmherzig. „Anna, ich habe gerade an dich gedacht.“ Sie sprach mit sanfter, sinnlicher Stimme, die zweifellos schon manches Männerherz hatte schneller schlagen lassen. „Wir haben hübsche neue Sachen bekommen.“ Sie hielt eine rosa Chenillejacke hoch, die sie soeben auspackte. „Bei deinem Haar könnte dem kein Mann widerstehen.“

Anna hielt sich die Jacke lachend an und trat vor den Spiegel. Sie betrachtete sich und gab die Jacke bedauernd zurück. „Sie wäre schön, Jo. Wenn ich sie mir leisten könnte.“

„Wir könnten sie dir zurücklegen, und du zahlst jede Woche etwas ab.“ Die Anhänger an Jos Armband schlugen klimpernd aneinander, während sie die Jacke wieder zusammenlegte. „Sie würde dir fabelhaft stehen.“

Anna blieb standhaft, obwohl sie die Jacke gern anprobiert hätte. Stattdessen kam sie auf den Grund ihres Besuches zu sprechen.

„Swell?“, wiederholte Jo und zog nachdenklich die Brauen zusammen. Nach einem Moment schüttelte sie den Kopf. „Tut mir leid, der Name ist mir nicht geläufig.“

Es war nur ein Versuch gewesen, aber Anna war dennoch enttäuscht. „Wie ist es mit dem Namen Minnie?“, fragte sie. „Hast du mal jemand über ein Mädchen namens Minnie reden hören?“

Jo schüttelte erneut den Kopf. „Aber Diane weiß vielleicht etwas oder eine unserer Kundinnen. Wir können uns umhören, falls es wichtig ist.“

„Ist es, Jo. Wirklich wichtig.“ Sie plauderten noch einen Moment, wobei Anna Jos unverhohlene Neugier, warum es so wichtig war, Minnie Swell zu finden, ignorierte. Nachdem sie die neuen Sachen auf den Kleiderstangen durchgesehen und gebührend bewundert hatte, versprach sie, ein andermal wiederzukommen und einzukaufen, wenn sie mehr Zeit hatte. Danach verließ sie den Laden, dem Ziel, Minnie zu helfen, nicht näher als am Morgen.

Als Anna fünfzig Minuten später auf ihrer Arbeitsstelle erschien, erwarteten sie dort drei Mitteilungen. Zwei von ihrem Agenten und eine von Dr. Ben Walker. Den Anruf ihres Agenten erwiderte sie sofort. „He, Will, was gibt’s?“

„Die haben das Angebot erhöht.“

Ihr wurde mulmig. „Was sagen Sie da?“

„Sie haben mich verstanden. Madeline rief heute Morgen an. Cheshire House erhöht das Angebot.“

„Aber warum sollten die das tun? Ich habe noch nicht mal offiziell abgelehnt.“

„Ich hatte denen Ihre Befürchtungen erläutert und ihnen klargemacht, was für ein enormes persönliches Opfer man von Ihnen verlange.“ Er gab einen Laut der Zufriedenheit von sich. „Ich freue mich, wenn ein Plan aufgeht.“

Anna schluckte trocken. „Will“, dämpfte sie seinen Enthusiasmus mit leiser Stimme, „es war keine Frage des Geldes. Es ging mir nie ums Geld.“

„Anna, die bieten Ihnen fünfzigtausend.“

„Sagen Sie das noch mal.“

Er wiederholte die Zahl, und sie legte Dalton abstützend eine Hand auf den Arm. Das war natürlich immer noch weit von den Multimillionen Dollar Vorschüssen der großen Namen der Branche entfernt, jedoch gegenüber den zwölftausend, die sie für das letzte Buch bekommen hatte, geradezu ein Quantensprung.

„Wie viel?“, flüsterte Dalton und tanzte fast vor Aufregung.

Den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, öffnete und schloss sie die Hände fünf Mal. Er legte eine Hand an die Brust und mimte eine Herzattacke.

„Dieselben Vertragsbedingungen“, fuhr ihr Agent fort. „Eine umfangreiche Werbetour und eine Publicity-Kampagne ohne Einschränkungen.“

Ihre Freude verkehrte sich ins Gegenteil. „Und davon rücken die nicht ab?“

„Keinen Millimeter.“ Da sie schwieg, fügte er rasch hinzu: „Denken Sie darüber nach, Anna. Überlegen Sie mal, was das für Ihre Karriere bedeutet. Wir reden hier über Bestsellerlisten und Bekanntheitsgrad des Namens. Großer Werbeetat. Und wenn sich das Buch so gut verkauft, wie sie erwarten, gehören Sie in der Verlagsbranche zu den ganz Großen. Und dann machen Sie sich klar, was Sie verlieren, wenn Sie das Angebot ablehnen. Bei Ihren gegenwärtigen Verkaufszahlen ist es nicht leicht, Sie bei einem anderen Verlag unterzubringen. Sie werden als schlechte Investition und als Negativposten gelten.“

Das tat weh. Umso mehr, da er ihr das so unverblümt, ohne Rücksicht auf ihre Gefühle sagte. „Ich dachte, Sie sind von meiner Arbeit überzeugt“, erwiderte sie mit belegter Stimme.

„Bin ich. Aber in diesem Markt braucht man mehr als eine gute Story, um Bücher zu verkaufen. Man braucht etwas, um Aufmerksamkeit zu erregen, Anna. Genau das haben Sie. Nutzen Sie es.“

„Ich verstehe Ihre Argumente sehr gut, aber ich kann mich darauf nicht einlassen. Es geht einfach nicht.“

„Warum sabotieren Sie sich selbst?“, fragte er unfreundlich. „Verstehen Sie denn nicht? Das ist die Chance Ihres Lebens, die wirft man nicht weg.“

„Das möchte ich auch nicht, aber …“

„Ich gehe zurück an den Verhandlungstisch. Ich kann mehr Geld für Sie herausschlagen. Ich kann mir Garantien für den Werbeetat geben lassen. Ich ringe denen Ihre Zustimmung zu Einband und Titelgestaltung ab. Momentan sieht man in Ihnen eine mögliche Goldmine, und wenn Sie mit deren Plänen einverstanden sind …“

„Will! Hören Sie auf! Und hören Sie mir endlich zu! Ich möchte zustimmen, aber ich kann nicht. Es ist mir unmöglich, so eine Werbekampagne durchzustehen!“

Ihr Agent schwieg lange, dann sagte er bitter und resigniert: „Ist das Ihr letztes Wort?“

„Ja“, presste sie hervor, „das ist es.“

„Sie sind der Boss.“ Nach einer Pause: „Wenn ich Sie wäre, Anna, würde ich mir wegen dieses Problems professionelle Hilfe suchen. Und es ist ein Problem, auch wenn Sie das nicht wahrhaben wollen.“

Er legte auf, doch Anna behielt den Hörer am Ohr. Bemüht, sich nicht von Verzweiflung übermannen zu lassen, legte sie das Telefon schließlich auf die Station zurück. Sie war kein Narr. Zusammen mit einem neuen Verleger konnte sie sich nun auch einen neuen Agenten suchen.

Von vorn anfangen. Nach all der harten Arbeit und dem Kampf um Anerkennung muss ich von vorn anfangen!

„Hat er einfach aufgelegt?“, fragte Dalton wütend und kannte die Antwort bereits. „Ich habe ihn nie gemocht, Anna, und Bill mochte ihn auch nicht. Er ist ein arroganter kleiner Arsch.“

Sie wollte lächeln; es misslang jämmerlich.

„Ich habe dir das nie erzählt“, fuhr Dalton fort, „aber er war einige Male ziemlich rüde zu mir am Telefon. Er ist nicht nur ein richtiges A-loch, sondern auch noch ein Homo-Hasser, da bin ich mir sicher.“

Aber er war ein guter Agent, dachte sie. Einer, der im Verlagsgeschäft sehr respektiert war und wusste, wie man Bücher verkauft.

Die Ladentür ging auf, und eine Frau trat ein. Dalton warf einen Blick auf die Kundin und fragte Anna: „Kommst du zurecht?“ Als sie nickte, drückte er ihr kurz die Schultern und eilte zu der Kundin.

Das Telefon läutete. Sie riss den Hörer ans Ohr und hoffte, es sei Will, der sich entschuldigen wollte. „Die Perfekte Rose.“

„Anna, hier ist Ben Walker. Warten Sie! Hören Sie mir zu, ehe Sie auflegen.“

Anna umklammerte den Hörer fester, sehr geneigt, das Gespräch ebenso rüde zu beenden, wie Will es getan hatte. Sie unterließ es jedoch, da sie selbst soeben erfahren hatte, wie demütigend das war. „Reden Sie. Aber beeilen Sie sich, ich habe zu arbeiten.“

„Es tut mir leid, dass ich so in Ihr Leben eingedrungen bin. Es war unhöflich und unsensibel. Ich wusste, wie Sie reagieren würden, aber in meinem Eifer, ein Interview zu bekommen, habe ich Sie trotzdem bedrängt. Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an.“

Sie fühlte sich ein wenig beschwichtigt, aber nur ein wenig. „Ich möchte lieber nicht an meine Vergangenheit erinnert werden. Mein Leben geht weiter.“

„Nicht so ganz, Anna. Solange Sie aufgrund Ihrer Vergangenheit so viel Angst mit sich herumschleppen, dass Sie sich verstecken, ist Ihre Vergangenheit nicht vergangen, sondern lebendige Gegenwart.“

Jaye hatte fast dasselbe zu ihr gesagt. Ebenso ihr Vater neulich am Telefon. Und vor wenigen Minuten indirekt auch ihr Agent.

Holen Sie sich professionelle Hilfe wegen dieses Problems, denn es ist ein Problem, auch wenn Sie das nicht wahrhaben wollen.

Wer könnte ihr besser helfen als ein Psychologe mit dem Spezialgebiet Kindheitstrauma? Und wer war kenntnisreicher als jemand, der ein Buch zu diesem Thema schrieb?

Mach es. Was hast du zu verlieren?

„Erklären Sie es mir noch einmal“, erwiderte sie leise. „Warum wollten Sie unbedingt mit mir reden?“

„Treffen Sie sich mit mir, und ich erzähle Ihnen alles über mich, meine Praxis und dieses Projekt. Ganz unverbindlich. Wenn Ihnen die Sache unbehaglich ist oder Sie nicht interessiert sind, werde ich Sie nicht mehr belästigen. Versprochen.“

Sie hörte seiner Stimme die unterschwellige Begeisterung an und erwärmte sich für die Sache. Trotzdem zögerte sie noch. Andererseits, sie hatte bereits Jaye verloren, ihre Anonymität war dahin, und ihre Karriere als Autorin durfte sie wohl auch abschreiben. Was blieb ihr übrig, als die Flucht nach vorn anzutreten?

„Okay“, stimmte sie zu. „Wir treffen uns. Wie wäre es mit heute Nachmittag, fünf Uhr im Café du Monde? Wer zuerst da ist, besetzt einen Tisch.“

14. KAPITEL

Donnerstag, 18. Januar,

16 Uhr 45.

Anna war schon früh am Café du Monde. Am Jackson Square im French Quarter gelegen, war es berühmt für seine Spezialität: Beignets. Diesem Gebäck verdankte das eigentlich unauffällige Café, dass es zu einer Legende geworden war. Kein Touristenbesuch in New Orleans war komplett ohne zumindest eine Einkehr, um Beignets zu kosten. Auch die Bewohner der Stadt waren nicht immun gegen die Verlockungen des Cafés und kauften ihre Beignets kaum woanders. Schließlich war das Beste das Beste, und wenn man es einmal probiert hatte, warum sich mit weniger begnügen?

Trotz der Kälte wählte Anna einen Tisch draußen an der St. Peter Street. Sie liebte diese Tageszeit – das geschäftige Treiben, wenn die arbeitende Bevölkerung heimwärts strebte, den Wechsel von hell zu dunkel, von Tag zur Nacht, von hektisch zu gemütlich.

Sie bestellte einen Café au lait, lehnte sich zurück und beobachtete die Menschen. Sie sah in die Gesichter der Vorübergehenden, bemerkte Körpersprache und Ausdruck, fing Gesprächsfetzen auf und bewahrte alles in der Erinnerung, um es irgendwann als Szenen oder Typen in ihren Büchern zu verwenden.

Menschen faszinierten und ängstigten sie. Sie waren ständiger Quell der Freude, Neugier und Verteufelung. Sah ein Psychologe seine Patienten vielleicht ebenso? Besonders Dr. Walker?

Sie fröstelte plötzlich und war dankbar für den dampfend heißen Kaffee, der ihr gebracht wurde. Beide Hände um den warmen Becher gelegt, gestand sie sich ihre Nervosität ein. Seit ihrer Entführung hatte sie etliche Psychologen kennengelernt. Den letzten, eine Psychologin, mit sechzehn. Damals war sie ein emotionales Wrack gewesen – depressiv, argwöhnisch und misstrauisch. Ihre Eltern, deren Ehe zerbrochen war, hatten sie zu dieser Therapie gezwungen. Sie brauche jemand zum Reden, hatten sie beharrt, der ihre tiefsten, dunkelsten Geheimnisse teilte. Jemand, der sie verstand und ihr half, ihre Gefühle zu verarbeiten.

Doch die Psychologin hatte sie nicht verstanden. Wie sollte sie auch? Schlimmeres als eine schlecht sitzende Frisur war der nie widerfahren. Die Therapeutin war herablassend gewesen, und ihre bohrenden Fragen hatten von keinerlei Einfühlungsvermögen gezeugt.

Anna erinnerte sich an ihre Abneigung gegen die Frau. Und sie hatte ihren Eltern sehr verübelt, dass sie ihr diese Therapie aufzwangen. Als diese endlich Einsicht zeigten und ihr gestatteten, die Therapie zu beenden, hatte sie sich geschworen, sich nie wieder so einem Psychoterror auszusetzen.

Also, was zum Teufel tat sie dann hier? Anna sah auf ihre Uhr. Der Doktor verspätete sich bereits um zehn Minuten. Sie sollte sich vielleicht drücken. Einfach aufstehen und gehen.

Warum nicht? Durch seine Verspätung lieferte er ihr einen Vorwand, sich der Sache elegant zu entziehen. Sie konnte gehen und musste nicht mal ein schlechtes Gewissen dabei haben. Sie holte ihr Portemonnaie aus der Handtasche, um ihren Kaffee zu bezahlen. Dabei merkte sie, dass ihr die Hände zitterten.

„Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe.“ Ben Walker kam von hinten und nahm im Sessel ihr gegenüber Platz. „Ich konnte meine Schlüssel nicht finden. Heute Morgen hatte ich sie noch, und dann waren sie plötzlich fort. Was für ein Morgen“, fügte er hinzu und lockerte sich die Krawatte. „Der Wecker klingelte nicht, und ich habe verschlafen. Was kein Wunder ist, wenn man bedenkt, dass ich die halbe Nacht im Internet recherchiert habe.“ Er lachte. „Ich sage Ihnen, es ist ein Glück, dass ich nicht unterrichte. Ich wäre der klassische Fall des zerstreuten Professors.“ Er verstummte, nahm ihren Gesichtsausdruck wahr, das geöffnete Portemonnaie und die zwei Dollar neben dem halb vollen Kaffeebecher und fragte zerknirscht: „Um wie viel habe ich mich verspätet?“

„Nicht sehr“, erwiderte sie, etwas beruhigt durch seine Selbstironie. Wie könnte sie sich von einem selbst ernannten Tollpatsch einschüchtern lassen? Sie atmete tief durch und fühlte sich ertappt. „Offen gestanden, hatte ich plötzlich Bedenken wegen unseres Treffens. Meine Erfahrungen mit Psychologen sind nicht die besten.“

„Sie haben Psychologen unter Ihren Bekannten?“

Sie zog die Stirn in Falten. „Ich kann Ihnen nicht folgen. Was hat …“

„Haben Sie?“

„Nein, aber …“

„Wie ist es mit Familienangehörigen? Freunden?“ Sie verneinte wieder, und er zog die Brauen hoch. „Das heißt also, Sie hatten immer eine Therapeut-Patient-Beziehung zu Psychologen.“

„Ja, allerdings. Mehrfach.“ Erklärend fügte sie hinzu: „Als ich noch um einiges jünger war.“

„Nach der Entführung?“

„Das ist ja wohl logisch.“ Das Kinn leicht vorgereckt, bekräftigte sie: „Ja, nach der Entführung.“

Die Kellnerin erschien. Ben bestellte Café au lait und einen Teller Beignets und blieb bei seinem Thema. „Das war nicht die Art Beziehung, die mir vorschwebte.“

„Nein? Was für eine Beziehung genau schwebt Ihnen denn vor?“

„Eine von Autor zu Autor, Interviewer zu Interviewtem. Vielleicht sogar, und wenn ich Glück habe, von Freund zu Freundin.“

Ein Lächeln zuckte um ihren Mund, und Anna erkannte fast erschrocken, dass sie Ben Walker mochte. Außerdem verspürte sie nicht mehr den Drang zu verschwinden. Sie schloss ihr Portemonnaie und steckte es in die Tasche zurück. „Sie sind gut.“

Er lachte, bedankte sich und beugte sich, ernster werdend, vor. „Anna, ich bin wirklich nicht hier, um Sie zu analysieren. Ich hoffe, dass Sie schlicht und einfach über Ihr Leben und Ihre Gefühle mit mir reden, über die Entscheidungen, die Sie im Leben getroffen haben, und die Gründe dafür.“

„Ich versichere Ihnen, meine Lebensgeschichte ist alles andere als faszinierender Lesestoff“, erwiderte sie trocken.

„Da irren Sie sich. Für mich wird er faszinierend sein und für die Menschen, die zu meinem Buch greifen, auch. Ich möchte Ihnen ein wenig von mir und meiner Arbeit erzählen. Vielleicht verstehen Sie dann, warum ich es so wichtig finde, Sie zu befragen.“

Er begann mit seiner Kindheit und Schulzeit. Als einziges Kind einer alleinerziehenden Mutter, die er verehrte, war er aus einer kurzen Beziehung hervorgegangen, über die seine Mutter nicht sprechen mochte. Abgesehen von einem Onkel hatte er keine Verwandten. An seine frühe Kindheit erinnerte er sich kaum, außer dass sie häufig umgezogen waren.

„Ohne Freunde und Familie war ich meist einsam. Dann kam ich in die Schule und war begeistert. Ich lernte gern, und Bücher wurden meine ständigen Begleiter. Auch Schulwechsel machten mir nichts aus, weil ich ja überall weiterlernen konnte.“

Anna stützte das Kinn auf die Faust und lauschte gebannt. Seine Stimme war melodisch und beruhigend. „Warum haben Sie sich für Psychologie entschieden?“

„Ich wollte Menschen helfen, aber ich ertrage den Anblick von Blut nicht.“ Er grinste. „Das ist nur ein Teil der Wahrheit. Menschen faszinieren mich. Ich will wissen, warum sie tun, was sie tun, und was sie zum Ticken bringt. Es interessiert mich, wie gravierende Ereignisse Menschen beeinflussen.“

Sie musste zugeben, dass sie sich als Autorin von denselben Dingen fesseln ließ. Deshalb konnte sie in ihren Romanen abgerundete Charaktere mit Stärken und Schwächen schildern, deren manchmal tragische Vergangenheit weitreichende Auswirkungen auf ihre Gegenwart hatte. „Warum Kindheitstraumata?“

„Weil in unserer Kindheit alles anfängt, oder? Diese ersten formenden Jahre beeinflussen alles, was danach kommt.“ Er trank einen Schluck Kaffee. „In meinem ersten Jahr in der Praxis hatte ich einen interessanten Fall. Eine Frau litt unter einer Störung, die man multiple Persönlichkeit nennt.“

Anna musste gestehen, wenig darüber zu wissen, und bat ihn um Erklärung.

Er presste kurz die Lippen zusammen. „Eine multiple Persönlichkeit bildet sich als Folge wiederholten traumatischen, sadistischen Missbrauchs in früher Kindheit. In dem Versuch, sich vor dem Unvorstellbaren und Unerträglichen zu schützen, spaltet sich die Psyche in neue Identitäten auf, die jeweils mit allem ausgestattet sind, die entsprechende Situation zu meistern.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „In meinem Fall hatte die Frau achtzehn verschiedene Persönlichkeiten, und jede erfüllte eine besondere Funktion im System.“

Sie schwiegen eine Weile. Anna trank ihren Becher leer, den Blick auf den Puderzucker gerichtet, der auf ihrem Tisch verstreut war.

Nach einem Moment räusperte sie sich und sah auf.

Ben starrte auf ihre deformierte Hand. Sein Ausdruck war eigenartig leer. Leicht verlegen ließ sie die Hand in den Schoß sinken. „Sie wissen, wer ich bin, also wissen Sie auch, dass ich nicht mit einer vierfingerigen Hand geboren wurde.“ Da er nicht antwortete, fragte sie vorsichtig: „Ben?“

Er fröstelte leicht, blinzelte und sah sie an. „Was?“

„Meine Hand. Sie haben sie angestarrt.“

Er wirkte erstaunt, dann verlegen. „Habe ich das? Tut mir leid, ist mir nicht aufgefallen. Ich fange an, über meine Arbeit zu reden, und manchmal verliere ich mich in meinen Gedanken. Ich bin wirklich ein zerstreuter Professor. Es tut mir leid.“

Sie winkte ab. „Schon gut. Ich habe gelernt, damit zu leben.“

„Mit der Deformierung oder mit Menschen, die Sie anstarren?“

„Wollen Sie eine ehrliche Antwort? Mit vier Fingern zu leben ist weitaus leichter als mit der Neugier der Menschen.“

„Sie meinen mit ihrer Rücksichtslosigkeit.“

„Manchmal auch das, ja.“

Sie entspannten sich, und Ben erzählte mehr über den Fall der multiplen Persönlichkeit und über andere, von denen er gelesen hatte. Anna lauschte ihm aufmerksam.

„Ich verstehe, warum die Sache Sie so interessiert“, sagte sie nach einer Weile. „Es ist wirklich faszinierend.“

„Das wäre ein gutes Thema für einen Ihrer Romane.“

„Können Sie Gedanken lesen? Ich dachte gerade dasselbe.“

„Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie helfen mir bei meinem Buch, und ich helfe Ihnen bei Ihrem.“

Sie wollte schon zustimmen und ihn um Hilfe bei ihrem eigenen Problem bitten, fragte aber stattdessen nach seiner Praxis. Während er antwortete, hörte sie nur mit halbem Ohr zu und versuchte sich klar zu werden, warum sie gezögert hatte. Sie mochte ihn. Er war lustig und klug, bodenständig und in einer Weise offen, die sie nicht erwartet hatte. Sie glaubte, dass er mit seiner Arbeit anderen half. Wenn sie ihn darum bat, würde er auch ihr helfen.

Warum kostete es sie dann solche Überwindung, sich zu ihrem Fall befragen zu lassen?

„Etwas hält Sie zurück?“

„Ja.“

„Falls es eine Entscheidungshilfe für Sie ist, ich hoffe, mein Buch wird nicht nur die Öffentlichkeit über die weitreichenden Folgen von Kindesmisshandlungen aufklären, sondern auch den Erwachsenen helfen, die als Kind misshandelt wurden. Ich glaube an die heilende Wirkung von Wissen. Mit dem Wissen entstehen Verständnis und Akzeptanz. Erst dann kann die Heilung beginnen.“

„Körper heile dich selbst?“

„In gewisser Weise, ja.“ Er beugte sich ernst vor. „Da ist tatsächlich etwas dran. In uns allen stecken die Kräfte der Selbstheilung, vor allem bei mentalen Störungen. Wir brauchen nur Hilfe, Zugang zu diesen Kräften zu finden.“

„Und da erscheinen Sie, der ausgebildete Profi, auf der Bildfläche.“

„Richtig. Ich und Selbsthilfebücher.“

„Wie Ihres.“

„Genau.“ Er fingerte an seiner Serviette herum. „Verraten Sie mir, was ich sagen kann, um Sie geneigt zu machen.“

Sie wandte kurz den Blick ab. „Ich bin nicht sicher, dass Sie etwas sagen können. Ich rede nicht viel über meine Vergangenheit, und ich mag auch nicht über sie nachdenken.“

„Aber Sie träumen von ihr, Anna. Ich weiß es. Die Erinnerung ist da, sie lauert am Rande Ihres Bewusstseins und quält Sie. Sie flüstert Ihnen etwas ins Ohr und beeinflusst jeden Schritt Ihres Lebens. Das ist gefährlich und tut Ihnen überhaupt nicht gut.“

Sie sah ihn verblüfft und mit leichtem Unbehagen an. „Ich könnte Ihnen jetzt sagen, dass das nicht stimmt.“

„Aber das werden Sie nicht. Weil Sie ein ehrlicher Mensch sind.“

Zu ihrer eigenen Überraschung musste sie tatsächlich lachen. „Sie wissen aber auch alles, was?“

„Was soll ich dazu sagen? Ich bin ein kluger Bursche.“ Er lächelte mit Grübchen in den Wangen. „Und ein reizender Bücherwurm.“

Das war er wirklich: reizend, klug und lustig. Sie mochte intellektuelle Männer. Besonders, wenn sie Humor hatten. Ben Walker war der Typ Mann, mit dem sie gerne zusammen war. Sie ließ die Hände in den Schoß fallen. „Ich bin immer noch ein bisschen verwirrt darüber, wie Sie mich gefunden haben.“

„Meine Freundin bei B.B.B.S.A …?“

„Nein. Was ging dem voran? Sie haben zufällig die E!-Sondersendung eingeschaltet, und dann?“

Ben sah kurz auf seine Hände, ehe er den Blick wieder hob. „Ich stieß auf Ihr Buch Killing Me Softly. Alles andere ergab sich von selbst.“ Er verschränkte die Finger ineinander. „Seit meiner Kindheit interessiere ich mich für Ihre Geschichte. Und während ich die Sendung sah, kam mir der Gedanke, dass Ihre Geschichte ideal in mein Buch passt. Ihr Trauma war einzigartig und mit keinem meiner anderen Fälle zu vergleichen.“

„Wo sonst findet man schon eine entführte Hollywoodprinzessin?“

Mit ernster Miene erklärte er: „Die meisten entführten Kinder kehren nicht nach Hause zurück. Sie sind eine Ausnahme.“

Timmy hat es nicht nach Haus geschafft. Nur ich hatte Glück.

„Also, was sagen Sie? Es tut nicht weh, das verspreche ich.“

Das bezweifelte sie. Der bloße Gedanke an ihre Vergangenheit verursachte ihr schon Magenschmerzen. „Ich denke darüber nach. Ernsthaft.“

Er schien leicht enttäuscht. „Oft ist der erste Schritt der schwerste. Aber natürlich will ich Sie nicht drängen, Sie müssen es entscheiden.“

Sie mochte ihn mit jeder Minute mehr und erwiderte lächelnd: „Ich weiß. Doch ich brauche ein wenig Zeit. Ich hoffe, Sie sind nicht zu enttäuscht.“

„Ich bin schon groß, ich werde damit fertig.“

Nachdem sie bezahlt hatten und das Café verließen, sagte Anna: „Ich gehe hier entlang.“ Sie deutete Richtung St.-Louis-Kathedrale. „Wohin gehen Sie?“

„Ich parke bei der Jax-Brauerei.“

„Dann auf Wiedersehen.“ Fröstelnd schob sie die Hände in die Taschen, als der kalte Wind um sie fegte.

„Hoffentlich bis bald.“ Er beugte sich vor und berührte mit den Lippen flüchtig ihre Wange. „Es war schön, mit Ihnen zu reden, Anna. Rufen Sie mich an.“

Ohne ihre Antwort abzuwarten, wandte er sich ab und ging davon.

15. KAPITEL

Donnerstag, 18. Januar,

19 Uhr 15.

Ben lag allein im Dunkeln auf seinem Bett. Er atmete bewusst tief ein und aus. Die warme Kompresse auf seiner Stirn kühlte rasch ab. Zu rasch.

Der Kopfschmerz, der ihn schon den ganzen Tag quälte, war bei seinem Treffen mit Anna wiedergekehrt und mit jeder Minute des Zusammenseins stärker geworden. Allerdings war er erträglich gewesen, bis er seinen Wagen erreicht hatte.

Es war ihm noch gelungen, die Tür aufzuschließen und sich auf den Sitz fallen zu lassen. Wie er es nach Hause geschafft hatte, wusste er nicht. Aber er hatte es, denn er war offensichtlich hier.

Er schloss die Augen. Die Tabletten, die ihm der Arzt verschrieben hatte, brachten gnädige Erleichterung. Er dachte an sein Treffen mit Anna und an den Abschied. Sie hatte ihm nachgesehen, als er davongegangen war. Er hatte ihren Blick deutlich im Rücken gespürt und sich umgedreht. Sie hatte dagestanden, eine Hand an der Wange, die er geküsst hatte. Dabei hatte sie erstaunt und erfreut gewirkt, jedenfalls hatte er es so gedeutet.

Er dachte noch einmal an ihre Unterhaltung. Anna war an seiner Arbeit interessiert gewesen, und er hatte sich mehr geöffnet und ihr mehr mitgeteilt, als er das gewöhnlich tat. Sie waren gut miteinander ausgekommen.

Alles war ungetrübt verlaufen, bis er auf ihre deformierte Hand gestarrt hatte. Das war beunruhigend für sie gewesen, doch sie war gut damit umgegangen. Und er hatte wahrheitsgemäß gesagt, dass es ihm gar nicht bewusst gewesen war.

Schon ein Leben lang litt er unter solchen Momenten, in denen er fast einen Blackout hatte. Jedoch hatte ihre Häufigkeit in den letzten Monaten zugenommen, genau wie seine chronischen Kopfschmerzattacken. Besorgt hatte er das mit seinem Arzt besprochen, der eine Testreihe vorgeschlagen hatte, inklusive Computertomografie und EEG.

Zu seiner Erleichterung hatten diese Tests nichts Ungewöhnliches ergeben. Natürlich hatte er das Schlimmste befürchtet.

Sein Arzt hatte ihn ausgiebig nach seinen Lebensgewohnheiten und seiner Stressbelastung befragt, die natürlich aufgrund des sich verschlimmernden Zustandes seiner Mutter und den daraus resultierenden Veränderungen in seinem Leben nicht unerheblich war.

Schließlich hatte der Arzt ihm empfohlen, auf Koffein zu verzichten und Entspannungstechniken wie Yoga und Meditation zu erlernen. Er war den Anweisungen gefolgt und hatte eine Verbesserung seines Zustandes festgestellt. Allerdings nur eine leichte.

Er widmete sich gedanklich wieder Anna. Sie hatte nicht zugestimmt, dass er ihre Geschichte in sein Buch aufnehmen durfte. Hoffentlich hatte er sie nicht zu sehr bedrängt und verschreckt.

Ich war nicht ehrlich zu ihr.

Der Druck in seinem Kopf wurde stärker, und er stöhnte auf. Er hatte immer die Meinung vertreten, dass man mit Ehrlichkeit am weitesten kam. Als Therapeut sah er ständig, wie viel Zerstörung Unehrlichkeit im Leben der Menschen anrichtete, und ermutigte seine Patienten zu emotionaler Offenheit.

Warum also hatte er Anna verschwiegen, wie er dazu gekommen war, am Samstag die Sendung zu sehen? Stattdessen hatte er den Eindruck erweckt, es sei ein Zufall gewesen, und er sei ein alter Fan.

Ich hatte Angst, dass sie sich dem Interview verweigert, wenn ich ihr die Wahrheit sage.

Er hätte sich dafür ohrfeigen mögen. Er mochte Anna. Sie war klug, mit einem subtilen Sinn für Humor und von einer emotionalen Integrität, die man heute nicht mehr allzu häufig antraf. Sie verdiente seine Ehrlichkeit.

Und wenn er aufrichtig war, dann mochte er sie vor allem als Frau, was nichts mit seinem Buch zu tun hatte.

Plötzlich war sein Schmerz auf wundersame Weise verschwunden. Erstaunt und erleichtert nahm er die Kompresse von der Stirn und richtete sich auf. Er lächelte, lachte und fühlte sich, als hätte er mal wieder dem Teufel die Stirn geboten und gesiegt.

Er würde Anna anrufen und einladen. Bei einem üppigen Fünf-Gänge-Menü würde er reinen Tisch machen und die Sache mit dem Päckchen beichten, das man ihm dagelassen hatte.

Wohin sie von da aus steuerten, blieb abzuwarten.

16. KAPITEL

Donnerstag, 18. Januar,

19 Uhr 50.

Vom Café du Monde aus war Anna zur Messe in die Kathedrale gegangen. Die Türen hatten offen gestanden, die Glocken hatten geläutet, und aus einer Laune heraus war sie eingetreten und hatte sich in die Arme von Mutter Kirche begeben.

Die vertraute Liturgie gab ihr Kraft und klärte ihre Gedanken. Beim Verlassen der Kirche fühlte sie sich innerlich im Gleichgewicht, gestärkt und für neue Wendungen im Leben gerüstet.

Jaye würde ihr verzeihen. Und sie würde einen neuen Verleger und Agenten finden. Die Sendung auf dem Unterhaltungskanal würde letztlich keine schlimmen Folgen haben, sondern ihr nur ein verstärktes Gefühl der Unabhängigkeit bescheren.

Trotz der Kälte machte sie einen Umweg nach Haus. Sie schlenderte an Geschäften und Restaurants vorbei und durch stille vertraute Seitenstraßen. In ihrer Wohnung erwarteten sie Aufgaben: Dinner vorbereiten, Anrufbeantworter abhören, Post durchsehen.

Doch die wenigen Minuten bis dahin wollte sie an Ben und ihr Treffen denken. Sie hatte ihn gemocht, seine Gesellschaft war ihr angenehm gewesen. Seine Arbeit war faszinierend, und er hatte interessant darüber gesprochen.

Sie legte eine Hand auf die Stelle der Wange, wo seine Lippen ihre Haut berührt hatten. Es war eine kühne, romantische Geste von ihm gewesen, die Nähe und Vertrautheit herstellen sollte.

Das hatte funktioniert. Ihr Puls hatte schneller geschlagen, und ein Wohlgefühl hatte sie durchströmt. Andererseits war sie verblüfft gewesen, weil die Geste nicht recht zu dem Bild passte, das sie von Ben Walker hatte.

Stirnrunzelnd überlegte sie, dass sie ihn gerade erst kennengelernt und nur eine kurze Unterhaltung mit ihm geführt hatte. Das machte sie kaum zur Kennerin seines Wesens. Trotzdem hatte sie in gewisser Weise das Gefühl, ihn zu kennen.

Fröstelnd kuschelte sie sich tiefer in ihren Mantel. Mit Beginn der Abenddämmerung war die Temperatur gesunken, und die Feuchtigkeit machte die Kälte noch unangenehmer. Sie durchdrang die Kleidung und kühlte den Körper aus.

Genug gegrübelt, entschied sie fröstelnd, Zeit, heimzukehren.

Keine zehn Minuten später betrat sie ihre Wohnung. Sie warf die Post auf den kleinen Tisch im Flur, zog ihren Mantel aus und hängte ihn auf. Immer noch frierend, eilte sie in die Küche, sich einen heißen Tee zu machen. Unterwegs drehte sie den Heizthermostat höher.

Während sie auf das Kochen des Wassers wartete, hörte sie den Anrufbeantworter ab. Ihre Mutter hatte sich gemeldet, sie hatte die Visitenkarte des Videofilmers gefunden. Er hatte den merkwürdigen Namen Peter Peters. Dalton fragte an, wie ihr Treffen mit Ben verlaufen war, und die Praxis ihres Zahnarztes erinnerte sie an ihren Termin am nächsten Tag.

Die letzte Mitteilung war die Bitte von Jayes Pflegemutter, Anna möge anrufen. Überrascht tat sie das unverzüglich.

Die Frau nahm schon beim zweiten Klingeln ab. „Hier ist Anna North. Sie hatten mich angerufen.“

„Ja“, erwiderte Fran Clausen aufgeregt. „Ich wollte nur wissen, ob Jaye bei Ihnen ist.“

„Ich habe sie weder gesehen noch gesprochen. Ist sie nach der Schule nicht heimgekommen?“

„Nein. Zuerst habe ich mir keine Gedanken gemacht. Manchmal bleibt sie bei einer Freundin oder geht in die Bibliothek. Aber sie kennt die Regeln. Wenn sie nicht die ausdrückliche Erlaubnis hat wegzubleiben, ist sie gegen halb sechs zum Essen da.“

Anna sah auf ihre Uhr. Es war fast acht und längst dunkel.

„Sicher ist sie nur bei einer Freundin und hat die Zeit vergessen“, fuhr Fran fort, „aber als ihr gesetzlicher Vormund muss ich wissen, wo sie steckt.“

Anna zog die Stirn in Falten. Sie will es nur wissen, weil sie der gesetzliche Vormund ist? Nicht weil sie Jaye mag oder aus Sorge um sie? Sie schalt sich für diese Gedanken. Fran und Bob Clausen waren gut zu Jaye.

„Haben Sie eine Ahnung, bei wem sie sein könnte?“, fragte Fran. „Ich fürchte, ich habe keine.“

„Wissen Sie was? Ich höre mich um und versuche sie aufzustöbern. Ich rufe wieder an.“

Nach zehn Minuten hatte Anna alle Kontakte, die ihr einfielen, überprüft. Sie hatte mit Jayes engsten Freundinnen Jennifer, Tiffany, Carol und Sarah gesprochen. Keiner hatte Jaye gesehen, weder in der Schule noch danach. Das beunruhigte Anna am meisten.

Habe ich dir von dem Kerl erzählt, der mir gefolgt ist?

Diese Erinnerung kam mit einem Anflug von Panik. Anna telefonierte noch einmal mit Fran, in der Hoffnung, dass Jaye inzwischen aufgetaucht war. Sie war es nicht. Sie berichtete Fran von ihren ergebnislosen Nachforschungen und schlug vor, alle Orte abzufahren, an denen Jaye sich gerne aufhielt. „Hat sie Ihnen erzählt, dass sie neulich auf dem Heimweg von der Schule verfolgt wurde?“

Fran schwieg einige Sekunden. „Nein, das ist mir neu.“

„Jaye war deshalb nicht sonderlich besorgt, aber jetzt …“

„Ziehen wir keine voreiligen Schlüsse, Anna. Wahrscheinlich kommt sie jeden Moment zur Tür herein.“

Anna hoffte es. Nach dem Versprechen, in Kontakt zu bleiben, legte sie auf, nahm Tasche und Autoschlüssel und ging los.

Gegen halb zehn gab sie ihre Suche auf. Nicht vor Müdigkeit, sondern weil sie nicht mehr wusste, wo sie noch suchen sollte. Sie hatte in Spielsalons, im Rock’n Bowl, in CC’s Coffeehouse und sogar in der Bibliothek nachgesehen. Alles Orte, die Jaye entweder allein oder mit Freunden aufsuchte. Niemand hatte sie tagsüber gesehen. Jaye war seit vierzehn Stunden verschwunden. In der Zeit konnte einer Fünfzehnjährigen eine Menge Schlimmes zustoßen.

Inzwischen mehr als beunruhigt, hielt sich Anna an der Carrollton Avenue links und fuhr zu den Clausens. Bestimmt war Jaye inzwischen wieder zu Hause und vermutlich stinksauer, weil die Clausens ihr eine angemessene Strafe aufgebrummt hatten. Vielleicht hatte Jaye geschmollt und beschlossen, die Schule zu schwänzen. Ihre Freunde waren möglicherweise eingeweiht und deckten sie.

Obwohl Jaye sich schon lange nicht mehr so unvernünftig aufgeführt hatte, durfte man diese Möglichkeit nicht außer Acht lassen. Schließlich war sie ein Teenager.

Fran Clausen öffnete die Tür, ehe Anna klopfen konnte. Ihre Miene war mutlos. „Sie haben sie nicht gefunden, oder?“

Anna schüttelte den Kopf. „Ich hatte gehofft, sie wäre inzwischen wieder da.“

„Ist sie nicht“, sagte Bob Clausen brummig. „Und sie wird auch nicht.“

Anna wandte sich ihm zu. Er war ein großer, kräftiger Mann mit einem groben Gesicht. „Wie bitte?“

„Sie ist weggelaufen.“

Anna warf Fran einen entsetzten Blick zu. „Ist etwas vorgefallen, von dem ich nichts weiß?“

Fran wollte antworten, doch ihr Mann kam ihr zuvor. „Sie sind doch hoffentlich nicht überrascht. Das hat sie schon früher gemacht.“

„Aber sie ist seither viel erwachsener geworden. Sie hat gründlich über sich und ihr Leben nachgedacht. Sie weiß, dass Weglaufen für sie keine Lösung ist.“

Anna sah von Fran zu ihrem Mann. „Hat Fran Ihnen gesagt, dass Jaye auf dem Heimweg von der Schule von einem Mann verfolgt wurde?“

Er verdrehte die Augen. „Das ist doch Blödsinn. Wenn sie wirklich verfolgt worden wäre, hätte sie uns davon erzählt.“

„Ich habe zuerst auch nicht glauben wollen, dass sie weggelaufen ist“, sagte Fran leise. „Aber nachdem Sie von ihren Freundinnen erfahren haben, dass sie gar nicht in der Schule war …“

Bob Clausen schnaubte verächtlich. „Die Katze lässt das Mausen nicht. Wer einmal ein egoistischer kleiner Nichtsnutz ist, bleibt es.“

Zornesröte überzog Annas Wangen. „Jaye ist weder egoistisch noch ein Nichtsnutz!“

„Bob hat das nicht so gemeint“, beschwichtigte Fran. „Aber Sie haben nicht mit Jaye gelebt. Sie war sehr starrköpfig, manchmal störrisch. Wenn sie sich zu etwas entschlossen hat, tut sie es, ungeachtet der Konsequenzen.“

Anna hielt sich nur mühsam im Zaum. „Bei der Kindheit, die Jaye hatte, musste sie einen starken Willen entwickeln, andernfalls hätte sie nicht überlebt!“

Die Clausens warfen sich Blicke zu. Bob wollte etwas erwidern, unterließ es aber. Schweigend wandte er sich ab und kehrte in sein Arbeitszimmer und zu seinem Fernsehprogramm zurück.

Fran sah ihm nach und wandte sich an Anna. „Wir rufen Sie an, wenn sie auftaucht … oder wenn wir etwas hören.“

Mit anderen Worten, raus. Sie würde gehen, nachdem sie ein wenig weitergebohrt hatte. Etwas an dieser Sache erschien ihr merkwürdig und ergab keinen Sinn.

„Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich einen Blick in Jayes Zimmer werfe?“

„In ihr Zimmer?“ Fran sah zum Fernsehraum. Anna war nicht sicher, ob sie die moralische Unterstützung ihres Mannes suchte oder nur prüfte, ob er mithörte. „Warum?“

„Vielleicht … möchte ich mich selbst überzeugen, dass sie nicht da ist.“ Sie senkte die Stimme. „Bitte, Fran, es würde mir wirklich viel bedeuten.“

Fran zögerte einen Moment und gab nach. „Also gut. Ich nehme an, das schadet niemand.“

Fran ging voran und wartete im Flur, während Anna sich in Jayes Zimmer umsah. Wie bei vielen Teenagern sah es hier aus wie nach einem Wirbelsturm.

Anna ging mitten ins Zimmer und blieb stehen. Es roch nach Jaye, nach dem leichten blumigen Parfum, das sie bevorzugte. Über dem Sessel in der Ecke lag der orangefarbene Pullover, den sie bei ihrem letzten Treffen getragen hatte. Auf dem Nachttisch lagen drei leere Coladosen und ein Stapel CDs. Anna sah den Stapel durch und erkannte einige von Jayes Lieblingssongs. Warum hätte sie die hierlassen sollen, wenn sie wirklich weggelaufen wäre. Sie besaß einen tragbaren CD-Player, ohne den sie kaum das Haus verließ.

Außer sie ging zur Schule. Seit Beginn des Schuljahres war es verboten, CD-Player mit in die Schule zu bringen. Jaye war wütend gewesen und hatte der Schulleitung einen bösen Brief geschrieben.

Anna sah auf den Boden. Am Fuße des Bettes lagen ein Buch aus der Bibliothek, drei grellfarbene Knusperriegel, das Einwickelpapier eines Schokoriegels und die Doc-Martens-Schuhe, die sie von ihrem eigenen Geld gekauft hatte.

Sie liebt ihre Doc Martens und hat vier Monate darauf gespart. Sie hat auf alles andere verzichtet.

Anna sah sich noch einmal im Raum um und suchte einen Beweis, dass Jaye weggelaufen war. Oder einen für das Gegenteil.

Sie fand ihn unter Jayes Matratze. Eine dünne Blechdose mit Erinnerungsstücken: dem Trauring ihrer Mutter, einem Foto ihrer Mutter und einem Schnappschuss ihrer Mutter mit Baby Jaye auf den Armen. Dazu Jayes Geburtsurkunde und die zwei Gedichte, die sie letztes Jahr geschrieben hatte und die im jährlichen Literaturmagazin ihrer Zeitung erschienen waren. Anna entdeckte ein Bild von ihnen beiden, wie sie mit rosigen Wangen in die Kamera lächelten, die Arme um die Schultern des jeweils anderen gelegt.

Tränen in den Augen, nahm sie das Foto an sich. Sie erinnerte sich gut an den Tag, als es gemacht worden war. Sie hatten gerade Freundschaft geschlossen. Es war ein herrlich sonniger Frühlingstag gewesen, der schon die Wärme des Sommers ahnen ließ. Sie waren im Zoo gewesen, hatten über das ausgelassene Toben der Tiere gelacht, Fast Food in sich hineingestopft und das Zusammensein genossen.

Die Erinnerung tat weh. Anna legte den Schnappschuss in das Kästchen zurück. Ausgeschlossen, dass Jaye all diese Dinge freiwillig zurückgelassen hat. Sie repräsentieren alles, woran sie sich erinnern möchte. Mit dieser Erkenntnis wallte Angst in ihr auf. Wenn Jaye nicht weggelaufen ist, wo steckt sie dann abends um halb zehn, an einem Wochentag?

Anna klappte das Kästchen zu und nahm es mit hinaus zu Fran. „Haben Sie das gesehen?“

„Das?“ Fran sah das Kästchen unsicher an. „Was ist das?“

„Jayes Kästchen mit Erinnerungsstücken.“ Anna schlug den Deckel auf und zeigte ihr den Inhalt. „Es steckte unter der Matratze.“

Fran machte eine fahrige, nervöse Geste. „Na und?“

„Jaye hätte diese Dinge niemals einfach so zurückgelassen. Sie ist nicht weggelaufen, Fran. Ihr ist etwas zugestoßen.“

Fran wurde blass. „Das kann ich nicht glauben …“

„Hat sie heute Morgen eine Tasche mitgenommen?“

„Nur ihre Büchertasche. Aber …“

„Ich habe ihre Schulbücher nicht in ihrem Zimmer gefunden. Warum sollte sie Schulbücher mitnehmen und das hier zurücklassen? Wenn sie weggelaufen wäre, hätte sie ihre Schultasche dann nicht mit den Dingen gefüllt, die sie braucht: Kleidung, Schuhe, Zahnbürste und ihre Erinnerungsstücke? Kommen Sie, Fran, Jaye würde nicht weglaufen, ohne etwas mitzunehmen.“

„Jetzt reicht es aber!“, brüllte Bob Clausen und kam in den Flur. „Hören Sie endlich auf, meine Frau zu belästigen!“

Anna stellte sich ihm mit hämmerndem Herzen entgegen. „Ich belästige sie nicht, ich will nur, dass sie einsieht …“

„Jaye ist abgehauen und hat uns sitzen lassen!“

„Haben Sie mit Paula gesprochen?“ Anna bezog sich auf Paula Perez, Jayes Sozialarbeiterin. „Ich denke, sie muss erfahren, dass Jaye …“

„Wir haben schon mit ihr gesprochen. Sie glaubt, Jaye ist weggelaufen. Sie kam schon vor uns zu dem Schluss. Wenn Jaye bis Mitternacht nicht aufgetaucht ist, wird Paula den Fall den Behörden melden.“

„Aber sie weiß nichts von dem hier.“ Anna deutete auf das Kästchen in ihrer Hand.

„Rufen Sie sie an. Mir ist es egal.“

„Ja“, sagte Anna leise, als er sich abwandte, „es hat ganz den Anschein, dass Jaye Ihnen egal ist.“

Bob Clausen erstarrte und drehte sich langsam zu ihr um. „Was haben Sie da gesagt?“

Mit hoch erhobenem Kopf überspielte sie, wie eingeschüchtert sie war. Bob war ein Bär von einem Mann, und im Moment schien er gute Lust zu haben, sie zu zerreißen.

„Sie sind Jayes Pflegeeltern, und ich finde es sehr … seltsam, dass Sie nicht mehr um sie besorgt sind.“

Sein Gesicht wurde fleckig. „Was fällt Ihnen ein, hier hereinzutanzen und uns zu maßregeln! Wie können Sie unterstellen …“

„Bob“, besänftigte seine Frau, „bitte!“

Er ignorierte sie und machte drohend einen Schritt auf Anna zu. „Begreifen Sie denn nicht? Wir haben das schon mal durchgemacht. Sie nicht. Mädchen wie Jaye bleiben nicht. Sobald ihnen etwas quergeht, hauen sie ab. Sie verschwinden ohne ein Wort zu den Menschen, die sich um sie gekümmert haben.“

Er machte noch einen Schritt auf Anna zu, und sie wich instinktiv zurück. „Ich möchte, dass Sie jetzt gehen.“

Anna sah flehentlich zu Fran. „Bitte … ich kenne Jaye. Sie ist meine Freundin. Sie würde so etwas nicht tun. Ich weiß es!“

Fran wandte sich mit verschlossener Miene ab. „Wenn wir etwas hören, informieren wir Sie.“

„Danke.“ Anna hielt Jayes Kästchen fester und mochte es nicht hergeben, obwohl sie nicht recht wusste, warum. „Darf ich das für sie aufbewahren?“

„In diesem Fall sind wir gehalten, alle Sachen von Jaye an den Sozialdienst zu übergeben.“

Anna schluckte trocken. Das klang ominös und endgültig. Als sprächen sie über den Besitz einer Toten. „Bitte. Ich werde dafür sorgen, dass Paula es bekommt. Das verspreche ich.“

Fran zögerte noch einen Moment und stimmte dann zu. Die Clausens brachten Anna zur Tür und sahen ihr nach, während sie davonging, das Kästchen an die Brust gedrückt. Als Anna ihr Auto erreichte und sich umsah, bemerkte sie, dass Fran und Bob verstohlene Blicke tauschten.

Voller Panik stand sie einen Moment an ihrem Auto und dachte: Was ist bloß mit Jaye passiert?

17. KAPITEL

Donnerstag, 18. Januar,

23 Uhr 50.

Jaye erwachte stöhnend. Kopf und Rücken taten ihr weh, und ihr Mund fühlte sich trocken und sandig an, wie ein Wassergraben nach monatelanger Dürre. Stöhnend rollte sie sich auf die Seite. Ein säuerlicher Geruch stieg ihr in die Nase, und sie öffnete die Augen.

Sie erinnerte sich. Sie war zur Bushaltestelle gegangen und hatte über die Schulter nach dem alten Perversen Ausschau gehalten. Sie hatte gegrinst, weil sie ihm entwischt war. Hatte sie geglaubt. Im nächsten Moment war sie hinter eine Azaleenhecke gezerrt worden, und jemand hatte ihr etwas auf Nase und Mund gepresst. Sie erinnerte sich an ihr Entsetzen und den Drang zu schreien.

Dann war ihre Umwelt schwarz geworden.

Sie stemmte sich zum Sitzen hoch. Ihr Herz hämmerte, ihr Atem ging schnell und flach. Sie ließ den Blick durch den schwach erhellten Raum wandern, sie war allein.

Sie atmete tief ein und aus, sich zu beruhigen. Ihr Überlebensinstinkt meldete sich. Bleib ruhig. Überleg, was zu tun ist.

Sie saß auf einer Pritsche. Die Matratze war schmutzig vom vielen Gebrauch. Jaye presste die bebenden Lippen zusammen. Das einzige weitere Möbelstück im Raum war eine zusammenklappbare Sonnenliege, ein simples Gestell aus Aluminium und Nylongewebe. An der linken Schmalseite befanden sich ein Waschbecken und eine Toilette. Daneben stand eine Rolle Toilettenpapier, und auf dem Waschbeckenrand lagen eine Tube Zahnpasta, eine Zahnbürste und ein Handtuch.

Entsetzt ließ sie den Blick weiterschweifen. Die Gipswände waren geborsten. Was noch übrig war von der verblassten Tapete, war fleckig und blätterte ab. Das einzige Fenster war mit Brettern vernagelt, um dessen Ränder herum blasses Licht eindrang. Gegenüber dem Fenster war die Tür.

Sie stand auf und ging auf Zehenspitzen hinüber. Vorsichtig griff sie nach dem Knauf. Dabei zitterte ihr die Hand. Sie erinnerte sich an eine Szene aus einem Horrorfilm, den sie vor einigen Wochen gesehen hatte. Ein Mädchen in ihrer Lage hatte versucht zu fliehen, und als es den Türknauf berührte, hatte er sich in eine Schlange verwandelt.

Aber das war ein Film gewesen. Dieser Albtraum war echt, und sie musste einen Fluchtweg finden.

Sie schluckte trocken und packte den Knauf. Er war kühl und glatt – und blieb ein Knauf. Erleichtert sandte sie ein Dankgebet zum Himmel und versuchte, den Knauf zu drehen.

Er bewegte sich nicht. Tränen traten ihr in die Augen. Sie blinzelte sie fort und schalt sich, dass sie auf ein Wunder gehofft hatte. Welcher Entführer hätte schon die Tür unverschlossen gelassen?

Sie musste einen anderen Ausweg finden. Sie senkte den Blick und bemerkte erst jetzt, dass in eine der Türplanken eine Katzenklappe eingearbeitet war.

Sie kniete nieder und nahm sie genauer in Augenschein. Offenbar war sie erst kürzlich eingesetzt worden, denn sie sah noch unzerkratzt aus. Sie drückte gegen die Klappe, doch die schien von außen verriegelt zu sein. Sie drückte fester, und die Klappe gab ein wenig nach. Frustriert zog sich Jaye zurück. Sie könnte die Klappe zwar auftreten, sich jedoch niemals hindurchzwängen. Also, wozu der Aufwand?

Sie stand auf, drehte sich zum Fenster um und ging hin, um durch die Schlitze zwischen den Brettern zu blinzeln. Vielleicht konnte sie erkennen, wo sie war. Sie sah, dass es Nacht war. Das Licht, das zwischen den Brettern hindurchsickerte, war künstlich und kam von einer nahen Straßenlaterne. Sonst konnte sie nichts erkennen.

Allerdings hörte sie gedämpfte Geräusche: Musik, Verkehr und redende Menschen.

Menschen! Jemand könnte mich hören und nach mir sehen. Oder die Polizei holen.

„Hilfe!“, schrie sie aufgeregt und schlug gegen die Bretter. Sie rief immer wieder und lauschte zwischendurch. Das Stimmengewirr von irgendwo außerhalb ihres Gefängnisses veränderte sich nicht. Niemand sah nach ihr. Niemand reagierte auf ihre Hilferufe.

Sie können mich nicht hören. Sie sind zu weit weg.

Hektisch wandte sie sich ab, lief zur Tür, rief und trommelte und trat dagegen. Ihre Stimme wurde heiser, die Hände wurden wund, und ihre Arme erlahmten. Trotzdem rief sie weiter, bis ihr Rufen in ein leises bittendes Wimmern umschlug.

Erschöpft sank sie schließlich schluchzend zu Boden.

18. KAPITEL

Freitag, 19. Januar,

French Quarter.

Ihr Name war Evelyn Parker gewesen. Schön und beliebt, war sie gern ausgegangen und eine regelmäßige Besucherin der Clubszene der Innenstadt gewesen. Sie hatte als Hygienikerin bei einem Zahnarzt in den Außenbezirken gearbeitet und im Stadtteil Bywater gelebt.

Sie war an ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag umgebracht worden.

„Verteufelte Sache, am Geburtstag erledigt zu werden, was, Malone?“, sagte Sam Tardo, ein Mitarbeiter der Spurensicherung. „Und rühren Sie nichts an, wir sind mit dem Leichnam noch nicht fertig.“

Quentin gab als Antwort ein Brummen von sich und ging neben Evelyn Parker in die Hocke. Er ließ den Blick über das Opfer schweifen und suchte etwas, das den anderen entgangen sein könnte: einen Knopf, ein Schnipsel Papier, Blutspritzer, einen Fußabdruck.

„Denkst du, was ich denke?“, fragte Terry und beugte sich hinunter, um besser sehen zu können.

Nancy Kent. „Ja.“ Quentin zog die Stirn in Falten. Evelyn Parker war rötlich blond. Sie war in ihrer Todesnacht durch die Clubs gezogen. Es sah aus, als sei sie zuerst vergewaltigt und dann erstickt worden. Genau wie Nancy Kent hatte man Evelyn Parker in der Gasse hinter einem Club gefunden.

„Der Captain wird ganz schön sauer sein.“ Johnson rollte zur Lockerung die Schultern. „Als wäre es unsere Schuld oder so.“

„Wer hat sie gefunden?“, fragte Quentin.

„Eine Joggerin.“

Quentin sah stirnrunzelnd auf. „Was macht eine Joggerin in einer Gasse?“

„Die junge Frau joggt immer sehr früh und nimmt ihren Golden Retriever mit, zum Schutz, wie sie sagt. Am Eingang der Gasse machte der Hund plötzlich Theater. Sie beschließt, nachzusehen, und findet mehr, als sie wollte.“

„Hat Walden ihre Aussage aufgenommen?“

„Ja.“ Johnson wies mit dem Daumen auf den Club. „Er ist jetzt bei dem Barbesitzer. Also, wo wart ihr Burschen? Walden und ich, wir haben den Fall praktisch schon gelöst.“

„Du kannst mich mal.“ Terry schnaubte verächtlich. „Hast du’s nicht gehört? Während ihr zwei euch noch im Bett gerekelt habt, waren Malone und ich in Desire. Drogenbedingter dreifacher Mord.“

Die Siedlung Desire war die gefährlichste Ecke der Stadt. Die Lebenserwartung eines Polizisten, der sich allein dorthin wagte, war gering. Die der Bewohner war nicht viel höher.

„Ihr Glückspilze.“ Der Beamte zog sich tiefer in seinen Mantel zurück. „Jede Gasse im French Quarter ist mir lieber als das Desire.“

Aus der Tür zur Bar rief Johnson nach seinem Partner. Walden entschuldigte sich, und Quentin widmete sich wieder dem Opfer. Im Gegensatz zu Nancy Kent hatte diese Frau sich heftig gewehrt. Sie hatte Prellungen im Gesicht, am Hals und auf der Brust. Ihre Jeans waren hauteng. Nach der verdrehten Haltung des Körpers zu urteilen, hatte der Täter Schwierigkeiten gehabt, sie am Boden zu halten, während er ihr die Jeans herunterriss. Sie waren in Kniehöhe heruntergeschoben, ihr Slip war weggerissen.

Quentin blickte zu Terry auf, um eine Bemerkung wegen der Jeans zu machen, unterließ es jedoch, als er sah, wie müde sein Partner wirkte. Seine Augen waren blutunterlaufen, und er war sehr still. Ehe sie vor Stunden ins Desire fahren mussten, hatte er wenigstens im Bett gelegen und geschlafen. Wo war Terry gewesen? „Alles okay mit dir?“, fragte er.

„So wie man es von jemand erwarten kann, der kein Zuhause mehr hat und nicht schlafen kann.“ Er rieb sich leise fluchend die Augen. „Ich habe diesen ganzen Scheiß verdammt satt.“

Das Team der Spurensicherung rückte an, und sie traten beiseite, um den Männern Platz zu machen. Sie konnten hier ohnehin nichts mehr ausrichten. Als Nächstes mussten sie die Beweisstücke sichten und Evelyn Parkers Leben sowie die Nacht ihres Todes rekonstruieren.

Quentin sah Terry nachdenklich an. „Ich glaube nicht, dass sie vergewaltigt wurde, Terry. Bei den engen Jeans um die Knie konnte der Täter unmöglich zum Zuge kommen. Sofern er sich nicht die Zeit genommen hat, ihr die Jeans nach der Tat wieder halbwegs hochzuziehen, hat er vermutlich aufgegeben und sie einfach nur umgebracht.“

„Adios, DNA-Test.“

„Genau.“ Sie waren auf dem Weg aus der Gasse. „Was es weitaus schwieriger macht, die Fälle miteinander in Verbindung zu bringen.“

„Sogar fast unmöglich.“ Terry schwieg einen Moment. „Was mir auch nicht weiterhilft. Mist. Ich hoffe, die versuchen mir diesen Scheiß nicht anzuhängen.“

Quentin blieb verblüfft stehen. „Warum sollten sie?“

„Wegen Nancy Kent natürlich.“

„Aber der Verdacht gegen dich wurde doch ausgeräumt.“

Terry schob die Hände in die Jackentaschen und verzog verbittert den Mund. „Ja, aber das hier ändert alles. Sie werden sich den ersten Mord noch mal genau ansehen. Das weißt du. Richte dich darauf ein, dass wir vorgeladen werden, sobald wir im Revier sind. Scheiße.“

Quentin hoffte, dass sein Partner sich irrte, musste jedoch zugeben, dass er wahrscheinlich recht hatte. „Wenn dich der Captain fragt, wo du letzte Nacht warst, was wirst du ihr sagen, Terry?“

„Die Wahrheit. Dass ich in meinem beschissenen Apartment war. Allein und mit einer Flasche Bourbon. Davor war ich bei Penny.“

Sie verließen die Gasse und schlugen den Weg zu ihren Autos ein, die nebeneinander am Straßenrand parkten. „Gibt es Fortschritte in der Richtung, dass sie dir vielleicht erlaubt, wieder bei ihr einzuziehen?“

„Wieder einziehen?“ Terry lachte bitter. „Und ihr den Spaß verderben? Seit ich weg bin, ist das Leben eine einzige Party für sie. Sie vögelt einen Kerl nach dem anderen und macht die Zeit wett, die sie mit mir verplempert hat.“

Nicht nur die hässliche Bemerkung schockierte Quentin, sondern auch der rachsüchtige Ton, in dem Terry sprach. „Ausgeschlossen“, widersprach er leise und dachte an die Frau seines Partners. Er konnte sich Penny, die er nur als liebevolle Gattin und verantwortungsvolle Mutter kannte, nicht als Flittchen vorstellen.

„Verdammter Mist!“, spie Terry geradezu aus. „Mich, ihren Ehemann, lässt sie nicht an sich ran. Aber jeder andere hergelaufene Heini darf.“

„Hast du Beweise dafür? Das klingt nicht nach der Penny, die ich kenne.“

„Ja, ich habe Beweise. Alex hat mir erzählt, dass sie oft abends weg ist. Großmutter Stockwell bleibt dann bei den Kindern. Er sagte, Penny kommt immer erst spät wieder.“

„Und das ist alles?“ Quentin schloss die Wagentür auf. „Das ist kein Beweis. Alex ist sechs und wohl kaum ein Detektiv.“

„Warum sonst sollte sie so lange wegbleiben? Was sonst könnte sie aufhalten?“ Er ballte die Hände. „Sie ist meine Frau, verdammt! Sie gehört nach Hause zu ihren Kindern.“

„Sie könnte eine Freundin besuchen oder eine Veranstaltung. Du kannst nicht sicher sein, dass sie bei einem Mann ist.“

„Ich weiß es aber.“ Terry drehte sich zu ihm um. „Du musst mit ihr reden, Malone. Sie mag dich und respektiert deine Meinung.“ Terry klang verzweifelt. „Bitte rede mit ihr! Überzeuge sie, dass sie mich zurücknehmen muss.“ Als Quentin zögerte, machte Terry flehentlich einen Schritt auf ihn zu. „Du musst mir helfen, Kumpel. Sie muss einsehen, dass es das Beste für alle ist, wenn ich wieder nach Hause komme.“ Er sah kurz über die Schulter, ob jemand mithörte. „Ich sage dir ehrlich, ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte.“

„Also gut“, stimmte Quentin zu. „Entgegen besserem Wissen tue ich es.“

19. KAPITEL

Freitag, 19. Januar,

Geschäftsviertel.

Vierundzwanzig Stunden vergingen ohne Nachricht von Jaye. Mit jeder Stunde wurde Anna sicherer, dass Jaye nicht weggelaufen war. Und sie bezweifelte, dass die Clausens die liebevollen, fürsorglichen Pflegeeltern waren, für die man sie hielt. Während sie sich deren Verhalten und ihre Äußerungen ins Gedächtnis rief, keimte in ihr der Verdacht, dass sie etwas verheimlichten.

Die Möglichkeiten, die ihr dazu einfielen, entsetzten sie.

In ihrer Verzweiflung suchte sie Paula Perez, Jayes Sozialarbeiterin, auf. Sie öffnete die Tür des winzigen, fensterlosen Büros und steckte den Kopf zur Tür herein. „Klopf, klopf.“

Paula sah lächelnd auf. „Anna, kommen Sie herein.“

„Die Empfangssekretärin war nicht an ihrem Platz, deshalb bin ich weitergegangen. Komme ich ungelegen?“

Paula deutete auf ihren Schreibtisch, der überfüllt war mit Akten, Memos, Büchern und Gerichtsunterlagen. „Beim Sozialdienst kommt man immer ungelegen. Wir sind hoffnungslos überlastet. Setzen Sie sich.“

Anna nahm Platz, Jayes Kästchen mit Erinnerungsstücken in der Hand. „Ich wollte mit Ihnen über Jaye reden.“

„Das habe ich mir schon gedacht. Aber es gibt nichts Neues.“

„Ich weiß.“ Anna blickte auf das Kästchen und reichte es Paula. „Ich möchte, dass Sie sich das ansehen. Es gehört Jaye.“

Paula nahm das Kästchen, öffnete es und sah den Inhalt durch. Nach einem Augenblick hob sie den Blick. „Wie sind Sie daran gelangt?“

„Durch die Clausens, am Abend, als Jaye verschwand.“

„Ich muss es behalten. Als Mündel des Staates …“

„Ich weiß. Aber ich hatte Angst … ich befürchtete, dass das Kästchen verschwinden könnte, wenn ich es nicht an mich nehme.“

Paula runzelte die Stirn. „Ich verstehe nicht.“

„Der Inhalt dieses Kästchens beweist, dass Jaye nicht weggelaufen ist.“

„Wir haben das schon am Telefon besprochen. Ich weiß, Sie wollen nicht akzeptieren …“

„Sie hätte diese Dinge nicht zurückgelassen, Paula. Niemals. Es sind Erinnerungsstücke. Das ist alles, was sie aus ihrer Vergangenheit besitzt.“

„Jaye ist ein kluges Mädchen, Anna. Sie weiß, dass wir verpflichtet sind, ihre Habseligkeiten für sie zu verwahren. Und sie weiß auch, dass es keine zeitliche Begrenzung für diese Aufbewahrungspflicht gibt. Sie taucht vielleicht in zehn Jahren auf und holt sich ihre Sachen ab.“

Unberührt von dieser Logik versuchte Anna es auf andere Weise. „Wenn Jaye vorgehabt hätte wegzulaufen, warum hat sie ihre Büchertasche dann nicht mit Essen und Kleidung gefüllt? Warum hat sie ihre Schulbücher eingepackt? Warum hat sie ihre Lieblingssongs zurückgelassen? Das ergibt alles keinen Sinn.“

„Fran und Bob haben mich heute Morgen angerufen. Wie es aussieht, fehlen aus ihrem Vorratsschrank einige Lebensmittel.“

„Behaupten sie.“

Paula erstarrte geradezu, und ihre Wangen überzog ein rosa Hauch. „Was soll das heißen, Anna?“

„Es soll heißen, dass Fran und Bob vielleicht nicht die ganze Wahrheit sagen. Etwas ist seltsam an …“

„Um Himmels willen!“ Paula sprang zornig auf. „Es sind nette Menschen, die seit fast zwanzig Jahren Pflegeeltern sind. Sie stehen allgemein in hohem Ansehen, auch bei mir. Was fällt Ihnen ein, sie eines … Verbrechens zu beschuldigen?“

Anna stand auf. „Ich bitte lediglich darum, sich Jayes Verschwinden ein wenig genauer anzusehen. Befragen Sie die Clausens intensiver, schalten Sie die Polizei ein …“

„Ich habe die Polizei bereits eingeschaltet und Jaye als vermisst gemeldet, wie das Gesetz es verlangt.“

„Ich kenne Jaye, Paula. Sie würde so etwas nicht tun. Niemals. Ihr ist etwas zugestoßen.“ Anna beugte sich vor. „Sie hat mir erzählt, dass ihr von der Schule ein Mann gefolgt ist. Wenn Sie das der Polizei sagen …“

„Fran hat mir das bereits gesagt, und ich habe es an die Polizei weitergegeben.“ Sie seufzte ungeduldig. „Sie kennen Jaye vielleicht nicht so gut, wie Sie denken. Sie hat einen komplexen Charakter und ist durchaus zu irrationalem Verhalten fähig. Das ist vielleicht schwer für Sie zu ertragen, aber es stimmt.“

„Ich kenne ihre Vergangenheit. Ich weiß, dass sie ein halbes Dutzend Mal weggelaufen ist. Ich weiß von ihrem Angriff auf einen Lehrer und ihrem Selbstmordversuch. Aber sie ist in den letzten beiden Jahren viel reifer geworden, emotional und mental …“

Die Sozialarbeiterin brachte sie mit erhobener Hand zum Schweigen. „Bevor Sie weiterreden, Anna, möchte ich, dass Sie ehrlich darüber nachdenken, inwieweit Ihr eigenes Schuldgefühl dafür verantwortlich ist, dass Sie nicht glauben wollen, Jaye sei weggelaufen.“

„Mein Schuldgefühl? Weshalb sollte ich mich schuldig …“

„Wie ich hörte, haben Sie sich kürzlich gestritten. Jaye fühlte sich von Ihnen hintergangen. Dass Sie ihr nichts von Ihrer Vergangenheit erzählt haben, wertete sie als Betrug.“

„Das hat nichts damit zu tun.“

„Nein? Haben Sie mal daran gedacht, dass sie weggelaufen sein könnte, weil Sie sie gekränkt haben? Es wäre dasselbe Verhaltensmuster wie die vielen Male davor. Vielleicht basierte die emotionale Reife, die Sie entdeckt zu haben glaubten, vor allem auf Vertrauen, das zerstört wurde, weil Jaye sich belogen fühlte.“

Anna wollte das heftig bestreiten, doch der Vorwurf ging ihr nahe. „Ich wollte sie nicht verletzen“, presste sie schließlich hervor. „Ich habe versucht, ihr zu erklären, warum ich meine Vergangenheit geheim gehalten habe.“

„Ich weiß“, erwiderte Paula sanft. „Aber ich bin ja auch kein verletzlicher Teenager, der von allen Menschen, denen er traute, betrogen worden ist.“

„Ich wollte ihr nicht wehtun“, wiederholte Anna bedauernd. „Ich habe Jaye lieb gewonnen.“

Die Sozialarbeiterin sah sie mitfühlend an und gab ihr das Kästchen zurück. „Behalten Sie das vorerst. Jaye würde sicher wollen, dass Sie es für sie aufbewahren.“

Anna nahm das Kästchen, wandte sich ab und ging. Als sie das Gebäude verließ, betete sie, dass es Jaye gut gehen möge und sie in Sicherheit sei. Sie hoffte inständig, dass sie tatsächlich weggelaufen war, irgendwann zur Vernunft kam und zurückkehrte.

20. KAPITEL

Freitag, 19. Januar,

Revier des siebten Distrikts.

Quentin entdeckte Anna North, sobald er das Revier betrat. Sie stand am Ende des vollen Raumes und presste ein Kästchen an die Brust. Er sah ihr Gesicht im Profil. Haltung und Miene, soweit er sie sehen konnte, drückten Verunsicherung aus. Das war nicht weiter verwunderlich, denn nur wenige Zivilisten suchten ein Polizeirevier unter glücklichen Umständen auf.

Den Kopf leicht zur Seite geneigt, betrachtete er sie. Was hatte diese Anna North nur an sich, das seinen Blick anzog wie ein Farbklecks auf tristem Hintergrund? Sicher, sie sah gut aus. Aber es gab etwa ein halbes Dutzend ebenso gut aussehender Frauen im Raum, die nicht seinen Blick fesselten.

An ihrer Kleidung, schwarze Jeans, hellblauer Pullover und dunkelbraune Lederjacke, lag es auch nicht. Und auch nicht an ihrem Haar, obwohl es so rot war und glänzte wie ein neuer Kupferpenny.

Also, woran liegt es?

Ein Lächeln zuckte um seinen Mund. Bei ihrer letzten Begegnung war sie seinen Fähigkeiten als Detective mit offenkundiger Skepsis begegnet. Sie würde sich bestimmt nicht freuen, wenn sie es wieder mit ihm zu tun bekam.

Aber er liebte nichts mehr als Herausforderungen, besonders so attraktive. Das war ein Charakterfehler, wie er sich eingestand, allerdings nicht zu ändern.

Er schlenderte zur Beamtin am Empfang. „Morgen, Violet.“ Er lehnte sich an den Tresen. „Ich muss schon sagen, du siehst heute wieder sehr einladend aus.“

Violet DuPre, eine Frau über fünfzig mit genügend Schlagfertigkeit, auch den kessesten Beamten in seine Schranken zu verweisen, maß ihn mit einem hochmütigen Blick. „Verkauf den Käse jemand anders, Malone. Was willst du?“

„Das mag ich so an dir, Violet. Du bist jederzeit empfänglich für meinen Charme.“ Einen Ellbogen auf den Tresen gestemmt, beugte er sich zu ihr vor. „Was ist mit dem Rotschopf da hinten? Wartet sie auf jemand?“

„Das tun wir doch alle, Schätzchen. Leider schickt uns der liebe Gott nicht immer den Richtigen vorbei.“ Sie grinste. „Der Rotschopf wollte mit einem Detective sprechen.“

„Hat sie namentlich nach mir gefragt?“

„Tut mir leid, Romeo. Das nächste Mal vielleicht.“

„Du missverstehst mich. Sie war schon mal bei mir und erzählte eine wirre Geschichte von Entführung durch Außerirdische. Ich hatte mit ihr zu tun, als ich drüben beim achten aushalf. Ich möchte nicht, dass einer meiner Kollegen sich mit dem Senf befassen muss.“

Sie grinste vielsagend. „Das ist wirklich großzügig von dir, Detective Malone.“

„So bin ich eben, immer das Wohl der anderen im Auge.“

Sie schüttelte tadelnd den Kopf. „Nach dem zweiten Frauenmord gestern Nacht sollte man meinen, du hättest Wichtigeres zu tun, als dich mit Entführungen durch Außerirdische zu befassen.“

Er richtete sich auf und schenkte ihr ein überlegenes Lächeln. „Du unterschätzt mich, Babe. Alle Ermittlungsmaßnahmen, die mit den Morden zu tun haben, sind bereits erledigt.“ Das stimmte sogar. Er hatte ein halbes Dutzend Leute verhört und die Beschreibungen, Namen und wenn möglich Adressen der Männer erhalten, mit denen Evelyn Parker in der Nacht ihres Todes zusammen gewesen war. Er hatte mit ihrer Familie gesprochen und einige ihrer Freunde und Kollegen aufgesucht. Aus diesen Informationen hatte er den Ablauf ihres letzten Abends rekonstruiert. Dabei war es noch nicht einmal Mittag.

Er beugte sich wieder zu ihr vor. „Also, Violet, schönste aller Frauen, kannst du mir irgendwie weiterhelfen?“

Sie griff kopfschüttelnd nach dem Telefonhörer, ein schwaches Lächeln um die Mundwinkel. „Da ihr zwei euch bereits kennt, sollte ich sie dir vielleicht zuteilen – aus Gründen der Bequemlichkeit.“

„Du bist ein Zuckerpüppchen, keine Frage.“

Sie schnaubte verächtlich. „Keine schwarze Frau mit einem Funken Selbstachtung ist ein Zuckerpüppchen. Spar dir das für die verweichlichten weißen Mädchen auf. Und du könntest die Krawatte ablegen, Schätzchen. So kalt ist es nicht.“

Er warf ihr lachend eine Kusshand zu. „Bis dann.“

Quentin durchquerte den Raum und wusste, dass Violet ihn beobachtete, zweifellos grinsend.

„Miss North?“, fragte er gedehnt. „Was führt Sie in meinen Winkel der Erde?“

Sie drehte sich zu ihm um, und ein Ausdruck der Verzweiflung huschte über ihr Gesicht. Offenbar hatte sie gehofft, dass sich ihre Wege nie mehr kreuzen würden. „Ich muss mit einem Detective sprechen.“

„Das bin ich.“

Sie sah kurz zu Violet hinüber, von der sie lächelnd beobachtet wurden, dann richtete sie den Blick wieder auf Quentin Malone. „Wie ich sehe, hatten Sie schon wieder Glück. Dabei hatte ich gehofft, diesmal an einen anderen Detective zu geraten. Schließlich bin ich sogar in einem anderen Revier.“

„Computer“, erwiderte er achselzuckend. „Sobald Sie mal mit einem von uns im System gespeichert sind, gibt es nun mal kein Entrinnen mehr.“

„Wie ein Fisch mit einem Angelhaken im Maul.“

Er lachte. „Folgen Sie mir.“

Er führte sie durch das hektische Getriebe des Dienstraumes an seinen Schreibtisch und wies ihr einen Platz an. Sobald sie saß, setzte er sich vor sie auf die Schreibtischkante. „Wie geht es mit dem Schreiben voran?“

„Sehr gut, danke.“ Sie schlug die Beine übereinander. „Nette Krawatte, so farbenfroh.“

Er blickte schmunzelnd an sich hinab. „Danke.“

„Nicht jeder erwachsene Mann traut sich, eine mit Krebsen und Chilisaucenflaschen bedruckte Krawatte zu tragen.“

„Ihnen sind die Mardi-Gras-Masken doch nicht entgangen, oder?“ Er neigte sich etwas vor. Dabei nahm er einen leichten Blumenduft wahr, ein wenig süß, ein wenig würzig. Genau wie sie, dachte er mit einem Anflug von Zuneigung.

„Wie könnte ich, Detective.“ Sie zog eine Braue hoch. „Hat diese Krawatte vielleicht etwas mit den Morden zu tun? Wollen Sie auf diese Art ein wenig Lebendigkeit in einen todernsten Job bringen?“

„Aber nein, meine Liebe“, erwiderte er gedehnt und verfiel in Cajun-Dialekt. „Das hat nur mit unserer Lebenseinstellung zu tun. ‚Laissez les bons temps rouler.‘“

Sie schwieg einen Moment und fragte leicht gereizt: „Interessiert es Sie überhaupt, weshalb ich hergekommen bin? Oder wollen Sie den ganzen Tag über Ihre Krawatte plaudern?“

„Sie bringen es auf den Punkt.“ Er zog seinen Spiralnotizblock aus der Brusttasche. „Wie kann ich Ihnen helfen, Miss North?“

„Eine Freundin von mir wird vermisst. Sie ist meine kleine Schwester.“

„Kleine Schwester?“

„Ich arbeite freiwillig bei der Organisation Big Brothers, Big Sisters of America mit. Jaye ist seit zwei Jahren meine kleine Schwester.“

Er fragte sie nach dem vollen Namen des Mädchen, Jayes Alter, wo sie lebte, mit wem sie lebte und schrieb alles auf. Dann blickte er auf. „Seit wann wird sie vermisst?“

„Donnerstagmorgen ging sie wie üblich zur Schule. Sie hatte ihre Tasche und einen Rucksack dabei. Sie verabschiedete sich von ihrer Pflegemutter und wurde seither von niemand mehr gesehen.“

Anna strich mit der Hand über das Kästchen auf ihrem Schoß. „An dem Abend rief ich alle ihre Freunde an und überprüfte die Orte, wo sie sich gerne aufhielt. Niemand hatte sie den ganzen Tag gesehen.“

„Was ist mit ihren Pflegeeltern? Warum sitzen die jetzt nicht hier vor mir? Und was ist mit dem Sozialdienst? Sie ist ein Mündel des Staates und als solches …“

„Die denken, sie sei weggelaufen. Wenn Sie in Ihren Unterlagen nachsehen, finden Sie sicher eine Vermisstenanzeige. Aber wissen Sie …“ Sie strich wieder über das Kästchen. „Jaye war seit Jahren bei verschiedenen Pflegeeltern untergebracht. Sie hatte es ziemlich schwer. Sie ist immer mal wieder weggelaufen.“

„Wie oft?“

„Sechsmal“, gestand sie ohne Zögern.

Er machte sich einige Notizen und sah Anna in die Augen. „Aber Sie glauben, diesmal ist es anders.“

„Ich weiß, dass es anders ist“, bekräftigte sie. „Sehen Sie sich an, was ich unter ihrer Matratze gefunden habe.“ Sie öffnete das Kästchen und reichte es ihm. „Jaye hat mehr Schlechtes als Gutes im Leben erlebt. Sie hat jeden verloren, an dem ihr Herz hing, beginnend mit ihrer Mutter. In diesem Kästchen hat sie alle Erinnerungsstücke aufbewahrt, die mit den guten Dingen in ihrem Leben zu tun hatten. Das sind ihre heiligsten Güter, die würde sie nicht zurücklassen.“

Er sah den Inhalt des Kästchens durch. „Ist das alles?“

„Nein. Vor einer Woche erwähnte sie, dass ein Mann sie auf dem Heimweg von der Schule verfolgt hat.“

„Hat sie das angezeigt?“

Anna seufzte. „Nein.“

„War das ein einzelnes Vorkommnis, oder ist das mehrfach geschehen?“

„Ich weiß nicht … sie hat mir nur von diesem einen Mal berichtet.“

„Das ist nicht viel, um sich aufzuregen.“

„Aber sie ist gestern Morgen mit einer Schultasche voller Bücher weggegangen. Wenn sie vorgehabt hätte wegzulaufen, hätte sie ihre Tasche dann nicht mit Kleidung, Lebensmitteln und Toilettenartikeln gefüllt? Sie hat auch noch andere wichtige Dinge zurückgelassen. Ihre CDs und ihren CD-Player zum Beispiel. Ergibt das Sinn?“

„Und ihre Freunde wissen nichts? Könnte sie Kleidung und Toilettenartikel bei denen deponiert haben?“

„Ich glaube nicht. Ich habe mit ihren Freundinnen gesprochen. Dass sie nichts von ihr gehört haben, war nicht gelogen. Die hatten alle Angst, ich habe es ihnen angesehen. Außerdem erklärt das auch nicht die zurückgelassenen Erinnerungsstücke.“

Quentin sah sich die Sachen noch einmal an und musste zugeben, dass er ihre Logik nicht widerlegen konnte. Diese Jaye hatte die Sachen offenbar eine lange Zeit aufbewahrt und laut Annas Aussage unter der Matratze versteckt. Was bedeutete, dass sie sie hütete.

„Ich kenne Jaye, Detective Malone.“ Ihre Stimme war belegt. „Ich weiß, dass sie nicht weggelaufen ist.“

Er schloss das Kästchen und gab es ihr zurück. „Und was schließen Sie daraus? Dass sie gekidnappt wurde? Dass ein Verbrechen vorliegt?“

In ihren Augen glitzerten Tränen. „Ja. Ich wünschte zu Gott, sie wäre weggelaufen, dann …“ Ihre Stimme brach, und Quentin wartete, bis sie sie wieder in der Gewalt hatte. „Ich habe getan, was ich konnte“, fuhr sie leise fort. „Ich habe mit ihren Freunden gesprochen und sie überall gesucht. Ich weiß nicht, was ich sonst noch tun kann. Deshalb bin ich hier.“

Quentin stand auf, ging um den Schreibtisch, setzte sich dahinter und warf den Block auf die Platte. „Ich möchte Sie auf etwas aufmerksam machen, Miss North, nur der Vollständigkeit halber. Vor zwei Tagen suchten Sie ebenfalls die Polizei auf. Sie hatten einen Fanbrief erhalten und waren besorgt, dass dieser Fan, ein Kind, in Gefahr sei.“

„Sie heißt Minnie, aber ja, das ist richtig.“

„Sie glaubten nicht nur, dass Minnie, sondern auch ein weiteres, unbekanntes Mädchen in Gefahr sei.“

„Das ist richtig, aber ich verstehe nicht, was das …“

„Wie alt ist Minnie? Laut ihrem Brief?“

„Elf.“

„Und wie alt ist Jaye?“

„Fünfzehn.“

„Und wie alt waren Sie, als Sie gekidnappt wurden?“

Anna sprang auf, die Wangen hochrot. „Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, aber Sie irren sich!“

Er ignorierte ihre Empörung. „Könnte es sein, dass es Ihre fixe Idee ist, junge Mädchen könnten in Gefahr schweben?“

„Nein! Schauen Sie …“ Sie legte kurz eine Hand an den Kopf und ließ sie wieder sinken. „Jaye ist fort. Falls sie weggelaufen ist, hat sie Dinge zurückgelassen, die ihr sehr viel bedeuten. Ihre Pflegeeltern haben merkwürdig reagiert, Detective Malone. Ihre Reaktionen schwankten zwischen Gleichgültigkeit und Wut über meine Einmischung. Ich habe gespürt, dass sie etwas verbergen.“

„Puh! Unterstellen Sie, dass ihre Pflegeeltern etwas mit Jayes Verschwinden zu tun haben?“

Sie hob den Kopf. „Etwas stimmt nicht an ihrer Reaktion auf Jayes Verschwinden. Bitte, würden Sie mit ihnen reden? Ich habe große Angst um Jaye.“

Quentin antwortete nicht, sondern dachte einen Moment über das Gesagte nach. Einerseits war diese Jaye bekannt dafür, dass sie weglief, andererseits war an dem Argument, dass sie nicht ohne ihre Heiligtümer gegangen wäre, etwas dran.

Er stand auf. „Ich sehe mir die Sache an.“

„Wirklich?“, fragte sie erstaunt.

„Ich werde mir Jayes Akte kommen lassen und mit ihrer Sozialarbeiterin sprechen. Dann rede ich mit ihren Pflegeeltern und sehe mir deren Akten an. Fühlen Sie sich dann besser?“

„Viel besser.“ Sie seufzte erleichtert. „Danke.“

Er begleitete sie aus dem Dienstraum, versprach, sich zu melden, und sah ihr nach, als sie davonging. Diese Frau interessierte ihn. Wegen ihrer Vergangenheit und ihrer Erlebnisse. Und weil sie Autorin war.

Er verengte leicht die Augen. Zweimal in drei Tagen war sie mit halb garen Theorien und haarsträubenden Verdächtigungen bei der Polizei aufgetaucht. Färbten ihre Bücher auf sie ab? Übermannte sie ihre Vergangenheit? Oder waren ihre Sorgen und Ängste begründet?

Terry schlenderte heran und schnalzte mit der Zunge. „Rotschöpfe haben etwas an sich, das meinen Motor auf Touren bringt.“

Quentin wandte sich ihm ungläubig zu. „Um Gottes willen, Terry, denkst du jemals nach, bevor du den Mund aufmachst?“

„Was?“ Er hielt in einer Abwehrgeste die Hände hoch. „Ich habe lediglich gesagt, dass Rotschöpfe mich anmachen.“

„Ja, richtig. Dich und mindestens einen weiteren Typen da draußen.“

Sein Freund wurde blass. „Oh Mann, ich meinte doch nicht …“

„Natürlich nicht.“ Quentin sah kurz über die Schulter. „Aber du weißt so gut wie ich, dass es hier ein paar Leute gibt, die keinen Humor haben.“

„Unser Captain zum Beispiel.“ Terry schnaubte frustriert. „Sie hat mir heute Morgen schon gehörig den Kopf gewaschen.“

Sie drehten sich um und gingen an Quentins Schreibtisch. „Worum ging’s?“

„Sie brauchte wohl jemand, um ihr Mütchen zu kühlen, und ich war gerade da.“

Die gute alte Tante Patti. Sie ist berüchtigt für ihre Standpauken. Und sie sieht nicht tatenlos zu, wie einer ihrer Leute vor die Hunde geht.

„Wie war’s beim PID?“

„Ganz okay. Wäre einfacher gewesen, wenn ich zu Hause mit Penny im Bett gelegen hätte. Diese A-löcher wollten Jack Daniel’s nicht als Zeugen anerkennen.“

Quentin setzte sich hinter seinen Schreibtisch. „Unser Captain war sauer, weil du gestern Nacht am Tatort warst.“

„Oh ja.“ Terry fläzte sich in einen Sessel. „Ich soll mich von allem fernhalten, was auch nur ansatzweise mit den Morden an Kent und Parker zu tun hat. Das stinkt mir gewaltig.“

Das hatte er sich gedacht. „Die Auswertungen der Spuren werden dich vom Verdacht reinwaschen.“

„Ja. Aber wie ich gehört habe, gab es am Parker-Tatort nicht viel. Du hast es sofort erkannt. Sie wurde nicht vergewaltigt. Diese engen Jeans waren eine Art Keuschheitsgürtel.“

„Umgebracht hat er sie trotzdem.“ Quentin zog die Stirn kraus. „Warum Rothaarige?“

„Vielleicht war seine Mutter rothaarig. Vielleicht hat ihn ein Irischer Setter gebissen, als er klein war. Oder er ist halb Stier, und Rot bringt ihn in Rage. Wer weiß?“ Terry rieb sich die Wange. „Außerdem bellst du mit deiner Theorie vielleicht den falschen Baum an. Evelyn Parker wäre für viele als Blondine durchgegangen.“

„He, Malone!“, rief Johnson. „Der Captain will uns sehen. Bring deine Notizen über Parker und Kent mit.“

„Das sitzt.“ Terry stand auf. „Ich komme mir vor wie der letzte Versager, der nicht gut genug für das Team ist. Wie ein Aussätziger.“

Quentin stand ebenfalls auf und steckte sein Notizbuch ein. „Das geht vorüber.“

„Halte mich auf dem Laufenden.“

„Klar, keine Bange.“ Er gab seinem Partner einen Klaps auf die Schulter. „Ich habe so ein Gefühl, dass wir ohne deine Hilfe in der Sache nicht weiterkommen.“

Quentin folgte Johnson und Walden in das Büro des Captain und schloss die Tür hinter sich. Er war sich bewusst, dass Terry sie beobachtete. Energisch trat er an den Schreibtisch seiner Tante, stemmte die Hände darauf und sah ihr in die Augen. „Ich will Terry mit im Team haben. Er ist ein guter Cop.“

„Er war ein guter Cop“, korrigierte sie ihn. „Er bricht bald zusammen, und er steht unter Verdacht. Ich kann ihn nicht einbeziehen.“

„Unter Verdacht? Das ist doch Blödsinn! Und das weißt du auch. Ausgeschlossen, dass Landry etwas …“

Sie schnitt ihm das Wort ab. „Ich habe meine Entscheidung getroffen. Und wenn du deinem Partner draußen nicht Gesellschaft leisten möchtest, schlage ich vor, du hältst den Mund und setzt dich. Haben Sie mich verstanden, Detective?“

Das hatte er, aber anstatt sich zu setzen, blieb er stehen und lehnte sich gegen den Türrahmen.

„Was haben wir?“, fragte Captain Patti O’Shay und faltete die Hände vor sich auf dem Schreibtisch, der Ton forsch, die Konfrontation vergessen.

„Der Name des Opfers war Evelyn Parker“, begann Johnson. „Vierundzwanzig, Weiße, gut aussehend. Arbeitete in der Innenstadt, lebte in Bywater.“

„Ging gern auf Partys“, fuhr Walden fort. „Genau wie die Kent. War auf Partys in der Nacht ihres Todes.“

„Das wissen wir schon“, sagte Captain O’Shay leise. „Gibt es etwas, worauf wir aufbauen können? Spuren? Theorien?“ Sie zog eine Braue hoch. „Eine gute Vermutung?“

Quentin sprang ein. „Meiner Meinung nach ist das rote Haar die Verbindung zwischen den Taten. Wir müssen herausfinden, warum dieser Täter es auf Rothaarige abgesehen hat.“

„Rote Haare?“ Johnson sah Quentin an. „Wir haben eine gefärbte Burgunderrote und eine Blondine.“

„Eine Rotblonde“, korrigierte Quentin. „Eine Art von Rot.“

Walden schüttelte den Kopf. „Beide Frauen waren in der Todesnacht auf einem Zug durch die Clubs. Beide waren große Partygängerinnen. Nach meinem Verständnis ist das die Verbindung, auf die es ankommt.“

Quentin sah seinen Kollegen an und widersprach: „Die Clubs sind die Orte, an denen er sie findet. Sie erklären nicht, warum er sie aussucht.“

„Mit wem haben Sie gesprochen?“, fragte Captain O’Shay.

„Fragen Sie lieber, mit wem wir nicht gesprochen haben“, erwiderte Johnson. „Wir haben ein paar gute Spuren. Bisher keine Überschneidungen mit dem ersten Mord. Das heißt jedoch nicht, dass es keine gibt. Wir haben nur bisher keine gefunden.“

Quentin meldete sich wieder zu Wort. „Nach meinem Gefühl hat der Täter ganz offen Kontakt zu den Frauen gesucht, jedoch nicht auffällig. Er ist vorsichtig, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er spendiert ihnen einen Drink und tanzt vielleicht ein-, zweimal mit ihnen. Aber irgendwer hat sie zusammen gesehen und wird sich erinnern.“

„Diese jungen Frauen wurden in Gassen getötet.“ Captain O’Shay ließ den Blick zwischen den Detectives hin und her wandern. „Also, womit erstickt er sie? Doch nicht mit einem Kissen.“

„Mit seinen Händen?“, vermutete Walden.

„Schwierig, wenn du an eine Kämpferin wie Evelyn Parker gerätst“, sagte Quentin. „Es sei denn, er hätte verdammt große Hände. Außerdem gäbe es dann mehr Prellungen an Nase und Mund.“

„Dann mit einer Plastiktüte. Von der Reinigung vielleicht, oder eine Küchenabfalltüte. Leicht in der Jackentasche bei sich zu tragen.“

„Es wurden keine Plastikpartikel am Tatort gefunden. Es hätten welche dort sein müssen, da unter den Köpfen beider Opfer Asphalt war.“ Johnson sah Walden an. „Hat die Durchsuchung der Abfallcontainer um den Tatort verdächtige Plastiktüten zutage gefördert?“

„Nicht beim Kent-Tatort. Die Sachen vom Parker-Tatort werden noch von der Spurensicherung gesichtet.“ Walden kratzte sich am Kopf. „Wenn so ein Beutel benutzt wurde, bleibt er gewöhnlich beim Opfer. Ihn wieder herunterzukriegen kann schwierig werden, und der Täter riskiert, mehr Spuren am Tatort zu hinterlassen als nötig.“

„Vielleicht haben wir hier einen ganz gewissenhaften Killer, der sich Sorgen um die Fingerabdrücke macht“, vermutete Captain O’Shay. „Er tötet die jungen Frauen, steckt die Mordwaffe ein und entledigt sich ihrer in sicherer Entfernung.“

„Unkompliziert ist besser. Wir sollten von der Annahme ausgehen, dass unser Täter nicht dumm ist.“

Johnson kicherte: „Du meinst, er ist nicht aus einem Container entwichen? Schade für uns.“

„Wenn er nicht dumm ist, trägt er Handschuhe. Also macht er sich auch keine Sorgen wegen Fingerabdrücken. Außerdem, bei der derzeitigen Kälte, denkt sich niemand was dabei, wenn jemand Handschuhe trägt. Nicht mal die Opfer.“

Quentin sagte stirnrunzelnd: „Hier ist eine einfache Theorie: Es ist kalt draußen, er benutzt seinen Mantel.“

„Und was ist mit Faserspuren? Dann gäbe es zweifellos überall Fasern. Jedenfalls mehr, als wir gefunden haben, das ist mal sicher.“

Quentin stemmte sich von der Tür ab. „Was ist mit einem Ledermantel?“ Die Anwesenden tauschten schweigend Blicke. „Er hat ihn ständig bei sich“, fuhr Quentin fort. „Es ist kalt draußen, also denkt sich niemand was dabei. Leder ist nachgiebig, aber nicht porös. Außerdem gibt es keine Fasern ab und ist leicht zu reinigen. Und das Beste daran, er kann sich mit der Mordwaffe am Körper entfernen.“

„Das hat was“, gab Johnson zu. „Aber die Plastikbeutel-Theorie auch. Sie ist zu griffig, um ihr nicht zu folgen.“

Walden nickte. „Ergibt jedenfalls mehr Sinn als ein Typ mit einem Kissen.“

Captain O’Shay lehnte sich in ihrem Sessel zurück. „Ich will diesen Fall gelöst haben. Zwei ähnliche Todesfälle in so kurzer Zeit haben die Medien aufgescheucht. Sie spekulieren schon, wo und wie Nummer drei passiert. Chief Pennington sitzt mir im Nacken, und das ist verdammt unangenehm.“

Johnson räusperte sich. Walden hustete, und Quentin verengte leicht die Augen. „Wir haben eine Menge Spuren, Captain. Wir werden die Sache schnell abschließen. Garantiert.“

„Darum möchte ich gebeten haben. Und ich möchte immer informiert sein.“

Johnson und Walden erhoben sich und gingen zu Quentin an die Tür.

Captain O’Shay hielt Quentin zurück. „Malone?“ Als er sich zu ihr umdrehte, fügte sie hinzu: „Kein Wort zu Landry. Er ist völlig außen vor. Verstanden?“

Er furchte die Stirn. Etwas an ihrer Miene verunsicherte ihn. Was haben die gegen Terry, von dem ich nichts weiß? „Möchtest du mir sagen, was gerade läuft?“

„Geht nicht. Noch nicht.“ Sie zog eine Braue hoch. „Kannst du kooperieren, oder möchtest du von dem Fall entbunden werden? Ich verstehe, wenn …“

„Ich kooperiere“, entgegnete er kurz angebunden. „Aber ich sage dir klipp und klar, der Verdacht gegen Terry ist ein Haufen Mist. Terry ist sauber.“

21. KAPITEL

Freitag, 19. Januar,

French Quarter, 15 Uhr.

Anna saß vor dem eingeschalteten Computer, und der Monitor blieb leer. In den letzten beiden Stunden hatte sie ein Dutzend Abschnitte geschrieben und gelöscht, unzufrieden mit jedem Wort.

Für gewöhnlich genoss sie die Nachmittage, an denen sie nicht im Blumenladen arbeitete. Diese Zeit gehörte ganz ihrem Schreiben. Und in der Regel machte sie das Beste daraus.

Heute konnte sie sich nicht konzentrieren. Die Erinnerungen an das Gespräch mit Detective Malone plagten sie ebenso wie ihre Sorge um Jaye und der Stillstand ihrer Verhandlungen mit ihrem Agenten und Verleger.

Wenn sie ehrlich war, hatte sie nicht nur heute eine Konzentrationsschwäche. Sie hatte keine vernünftige Seite mehr geschrieben, seit ihr Verleger ihr den Vertrag mit den vielen neuen Bedingungen geschickt hatte. Wozu überhaupt der Aufwand? Wenn sie endgültig ablehnte, hatte sie keinen Verleger und auch keinen Agenten mehr, also wozu ein neues Buch schreiben?

Tränen der Enttäuschung brannten ihr in den Augen, und sie schimpfte leise vor sich hin. Wegen dieser Sache würde sie nicht weinen. Wenn schon weinen, dann um Jaye. Oder um Minnie. Die zwei brauchten sie. Die waren wichtig. Nicht ihre triviale Schriftstellerkarriere.

Trivial? Nein, ihr Buch, ihre Karriere waren ihr wichtig.

Aber nicht so wichtig wie Jaye. Nicht so wichtig, wie herauszufinden, was ihr zugestoßen war. Immerhin hatte Detective Malone versprochen, sich Jayes Verschwinden genauer anzusehen. Sie glaubte nicht, dass sie ihn überzeugt hatte, mit Jayes Pflegeeltern stimme etwas nicht, und vermutlich glaubte er auch nicht, dass Jaye etwas zugestoßen war, aber zumindest nahm er sich der Sache an.

Anna stützte das Kinn auf die Faust und dachte an ihre Unterhaltung mit ihm. Was sollte diese Schäkerei überhaupt? Sicher, er war ein unglaublich gut aussehender Mann mit diesem kecken Lächeln, das vermutlich Frauenherzen brach. Vorausgesetzt, man mochte solche Macho-Typen.

Sie mochte sie nicht. Punkt.

Resolut wandte sie sich wieder ihrem Monitor zu, schrieb einen Satz und dann noch einen. Die Sätze türmten sich zu Absätzen reinsten uninspirierten Wortgeklingels.

Stöhnend löschte sie alles wieder. Großer Gott, konnte sie keinen vernünftigen Text mehr zustande bringen?

Das Telefon läutete, und sie griff danach wie nach einem Rettungsanker. „Hallo?“

„Anna? Ben Walker.“

Als sie seine Stimme erkannte, war sie erfreut und ein wenig schuldbewusst. Seit Jayes Verschwinden hatte sie weder an ihn noch an sein Anliegen gedacht. Obwohl das verständlich war, hatte sie ein schlechtes Gewissen. „Oh Ben, hallo“, erwiderte sie leise.

„Wie geht es Ihnen?“

„Gut, danke. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Ich sollte Sie anrufen, nicht wahr?“

„Machen Sie sich deshalb keine Gedanken.“

„Es ist viel passiert in den letzten Tagen“, erklärte sie bedauernd. „Und ehrlich gesagt, hatte ich keine Zeit, über unsere Unterhaltung nachzudenken.“ Sie erzählte ihm von Jayes Verschwinden und ihrem Besuch bei der Polizei.

„Oh mein Gott! Kann ich irgendwie helfen?“

„Nein, außer Sie könnten mir sagen, wo Jaye ist. Der Detective hat mir zumindest versprochen, sich die Sache anzusehen. Obwohl ihn meine Theorie wohl nicht überzeugt hat.“

Er schwieg einen Moment, räusperte sich und bat: „Rufen Sie mich an, falls Sie etwas brauchen. Und wenn auch nur, um ihren Frust abzulassen. Zögern Sie nicht, zum Telefon zu greifen, gleichgültig ob Tag oder Nacht.“

„Auch nachts? Junge, Junge, das ist aber ein riskantes Angebot, wenn ich bedenke, wie wenig ich in letzter Zeit schlafe.“

„Jederzeit zu Diensten, so bin ich nun mal.“ Er wurde wieder ernst. „Aber ehrlich, Anna, wenn etwas ist, rufen Sie mich an.“ Sie bedankte sich, und sie schwiegen wieder. Schließlich sagte er: „Nur eines noch: Sie haben mich und mein Anliegen doch noch nicht ganz abgeschrieben, oder?“

Seine Offenheit ließ sie schmunzeln. „Nein, ganz und gar nicht.“

„Gut. Denn ich hatte gehofft, dass Sie mit mir zum Dinner ausgehen.“

„Dinner?“, wiederholte sie erstaunt.

„Ja. Heute Abend.“ Nach einer Pause versprach er: „Kein Drängen wegen irgendetwas. Nur Sie und ich, eine Flasche Wein und ein richtig gutes Essen. Was halten Sie davon?“

Sie zögerte nicht. Nach den letzten Tagen war ein ruhiges Essen mit einem interessanten Mann genau das, was sie brauchte.

Drei Stunden später kam Anna bei Arnaud’s an, einem feinen alten Restaurant in kreolischer Tradition. Ben war bereits da und erwartete sie auf dem Gehsteig. In dunkelblauem Anzug mit weißem Hemd und Krawatte sah er sehr gut aus.

Er kam an den Straßenrand, öffnete ihr die Taxitür und half ihr beim Aussteigen. „Sie hätten im Lokal warten können“, sagte sie. „Es ist eisig kalt hier draußen.“

„Ich wollte Ihnen keine Sekunde Zeit lassen, es sich anders zu überlegen.“ Lächelnd zog er ihre Hand unter seinem Arm hindurch. „Sollen wir?“

Sie gingen hinein, und der Restaurantchef hatte ihren Tisch bereits reserviert – an den Bleiglasfenstern zur Straße. „Ich liebe Arnaud’s“, sagte sie leise. „Abgesehen von der ausgezeichneten Küche ist das hier eines der schönsten Speiserestaurants der ganzen Stadt.“

„Es ist schön, aber … Ach egal.“

„Nein, sagen Sie’s mir.“ Sie glättete die Serviette auf ihrem Schoß. „Aber was?“

„Ich wollte gerade sagen, dass ich gar kein Auge dafür habe, weil ich den Blick nicht von Ihnen wenden kann. Sie sind schön, Anna.“ Er wurde rot. „Ich kann nicht glauben, dass ich das gesagt habe. Wie plump.“

„Es war süß.“ Sie langte über den Tisch und tätschelte ihm die Hand. „Danke, Ben.“

Ihr Kellner erschien, stellte sich vor, nahm ihre Getränkebestellungen auf und entfernte sich wieder. Während sie auf die Getränke warteten, redeten sie über das Menü und tauschten Geschichten über das Essen aus – eine Lieblingsbeschäftigung aller echten New Orleanser.

„Wie geht es mit Ihrem Buch voran?“, fragte sie, nachdem der Kellner die Getränke gebracht und ihre Essensbestellungen aufgenommen hatte.

„Oh nein, das tun Sie jetzt nicht.“ Ben drohte ihr spielerisch mit dem Finger. „Das letzte Mal habe ich die ganze Zeit geredet. Diesmal sind Sie dran.“ Er fragte lächelnd: „Wie geht es mit Ihrem Buch voran?“

Anna dachte an das runde Dutzend Absätze, die sie geschrieben und wieder gelöscht hatte. „Gar nicht“, gestand sie leise und nahm einen Schluck Wein. „Gegenwärtig bin ich ohne Buchvertrag und bald vermutlich auch ohne Verleger.“

„Wie kann das sein? Ihre Bücher sind fantastisch. Mindestens so gut wie die von Sue Grafton oder Mary Higgins Clark.“

Sie dankte ihm für das Kompliment und erklärte: „Der Verlag glaubt, meine Vergangenheit sei der Hebel, mich in die Bestsellerlisten zu hieven. Sie haben mir ein mehr als großzügiges Angebot gemacht, und ich möchte es annehmen, aber …“

„Was?“, drängte er, als sie den Satz abbrach. „Fällt Ihnen das Schreiben oder die Arbeit zu schwer?“

„Gar nicht. Ich mag meine Lektorin sehr, und insgesamt hat der Verlag viel getan, meine Geschichten herauszubringen.“

„Also, wo steckt das Problem?“

Sie senkte den Blick auf die fest im Schoß gefalteten Hände. „Sie wollen meine Bücher nur noch verlegen, wenn sie meine Vergangenheit vermarkten dürfen. Wenn ich ihr Angebot annehme, muss ich auf Werbetour gehen und Fernseh-, Radio- und Zeitungsinterviews geben. Meine Lektorin meinte sogar, sie würden mich in eine der großen Morgenshows bringen, in Today oder Good Morning America.“

„Und die Vorstellung macht Ihnen Angst.“

„Und wie.“ Sie sah ihm in die Augen. „Ich möchte das Angebot annehmen, aber ich fürchte, ich kann meinen Teil der Vereinbarung nicht erfüllen, im Fernsehen und Radio über mein Buch und meine Vergangenheit zu reden und mich vor jedem zu präsentieren, der …“ Sie schauderte. „Helfen Sie mir, Ben. Sagen Sie mir, was ich tun soll.“

„Wegen des Angebotes?“ Er lachte leise. „Sie wissen bereits, was Sie tun müssen. Es gefällt Ihnen nur nicht.“

„Verflixt. Ich hatte befürchtet, dass Sie das sagen würden. Keine Wunderkur, Doc?“

„Tut mir leid“, erwiderte er mitfühlend. „Sie sind noch nicht bereit, an die Öffentlichkeit zu gehen, und das wissen Sie. Sie sind emotional nicht fähig zu tun, was Ihr Verleger erwartet.“

„Warum passiert mir das?“ Sie ballte frustriert die Hände. „Alles lief so gut. Meine Schriftstellerei, mein Leben, alles.“

„Tatsächlich?“

„Was meinen Sie?“

„Eigentlich hat sich nichts in Ihrem Leben geändert, Anna. Man hat Sie nur vor die Wahl gestellt.“

„Vor eine ausgesprochen gemeine, wenn Sie mich fragen.“

„Nicht von deren Standpunkt aus. Die halten sich zweifellos für sehr fair. Nach dem, was Sie mir gesagt haben, bietet Ihr Verlag Ihnen nicht nur mehr Geld, sondern auch eine Chance auf Ruhm, von der die meisten Autoren nur träumen.“

„Sie klingen schon wie mein Agent.“

„Tut mir leid.“ Er neigte sich zu ihr vor. „Tatsache ist nun mal, im Augenblick ist Ihre Angst größer als Ihr Wunsch, weiterhin verlegt zu werden. Und diese Angst ist verständlich, wenn man Ihre Vergangenheit in Betracht zieht. Deshalb ist sie aber nicht notwendigerweise rational. Und sie ist bestimmt nicht gesund.“

Sie führte ihr Weinglas an die Lippen, trank und merkte erschrocken, dass ihr die Hände zitterten. „Sie glauben also, ich sollte mich zusammennehmen, mich meinen Ängsten stellen und es tun? Das Angebot annehmen?“

„Das habe ich nicht gesagt. Ich denke, Sie können Ihre Ängste mithilfe eines guten Therapeuten überwinden. Nicht, wie Ihr Agent und Ihr Verleger glauben, durch schiere Entschlossenheit. Das Rezept führt in die Katastrophe.“

Sie schwiegen, während der erste Gang serviert wurde. Gumbo aus Seefrüchten für sie und Shrimps Arnaud für ihn.

„Ich weiß, dass Sie Therapeuten satthaben, Anna“, sagte er und tauchte den Löffel in die dicke, würzige Suppe. „Aber wie wäre es, mit einer Gruppe von Menschen zu arbeiten, die im selben Boot sitzen? Ich habe donnerstagsabends eine Selbsthilfegruppe von Angstpatienten. Sie könnten dazukommen, sich das Ganze ansehen und schauen, ob Sie davon profitieren können. Falls es Ihnen unangenehm ist, mit mir zu arbeiten, gibt es auch noch andere Gruppen in der Gegend. Ich könnte mich für Sie umhören und Ihnen einige empfehlen.“

Sie überlegte, ob sie sich Menschen mit demselben Problem, das sie hatte, eher öffnen würde als einem Therapeuten. Möglich.

Er sah sie forschend an. „Was halten Sie von dem Vorschlag?“

„Ich bin skeptisch.“ Sie nagte an ihrer Unterlippe. „Nervös, aber neugierig.“

„Gut“, erwiderte er lächelnd. „Das ist ein Anfang.“

„Brauchen Sie sofort eine Antwort?“

„Keineswegs. Lassen Sie sich Zeit zum Nachdenken. Ihre Entscheidung muss freiwillig sein, fühlen Sie sich nicht gedrängt.“

Freiwillig? Eine nette Vorstellung. Aber ihr mysteriöser Terrorist – wie sie ihn insgeheim nannte – ließ ihr keinen freien Willen mehr.

„Falls Sie sich entschließen, es mit uns zu versuchen, lassen Sie es mich wissen. Die Gruppe ist ein intimes Forum, das auf einem hohen Maß an gegenseitigem Vertrauen der Teilnehmer basiert. Falls Sie mitmachen möchten, muss ich Sie der Gruppe vorstellen und ein wenig von Ihnen erzählen und im Prinzip die Erlaubnis der Gruppe einholen, Sie mitmachen zu lassen.“

Das klang vielversprechend, und sie sagte zu, sich zu melden, falls sie mitmachen wolle.

Von da an widmeten sie sich ihrem Essen, das so hervorragend war, wie Anna erwartet hatte. Ben erzählte von den verschiedenen Orten, an denen er gelebt hatte, doch Annas Gedanken schweiften immer wieder ab zu Jaye und Detective Malones Versprechen. Was würde er finden, wenn er sich die Vergangenheit der Clausens genauer ansah? Jaye hoffentlich, gesund und munter.

„Anna? Alles in Ordnung mit Ihnen?“

Sie blinzelte, durch Bens Frage aus ihren Gedanken gerissen. „Tut mir leid, ich fürchte, die letzten Tage fordern ihren Tribut.“ Sie lächelte reumütig.

„Kein Problem. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

„Ertragen Sie mich einfach.“

Er tat es, und für den Rest der Mahlzeit konzentrierte sie sich auf ihren Tischpartner.

Sobald die Rechnung beglichen war, erhoben sie sich, um das Restaurant zu verlassen. Ehe Anna den Kellner bitten konnte, ihr ein Taxi zu bestellen, erbot Ben sich, sie heimzufahren. „Das ist doch albern, ich wohne nur ein paar Blocks von hier. Und für Sie ist es ein Umweg.“

„Aber ich habe Sie zum Dinner eingeladen. Und jeder Gentleman, der dieses Prädikat verdient, bringt die Lady sicher heim.“

Sie zögerte nur einen Moment. „Also schön.“

Wenige Minuten später hielt Ben in der zweiten Reihe vor ihrem Haus, stieg aus und kam auf ihre Seite, um ihr die Tür zu öffnen. Er half ihr beim Aussteigen und begleitete sie an das Hoftor, wo sie voreinander stehen blieben. „Es war ein wirklich schöner Abend, Ben. Danke.“ Sie lächelte leicht. „Es war genau das, was ich gebraucht habe.“

Er berührte kurz ihre Wange und ließ die Hand wieder sinken. „Ich fühle mich ein bisschen schuldig“, gestand er mit leiser Stimme. „Ich muss zugeben, dass ich einen Hintergedanken hatte, als ich Sie zum Dinner einlud.“

Ben hatte den ganzen Abend auf sehr subtile Weise sein Interesse an ihr bekundet. Hatte er sich plötzlich zu einem Frontalangriff entschlossen?

Falls ja, wie sollte sie reagieren? Die Wangen wurden ihr warm, und ihr Herz schlug schneller. Forschend betrachtete sie sein Gesicht, das, nur vom schwachen Verandalicht des Nachbarhauses erhellt, nicht mehr das des sanften Doktors war, sondern das eines rätselhaften Fremden.

Er ist ein Fremder! Ich kenne ihn kaum, und seine Absichten kann ich nicht einschätzen.

Sie wartete gespannt.

„Ich muss Ihnen etwas beichten“, fuhr Ben fort, „und ich hoffe, Sie sind mir nicht zu böse.“

Anna runzelte verwirrt die Stirn. Seine Bemerkung entsprach nicht ihrer Erwartung. Was für einen Hintergedanken konnte er bei ihrer Verabredung gehabt haben?

Ben nahm ihre Hände. „Bei unserer letzten Begegnung war ich nicht ganz ehrlich zu Ihnen.“

Jedenfalls scheint er etwas völlig anderes zu meinen, als ich dachte. Sie begann zu kichern.

Erstaunt fragte er: „Was habe ich gesagt?“

„Ich dachte … Ihr Hintergedanke …“ Sie kicherte wieder.

Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, und lächelte. „Ich möchte doch annehmen, dass Sie mir ein wenig mehr Finesse unterstellen.“

„Ich bin froh über meinen Irrtum. Es hätte mir leidgetan, Sie als plumpen und fiesen Patron abschreiben zu müssen.“

„Daraus darf ich wohl schließen, dass ich mir bei einem Annäherungsversuch eine Abfuhr eingehandelt hätte?“

Sie ignorierte die Frage, teils aus Koketterie und teils, weil sie die Antwort nicht wusste. „Vielleicht sollten wir auf Ihren Hintergedanken zurückkommen.“

„Kaum zu glauben, ich habe die Beichte den ganzen Abend vor mir hergeschoben und bin sie immer noch nicht losgeworden, obwohl wir schon beim Abschied angelangt sind.“

„Sagen Sie es mir einfach. Ich wette, ich kann es ertragen.“

„Also gut.“ Er atmete durch, und sein Atem kondensierte in der kalten Nachtluft zu Dampfwölkchen. „Erinnern Sie sich, dass ich sagte, ich habe zufällig E! eingeschaltet an jenem Samstag, als die Rätsel Hollywoods gesendet wurden?“

Sie nickte. Eine leichte Gänsehaut bildete sich in ihrem Nacken und breitete sich über den Rücken aus.

„Das stimmte nicht. Und es stimmte auch nicht, dass ich bereits ein Fan Ihrer Romane war. Bis zum Vortag der Sendung hatte ich noch nie von Anna North gehört.“

Ihre Lippen waren blutleer vor Beklemmung, denn sie ahnte, was jetzt kam. „Also wie … Wann haben Sie …“

„Am Abend vor der Sendung fand ich ein Päckchen in meinem Wartezimmer. Es enthielt …“

„Mein letztes Buch und eine Mitteilung, am nächsten Tag E! einzuschalten. Großer Gott.“ Sie fragte sich erschrocken, wie weit diese Kampagne ging? Was bezweckte der Täter eigentlich? Und warum hatte er auch Ben Walker einbezogen?

„Ja … stimmt. Ich sehe, wie sehr Sie das aufregt. Es tut mir leid, Anna. Sicher hat einer meiner Patienten das Päckchen hinterlassen, aber ich weiß nicht, welcher und warum. Ich habe alle sechs Patienten, die an jenem Freitag bei mir waren, befragt, und alle leugneten, mir das Buch dagelassen zu haben.“

Einer seiner Patienten? Der Videofilmer! „Haben Sie einen Patienten namens Peter Peters?“, fragte sie aufgeregt.

Er wiederholte den Namen und schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Sind Sie sich ganz sicher? Auch niemand, der ähnlich klingt wie Peter Peters?“

„Nein, ich bin sicher.“ Er zog besorgt die Stirn kraus. „Warum?“

„Weil Sie nicht der Einzige sind, der so ein Päckchen erhalten hat. Alle Menschen, die mir wichtig sind, bekamen eines: meine Eltern, meine Freunde, mein Agent und meine Lektorin … und meine kleine Schwester Jaye.“

Sie schlang die Arme um sich und stampfte mit den Füßen auf, sich warm zu halten, seltsam dankbar für die Ablenkung durch die Kälte. „Sie waren nicht der einzige Zuschauer bei E!, der eins und eins zusammenzählen konnte und herausfand, dass Anna North niemand anders ist als Harlow Grail.“

Diesmal sah er sie forschend an. „Und wer wusste es davor?“

„Nur meine Eltern. Ich hatte alles darangesetzt, mich von meiner Vergangenheit zu lösen und die entführte Hollywoodprinzessin hinter mir zu lassen.“

Er seufzte tief. „Tut mir leid, Anna. Auf diese Weise bloßgestellt zu werden muss sehr beängstigend für Sie gewesen sein.“

„Es war mehr als beängstigend. Es war schockierend, Dr.Walker“, erwiderte sie ungehalten. „Ich war in Panik.“ Sie fragte leicht vorwurfsvoll: „Warum haben Sie es mir nicht gleich offen gesagt?“

„Weil ich glaubte, Sie würden sich ängstigen und irrtümlich unterstellen, Ihnen drohe Gefahr von einem meiner Patienten. Dann hätten Sie auf keinen Fall mit mir geredet.“

„Sehr umsichtig, Ben. Danke.“

„Bitte.“ Er nahm ihre Hände. „Ich habe nie angenommen, dass Sie in Gefahr sind, glauben Sie mir. Eine Therapie kann Besessenheiten und bizarres Verhalten von Patienten beheben, löst aber vorher manchmal Zorn, Verbitterung und sogar Wut aus. Doch die richten sich in der Regel gegen den Therapeuten. Deshalb glaubte ich, diese Geschichte gelte in erster Linie mir.“

Sie ließ seine Hände los und schlang wieder die Arme um sich. „Warum erzählen Sie es mir jetzt? Wir hätten weitermachen können, ohne dass Sie es mir sagen.“

„Weil ich weder ein Lügner bin noch zu den Menschen gehöre, die die Wahrheit beugen, um an ein Ziel zu gelangen.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Und weil ich Sie mag.“

Das besänftigte sie ein wenig, und sie zog den Mantel fester um sich. „Warum Sie? Es hat eine gewisse, wenn auch verdrehte Logik, dass meine Freunde so ein Päckchen bekamen. Aber wie passen Sie ins Bild?“

„Ich weiß es nicht. Ich halte es immer noch für wahrscheinlich, dass einer meiner Patienten dahintersteckt. Ich werde Ihnen helfen herauszufinden, wer, Anna. Und warum.“ Zum zweiten Mal strich er leicht mit der Hand über ihre Wange. Seine Finger waren eiskalt. „Wir finden es gemeinsam heraus. Das verspreche ich.“

22. KAPITEL

Samstag, 20. Januar,

2 Uhr morgens.

Jaye erwachte aus tiefem Schlaf. Ängstlich lag sie stocksteif da und lauschte auf das, was sie geweckt hatte. Das leise Zuschwingen der Katzenklappe, das Knarren einer Bodendiele außerhalb ihres Gefängnisses. Diese Geräusche weckten sie nicht zum ersten Mal.

Ihr Entführer kam immer mitten in der Nacht und schob schweigend Lebensmittel, Getränke und frische Handtücher durch die Katzenklappe. Sie hatte gleich am ersten Tag gelernt, dass er Abfall und die Reste ihrer Mahlzeit mit wegnahm, wenn sie sie in der Nähe der Klappe abstellte.

Seine stumme Gegenwart machte ihr Angst. Sie hatte ihn in den unteren Etagen rumoren, kommen und gehen gehört. Sie hatte ihn auf der anderen Seite der Tür atmen gehört, als lausche er, abwartend.

Warten auf was? fragte sich Jaye und kauerte sich zusammen. Was wollte er von ihr? Er hatte sie nicht angerührt. Noch nicht jedenfalls. Aber er würde. Und was sollte sie dann tun?

Die Angst erstickte sie schier. Jaye zog die Decke ans Kinn. Schon diese kleine Bewegung ließ die Hände protestierend schmerzen. Sie waren geschunden vom Kratzen und Zerren an den Brettern vor dem Fenster und bläulich verfärbt vom Schlagen gegen die Tür.

Sie wollte nach Hause. Sie wollte Anna, ihre Pflegeeltern und ihre Freunde wiedersehen. Sie wollte in ihrem eigenen Bett aufwachen, umgeben von ihren eigenen Sachen.

Sie wollte keine Angst mehr haben.

Ein kleiner leiser Jammerlaut kam ihr über die Lippen, dann noch einer. Weitere unterdrückte sie. Ihr Entführer sollte sie nicht hören und nicht erfahren, wie furchtsam und verletzlich sie wirklich war.

Aber er wusste es. Er wusste alles.

Nein! Er kann weder in meinen Kopf noch in mein Herz sehen. Ich lasse ihn nicht.

Jaye setzte sich auf und schluckte trocken. Sie konzentrierte sich auf das, was sie wusste. Wenn sie nicht völlig das Zeitgefühl verloren hatte, wurde sie hier seit drei Tagen festgehalten. Sie hatte festgestellt, dass ihr Gefängnis irgendein Dachkammerraum, mehrere Stockwerke über der Erde, sein musste. Gelegentlich hörte sie Fetzen von Jazzmusik oder das rhythmische Klappern von Absätzen auf dem Gehweg. Manchmal glaubte sie, einen Duft von gebratenen Seefrüchten und gekochten Shrimps wahrzunehmen.

Diese Eindrücke führten sie zu dem Schluss, dass sie irgendwo im French Quarter war, in einem Gebäude, weitab vom emsigen Getriebe der Bourbon Street oder dem Jackson Square. Vielleicht an der Grenze zwischen Geschäftsund Wohnbezirken des Viertels.

Das war eine gute Nachricht. Sie war nicht weit weg von zu Hause oder den Menschen, die sie suchten. Sicher waren inzwischen die Polizei, der Sozialdienst und Anna eingeschaltet.

Als sie an ihre Freundin dachte, wurde ihr wieder weinerlich zumute. Sie bedauerte ihren Streit und wünschte von Herzen, das Gesagte zurücknehmen zu können. Sie wünschte sich einen weiteren Tag mit ihr.

Bei dem Gedanken kehrten Angst und das Gefühl der Hilflosigkeit zurück, doch sie kämpfte dagegen an und konzentrierte ihre Gedanken auf eine Überlebensstrategie. So musste Anna es vor vielen Jahren gemacht haben. Wenn sie damals ihrer Angst nachgegeben hätte, wäre sie gestorben wie dieser kleine Junge.

Nach ihrem Streit mit Anna hatte sie nachgeforscht, wie die Entführung abgelaufen war. Das war nicht schwierig gewesen, denn sogar in New Orleans hatte der Fall seinerzeit für Schlagzeilen gesorgt. Entsetzt hatte sie gelesen, wie der Entführer den kleinen Jungen ermordet und dann Harlow niedergehalten und ihr den Finger abgeschnitten hatte.

Welche Panik und welche Schmerzen Anna überwinden musste, um zu überleben, überstieg ihr Vorstellungsvermögen. Das hatte ihr größten Respekt abgenötigt, trotzdem hatte sie ihr nicht verzeihen können.

Jetzt konnte sie es. Jetzt verstand sie.

Jaye schloss die Augen. Tief durchatmend schöpfte sie Kraft aus dem Mut ihrer Freundin. Was weiß ich von meinem Entführer? fragte sie sich. Sie hatte seine Hände gesehen, kräftig, aber nicht übermäßig groß. Die Haare auf Handrücken und Unterarmen waren schwarz. Daraus schloss sie, dass er ein dunkelhaariger Mann mittlerer Größe zwischen dreißig und fünfzig war.

Er hatte seine Tat gut vorbereitet. Die Katzenklappe war erst kürzlich eingebaut, das Fenster erst kürzlich vernagelt worden. Und er hatte vorausgeplant, was sie brauchen würde: Toilettenartikel und frische Kleidung zum Wechseln. Die hatte sie allerdings noch nicht angerührt.

Das hieß, er war sorgfältig und umsichtig. Und er hatte sie wahrscheinlich bewusst ausgewählt. Zweifellos war er es gewesen, der ihr von der Schule gefolgt war. Der alte Perverse, wie sie ihn genannt hatte. Er war ihr gefolgt, hatte ihren Tagesablauf ausgeforscht und den günstigsten Zeitpunkt für eine Entführung ausfindig gemacht.

Aber warum ich? Was erhofft er ausgerechnet durch meine Entführung zu bekommen? Ich bin nicht reich. Lösegeld kann nicht der Grund sein.

Also brauchte er sie für etwas anderes. Etwas Schreckliches, Krankhaftes? Jaye schluckte. Sie war nicht naiv. Sie wusste, was mit entführten Kindern meistens geschah.

Plötzlich hörte sie ein Rascheln von jenseits der Tür. Ein leises, zögerliches Geräusch, ganz anders als sonst. Ängstlich starrte sie auf die verschlossene Tür.

„Hallo? Bist du da?“

Die Stimme, obwohl leicht rau, gehörte einem Mädchen. Jaye erstarrte fast. Noch ein Mädchen? Das kann doch nicht wahr sein!

Sie stieg von der Pritsche und kroch, Herz hämmernd, zur Tür. Es könnte ein Trick sein. Vielleicht spielte ihr die eigene Fantasie vor Hilflosigkeit Streiche?

Das Kind fragte wieder mit bebender Stimme: „Bist du da? Ich habe nicht viel Zeit. Wenn er es merkt, wird er wütend auf mich.“

„Ich bin hier“, erwiderte Jaye, Tränen in den Augen. Sie war noch nie so dankbar gewesen, die Stimme eines anderen zu hören, wie in diesem Moment. „Mach die Tür auf! Lass mich raus!“

„Geht nicht. Sie ist abgeschlossen. Er hat die Schlüssel.“

Jaye wehrte sich gegen die aufkommende Verzweiflung. „Kannst du ihn besorgen? Bitte, du musst mir helfen!“

„Ich kann nicht, ich …“ Das Mädchen wimmerte, offensichtlich hatte es Angst. „Ich bin nur hier um … Er möchte, dass du still bist. Er wird sonst böse auf dich. Und dann macht er mir Angst. Er …“

Jaye ergriff den Türknauf und rüttelte daran. „Hilf mir. Lass mich raus!“

Das Kind jenseits der Tür wimmerte wieder, und Jaye spürte, dass es sich entfernte. „Du musst still sein“, flüsterte es. „Du verstehst nicht. Du weißt nicht …“

„Wer bist du?“ Jaye rüttelte wieder am Türknauf. Mit vor Entsetzen und Frustration schriller Stimme fragte sie: „Wo bin ich? Warum tut er mir das an?“

„Ich hätte nicht kommen sollen. Er wird es erfahren … er wird merken …“

Die Stimme des Mädchens wurde leiser, und Jaye trommelte verzweifelt gegen die Tür. „Geh nicht! Bitte, geh nicht … verlass mich nicht!“

Stille. Sie war wieder allein.

23. KAPITEL

Samstag, 20. Januar,

8 Uhr 15.

Anna erwachte benommen nach einer weiteren unruhigen Nacht. Sie war erschöpft gewesen und hätte gut schlafen müssen. Stattdessen hatte sie Albträume von Kindern gehabt, die ein leichtsinniges Versteckspiel mit einem gefährlichen Monster trieben, das immer außerhalb ihres Blickfeldes blieb.

Sie stieg aus dem Bett, schlüpfte in ihren alten Chenille-Bademantel und Plüschslipper und ging zu den Doppeltüren, die auf den kleinen Balkon führten. Der Tag war sonnig und klar, der Himmel wolkenlos blau.

Unten im Hof saßen Dalton und Bill in ihre Mäntel gehüllt. Dampf stieg aus ihren Kaffeebechern auf. Zwischen ihnen stand ein Teller mit Croissants und Früchten. Lächelnd schob Anna die Tür auf und steckte den Kopf hinaus. „Morgen, Jungs!“, rief sie. „Habt ihr den Verstand verloren? Es friert doch! Wie haltet ihr es da unten aus?“

Dalton drehte sich um, sah zu ihr hinauf und betupfte sich den Mund mit einer Serviette. „Der Wetterdienst hat uns eine Tendenz Richtung Wärme versprochen. Es soll noch recht angenehm werden heute.“

„Ja, es sieht nach einer Hitzewelle aus“, spottete sie fröstelnd. „Vergesst die Sonnenmilch nicht.“

„Immer geht ihr Vernunft über Vergnügen“, klagte Bill und winkte. „Komm runter. Wir haben noch ein Croissant und genügend Obst.“

„Sosehr ich euch liebe, Jungs, die Wärme liebe ich noch mehr. Mit anderen Worten: Ausgeschlossen, ihr spinnt ein bisschen.“

Dalton zog einen Flunsch. „Aber wir wollen alles über deine Verabredung hören.“

„Dann kommt herauf. Ich mache uns Café au lait.“

Sie zog sich ins Zimmer zurück, ohne die Balkontüren zu verriegeln. Nach einem raschen Aufenthalt im Bad eilte sie in die Küche, um den Kaffee zu bereiten. Als sie die gefrorenen Kaffeewürfel in die Becher gab, hörte sie ihre Freunde bereits an der Tür.

Sie öffnete, und die beiden drängten geradezu herein, zogen die Mäntel aus und rieben sich die Hände.

„Heilige Muttergottes, ist das kalt draußen.“

„Ich habe gar kein Gefühl mehr in den Händen.“

Anna zog eine Braue hoch. „Was ist jetzt mit Vergnügen?“

„Hat sich den Arsch abgefroren“, entgegnete Bill gereizt. „Ich habe dieses Wetter satt. Mensch, das ist doch New Orleans hier, Louisiana, praktisch die Tropen.“

Dalton nahm seinen Partner kurz tröstend in den Arm. „Verzeih ihm, Anna. Er ist bloß angesäuert. Du weißt, wie gerne er im Freien isst.“

„Und Shorts trägt. Was nützt mir ein knackiger Hintern, wenn ich ihn nicht zeigen kann.“ Bill reichte ihr den Teller mit Früchten und Gebäck. „Denkt mal nach. Schließlich ertragen wir die Hitze im Juli und August, um im Winter nicht unter dieser elenden Kälte zu leiden. Ist dieses Wetter vielleicht fair?“

„Äußerst unfair“, stimmte Dalton zu. „Man könnte glatt gewalttätig werden.“

„Genau.“ Bill rieb sich wieder die Hände. „Und als Killer zuschlagen, weil es kalt ist.“

Dalton spann den Faden begeistert weiter. „Die Mordlust beginnt als Spiel, aus Langeweile. Und eskaliert, bis die Leute links und rechts reihenweise umfallen.“

„Wie die Fliegen.“ Bill applaudierte. „Anna, das Thema solltest du benutzen. Es ist gut.“

Anna goss die dampfende Milch in die Becher, ein Lächeln um die Mundwinkel. „Sehr inspirierend, Jungs. Spuckt nur weiter Ideen aus. Ich kann jede Hilfe gebrauchen.“

Sie trugen ihre Kaffeebecher an den Küchentisch, setzten sich und tranken schweigend.

„Wie war dein Rendezvous?“, fragte Dalton schließlich, die Hände um seinen Becher gelegt.

„Es war kein Rendez…“ Sie verstummte, denn es war eindeutig ein Rendezvous gewesen. Also, warum leugnen?

Weil ich es nicht wie ein Rendezvous empfunden habe.

Sie nahm ein Croissant. „Es war nett, richtig angenehm.“

Bill und Dalton tauschten Blicke und sahen sie wieder erwartungsvoll an. „Erzähl uns jedes schlüpfrige Detail.“

Stattdessen berichtete sie von der überraschenden Eröffnung, die Ben ihr beim Abschied gemacht hatte.

„Verdammt und zugenäht“, schimpfte Dalton.

„Kein Scherz.“ Sie schob den Teller mit den Croissantresten zurück. „Er ist sicher, dass einer seiner Patienten dahintersteckt. Aber er weiß nicht, welcher.“

„Hast du ihm den Namen genannt, den deine Mutter …“

„Ja. Er hat keinen Patienten mit diesem Namen.“ Sie seufzte resigniert. „Er hat versprochen herauszufinden, wer ihm das Päckchen hinterlassen hat.“

„Ein echter Held.“ Dalton führte den Becher an die Lippen. „Ich mag solche Männer.“

„Danke.“ Bill warf seinem Partner eine Kusshand zu und wandte sich wieder an Anna. „Magst du diesen Ben Walker?“

Sie zögerte nicht. „Ja. Er ist nett.“ Da ihre Freunde aufstöhnten, fügte sie stirnrunzelnd hinzu: „Nett ist doch gut. Sogar sehr gut.“

„Heiß ist besser.“

„Viel besser.“

Sie lachte kopfschüttelnd, und alle schwiegen einen Moment. Aus den Augenwinkeln bemerkte Anna, dass Bill Dalton in die Seite stieß. Der warf ihm einen bösen Blick zu und formte mit den Lippen so etwas wie eine Warnung.

„Ihr zwei seht aus wie ein Katerduo, das gerade die Kanarienvögel verspeist hat. Was ist los?“

Die Männer tauschten Blicke.

„Wir wollten dich nicht aufregen.“

„Wir wissen, wie viel Sorgen du dir wegen Jaye machst.“

„Das Letzte, was du jetzt brauchst, ist wieder so ein Brief …“

„Von deinem kleinen Fan.“

Anna fragte voller Unbehagen: „Wann ist er gekommen?“

„Erst gestern Nachmittag“, sagte Dalton. „Ich hätte ihn dir nach der Arbeit geben können …“

„Aber du warst gestern verabredet und …“

„Wir wollten dir nicht den Abend verderben.“

„Ich danke für eure Rücksicht, Jungs, aber ich bin nicht aus Zuckerguss. Gebt ihn mir.“

„Ich glaube, Dalton hat ihn in der ‚Perfekten Rose‘ gelassen“, sagte Bill und wich ihrem Blick aus. „Ich bin mir sogar sicher.“

„Netter Versuch, aber ich weiß es besser.“ Sie streckte die Hand aus. „Gebt ihn mir jetzt. Bitte.“

Betreten zog Dalton den Brief aus seiner Hosentasche und reichte ihn ihr. „Du bist uns nicht böse, oder?“

„Nicht, wenn du und dein Komplize hier mir versprecht, mich zukünftig nicht weiter schonen zu wollen. Sonst werde ich wütend.“ Sie sah zwischen den beiden hin und her. „Abgemacht?“

Sie stimmten zu, obwohl sie nicht wirklich glaubte, dass sie sich an ihr Versprechen hielten. Aber damit konnte sie sich befassen, wenn es so weit war.

Sie öffnete den Brief mit leicht zitternden Händen. Am liebsten hätte sie Zurück an Absender auf den Umschlag gekritzelt und Minnie vergessen.

Aber das ging nicht. Zwar wusste sie nicht, wie sie dem Kind helfen konnte, jedoch wollte sie es wenigstens versuchen. Sie zog einen Bogen liniertes Papier aus dem Umschlag und begann zu lesen.

Wie immer hatte Minnie den Umschlag mit Herzen, Gänseblümchen und der Abkürzung für „mit einem Kuss versiegelt“ verziert.

„Mein Gott, Anna.“ Bill legte ihr eine Hand auf den Arm. „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen. Was schreibt sie?“

Anna gab ihm schweigend den Brief. Beide lasen und sahen sie an.

„Meinst du, das ist echt?“, fragte Dalton.

„Ja sicher. Meint ihr nicht?“

„Zuerst habe ich die Briefe für echt gehalten, aber jetzt … ich weiß nicht.“ Dalton sah Bill an. „Dieser Detective könnte recht haben, Anna. Das könnte ein übler Streich sein. Es klingt ein bisschen übertrieben.“

„Das finde ich auch“, pflichtete Bill bei. „Wenn dieser mysteriöse ‚Er‘ von eurem Briefwechsel weiß und sich darüber ärgert, warum lässt er ihn dann zu? Und wenn dieses Kind wirklich eine Gefangene ist, wieso kann sie dann Briefe schreiben und verschicken?“

„Und warum solltest du in Gefahr sein, Anna?“, fragte Dalton und verzog skeptisch das attraktive Gesicht. „Für mein Gefühl ist das zu dick aufgetragen, um glaubhaft zu sein.“

Bill gab zu bedenken: „Wenn dieser Mann in letzter Zeit in dieser Gegend ein Kind entführt hat, warum haben wir dann nichts davon gehört?“

„Richtig“, pflichtete Dalton bei. „Kinder verschwinden nicht einfach so, ohne dass die Alarmglocken läuten. Das ergibt einfach keinen Sinn.“ Mitfühlend setzte er hinzu: „Tut mir leid, Anna.“

Sie sah von einem zum anderen, bedachte ihre Argumente und kam zu dem Schluss, dass sie recht hatten. Das hier war einfach zu dick aufgetragen.

Jemand hatte sich einen Spaß daraus gemacht, sie in Angst zu versetzen. Und sie war darauf hereingefallen. Genau, wie er oder sie es geplant hatten, weil ihre Reaktion wegen ihrer Kindheitserlebnisse vorhersehbar gewesen war.

Sie zerknüllte den Brief und warf ihn auf den Tisch. „Ich komme mir vor wie ein Vollidiot. Mein Gott, ich bin wegen dieser Sache zur Polizei gegangen.“

„Mach dir keine Vorwürfe. Bill und ich sind auch darauf hereingefallen.“

„Aber ihr wart schließlich nicht das Ziel, ihr wart nicht das Opfer – wieder mal.“

Dalton stand auf, kam um den Tisch und umarmte sie kurz. „Jedenfalls ist es vorbei. Du kannst die Angelegenheit vergessen und dich auf anderes konzentrieren.“

„Zum Beispiel auf Jaye und meine nicht mehr existierende Schriftstellerkarriere. Ja, ich bin begeistert.“

„Reg dich nicht auf“, sagten beide wie aus einem Mund. „Wir mögen es nicht, wenn du dich aufregst.“

„Darum möchten wir, dass du heute Abend mit uns ausgehst.“

„Wir gehen ins Tipitina.“

„Heute ist Zydeco-Nacht.“

„Die Zydeco Kings …“

„… aus Thibodaux …“

„… spielen. Außerdem ist Samstagabend. Also, warum nicht?“

„Ich weiß nicht, Jungs. Eigentlich bin ich nicht in der Stimmung.“

„Genau deshalb musst du mitkommen. Das hebt deine Stimmung.“ Dalton nahm ihre Hände. „Außerdem hast du einen stabilisierenden Einfluss auf uns. Wenn du bei uns bist, essen und trinken wir nicht so viel, und wir kehren vor dem Morgengrauen heim.“

„Du kannst deinen Doktor dazu einladen. Und ich gelobe feierlich, mich nicht an seinem Hintern zu vergreifen.“

Anna lachte herzlich. „Ich liebe euch, Jungs.“

„Heißt das, du kommst mit? Bitte!“

Sie kapitulierte. „Ja, das heißt es.“

24. KAPITEL

Samstag, 20. Januar,

French Quarter.

Genau um 19 Uhr klopften Bill und Dalton an ihre Wohnungstür. Anna stolzierte heraus, strahlend, sexy und voller Vorfreude auf einen flotten Abend mit ihren Freunden. Sie hatte ihn sich verdient. Für heute wollte sie die Ereignisse der letzten Tage aus ihrem Gedächtnis streichen. Bills Vorschlag folgend, hatte sie auch Ben eingeladen, sich ihnen anzuschließen.

„Konnte dein hübscher Doktor sich nicht freimachen?“, fragte Bill, als lese er ihre Gedanken.

„Er will versuchen zu kommen.“ Sie verschloss die Wohnungstür, steckte den Schlüssel in die Tasche und wandte sich ihren Freunden zu. „Er hat noch einige späte Termine.“

„Sein Pech.“ Bill betrachtete sie in den engen Jeans, dem weichen schwarzen Pullover und der Lederjacke. „Du siehst heute Abend zum Anbeißen aus, Darling.“

„Herzlichen Dank, Sir.“ Lachend hakte sie sich bei beiden ein. „Ein Jammer, dass die beiden nettesten und bestaussehenden Männer, die ich kenne, schwul sind. Und ein doppelter Jammer ist es, dass es die Männer sind, mit denen ich die meiste Zeit verbringe.“

„Umso mehr Grund, ein bisschen auf den Putz zu hauen“, neckte Dalton.

„Und sich was aufzureißen“, fügte Bill teuflisch lächelnd hinzu. „Vielleicht beginnt heute Abend deine Reise ins Paradies.“

Anna lachte mit ihnen, allerdings hatte sie nicht vor, sich heute Abend mit irgendwem einzulassen. Flüchtiger Sex war entschieden nicht ihr Stil.

Sie verließen das Haus und begaben sich auf den Weg ins Tipitina. Der Club, ein Fixpunkt in der lokalen Musikszene, lag nur ein Dutzend Blocks von ihrem Haus entfernt. Trotz der Kälte gingen sie zu Fuß, erwärmt durch die gegenseitige Gesellschaft und die Vorfreude auf den Abend.

Bei ihrer Ankunft ging es im Tipitina bereits hoch her. Die Zydeco Kings zogen bei jedem Auftritt die Massen an, jedoch besonders an einem Wochenende im French Quarter. Das Publikum war eine Mischung aus Einheimischen und Touristen, von jung bis alt.

Bill entdeckte einige Leute aus dem Kunstbeirat, und sie steuerten darauf zu. Sie belegten einen Tisch und zogen zusätzliche Stühle heran. Freunde aus der Nachbarschaft kamen und brachten weitere Freunde mit, und die zogen einen weiteren Tisch mit Stühlen heran.

Während der ersten Stunde hielt Anna eifrig nach Ben Ausschau, dann gab sie enttäuscht auf und ließ sich von der Karnevalsstimmung des Abends mitreißen.

Das Bier floss in Strömen, und die Musiker spielten flotte, rhythmische Stücke auf Gitarre, Waschbrett und Harmonika. Nach guter alter New Orleanser Tradition aßen und tranken Anna und ihre Freunde zu viel und lachten oft und laut. Mit Fortschreiten des Abends wurde die Gruppe lauter, dann übermütig. Anna hatte Spaß wie seit Jahren nicht mehr, ließ kaum einen Tanz aus und lachte, bis ihr die Seiten schmerzten.

Erhitzt und atemlos kehrte sie an ihren Tisch zurück. „Wasser!“ keuchte sie, sank auf den Stuhl neben Dalton und fächelte sich Luft zu. Sie griff nach ihrem Glas und trank es auf einen Zug leer.

Dalton schob ihr seines hin. „Noch keine Spur vom guten Doktor?“

„Nein.“ Sie ließ sich seufzend gegen die Lehne sinken. „Ich habe Ausschau gehalten.“

Er zog skeptisch eine Braue hoch. „Das sehe ich.“

„Habe ich wohl!“, beharrte sie und sah ihn böse an. „Zwischen den Drehungen.“

„Klar. Wahrscheinlich ist es besser so.“

Sie trank einen Schluck aus Daltons Glas. „Und warum bitteschön?“

„Weil“, erwiderte er mit gesenkter Stimme, „dich gerade ein unglaublich gut aussehender Bursche anstarrt. Eine richtige Augenweide.“

„Mich?“ Sie drehte sich auf ihrem Stuhl um. „Wo?“

„Da drüben.“ Er deutete hin. „Aber warte, sieh jetzt nicht hin. Du willst doch nicht zu viel Interesse zeigen, oder?“

Sie hatte im Menschenmeer nichts Auffälliges bemerkt und sagte enttäuscht: „Wahrscheinlich starrt er dich an, Dalton. In dieser Stadt scheinen alle tollen Männer schwul zu sein.“

„Ausgeschlossen. Diesmal nicht, meine Süße. Der Typ ist hundert Prozent hetero. Es sei denn, mein Homo-Radar funktioniert nicht mehr. Er sieht wieder her … er kommt sogar her. Schweig, mein Herz, der Typ ist ja ein Traum.“

„Er kommt her?“ Sie drehte den Kopf. Ausgerechnet in dem Moment tanzte ein Paar im Two-Step in ihr Blickfeld. „Bist du sicher?“

Der Tänzer drehte seine Partnerin, die Menge teilte sich, und Anna blieb fast das Herz stehen.

Detective Malone! Und er kommt tatsächlich auf mich zu. Sie schluckte trocken, unfähig, den Blick abzuwenden. Dalton hat recht. In Jeans und weiß gemustertem Hemd ist er wirklich ein Traum.

Vermutlich hatte sie zu viel getanzt und zu viel getrunken.

„Hallo, Anna“, grüßte er und blieb neben ihrem Tisch stehen.

„Detective Malone“, erwiderte sie, und das klang selbst für ihre Ohren nervös. Was ist bloß los mit mir?

„Nennen Sie mich Quentin.“ Er schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln. „Oder einfach Malone, wie alle anderen auch.“

Dalton stieß sie an. „Wirst du mich mit deinem Freund bekannt machen?“

Ihr wurden die Wangen warm. „Natürlich, Dalton. Das ist Detective Malone. Der Detective, von dem ich dir erzählt habe.“

„Oh, der Detective.“ Dalton streckte ihm lächelnd die Hand hin. „Anna hat mir nicht erzählt, was für ein toller Hecht Sie sind.“

Quentin gab ihm die Hand. „Eine Unterlassung, die ich zutiefst bedaure.“

„Wenn Sie mit ihr tanzen, gibt sie Ihnen vielleicht Gelegenheit, Ihre Qualitäten unter Beweis zu stellen. Falls Sie Glück haben.“

„Dalton!“ Sie sah ihren Freund verärgert an. „Ich schlage vor, du wechselst zu Limonade über oder gehst nach Haus und schläfst dich aus!“

Quentin ignorierte ihre Bemerkung und hielt ihr die Hand hin. „Ich würde gern meine Qualitäten unter Beweis stellen. Tanzen Sie mit mir, Anna.“

Sie wollte schon ablehnen, wurde aber von Dalton geradezu hochgeschoben. Dabei flüsterte er ihr „Paradies“ ins Ohr.

„Lustiger Bursche“, sagte Quentin, als er sie in die Arme zog. „Ein guter Freund?“

„Ja.“ Sie sah ihn an und schob leicht das Kinn vor. Eine herausfordernde Geste, er solle ja keinen Scherz über Homosexuelle machen.

Er hatte es nicht vorgehabt. Stattdessen zog er sie ein wenig fester an sich. „Sie riechen gut.“

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