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Liebe ohne Schranken - drei Liebesromane

WENN ALLE SCHRANKEN FALLEN
Ein Schicksalsschlag führt Lydia Reid und Gordon Cameron zusammen: Die junge Bürgermeister-Gattin und der verschlossene Farmer erfahren im Krankenhaus, dass ihre Ehepartner tödlich verunglückt sind - und ganz offensichtlich ein Liebespaar waren. Der Schock sitzt tief, dennoch spüren Lydia und Gordon von Anfang an eine tiefe Seelenverwandtschaft, die sie sich allerdings lange nicht eingestehen wollen. Schließlich aber wird die Sehnsucht übermächtig, und Lydia findet in Gordons Armen nie geahnte Erfüllung. Doch das Gerede der Leute und eine politische Intrige stellen die aufblühende Liebe auf eine harte Probe …


EIN HELD ZUM VERLIEBEN
Hilfe! Auf einer Weide werden Charlotte Franklin und ihre kleine Tochter von einem wütenden Stier überrascht. In letzter Sekunde kann der Polizist Jack Hanna die beiden retten. Weil sein Wagen dabei Schaden nimmt, lädt Charlotte ihren gut aussehenden Retter zu sich nach Hause ein. Als Jacks Hilfe in einem Entführungsfall gebraucht wird, verlängert sich sein Aufenthalt. Und schon bald geraten Charlottes Gefühle durcheinander: Fühlt sie sich aus Dankbarkeit zu Jack hingezogen - oder ist da mehr? Haben sie eine Zukunft? Denn sie spürt, dass Jack etwas aus seiner Vergangenheit belastet …


EWIGER TANZ DER LIEBE
Die Lektorin Kate Campbell ist ganz und gar nicht begeistert vom Auftrag ihres Verlags, den Abenteurer und Archäologen Alec Mackenzie am Amazonas aufzuspüren und zu einer Werbeaktion zu überreden. Schließlich ist sie, was keiner weiß, mit Alec verheiratet - und hoffnungslos mit ihm zerstritten. Widerwillig macht Kate sich auf den Weg, auch, um bei dieser Gelegenheit endlich die Scheidung in die Wege zu leiten. Allerdings hat sie die Rechnung ohne ihre - und Alecs - Gefühle gemacht!
  • Erscheinungstag: 07.01.2016
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955765330
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Beverly Barton, Sharon Sala, Joann Ross

Liebe ohne Schranken - drei Liebesromane

Beverly Barton

Wenn alle Schranken fallen

Roman

Übersetzung aus dem Amerikanischen von

Heike Hellmann-Brown

MIRA® TASCHENBUCH

Band 55628

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Talk Of The Town

Copyright © 1992 by Beverly Beaver

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Harlequin Enterprises, S.A., Schweiz

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN epub 978-3-86278-697-8

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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1. KAPITEL

Das ist er!

Lydia Reid warf einen zweiten schnellen Blick auf den großen, dunkelhaarigen Mann in verwaschenen Jeans und Stetson. Was machte er hier in Clements Futtermittelhandlung? Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Schnell schlüpfte sie hinter eine Reihe von der Decke herabhängender Töpfe mit großen Farnen und sah sich nach einem Versteck um.

In den zwei Monaten seit Tylers Tod hatte niemand vor ihr den Namen Cameron erwähnt. Kein einziges Mal. Nur selten hatte sie seither mehr als ein paar Minuten für sich allein gehabt. Sämtliche Einwohner der Stadt gingen bei ihr ein und aus, brachten Essen und Blumen und überschütteten sie mit ihrem Mitleid. Ebenso wie ihre Mutter und ihr Bruder, die sich abwechselnd um Lydia kümmerten, vermieden ihre Besucher tunlichst jede Erwähnung der besonderen Umstände, die mit Tylers tragischem Tod zusammenhingen. Offenbar waren alle entschlossen, sie vor der schrecklichen Wahrheit zu beschützen: Macie Cameron war bei demselben Unfall ums Leben gekommen, der Bürgermeister Reid das Leben gekostet hatte.

Seit jener schrecklichen Nacht, in der sie Gordon Cameron zum ersten Mal begegnet war, schlich er sich oft in ihre Gedanken. Zu oft. Glücklicherweise verkehrten sie nicht in denselben Kreisen. So war es leicht gewesen, ihm aus dem Weg zu gehen. Aber falls Lydia nicht bald eine Möglichkeit fand, sich unbemerkt davonzuschleichen, musste sie ihm heute gegenübertreten.

Lydia senkte ein wenig den Kopf und spähte unter dem Farn hindurch. Gordon sprach gerade mit einem Mann, der ebenso groß und dunkelhaarig war wie er. Obwohl der andere einen Bart trug und hässliche Narben die linke Hälfte von Stirn und Hals entstellten, waren die beiden offensichtlich Brüder. Die Ähnlichkeit war unverkennbar.

“Wenn ich hier fertig bin, gehe ich noch auf ein Bier rüber ins ‘Lewey’s’”, erklärte Gordon.

“Tanya und ich treffen dich dann dort. Sie ist drüben bei Billings und sieht sich nach einem neuen Sonntagskleid um.”

Als sich der Jüngere zum Gehen wandte, legte Gordon ihm die Hand auf die Schulter. “Ben?”

“He, mir geht es prima. Du hast selbst genug Probleme, mach dir um mich keine Sorgen.”

Lydia kam sich vor wie eine Lauscherin, weil sie hier stand und eine private Unterhaltung mit anhörte. Scheinbar hatte der jüngere Cameron-Bruder einige persönliche Probleme.

Sie blickte sich um. Rechts und links von ihr befanden sich zwei lange Gänge mit eingetopften Sommerblumen. Hinter ihr waren Säcke mit Gartendünger vor der Wand aufgestapelt. Hätte sie geahnt, dass Gordon Cameron heute in Clements Futtermittelhandlung auftauchen würde, hätte sie bis Montag gewartet, um den bestellten Rosenstrauch abzuholen.

Abgelenkt von ihren Fluchtgedanken, bemerkte Lydia nicht, wie Gordon sich ihr näherte.

“Hallo.”

Bei dem unerwarteten Klang seiner Stimme zuckte Lydia zusammen. Bevor sie sich langsam umdrehte, versuchte sie ihre zitternden Hände unter Kontrolle zu bekommen. “Hallo, Mr Cameron.”

In ihrem Bauch breitete sich ein Kribbeln aus. Er sah genauso aus, wie sie ihn aus dem Krankenhaus in Erinnerung hatte. Diesen Mann umgab etwas überwältigend Männliches, eine Aura von Stärke, die Lydia magnetisch anzog.

“Hier bei Clements hätte ich Sie ganz bestimmt nicht erwartet.” Gordon ließ sie nicht aus den Augen. Ihre geröteten Wangen und die strahlenden Augen verrieten ihre Verlegenheit.

“Weshalb nicht?” Du liebe Güte, ist er groß, schoss es Lydia durch den Kopf. Er musste mindestens einsneunzig sein.

“Eigentlich dachte ich, Sie hätten einen Gärtner für solche Aufgaben.”

Seine Augen waren dunkelbraun und wirkten fast schwarz, so wie sein Haar.

“Wir … das heißt ich, beschäftige einen Gärtner, aber meine Rosen rührt er nicht an.” Mit einem tiefen Atemzug versuchte sie, ihre Nerven zu beruhigen. Die schwache Citrusnote seines Aftershave überdeckte den Geruch von Blumenerde und blühenden Pflanzen und benebelte Lydias Sinne. “Ich wollte meinen Rosenstrauch abholen. Clyde hat eine neue Tropicana für mich bestellt.”

“Tropicana?” Lydia Reid sah wirklich reizend aus, mit ihrem blassen Teint und der grazilen Figur.

“Eine orangerote Rose.” Warum beendete er nicht endlich das Gespräch und verschwand? Seine Nähe verwirrte sie mehr, als sie zugeben wollte.

“Sie würden sich großartig mit meiner Mutter verstehen.” Bei der Vorstellung, welch ein gegensätzliches Paar Lydia und seine Mutter abgeben würden, musste Gordon unwillkürlich lächeln. Die blasse, zarte Rose und das raue, zähe Unkraut …

“So?”

“Sie hat einen grünen Daumen. Bei ihr wächst einfach alles.”

Gedankenverloren sahen sie einander an. Mehrere Kunden warfen ihnen im Vorrübergehen neugierige Blicke zu. Im Gang nebenan hörte Lydia weibliche Stimmen.

“Es ist Gordon Cameron”, flüsterte eine mollige grauhaarige Frau. “Er spricht mit Lydia.”

“Was könnten die beiden wohl zu bereden haben?”

“Bestimmt sprechen sie über diese entsetzliche Nacht.”

Lydia errötete und hätte vor Scham im Boden versinken mögen.

“Ich hatte gerade vor, bei ‘Lewey’s’ ein Bier zu trinken”, meinte Gordon in der Hoffnung, Lydias Aufmerksamkeit von den beiden Frauen abzulenken. “Warum kommen Sie nicht mit?”

Mit ihm gehen? Ja, genau das wollte sie. Es ergab keinen Sinn, aber irgendwie hatte Lydia das Gefühl, er wäre der Einzige, der den Albtraum verstand, den sie seit zwei Monaten durchlebte. Einerseits fürchtete sie sich vor Gordon und der unwiderstehlichen Anziehungskraft, die er auf sie ausübte. Andererseits jedoch sehnte sie sich danach, von ihm umsorgt und beschützt zu werden.

“Ich … ich weiß nicht … soll ich wirklich …?”, stammelte sie, hin- und hergerissen zwischen zwei grundlegenden Bedürfnissen – dem Wunsch, ihren guten Ruf zu bewahren, und dem Verlangen nach Gordons Gesellschaft.

“Kommen Sie schon. Es ist ein heißer Tag, und hier drinnen wird es langsam ziemlich voll. Den Rosenstrauch können Sie auch später noch abholen.”

Strahlende Junisonne lag wie transparentes Gold über der verschlafenen kleinen Stadt in Mississippi. Nicht der leiseste Windhauch wehte, als Lydia und Gordon auf den Bürgersteig hinaustraten.

Schweigend machten sie sich auf den Weg ins “Lewey’s”. Beiden war bewusst, dass Gordons Hand auf Lydias Taille ruhte. Fasziniert beobachteten die Menschen auf der Straße und in den Geschäften, wie die Witwe des Bürgermeisters mit Macie Camerons Ehemann das Lokal betrat.

“Lewey’s” war nicht mehr als eine winzige Imbissstube, bestehend aus einem L-förmigen Tresen mit runden Drehstühlen und fünf Nischen, von denen zwei an dem großen Fenster zur Straße hin lagen. Instinktiv führte Gordon sie zu einem etwas abgeschirmteren Tisch. Er setzte seinen Stetson ab und hängte ihn an einen Hutständer in der Nähe, bevor er Lydia gegenüber in die Nische schlüpfte.

Sofort erschien ein Junge, Block und Bleistift in der Hand. “Hallo, Gordon, was darf ich Ihnen und der Lady bringen?”

“Tee?” Gordon bemerkte, dass Lydia hinunter auf ihre Hände schaute, die in ihrem Schoß lagen.

Sie hob den Kopf und sah ihn an, ein schwaches Lächeln auf den Lippen. “Ungesüßten Eistee mit Zitrone, bitte.”

“Eistee und ein Bier.” Der Junge notierte sich ihre Bestellung und eilte davon.

In der antiken Musikbox lief ein alter Buddy-Holly-Titel. Obwohl Lydia seit über vier Jahren in Riverton lebte, war sie noch nie im “Lewey’s” gewesen. Nun erkannte sie auch, warum: Das Lokal besaß nicht gerade den Stil, den sie gewohnt war.

“Wie geht es Ihnen?” Gordons Stimme war leise und tief. Sein Blick ruhte auf der Frau, die ihm gegenübersaß – die Frau, deren Anwesenheit ihm wie ein Traum erschien.

“Es ist nicht einfach gewesen.” Das ist noch untertrieben, dachte Lydia. “Alle waren so überfürsorglich. Anscheinend glauben sie, die Wahrheit könnte mich nicht verletzen, solange niemand sie mir gegenüber erwähnt.”

“Das hat es sicher noch schlimmer gemacht, oder?”

“Ja.” Er schien der Einzige zu sein, der sie wirklich verstand. Nichts konnte sie vor der Realität beschützen. Ihr Mann war tot. Tödlich mit dem Auto verunglückt, zusammen mit seiner neuesten Geliebten. Tyler Dodson Reid, Rivertons Goldjunge, war im Alter von einunddreißig Jahren gestorben und hatte eine Ehefrau hinterlassen, die nicht nur verwirrt und unsicher in die Zukunft schaute, sondern außerdem von Gefühlen der Unzulänglichkeit und des Versagens zerfressen wurde.

“Würden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass Sie sich mit der Zeit nicht mehr allzu sehr an dem ganzen Klatsch, dem Anstarren und den mitfühlenden Blicken stören werden? Früher oder später taucht ein anderer armer Narr auf, und dann haben die Leute etwas Neues, worüber sie sich das Maul zerreißen können.”

Das Schwierigste, womit Gordon in den letzten beiden Monaten hatte fertig werden müssen, war Mollys Kummer. Auch wenn Macie nie eine besonders gute Mutter gewesen war, auf ihre Art hatte sie ihre Tochter geliebt.

“Vermutlich haben Sie recht.” Lydia fuhr zusammen, als der Kellner ihren Eistee auf den Tisch stellte.

Ihre Anspannung entging Gordon nicht. War sie so nervös, weil sie mit ihm zusammen war, oder weil sie sich hier in einer fremden Umgebung befand? Oder war sie einfach mit den Nerven fertig durch die Tortur, die sie in den letzten beiden Monaten durchgestanden hatte? Vermutlich eine Kombination von allem. “Meine Ehe ist schon vor Jahren zerbrochen, trotzdem war Macies Tod nicht leicht für mich. Obwohl ich sie nicht mehr liebte, habe ich dennoch um sie getrauert.” Lydia schien verblüfft von seiner brutalen Ehrlichkeit. “Sie war die Mutter meines Kindes”, versuchte er zu erklären.

Sie nickte und griff nach dem Teeglas. Ihre Hand zitterte leicht. “Ich wusste nicht, dass Tyler … dass er … mir untreu war.”

“Sie haben es nicht einmal vermutet?”

“Ich wagte es nicht.”

Lydias Ehe war alles andere als perfekt gewesen. Während des letzten Jahres hatte sie sogar ernsthaft an ihrem Fortbestehen gezweifelt. Warum fiel es ihr dann so schwer, die Tatsache zu akzeptieren, dass ihr Leben als Tylers Ehefrau vorüber war? Vier Jahre war sie die perfekte Lebensgefährtin eines Mannes gewesen, der eines Tages Gouverneur von Mississippi werden wollte. Als sie Birmingham als Tylers Braut verließ, gab sie zugleich ihre vielversprechende Karriere als Innenarchitektin auf. Stattdessen machte sie sich als freiwillige Helferin im Krankenhaus, als Mitglied der örtlichen Schulbehörde, Vorsitzende eines kirchlichen Wohltätigkeitsvereins sowie als Funktionärin unzähliger Vereine und gemeinnütziger Einrichtungen nützlich.

In dem Bemühen, ihr Leben wie das ihrer Mutter auszurichten, investierte Lydia vier Jahre und ihre gesamte Energie in ihr Leben als Politikergattin.

Gordon nippte an seinem kühlen Bier und beobachtete die Frau, die vor ihm saß. Er sehnte sich danach, sie in den Arm zu nehmen und ihr etwas Tröstliches zu sagen. Zum Beispiel, dass Macie die Schuld an dem trug, was zwischen ihr und Tyler Reid geschehen war. Aber es wäre nicht fair gewesen, schlecht über eine Frau zu reden, die sich nicht mehr verteidigen konnte.

Lydia schlug die Beine übereinander und faltete die Hände im Schoß. Ordentlich und mit geradem Rücken saß sie da, so wie sie es gelernt hatte. “Der Verlust der Mutter muss schrecklich für Ihre kleine Tochter sein.”

“Sie ist hart im Nehmen, genau wie ihr alter Herr, aber ja, es ist schwer für Molly.”

“Ich … es tut mir leid.”

“Obwohl Macie keine gute Mutter gewesen ist, hat Molly sie geliebt. Macie wollte eigentlich kein Kind. Sie hat Molly nur bekommen, damit ich sie nicht rauswerfe.” Klinge ich wie ein herzloses Ungeheuer, weil ich die Wahrheit zugebe? überlegte Gordon.

“Aber sie muss ihr eigenes Kind doch geliebt haben.”

“Sehen Sie, so gut wie jeder hier in der Gegend weiß, dass Macie und ich nicht mehr als Mann und Frau zusammengelebt haben, seit Molly ein Baby war … seit fast sechs Jahren.”

“Warum haben Sie sich nicht scheiden lassen?”

“Ich wollte nicht das Risiko eingehen, Molly zu verlieren oder Macie einen Teil meiner Farm abzutreten. Sie gehört unserer Familie schon seit vier Generationen.”

“Also haben Sie und Ihre Frau ihr eigenes Leben gelebt?”

“Sobald ich herausfand, dass Macie sich herumtrieb, gingen wir getrennte Wege. Ich bin nicht der Mann, der seine Frau teilen will. Nie wieder werde ich mich in so eine Situation bringen lassen, das versichere ich Ihnen.”

Lydia biss sich auf die Unterlippe. “Wussten Sie von Tyler und Macie?”

Gordon beobachtete die Bewegungen ihrer kleinen rosigen Zungenspitze. Er wollte ihre Zunge in seinem Mund spüren, ihre Lippen mit einem leidenschaftlichen Kuss verschließen und herausfinden, welches Feuer unter Lydias kühlem Äußeren verborgen lag. Er musste verrückt sein! “Ja, ich wusste davon. So wie viele andere Leute auch.”

“Und es störte Sie nicht?” In Lydias haselnussbraunen Augen tanzten Flecken.

“Schon vor Jahren habe ich aufgehört, mich dafür zu interessieren, was Macie tat.” Er beugte sich leicht vor und legte die Hände auf den Tisch. “Lange bevor sie etwas mit Ihrem Mann anfing, hatte sie meinem Stolz schon den letzten Schlag versetzt.”

Ein Stöhnen entfuhr Lydia, und der qualvolle Laut schien sie ebenso zu schockieren wie Gordon. Er griff über den Tisch und nahm ihre zitternden Hände in seine. “Es tut mir leid. Wenn ich die Dinge ändern könnte, würde ich es tun. Irgendwie … nun ja, irgendwie fühle ich mich mit verantwortlich.”

Lydia verlor sich in dem Blick seiner warmen braunen Augen. Darin lag so viel Sorge, so viel Mitgefühl. “Nein. Nein, das dürfen Sie nicht. Wenn jemand Schuld trägt, dann bin ich es. Zweifellos war ich nicht … nicht die richtige Frau für meinen Mann.”

Gordon umschloss ihre Hände fester. “Wenn Sie mich fragen, dann war Tyler Reid ein ausgemachter Dummkopf. Männer wie er …” Als sie nach Luft schnappte, hielt er inne. “Entschuldigen Sie. Ich habe kein Recht, solche Dinge zu sagen.”

Lydia schaute auf Gordons große Hände, die ihre völlig bedeckten. Wieso war Gordon Cameron von allen Menschen, die in den letzten beiden Monaten versucht hatten, sie zu trösten, der einzige, bei dem sie sich lebendig, umsorgt und geborgen fühlte? “Uns beide verbindet das gleiche Los, nicht wahr?”

“Ja, es scheint so.” Gordon ließ sie los, doch am liebsten hätte er Lydia in die Arme gezogen und sie geküsst, bis sie nach Atem rang. Wenn er die Selbstbeherrschung verlor und sie in Verlegenheit brachte, würde er ihr nur noch mehr Leid zufügen.

“Die ganze Stadt redet davon.” Als sie nach dem Eistee griff, stieß sie gegen das Glas, doch Gordon konnte es gerade noch vor dem Fall bewahren.

“Was die Leute von Ihnen halten, ist Ihnen anscheinend ziemlich wichtig.” Ganz im Gegensatz zu Macie, der es völlig gleichgültig gewesen war, was die Leute von ihr denken mochten. Und Lydia unterschied sich auch von seiner Mutter, die sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerte und erwartete, dass die anderen Menschen es genauso hielten.

“Ja, das stimmt wohl.” Unzählige Male war Lydia von ihrer Mutter ermahnt worden: Was werden nur die Leute sagen?

“Als Frau des Bürgermeisters standen Sie unweigerlich im Licht der Öffentlichkeit.”

“Tyler hatte große Erwartungen. Seine Partei wollte ihn bei der nächsten Wahl als Senator aufstellen, und dann, in einigen Jahren …”

“Gouverneur. Ich habe davon gehört.”

“Er war erst einunddreißig, wissen Sie.”

“Macie war siebenundzwanzig.”

Ich möchte, dass du mich in die Arme nimmst, dachte Lydia. In ihren Augen erschien ein sehnsüchtiger Ausdruck. Mehr als sechzig endlos lange Tage und Nächte voller Kummer und Unsicherheit, und niemand außer Gordon konnte die Qual lindern. Diese Gedanken waren ebenso unvernünftig wie die neuen, unbekannten Gefühle, die dieser Mann in ihr weckte.

“Es tut mir so leid, dass das passieren musste”, meinte sie schließlich. “Ganz besonders wegen Ihrer kleinen Tochter.”

Er musste schnellstens hier verschwinden, oder er würde sich zum Narren machen. Es ergab einfach keinen Sinn. Es war Jahre her, seit Gordon eine Frau so sehr begehrt hatte wie Lydia Reid.

“Was ist los?”, wollte sie wissen. “Stimmt etwas nicht?”

Gordon zermarterte sein Gehirn nach einer Entschuldigung, um von ihr fortzukommen. Als er sah, wie sein Bruder durch die Tür kam, atmete er erleichtert auf. “Da ist Ben. Sicher will er bei Clements das Futter einladen und zurück zur Farm fahren.” Hastig trank Gordon sein Bier aus, stand auf und griff nach seinem Stetson.

Mit einem wehmütigen Lächeln sah Lydia zu ihm auf. Zu schade, dass er schon ging. Obgleich sie und Gordon nur sehr wenig verband, erschien ihr der große dunkelhaarige Farmer wie eine verwandte Seele. Wie niemand sonst verstand er ihre Seelenqual, ihre Einsamkeit, die Scham.

“Ich komme mit und hole meine Rose ab.”

Ben Cameron gesellte sich zu Lydia und Gordon, die neben der Nische standen. “Tanya wollte noch in der Kirche mit Reverend Charles sprechen. Lass uns das Futter aufladen, dann können wir sie abholen.”

“Das ist mein Bruder Ben”, warf Gordon ein. “Auch wenn sein Verhalten dem widerspricht, Ma hat tatsächlich versucht, ihm Manieren beizubringen.”

Der jüngere Mann verzog das Gesicht, atmete tief ein und sah Lydia zerknirscht an. “Entschuldigen Sie, Ma’am.”

Lydia konnte sich nicht erinnern, je einen so raubeinig wirkenden Mann gesehen zu haben. Es lag nicht allein daran, dass Gesicht und Hals vernarbt waren oder seine linke Hand verkrüppelt schien. Ben umgab etwas Wildes, Grimmiges. Instinktiv trat sie einen Schritt zurück. “Freut mich, Sie kennenzulernen.” Allerdings bezweifelte sie sehr, dass jemand über die Bekanntschaft dieses großen, grüblerischen Mannes unbedingt erfreut wäre.

Gordon zahlte an der Kasse und verließ mit Lydia das Lokal, sorgfältig darum bemüht, sie nicht zu berühren. Ihr Rückweg zu Clements verursachte einen regelrechten Aufruhr. Kunden drückten sich an den Schaufenstern die Nase platt, und die Leute auf der Straße hielten an und starrten ihrer kleinen Gruppe hinterher. Sobald sie den Laden erreichten, lehnte Lydia sich mit einem Seufzer der Erleichterung gegen den Türrahmen.

“Ich möchte mich dafür entschuldigen”, erklärte Gordon. Am liebsten hätte er sie getröstet, aber er wusste, dass es unmöglich war, Lydia hier hindurchzuhelfen, ohne sie noch mehr in Verlegenheit zu bringen.

“Was zum Teufel habt ihr zwei eigentlich erwartet, wenn ihr unter den Augen der ganzen Stadt zu ‘Lewey’s’ spaziert?” Bens Stimme klang barsch und vorwurfsvoll.

“Halt den Mund!”, zischte Gordon ihn an.

Lydia wurde blass. Sie schwankte leicht. Gordon ergriff ihren Arm und stützte sie. “Er hat recht”, stimmte sie zu. “In den letzten beiden Monaten waren Tyler und Macie das Stadtgespräch. Nun bleibt es anscheinend an uns hängen.”

Als sie sich abwandte, festigte er den Griff um ihren Arm. “Lydia …”

“Ich muss jetzt gehen.” Er gab sie frei. Nach einigen zaghaften Schritten drehte sie sich um. “Wir … wir können uns nicht wiedersehen.”

“Ja, ich weiß.” An Ben gerichtet meinte er: “Lass uns das Futter aufladen und Tanya abholen. Ma wartet sicher schon mit dem Abendessen auf uns.”

2. KAPITEL

Lydia dachte lange über ihr Vorhaben nach. Schließlich folgte sie ihrem Instinkt. Falls sie einen Fehler machte, nun, dann geschah er eben.

Nach ihrer Begegnung mit Gordon hatte Lydia unzählige Anrufe erhalten. Besorgte Freunde und Bekannte warnten sie davor, sich noch einmal mit “diesem Mann” sehen zu lassen, und ein anonymer Anrufer befahl ihr auf unmissverständliche Weise, sich von Gordon Cameron fernzuhalten.

Sechzehn Tage lang erinnerte Lydia sich an jedes Wort, jede Geste, jeden Blick. Anfangs suchte sie Trost und Mitgefühl bei anderen, musste dann aber feststellen, dass deren Mitleid nicht besonders tief ging und nur wenig echtes Verständnis enthielt. Auf der Suche nach Zerstreuung verbrachte sie das Wochenende bei ihrem Bruder und seiner Familie in Alabama.

Sogar Dinnereinladungen von Glenn Haraway, einem Parteifreund ihres verstorbenen Mannes, und seiner Mutter, die im Nachbarhaus wohnten, hatte sie angenommen – dreimal.

Niemand schien das Problem zu verstehen, das sie quälte. Sie brauchte eine Antwort auf die einzige Frage, die wirklich zählte. Und niemand außer Gordon Cameron würde ihr die völlige Wahrheit über Tyler und Macie verraten.

Natürlich wusste sie, dass die beiden ein Verhältnis gehabt hatten und bei demselben Autounfall ums Leben gekommen waren. Sowohl Fahrer als auch Beifahrerin waren angetrunken gewesen – eine Tatsache, die von den örtlichen Behörden geschickt vertuscht worden war.

Lydia wusste, dass sie nicht so besessen nach den Hintergründen forschen sollte – dem Wann und Wo und vor allen Dingen dem Warum. Schließlich hatte sie alles in ihrer Macht Stehende getan, um eine perfekte Politikerfrau zu werden. Sie verzieh Tyler seinen Egoismus, sah über seine Unreife hinweg und vertraute ihm gegen ihr besseres Wissen. Nun, da er tot war und sie nichts mehr zu verlieren hatte, wollte sie es wissen. Und nur eine Person in Riverton war mutig genug, ihr die Wahrheit zu sagen, und würde überhaupt verstehen, weshalb sie sich Gewissheit verschaffen musste.

Lydia bog mit ihrem BMW in die kreisrunde Auffahrt vor dem zweistöckigen Farmgebäude. Zögernd blieb sie neben der offenen Autotür stehen. Vielleicht hätte sie doch besser vorher angerufen? Mit einem tiefen Atemzug schloss sie die Tür. Nur ungern gestand sie sich ein, dass sie sich vor einem Anruf gefürchtet hatte. Davor, dass Gordon sie nicht sehen wollte.

Bevor sie die Stufen erreichte, die zu einer um das ganze Haus laufenden Veranda führten, bemerkte Lydia ein dunkelhaariges Kind, das um die Hausecke kam. Wäre das barfüßige Mädchen nicht so hübsch gewesen, hätte man es leicht für einen Jungen halten können. Es trug zerrissene abgeschnittene Jeans, ein weißes T-Shirt, und sein lockiges Haar war kurz geschnitten. Als die Kleine Lydia sah, blieb sie stehen und lächelte.

“Hi. Wollen Sie Grandma besuchen?”

Für den Bruchteil einer Sekunde setzte Lydias Herzschlag aus. Die dunklen Augen, die sie ansahen, waren so vertraut, ebenso wie das schwarze Haar, das Grübchen im Kinn und die vollen Lippen. Das musste Molly Cameron sein. Sie war ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Ein kleines weibliches Ebenbild. “Eigentlich wollte ich zu deinem Vater.”

“Er ist unten bei den Hühnerställen.” Das kleine Mädchen stocherte mit einem langen Stock im Sand. “Weiß er, dass Sie kommen?”

“Nein. Ob er wohl trotzdem Zeit für mich haben wird?”

“Ich glaube schon. Soll ich Ihnen den Weg zeigen?”

Ein großer Hund mit wuscheligem Fell tappte die Stufen der Veranda hinab. Molly hockte sich hin und schlang ihm die Arme um den Hals. “Du darfst auch mitkommen, Bärchen. Aber sei schön vorsichtig. Grandma hat gesagt, wir müssen auf dich aufpassen, bis die Welpen geboren sind.”

Lydia erkannte, dass der dicke Hund trächtig war und Molly die werdende Mutter offensichtlich liebte. “Sie heißt Bärchen?” Sie ging hinüber, um sie genauer anzusehen.

“Stimmt.” Molly lachte. Bei der Bewegung hüpften ihre kurzen schwarzen Locken. “Sie ist je ein Drittel Cockerspaniel, Chow-Chow und Schnauzer, sagt Daddy, aber irgendwie sieht sie wie ein kleiner Bär aus.”

Lydia lachte ebenfalls, erstaunt, wie freundlich und bezaubernd Gordons Tochter war. “Sie erinnert mich wirklich an einen kuscheligen Teddybären.”

“Sie dürfen sie streicheln. Sie mag Sie. Sehen Sie, wie Bärchen mit dem Schwanz wedelt?”

“Ich habe nie einen Hund gehabt.” Lydia beugte sich hinunter. Ihre schlanken Finger fuhren durch das dichte, staubige Fell. “Gehört Bärchen dir?”

“Ja sicher, und Rawhide auch.”

“Wer ist Rawhide?”

“Das ist Bärchens Mann. Der Vater der Jungen.”

Lydia lächelte. Sie genoss die Unterhaltung mit Molly außerordentlich. “Ist Rawhide auch eine Promenadenmischung?”

“Aber nein. Er ist ein Zwergcollie. Bevor meine Tante Tanya Onkel Ben geheiratet hat, gehörte er ihr. Ich glaube, ihr erster Mann hat ihr Rawhide geschenkt.”

“Molly Cameron!” Die raue Stimme kam von der Veranda, wo eine kleine, mollige Frau stand, die Hände in die breiten Hüften gestemmt. Sie war bekleidet mit fleckigen Jeans, einer langen weißen Schürze und einer rosa getupften Bluse. Grüne Plastiksandalen schützten ihre nackten Füße vor den heißen Holzplanken.

Molly sprang auf und lief auf die Veranda. “Grandma, die Lady ist gekommen, um Daddy zu sehen.”

Lydia näherte sich den Stufen, blieb aber stehen, als sie Ruth Camerons hartem, kaltem Blick begegnete. “Hallo, Mrs Cameron. Ich … ich bin Lydia Reid.”

“Ich weiß, wer Sie sind.” Ruth trat an den Rand der Veranda.

“Ich wollte sie gerade zu Daddy bringen”, erklärte Molly.

“Ich glaube kaum, dass Mrs Reid zu den Hühnerställen gehen möchte.” Prüfend sah Ruth die Besucherin an. “Lauf hinunter und erzähl deinem Daddy, dass Besuch auf ihn wartet.”

Sofort gehorchte die Kleine. Lydia fühlte sich ein wenig unbehaglich, da sie nicht wusste, ob sie willkommen war oder nicht. Eines aber war sicher: Ruth Cameron machte sie nervös.

“Kommen Sie hoch, und setzen Sie sich.” Ruth deutete auf einen der großen weißen Schaukelstühle, die auf der Veranda standen. “Falls es Ihnen hier draußen zu heiß ist, könnten wir auch hineingehen, aber eine Klimaanlage gibt es nur in der Küche.”

“Danke, hier gefällt es mir ganz gut.” Langsam kam Lydia die Treppe hinauf. Bevor sie sich in den Schaukelstuhl setzte, wartete sie, bis ihre Gastgeberin auf der Schaukel Platz genommen hatte.

“Das mit Ihrem Mann tut mir wirklich leid.” Ruth löste die Schleife der Schürze, zog sie ab und faltete sie auf ihrem Schoß. “Eine Frau hat es schwer ohne ihren Mann. Mein Hoyt starb, als Gordon gerade sechzehn war. Hat mich mit vier Kindern allein gelassen. Ben war vierzehn, und die Mädchen waren neun und elf.”

“Wie sind Sie nur zurechtgekommen?” Lydia konnte sich nicht vorstellen, mit vier Kindern auf einer Farm festzusitzen.

“Gordon hat die Verantwortung übernommen. Dadurch ist er schnell erwachsen geworden.”

“Hoffentlich stört es Sie nicht, dass ich vorbeigekommen bin.” Aus irgendeinem Grund hatte Lydia das Gefühl, sie müsse erklären, weshalb sie Gordon sehen wollte. “Durch eine seltsame Laune des Schicksals befinden Ihr Sohn und ich uns in einer ähnlichen Situation. Es gibt Dinge, über die ich mit ihm reden möchte. Dinge, die ich mit niemandem sonst besprechen kann.”

“Warum Sie hier sind, geht mich nichts an.” Ruth verschränkte die Arme vor ihrem stattlichen Busen.

“Ich bin nicht hergekommen, um die Dinge für Gor… für Ihren Sohn noch schwieriger zu machen, das verspreche ich Ihnen. Aber ich muss endlich herausfinden, warum mein Mann mir untreu war.” Eigentlich hatte Lydia nicht vorgehabt, so mit ihrem Kummer herauszuplatzen. Die Worte waren ihr entschlüpft, bevor sie sie aufhalten konnte.

“O Mädchen, das werden Sie nie erfahren. Entweder steckt es in einem Mann, treu zu sein, oder nicht. Vermutlich denken Sie, es lag an Ihnen. Und genau da irren Sie sich.”

Tränen stiegen Lydia in die Augen. Fest presste sie die Lippen aufeinander. Ruth Cameron schaute direkt in sie hinein, mitten in ihr Herz.

“Guten Tag, Mrs Reid.”

Lydia sah auf. Wenige Schritte von ihr entfernt stand Gordon. Seine Jeans waren ausgebleicht, zerrissen und schmutzig, das schmuddelige weiße T-Shirt wies mehrere winzige Löcher auf. Auf seinen markanten Gesichtszügen lag der Schatten eines Bartes, und in seinem schwarzen Haar steckten Sägespäne. Sein Anblick überwältigte sie. Ihr war, als sei sie aus der Dunkelheit ins helle Licht des Tages getreten.

“Hallo, Mr Cameron.” Lydia stand auf. Da ihre Beine plötzlich unsicher waren, fasste sie haltsuchend nach der Armlehne. “Ich möchte Sie nur um ein paar Minuten Ihrer Zeit bitten. Da … da ist etwas, das ich mit Ihnen besprechen möchte.”

Ruth hielt ihre Schürze in der einen Hand und stemmte mit der anderen ihren fülligen Körper aus der Schaukel. “Komm, Molly. Du kannst mir helfen. Wir backen Pfirsichkuchen zum Abendessen.”

Molly rannte die Stufen hinauf. “Darf ich den Teig ausrollen?”

“Sicher darfst du das.” An der Tür blieb Gordons Mutter stehen und schenkte Lydia ein Lächeln. “Dieses Jahr hatten wir eine prächtige Pfirsichernte, Mrs Reid. Bevor Sie fahren, kommen Sie in der Küche vorbei, dann gebe ich Ihnen einen Korb mit nach Hause.”

“Danke. Das mache ich.” Ruth Cameron war wirklich erstaunlich. Nie hatte Lydia jemanden wie sie kennengelernt, so offen und direkt und so völlig gleichgültig gegenüber Äußerlichkeiten. Die Frau war Lydia ein völliges Rätsel, dennoch mochte sie sie. Ruth hatte etwas an sich, das Lydia an ihre Großmutter erinnerte. Die Ähnlichkeit war nicht äußerlich und bestand ganz bestimmt nicht in Benehmen oder Sprache. Cleo Milner war eine gebildete, belesene und weitgereiste Frau gewesen, aber sie besaß dieselbe einfache, bodenständige Einstellung zum Leben wie Ruth.

Endlose Minuten, nachdem Molly mit ihrer Großmutter im Haus verschwunden war, standen Lydia und Gordon auf der Veranda und musterten einander. Die Farm lag meilenweit von der Stadt und vom nächsten Nachbarn entfernt. Nur die Natur umgab sie. Obwohl die Sonne schon tief im Westen hing, verbreitete sie immer noch sommerliche Wärme und ein gleißendes Licht.

Gordon war praktisch den ganzen Weg von den Hühnerställen bis hierher gerannt. Sein Bruder hatte ihn einen Narren geschimpft. Lautstark und eindringlich ermahnte er ihn, sich von Lydia Reid fernzuhalten, und behauptete sogar, sie würde Gordon weit mehr Schmerz zufügen als Macie. Natürlich war Bens Urteilskraft durch seine eigenen Eheprobleme ein wenig getrübt …

“Wollen Sie hier draußen sitzen bleiben oder ins Haus gehen?” Gordon wischte sich die schmutzigen Hände an den Hosenbeinen seiner Jeans ab.

“Das ist egal.” Es war ein Fehler, erkannte Lydia. Offensichtlich hatte sie ihn mitten in der Arbeit unterbrochen, und es war klar, dass er nicht gerade begeistert war, sie zu sehen.

“Hier draußen ist es genauso kühl wie im Haus, es sei denn, Sie wollen Ma und Molly in der Küche Gesellschaft leisten. Dort haben wir eine alte Klimaanlage aufgestellt.” Unruhig verlagerte Gordon das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Schließlich schob er die Hände in die hinteren Taschen seiner Jeans. Sein – wie er hoffte gleichgültiger – Blick glitt über Lydia, bevor er ihn über die Veranda schweifen ließ, in dem Versuch, sie nicht anzusehen.

“Es ist unwichtig, wo wir uns unterhalten, solange wir ein wenig Privatsphäre haben.” Lydia wünschte, er würde sie richtig ansehen. Vielleicht bekam sie dann einen Hinweis auf seine wahren Gefühle.

Verflixt, warum muss sie auch so hübsch sein? fragte sich Gordon. So kühl und gelassen an diesem heißen Sommertag. Frisch und rein, als hätte sie gerade gebadet. Lydia duftete nach Blumen, und obwohl der Duft unaufdringlich war, reizte er seine Sinne.

“Wir könnten zur Quelle gehen”, schlug er vor und deutete mit dem Kopf in Richtung Süden. “Zu dieser Tageszeit ist dort niemand.”

Gordon wartete, bis sie an ihm vorüberging, dann folgte er ihr die Stufen hinunter auf den Hof. Aus den Augenwinkeln beobachtete er sie und prägte sich jeden Zentimeter ihres schlanken Körpers ein. Ihr ärmelloser roter Overall saß wie angegossen. Ein breiter Ledergürtel, passend zu ihren Sandaletten, betonte Lydias Taille. Diese Frau war einfach unwiderstehlich – und völlig fehl am Platz.

Während sie um das Haus gingen, bemerkte Lydia, dass es einen Anstrich und einige kleinere Reparaturen nötig hatte. Das Alter war nur schwer einzuschätzen. Aufgrund des Viktorianischen Stils würde sie es um die Jahrhundertwende datieren. Es war ein riesiges altes Gebäude – zwei Stockwerke hoch, mit einem spitzwinkligen Dach, unter dem sich vermutlich ein enormer Dachboden verbarg, und einer umlaufenden Veranda. Alles in allem waren die wenigen Stuckverzierungen erstaunlich gut erhalten.

“Ein hübsches altes Haus”, stellte Lydia fest, ohne in Gordons Richtung zu sehen.

“Mein Urgroßvater hat es erbaut. Vorher stand hier ein Blockhaus. Es ist abgebrannt.”

Nach dieser kurzen Unterhaltung gingen sie schweigend weiter. Dichte weiße Wolken zogen über den blassblauen Himmel, Sonnenstrahlen fielen auf die Felder, wo Getreide und Sojabohnen wuchsen. Weit hinten, im Osten, sah Lydia Rinder grasen.

Je weiter Gordon sie über den staubigen Weg führte, desto dichter wurde der Wald. Als sie von Bäumen eingeschlossen schienen, trafen sie auf eine Lichtung, in deren Mitte sich ein kleiner Teich befand, der vermutlich von einer unterirdischen Quelle gespeist wurde. Das Erste, was Lydia bemerkte, war, wie viel kühler es geworden war, wie ruhig und friedlich.

“Es ist wunderschön hier.”

“Zum Schwimmen ist das Wasser nicht tief genug, aber als Kinder haben wir darin herumgeplanscht.” Gordon hob einen kleinen abgebrochenen Zweig vom Boden auf.

“Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie sich trotz Ihrer Arbeit ein wenig Zeit für mich genommen haben.” Impulsiv streckte Lydia die Hand aus und berührte seinen Arm. Sofort wich er zurück und riss sich von ihr los. “Entschuldigung. Habe ich etwas falsch gemacht?”

“Nein”, brummte er. Mit fahrigen Bewegungen streifte er die Blätter von dem Zweig.

“Vielleicht hätte ich nicht herkommen sollen.” Sie blickte auf, musste aber vor dem grellen Sonnenlicht die Augen schließen. Der Schmerz in ihrem Herz ließ sich jedoch nicht so leicht verbannen.

Gordon warf den kahlen Ast auf den Boden. “Weshalb sind Sie überhaupt hier?”

So hatte sie es sich nicht vorgestellt. Sie war so sicher gewesen, dass er sie verstehen und trösten würde und die Antworten auf ihre Fragen besaß. “Entschuldigen Sie, wenn ich Sie belästigt habe.” Lydia drehte sich um und entfernte sich von ihm. Bevor sie einen weiteren Schritt machen konnte, wurde sie gepackt und herumgewirbelt. In ihrem Kopf drehte sich alles. Als sie zu Gordon aufsah, bemerkte sie den Zorn in seinen braunen Augen. Plötzlich fürchtete sie sich.

“Gehen Sie nicht.”

Seine Anspannung war unübersehbar. Finster blickte Gordon auf Lydia hinunter. An seinem Hals zuckte sichtbar der Puls.

“Es ist mehr als deutlich, dass Sie mich nicht hier haben wollen.”

“Lady, das Problem ist, ich will Sie viel zu gern hier haben. Nur passen Sie überhaupt nicht auf eine Farm.”

Was sollte sie darauf erwidern? Nie hätte Lydia hinter seiner Feindseligkeit ein tiefverborgenes Verlangen vermutet. Sie riss sich los und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Das Wissen, dass sie kurz vor einem Tränenausbruch stand, half ihrer Selbstkontrolle nicht gerade.

“Was wollen sie von mir?” Mit geschlossenen Augen, die Zähne fest zusammengebissen, flehte Gordon um die Kraft, nicht nach Lydia zu greifen und sie ins weiche Gras zu ziehen.

“Ich muss einfach wissen, warum Tyler mich betrogen hat. Ich muss wissen, warum er eine Affäre mit Ihrer Frau anfing.” Die Worte brachen aus ihr hervor, als wenn ein Damm gebrochen wäre und die Emotionen nicht länger zurückgehalten werden konnten.

“Und Sie dachten, ich besäße die Antworten?” Fassungslos schüttelte er den Kopf und lachte in einer Mischung aus Erstaunen und Bedauern. War Lydia Reid tatsächlich so naiv? “Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Hätte ich die Antworten auf Ihre Fragen, könnte ich ein Buch schreiben und reich werden.”

“Ihre Mutter sagt, ich würde es nie herausfinden. Sie … sie glaubt, es steckt in den Menschen selbst, ob sie treu sind oder nicht.”

“Ja, das klingt nach Ma. Eine schlichte und einfache Antwort auf eine komplizierte Frage.”

“Wie sind Sie nur damit fertig geworden, dass Ihre Frau Ihnen wieder und wieder untreu war? Haben sie je damit aufgehört, sie sich mit diesen Männern vorzustellen?” Sie durfte jetzt nicht weinen. Seit Tylers Tod war keine einzige Träne gefallen, und Lydia wollte nicht ausgerechnet vor Gordon zusammenbrechen, dessen Einstellung zu seiner verstorbenen Frau und zur Ehe im Allgemeinen so herzlos und gefühllos schien.

“Zuerst wollte ich sie umbringen.” Gordon wich ihrem Blick aus, denn er konnte die Qual auf ihrem Gesicht und die Traurigkeit in ihren Augen nicht ertragen. “Nach einer Weile empfand ich überhaupt nichts mehr. Ich stumpfte ab. Es war mir einfach egal, was sie machte oder mit wem.”

“O Gordon.”

“Es hat wesentlich länger gedauert, bis ich die höhnischen, abfälligen Bemerkungen ertragen konnte, die andere Männer über meine Frau machten. Deswegen bin ich in mehr als eine Schlägerei geraten und sogar ein paarmal im Gefängnis gelandet.”

“War Macie so etwas Besonderes? Was machte sie für Männer so unwiderstehlich?”

Erstaunt sah Gordon sie an. Wie konnte eine wohlhabende, gebildete Frau wie Lydia so dumm sein, wenn es um das Thema Mann und Frau ging? “Ja, es gab etwas, das machte sie unwiderstehlich für jeden Mann: Sie war zu haben.”

Verwirrt sah Lydia ihn an. “Das ist alles?”

“Wollen Sie hören, dass Macie hinter Ihrem Mann her war? Okay. Vermutlich hat sie sich angeboten. Ein Kerl wie Tyler Reid war sicher eine Herausforderung. Ein reicher Knabe, auf dem Weg an die Spitze. Außerdem hatte er mehr Klasse, als sie es von ihren übrigen Liebhabern gewohnt war.”

Lydia wollte nichts mehr hören. Sie wusste, was als nächstes kommen würde. “Sie war nicht die Erste.”

“Natürlich war sie nicht die Erste, und sie wäre auch nicht die Letzte geblieben.”

Als könne sie so die hässliche Wahrheit aussperren, hielt Lydia sich die Ohren zu. “Warum war ich ihm nicht genug? Warum nur?”

In einer schnellen Bewegung zog Gordon sie in die Arme und drückte sanft ihren Kopf an seine Brust. Seine Hände glitten über ihren Rücken, streichelten sie tröstend. Mehr als alles andere wünschte er, er könnte ihre Frage beantworten. Doch es war unmöglich, denn er wusste wirklich nicht, was Tyler Reid zu seiner Untreue veranlasst hatte. Offenbar kamen Ruths Lebensweisheiten der Wahrheit ziemlich nahe.

Er hob Lydias Kopf an und sah ihr in die Augen. “Sie müssen erkennen, dass es nicht an Ihnen lag. Ihr Ehemann hat Sie nicht betrogen, weil Sie nicht reizvoll sind. Glauben Sie mir, Lady, ein Mann würde töten für das Recht, Sie lieben zu dürfen.”

“Oh …” Seine Worte waren Balsam für ihre verwundete Seele. Nichts hätte sie so tief treffen oder so sehr erschrecken können. Lydia war nie mit einem anderen Mann als Tyler zusammen gewesen. In diesem Augenblick jedoch beschwor die unerwartete Vorstellung, wie Gordon sie nahm, sie liebte, heiße Bilder von ihnen beiden nackt im Gras neben der Quelle herauf.

Gordon las das Verlangen in ihren Augen, und er spürte ihren beschleunigten Herzschlag. Er begehrte Lydia. Er ließ ihr Kinn los, strich mit der Hand über ihren Hals zu den verführerischen Rundungen ihrer Brüste. Seine andere Hand hielt Lydias Kopf umfasst. Dann presste er den Mund auf ihre Lippen, feucht, heiß, hart. Einen Moment wehrte sie sich, dann öffnete sie den Mund, erlaubte ihm, in sie einzutauchen, sie zu schmecken, sie zu erobern.

Sie schmeckte so süß. Während er mit wilder Leidenschaft ihren Mund erforschte, streichelte Gordon ihre Brüste. Seine Lippen erstickten Lydias sehnsüchtigen Aufschrei.

Plötzlich kämpfte sie gegen ihn an und versuchte ihn wegzuschieben. Verloren in seiner Leidenschaft, dauerte es einige Minuten, bis Gordon erkannte, dass sie sich gegen ihn zur Wehr setzte. Verlangen und Angst spiegelten sich in Lydias Augen, als sie sich von ihm losriss.

“Es ist schon gut, Lydia. Alles in Ordnung.”

Schnell trat sie einen Schritt zurück und wich seiner ausgestreckten Hand aus. “Nein, ist es nicht. Das war falsch. Wir hatten kein Recht …”

“Es war meine Schuld. Ich habe die Beherrschung verloren.” Eigentlich hatte Gordon sie trösten wollen. Seine Zärtlichkeit sollte ihr beweisen, was für eine begehrenswerte Frau sie war.

Stattdessen fühlte sie sich nun billig und ausgenutzt.

“Ich … ich werde Sie nicht wieder belästigen. Das verspreche ich.” Noch während sie sprach, entfernte sie sich von ihm. Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte sie sich: “Und Sie werden mich in Frieden lassen, nicht wahr?”

Verdammt! Nie hatte er eine Frau mehr begehrt als Lydia Reid, und sie bat ihn, sie nicht wiederzusehen! “Ja, ich lasse Sie in Ruhe.”

Lydia rannte den staubigen Pfad entlang, weg von dem stillen, versteckten Ort, wo sie völlig die Kontrolle verloren hatte und versucht gewesen war, sich einem Mann hinzugeben, den sie kaum kannte. Sie musste dafür sorgen, dass sie Gordon Cameron nie wieder begegnete. Sie konnten einander nur noch mehr Schmerz und Leid bringen. Und davon hatten sie beide wirklich genug gehabt für ein ganzes Leben.

3. KAPITEL

Das jährliche Picknick anlässlich des Gründertags war in vollem Gang, als Gordon und seine Familie ankamen. Am liebsten hätte er den Besuch vermieden, aber Molly wollte die Farm nicht ohne ihn verlassen.

Lydia war mit Sicherheit hier, und ebenso sicher würden sie sich sehen. Zweifellos hatte sie während der Eröffnungsrede des neuen Bürgermeisters und früheren Abgeordneten Glenn Haraway auf einem Ehrenplatz oben auf dem Podium gesessen. Wenigstens diese Tortur war Gordon durch die verzögerte Abfahrt seiner Familie erspart geblieben.

Nach der Menge zu urteilen, die sich über den Platz schob, musste der halbe Bezirk auf den Beinen sein. Stände mit Speisen und Getränken waren an allen vier Ecken des Parks und auf jedem verfügbaren Fleck der Gehwege aufgestellt. Die meisten Schaufenster zeigten Bilder aus Rivertons Vergangenheit, und unzählige Kostümierte spielten an mehreren Orten kleine Szenen nach. Der Duft von Zuckerwatte vermischte sich mit dem kräftigeren Geruch des Südstaaten-Barbecue.

Gleißende Julisonne lag über der Stadt und brachte eine hohe Luftfeuchtigkeit mit sich. Die Gesichter der meisten Leute waren gerötet und verschwitzt, ihre Kleider zeigten feuchte Flecken. Nicht einmal die Andeutung einer Brise milderte die erstickende Hitze, und selbst die unzähligen schattenspendenden Bäume, unter denen viele Festbesucher ihre Decken für ein Picknick ausgebreitet hatten, boten nur wenig Schutz.

“Es ist so heiß. Warum bin ich bloß nicht zu Hause geblieben?” Tanya Cameron zog immer wieder an ihrem türkisfarbenen T-Shirt, um sich etwas Wind zuzufächeln.

“Ach, Tante Tanya, vergiss die Hitze und schau dir all die tollen Sachen an”, riet Molly, die um die vier Erwachsenen herumlief und vor lauter Freude auf und ab hüpfte.

“Ben, Honey, lass uns ins 'Palace' gehen und ein Eis essen.” Tanya schlang ihrem Mann den Arm um die Hüfte. “Bei dieser Hitze gehe ich noch ein.”

Ruth schnaubte, warf ihrer Schwiegertochter einen scharfen Blick zu und ging voran zu einem Stand, der Kunsthandwerk ausstellte.

Gordon wusste, seine Mutter war es ebenso leid wie er, zuzusehen, wie Tanya Ben manipulierte. Aber die Ehe seines Bruders ging sie nichts an.

Außerdem besaß er genug eigene Probleme – und das größte davon stand nur wenige Meter von ihm entfernt.

Selbst in dieser drückenden Hitze sieht sie wunderschön aus, schoss es ihm durch den Kopf. Nicht ganz so kühl und unnahbar wie üblich, aber ebenso anziehend. Sie trug ein ärmelloses rotes Sommerkleid und passende Tennisschuhe. Ihr schulterlanges braunes Haar war mit einer goldenen Spange in einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Kleine goldene Kreolen schmückten ihre Ohren, und um ihren Hals hing eine dünne goldene Halskette.

Lydia stand bei Glenn Haraway und einer älteren Frau, deren leuchtend rotes Haar sie als Mutter des neuen Bürgermeisters auswies. Während Gordon beobachtete, wie Haraway den Arm um Lydias Schultern legte, stieg Eifersucht in ihm auf. Schon in jener Nacht im Krankenhaus war ihm das unterschwellige Verlangen in Haraways Benehmen aufgefallen. Ahnte Lydia, dass der gute alte Freund der Familie mit ihr ins Bett gehen wollte?

“Sieh mal, Daddy, da ist Mrs Reid”, bemerkte Molly. “Darf ich ihr hallo sagen?”

“Nein.” Gordons Antwort kam schnell und barsch.

“Dein Daddy will nicht, dass du Mrs Reid störst, solange sie mit ihren Freunden spricht.” Ruth strich ihrer Enkelin durchs Haar. “Aber wir beide werden sie schon noch begrüßen, bevor wir fahren.”

“Wie ich gehört habe, will die Mutter des neuen Bürgermeisters ihn mit der Witwe Reid verheiratet sehen, nachdem eine angemessene Zeitspanne vergangen ist”, berichtete Tanya. “Anscheinend denkt jeder, Ben und ich hätten zu schnell nach Pauls Tod geheiratet.”

Gordon hatte keine Lust, erneut die altbekannte Tirade über sich ergehen zu lassen. Wie ertrug sein Bruder nur diesen Schuldkomplex, den Tanya ihm ständig einimpfte? “Komm schon, Ben, sehen wir uns die Gürtel an.”

“Warte, Daddy, Mrs Reid und ihre Freunde kommen zu uns rüber.” Begeistert hüpfte Molly auf und ab. “Siehst du, sie sieht zu uns her.” Sie winkte, und Lydia winkte zurück.

Obwohl Lydia befürchtete, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen, durfte sie dieser Schwäche nicht nachgeben. Leider wäre dies wohl der einzige Weg gewesen, einem Zusammentreffen mit Gordon auszuweichen.

“Gehen wir zu ihnen, Lydia.” Glenn schob sie vorwärts. “Ich will die Camerons treffen, bevor sie von der Menge verschluckt werden.”

Eloise Haraway verzog den Mund. “Unterhaltet euch allein mit diesen Leuten. Ich muss in die Bibliothek. Meine Lesung ist um halb drei.”

“Wir treffen dich später, Mutter.”

“Viel Glück mit dieser alten Cameron-Frau”, meinte Eloise spöttisch. “Sie ist so ungebildet. Sie versteht einfach nicht, was ein neues Einkaufszentrum für Riverton bedeuten würde.”

Lydia musste sich auf die Zunge beißen, damit sie Ruth Cameron nicht verteidigte. Aber Eloise würde sie nie verstehen und vermutlich ihre Beweggründe hinterfragen. Wie konnte sie jemandem mit Eloises gesellschaftlichem Hintergrund erklären, dass die Welt mit mehr hart arbeitenden, bodenständigen Leuten wie Gordons Mutter weit besser dran wäre?

Glenn und Lydia gingen weiter. Sie versuchte, Gordon zu ignorieren, doch ihre Augen gehorchten nicht. Er trug die üblichen verwaschenen Jeans, verschrammte Stiefel und ein Baumwollhemd. Nur der Stetson fehlte. Sein schwarzes Haar glänzte wie Ebenholz.

Niemand, der diesen Mann ansah, würde daran zweifeln, dass er einen großen Teil seiner Zeit im Freien verbrachte. Seine Haut war braungebrannt, feine Linien umgaben Mund und Augen. Diese wunderschönen braunen Augen …

“Guten Tag, Mrs Cameron.” Mit gewinnendem Politikerlächeln streckte Glenn die Hand aus.

Ruth sah auf die Hand des Bürgermeisters, dann in sein Gesicht. “Es war einer.”

“Haraway, wenn Sie Ma zum Verkauf ihres Besitzes an der Cotton Row drängen wollen, dann können Sie wieder gehen.” Drohend baute Ben sich vor Glenn auf, den er um gut zwanzig Zentimeter überragte.

Ruth ergriff Bens Hand. “Geh mit Tanya ins 'Palace', Junge. Ich kann für mich selber sprechen.”

Lydia beobachtete Bens Reaktion. Sie hatte Wut und Verärgerung erwartet, doch er überraschte sie. Schmunzelnd legte Ben den Arm um seine zierliche blonde Frau und eilte in Richtung Eiscafé.

“Mrs Cameron, geben Sie mir doch die Gelegenheit, Ihnen all die Vorteile aufzuzählen, die mit dem Verkauf Ihres Besitzes an der Cotton Row verbunden sind. Nicht nur für Riverton, sondern auch für Ihre Familie. Sicher werden Sie mir dann zustimmen und die Angelegenheit ebenso beurteilen wie der Stadtrat.”

“Ich habe Ihnen mehr als einmal erklärt, dass ich nicht verkaufen möchte.” Die Arme vor der Brust gekreuzt, lehnte Ruth sich zurück und musterte Glenn misstrauisch.

“Was kann ich sagen oder tun, damit Sie Vernunft annehmen?” Seine Stimme enthielt einen scharfen Unterton.

“Gar nichts, zum Kuckuck noch mal.” Ungerührt drehte Ruth sich um und ließ Glenn, der ihr mit offenem Mund und großen Augen nachstarrte, einfach stehen.

Als Lydia daran dachte, wie ungewohnt es für Glenn sein musste, eine Frau fluchen zu hören, konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. Damen wie Eloise Haraway und ihre Bekannten waren für solch eine Sprache viel zu kultiviert.

Gordon bemerkte Lydias zuckende Lippen. Scheinbar fand sie die Antwort seiner Mutter eher lustig als beleidigend. Er wusste nicht genau, warum, aber diese Entdeckung gefiel ihm und gab ihm einen neuen Einblick in ihre Persönlichkeit.

“Mrs Reid?” Molly zupfte an Lydias Hand und wurde mit einem Lächeln belohnt.

“Hallo, Molly, wie geht es dir?” Obwohl Gordons Tochter entzückend aussah, konnte sie in ihren abgeschnittenen Jeans, dem bedruckten T-Shirt und den abgetragenen Turnschuhen, die sie ohne Socken trug, immer noch leicht für einen hübschen kleinen Jungen gehalten werden.

Wäre sie meine Tochter … schoss es Lydia durch den Kopf. Schnell bremste sie sich. Solche Gedanken konnten sich als gefährlich erweisen.

“Mir ist warm, so geht es mir”, antwortete Molly, dann bedeutete sie Lydia mit dem Zeigefinger und einem flehenden Blick, sich zu ihr hinunterzubeugen.

“Was ist los?”

“Ich glaube, Grandma mag Ihren Freund nicht.”

Lächelnd flüsterte Lydia zurück: “Ich glaube, da hast du recht.”

“Molly, es ist nicht sehr höflich zu flüstern”, mahnte Gordon.

“Es ist genauso unhöflich, anderer Leute Gefühle zu verletzen”, gab das Kind zurück.

Glenn zog an Lydias Arm. “Da ist Senator Biddle. Ich muss ihn abfangen, bevor er geht.”

“Sicher.” Lydia befreite sich aus Glenns Umklammerung. “Geh schon vor. Ich treffe dich und Eloise später.”

“Lydia, ich glaube wirklich nicht …”

“Sie sagte, sie trifft Sie später”, unterbrach ihn Gordon.

“Also wirklich, Cameron …”

“Die Leute beobachten uns.” Lydia wusste, dieser Satz würde Glenns Protest verstummen lassen.

“Bleib nicht zu lange, Liebes.” Glenn lief praktisch, um sich mit dem Senator von Mississippi zu treffen, der die Stadt anlässlich des Gründungsfestes besuchte.

Zwar versuchte Lydia, ihre Aufmerksamkeit ganz auf Molly zu konzentrieren, doch immer wieder fiel ihr Blick auf Gordon. In seinen Augen lag ein spöttisches Funkeln.

“Bärchen hat ihre Jungen bekommen. Sieben Stück. Wollen Sie eins, Mrs Reid?”

“Molly, ich weiß nicht recht.” Obwohl sie Tiere liebte, hatte Lydia nie einen Hund besessen. Ihre Mutter mochte keine Tiere, und als Lydia später allein lebte, wollte sie in ihrem Apartment in Birmingham keinen Hund halten. Selbstverständlich hatte Tyler die Einstellung ihrer Mutter zu Haustieren geteilt.

“Molly versucht, für alle Welpen von Bärchen ein gutes Zuhause zu finden. Wir haben immer noch drei übrig.” Gordon zerzauste seiner Tochter die Locken.

Lydia beneidete die beiden um ihre sichtlich enge und liebevolle Beziehung. Früher, vor vielen Jahren, hatte sie ihrem Vater genauso nahegestanden. Sein plötzlicher Tod durch einen Herzinfarkt – sie war damals zwölf – war die erste Tragödie in Lydias Leben gewesen.

“Ich glaube, ich würde gern eins von Bärchens Jungen nehmen. Hast du noch einen Rüden übrig?” Lydia war froh, dass sie Gordon nicht allein gegenübertreten musste, sondern seine kleine Tochter als Puffer zwischen ihnen und der unvermeidlichen prickelnden Spannung stand.

“O Daddy, geben wir ihr den prächtigen, aber schmächtigen kleinen Löwen.” Kichernd hüpfte Molly auf und ab.

“Er ist nicht wirklich mager, aber er sieht tatsächlich wie ein kleiner Löwe aus. Das mit dem 'prächtigen, schmächtigen' stammt aus einem von Mollys Kinderbüchern”, erklärte Gordon. “Fühlen Sie sich nicht verpflichtet, einen der Welpen zu nehmen, wenn Sie es nicht wirklich wollen.”

Lydia sah ihn an. Eine Woge der Zärtlichkeit überschwemmte sie. Gordon war ein vielschichtiger Mensch. Ein hart arbeitender Farmer. Ein zuverlässiger Sohn. Ein liebevoller Vater. Ein unglaublich erotischer Mann. Hätte sie ihn doch nur vor Jahren kennengelernt, vor Tyler. Oder vielleicht auch irgendwann in der Zukunft, wenn sie nicht vierundzwanzig Stunden am Tag von der ganzen Stadt beobachtet wurde …

“Wenn der Kleine alt genug ist, um ihn von Bärchen zu trennen, schicke ich jemanden zur Farm.” Lydia selbst würde keine weitere Fahrt zur Cameron-Farm durchstehen. Das eine Mal, das sie dort gewesen war, reichte, um sie für immer fernzuhalten.

“O nein, wir bringen ihn bei Ihnen vorbei”, widersprach Molly. “Nicht wahr, Daddy?”

“Wenn es Mrs Reid recht ist.”

Ohne Mollys Gefühle zu verletzen, kam Lydia aus dieser Situation nicht heraus. Außerdem, was sollte schon passieren, wenn Gordon sie mit seiner Tochter besuchte?

“Ich freue mich darauf. Und ich möchte auf jeden Fall das prächtige, schmächtige Löwenjunge.” Lydia spürte Gordons prüfenden Blick. “Ich fürchte, ich muss jetzt gehen. Wir werden im Country Club auf einen Drink erwartet.”

Gordon stand auf dem Gehsteig, mitten im Stadtzentrum und beobachtete, wie Lydia davonging. Einige Minuten lang war sie wie jede andere Frau gewesen – nett, freundlich, zugänglich. Es hatte ihm Spaß gemacht zu beobachten, wie gut sie sich mit Molly verstand, und er hatte ein Gefühl der Erleichterung verspürt, weil sie trotz ihrer letzten leidenschaftlichen Begegnung natürlich miteinander umgingen. Aber ihre Bemerkung zum Abschied brachte ihn abrupt in die Wirklichkeit zurück.

Er würde seiner Tochter gleich einen Hotdog kaufen. Lydia dagegen war auf dem Weg zum Country Club.

Mehr als vier Monate waren seit Tylers Tod vergangen, aber erst heute hatte Lydia sich dazu durchgerungen, seine persönlichen Sachen durchzusehen, Dinge wegzupacken, deren Anblick sie nicht länger ertragen konnte, und seine Kleidung in Tüten der Altkleidersammlung zu verstauen.

Langsam ließ sich ihre Ehe, die zum Schluss nur noch auf dem Papier bestanden hatte, in die richtige Perspektive rücken. Nicht alles war Tylers Schuld gewesen. Hätte sie es nicht darauf angelegt, ein Ebenbild ihrer Mutter zu werden, wäre ihr schon vor langer Zeit die Erkenntnis gekommen, dass Tyler sie ausgenutzt hatte. Aber sie hatte es zugelassen.

Bevor sie die gläserne Schiebetür öffnete und auf die Terrasse hinaustrat, sah Lydia sich um, ob Glenn und Eloise irgendwo in Sichtweite waren.

Der kühle Abendwind strich ihr übers Gesicht, und sie atmete den berauschenden Duft ihres Rosengartens ein, der in voller Blüte stand. Es war fast acht Uhr, aber wegen der Sommerzeit würde es erst in gut einer Stunde dunkel werden.

Zum fünften Mal in den letzten fünf Minuten schaute Lydia auf ihre Uhr. Jeden Augenblick mussten sie kommen. Vor einer halben Stunde hatte Molly angerufen und sich erkundigt, ob es ihr passen würde, wenn sie ihr an diesem Abend den “prächtigen, schmächtigen” kleinen Löwen brachten.

Immer wieder sagte sich Lydia, es sei lächerlich, so nervös zu sein. Was sollte auch schon in Mollys Anwesenheit geschehen? Gordon würde kaum etwas sagen oder tun, was auch nur annähernd anzüglich wäre. Trotz dieser Tatsache überschlug sich Lydias Vorstellungskraft. Es war erstaunlich, wie viele leidenschaftliche, erotische Szenen einer Frau in dreißig Minuten durch den Kopf schießen konnten …

Das Geräusch eines Wagens riss Lydia aus ihren Gedanken. Sie hörte das Zuschlagen einer Tür, dann Mollys helles Lachen. Langsam ging Lydia zum Zaun, öffnete das Tor und ließ Gordon und seine Tochter in den Garten eintreten.

Besaß dieser Mann eigentlich irgendwelche anderen Kleidungsstücke außer Jeans und Baumwollhemden? Bei seinem Anblick flatterten Schmetterlinge in Lydias Bauch. Ihr Herz raste. Jedes Mal wenn sie ihn sah, wollte sie sich in seine Arme werfen und ihn bitten, sie für immer festzuhalten.

“Wir bringen Leo.” Molly langte nach oben, um ihrem Vater den zotteligen goldweiß gefleckten Welpen abzunehmen. “Wenn Ihnen der Name nicht gefällt, können Sie ihn ändern, aber er hört bereits darauf.”

Lydia betrachtete das flauschige Tier, das in Mollys kleinen Armen herumwühlte. “Leo, der Löwe. Er passt zu ihm, bei dieser goldenen Haarmähne.”

“Werden Sie ihn hier draußen halten?” Das Mädchen blickte sich in dem großen eingezäunten Garten um. “Grandma erlaubt nicht, dass Bärchen und Rawhide ins Haus kommen. Sie sagt, Tiere gehören ins Freie.”

“Nun, da ist was dran”, stimmte Lydia zu. “Aber ich denke, Leo wird es drinnen genauso gut gefallen wie draußen.” Und er wird mir ein guter Gesellschafter sein, dachte sie. Ein liebevoller, treuer Begleiter. Jemand, der in all seinen Bedürfnissen auf mich angewiesen ist. Jemand, der mich liebt …

“Tja, Molly, wir haben Leo abgeliefert, und sicher hat Mrs Reid noch mehr zu tun …”

“Müssen wir schon fahren?” Molly runzelte die Stirn und zog ihre hübsche kleine Nase kraus.

“Nein, natürlich müsst ihr das nicht”, hörte Lydia sich zu ihrer eigenen Überraschung antworten. Wie konnte sie nur so dumm sein und darauf bestehen, dass Gordon eine Minute länger als nötig blieb?

“Siehst du, Daddy, Mrs Reid will, dass wir bleiben.”

“Molly, wenn dein Vater einverstanden ist, dann darfst du mich Lydia nennen. Schließlich sind wir Freunde, und Freunde sollten Förmlichkeiten beiseitelassen, findest du nicht auch?”

“Was soll das heißen, 'Förmlichkeiten beiseitelassen'?” Die Kleine blinzelte, als würde sie über eine komplizierte Mathematikaufgabe nachdenken.

“Wir werden einfach Lydia und Molly sagen, statt uns mit Mrs Reid und Miss Cameron anzureden.”

“Bin ich Miss Cameron?”

“Genau.” Gordon lächelte Lydia über den Kopf seiner Tochter hinweg an. Verflixt, sie kam gut mit Molly zurecht. Sie war herzlich, freundlich, verständnisvoll – wie eine Mutter.

“Darf ich mir Ihr Haus ansehen?”

“Molly Sue Cameron!”

“Kommt herein.” Lydia lachte über Gordons empörten Ausruf ebenso wie über Mollys Dreistigkeit. “Wir machen einen großen Rundgang. Und bring Leo mit. Er wird vielleicht auch gern seine neue Umgebung beschnuppern.”

In der nächsten Stunde bot Lydia den Camerons eine vollständige Führung durchs Haus. Der einzige unbehagliche Augenblick kam, als Lydia sich allein mit Gordon in ihrem Schlafzimmer wiederfand. Molly und Leo waren im Badezimmer verschwunden. Schweigend stand jeder auf einer Seite ihres Himmelbetts. Die Minuten schienen wie Stunden, während sie auf Mollys Rückkehr warteten.

Vor ihrem geistigen Auge erschienen so deutliche Bilder, dass Lydia errötete. Fast konnte sie Gordons Umarmung spüren, seine Lippen auf ihren, den großen, kräftigen Körper, der sich über sie beugte. Glücklicherweise gesellte sich gerade noch rechtzeitig Molly zu ihnen.

Bald darauf drängte Gordon zum Aufbruch.

Nach der Abfahrt ihrer Besucher fühlte Lydia sich einsamer als seit Monaten. Tief in ihrem Inneren wünschte sie, Gordon und Molly wären geblieben. Wenn sie ein Teil ihres Lebens wären, könnten sie die Leere in ihrem Herzen füllen. Aber das war unmöglich, und es war müßig, von etwas zu träumen, das nie geschehen konnte.

Zu ihren Füßen winselte Leo. Sie kniete sich nieder, hob ihn hoch und wollte gerade ins Haus zurück, da wurde das Tor geöffnet, und Eloise Haraway betrat den Garten.

“War das Macies Ehemann? Was in aller Welt wollte er von dir? Ich muss sagen, ich halte es für schrecklich gefühllos von diesem Cameron, dich zu besuchen, aus welchem Grund auch immer. Er muss doch wissen, dass sein Anblick dich nur an Tylers … nun ja, an Tylers kleinen Fehltritt erinnert.”

“Die Hündin seiner Tochter hat geworfen, und sie haben mir einen Welpen vorbeigebracht.” Lydia streichelte Leo, der sich in ihre Arme gekuschelt hatte.

“Das sehe ich. Aber weshalb?”

“Weil ich sie um einen gebeten habe, als Glenn und ich mit ihnen am Gründertag sprachen.”

“O meine Liebe, warum hast du nicht darauf bestanden, dass Glenn herüberkommt, solange sie da waren? Jetzt gibt es wieder Anlass für Gerede.”

“Hältst du ein sechsjähriges Mädchen nicht für eine passende Anstandsdame?”

“Nun ja, vermutlich schon.” Eloise kam an Lydias Seite und flüsterte: “Du hast doch nicht die Absicht, ihn wiederzusehen, oder?”

Lydia unterdrückte ein Lächeln. Im Grunde ging es Eloise nichts an, ob sie Gordon je wiedersehen würde. Aber das konnte sie ihr natürlich nicht sagen. Schließlich war sie eine Lady, die ihren Ruf bewahren musste. “Nein, Eloise, ich beabsichtige nicht, Mr Cameron noch einmal wiederzusehen.”

“Gut so.” Lächelnd klopfte Eloise Lydia auf den Rücken und folgte ihr ins Haus.

Um elf Uhr hatte Lydia geduscht, einen königsblauen Hausanzug übergezogen und machte es sich gerade auf der Couch bequem. Im Fernsehen lief ein Western mit Clint Eastwood. Plötzlich hörte sie, wie ein Wagen in ihre Einfahrt bog. Gordon? war ihr erster Gedanke. Tief in ihrem Inneren hatte sie sich gewünscht, er würde zurückkehren.

Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Dann ging sie zur Glastür, schaltete das Hoflicht an und trat auf die Terrasse hinaus. In derselben Kleidung wie vorhin stand Gordon am offenen Tor.

Leo wedelte freudig mit seinem kleinen Schwanz zur Begrüßung und steuerte zielstrebig auf den großen dunkelhaarigen Mann zu.

“Mr Cameron?” Lydia wollte ihn fragen, weshalb er hier war, obwohl es eigentlich gleichgültig war.

“Hoffentlich stört es Sie nicht, dass ich …” Er sah auf seine Füße – große Füße, die in Cowboystiefeln steckten. “Ich glaube, wir sollten uns unterhalten.”

“Wollen Sie nicht hereinkommen?” Während sie über den Zaun spähte, fiel ihr Blick erst auf einen schlammbespritzten blauen Laster, der in ihrer Auffahrt parkte, dann erhaschte sie eine winzige Bewegung hinter Eloise Haraways Küchenfenster.

Gordon folgte ihr in das gemütliche Wohnzimmer. Ein Polstersofa im Kolonialstil mit passendem Sessel beherrschte den kleinen Raum. Weiße Rüschengardinen schmückten die Fenster, farbenfrohe gerahmte Kunstdrucke hingen an den Wänden.

“Vermutlich sollte ich nicht hier sein”, fing er an, “aber ich muss immer an Sie denken.”

“Ich bin froh, dass Sie zurückgekommen sind. Bitte setzen Sie sich.” Sie nahm auf einem in der Nähe stehenden Schaukelstuhl Platz.

“Danke.” Gordon setzte sich auf das weiche Sofa und stützte die Hände auf seine muskulösen Beine. “Meinen Sie nicht, Sie könnten mich unter diesen Umständen Gordon nennen?”

“Gordon.” Anscheinend ist er genauso nervös wie ich, stellte Lydia fest. Aber vielleicht fühlt er sich auch nur etwas unbehaglich. Wieder einmal musste sie feststellen, was für ein attraktiver Mann Gordon war. Groß, dunkel und muskulös, aber schlank, strahlte er jene ursprüngliche Sinnlichkeit aus, der jede Frau unweigerlich verfällt.

Das Schweigen zog sich in die Länge. Keiner von ihnen brachte es über sich, den anderen anzusehen. Schließlich fragte Lydia: “Möchtest du etwas trinken? Sicher ist noch Kaffee übrig, oder hättest du lieber etwas anderes?”

“Nichts, danke.” Er war ein ausgemachter Dummkopf! Was wollte er überhaupt hier? Nachdem er mit Molly auf die Farm zurückgekehrt war, hatte er ständig an Lydia denken müssen. Stundenlang rang er mit sich, bevor er schließlich den Kampf verlor. Auf dem Weg zu ihr bereitete er im Geist seine Rede vor. Er würde ihr Freundschaft anbieten – nur Freundschaft, nichts weiter … Lydia würde entsetzt sein, wenn er ihr geradeheraus sagte, was er wirklich wollte. Obwohl sie mit Sicherheit seine wahren Motive durchschaute.

“Die ganze Stadt redet, weißt du?” Lydia stand auf und ging zum Fenster, das auf das benachbarte Haus der Haraways blickte. “Genau in diesem Moment beobachtet uns Eloise Haraway, in der Hoffnung, irgendetwas zu erfahren. Egal, ob sie etwas sieht oder nicht, morgen hängt sie in aller Frühe am Telefon und erzählt jedem, der es hören will, dass kurz vor Mitternacht ein Wagen in meiner Einfahrt geparkt und der gutaussehende Mr Cameron mir einen Besuch abgestattet hat.”

“Du hältst mich für gutaussehend?”

“Gordon …”

“Ich denke, du bist so ziemlich das Schönste, was ich je gesehen habe.”

“Bitte keine Schmeicheleien.”

Er rückte näher zu ihr. “Du sorgst dich um deinen Ruf.”

“Mein Mann ist gerade vier Monate tot. Es schickt sich einfach nicht, wenn ich mitten in der Nacht Männer in meinem Haus empfange.” Lydia rang nervös die Hände.

“Ich möchte, dass wir Freunde werden.” Gordon stand abrupt auf.

“Freunde?”

“Ich denke, wir könnten einander helfen. In gewisser Weise sitzen wir im selben Boot. Du hast deinen Mann und ich habe meine Frau verloren.”

“Zwischen uns ist mehr als das, Gordon.” Lydia wusste, sie mussten sich ihren schlimmsten Befürchtungen stellen, bevor sie eine Chance hatten, eine Freundschaft aufzubauen. “Wir … wir sind körperlich voneinander angezogen.” Als er eine heftige Verwünschung ausstieß, setzte sie hinzu: “Für eine Beziehung bin ich noch nicht bereit. Es ist August. Tyler starb im April. Es wäre unpassend …”

“Du glaubst, du musst dem Andenken eines Mannes die Treue halten, der nicht einmal die Bedeutung dieses Wortes kannte?” Ungehalten fuhr Gordon sich mit den Fingern durchs Haar und brachte die widerspenstigen Locken noch mehr durcheinander.

Lydia legte ihm die Hand auf den Arm. “Ich muss meinen eigenen Prinzipien treu bleiben.”

Mit einem Ruck drehte er sich um und sah sie an. “Könnten wir es nicht wenigstens versuchen?”

“Selbst wenn wir beide uns unter den unverfänglichsten Umständen treffen, werden wir jede Menge Klatsch hervorrufen.”

“Darf ich dich dann nächsten Samstag mit Molly besuchen?”

“Ich … ja, das würde mich sehr freuen.”

“Jetzt sollte ich wohl besser gehen.” Gordon drehte sich um. Er wollte sie nicht verlassen! Am liebsten hätte er sie auf die Couch gezogen und sie stundenlang geliebt.

Lydia folgte ihm zur Tür. “Danke, dass du gekommen bist und mir deine Freundschaft angeboten hast, Gordon.”

“Vielleicht funktioniert es nicht.”

“Aber wir werden es versuchen, nicht wahr?”

Er liebte den Klang seines Namens auf ihren Lippen, die sanfte, atemlose Art, in der sie ihn aussprach. Wie würde es erst sein, wenn sie seinen Namen im Bett hauchte, atemlos vor Sehnsucht und Verlangen …

Rasch neigte Gordon den Kopf und küsste sie auf die Wange. Ahnte Lydia überhaupt, was sie ihm mit ihrer betörenden Nähe antat? Sein ganzer Körper verkrampfte sich, seine Erregung zeichnete sich in den engen Jeans ab. Schnell trat er auf die Terrasse hinaus. “Hör mal, wenn du etwas brauchen solltest …”

“Danke, Gordon.”

“Pass auf dich auf, ja?”

Von der Terrasse aus beobachtete Lydia, wie er in den Wagen stieg und zum zweiten Mal heute Abend aus der Einfahrt fuhr. Gerade als sie wieder ins Haus zurückkehren wollte, bemerkte sie Eloise, die im Morgenrock und mit rosa Lockenwicklern im Haar auf ihrer Hintertreppe stand.

Erwischt! Spätestens morgen war Gordon Camerons Aufenthalt bei der Witwe Reid das Stadtgespräch …

4. KAPITEL

Gordon steckte das letzte Stück Brötchen in den Mund und spülte es mit schwarzem Kaffee hinunter. Sonntag war der einzige Tag, an dem er sich den Luxus eines gemütlichen Frühstücks gönnte.

Die Stiefel unter dem alten Küchentisch gekreuzt, lehnte er sich auf dem Stuhl zurück und nahm den “Riverton Chronicle” zur Hand. Glenn Haraway und Lydia Reid blickten ihm vom Titelblatt entgegen. Sogar wenn Lydia das lange Haar in einem strengen Knoten zusammenfasste und ein dunkles Kostüm trug, war sie schön. Allein der Gedanke an sie beschwor Bilder von warmen Lippen und seidiger Haut herauf. Irgendwie war Tyler Reids Witwe für ihn zur Besessenheit geworden, ein Fieber, gegen das es nur ein einziges Heilmittel gab.

Seine Freundschaft mit Lydia erwies sich als die schwierigste Erfahrung seines Lebens, denn er wollte mehr – viel mehr.

“Molly fährt heute mit Tanya zur Kirche”, verkündete Ruth, als sie in die Küche trat.

Gordon schaute auf. “Gehst du nicht?” Seine Mutter war frühzeitig gealtert. Ihr Leben war nicht einfach gewesen, und es zeigte sich an ihrem faltigen Gesicht und den gebeugten Schultern. Mit zweiundfünfzig Jahren konnte man sie leicht für eine Frau Ende Sechzig halten. Ihr graues Haar war jungenhaft kurz geschnitten, und nie hatte Gordon sie mit mehr Make-up als einem Hauch Lippenstift gesehen. Sie war knapp einen Meter sechsundfünfzig groß, doch trotz ihrer zehn Kilo Übergewicht konnte sie die meisten jüngeren, schlankeren Frauen in die Tasche stecken, was Mut und Unternehmungslust betraf. Ruth war eine Frau vom Land, geboren und aufgewachsen auf einer Farm in Mississippi, und wenn man ihr die Wahl ließ, würde sie sicher bei ihrer Arbeit im Gemüsegarten sterben.

“Die Arthritis in meinem Fuß macht mir zu schaffen.” Ruth ließ Wasser in die Spüle laufen.

“Was ist mit Ben?”

“Du weißt doch, dass er den neuen Priester nicht mag. Er sagt, er geht nicht hin, solange Reverend Charles da ist.”

“Ist er eifersüchtig?” Gordon hatte gehofft, die Ehe seines Bruders würde besser laufen als seine eigene. Aber da sie beide aus den falschen Gründen geheiratet hatten, bestanden für Bens Ehe kaum bessere Aussichten auf Erfolg. “Anscheinend ist Tanya ziemlich beeindruckt von Reverend Charles. Wie ich gehört habe, sieht er sehr gut aus und ist weder verlobt noch verheiratet.”

“Red nicht so einen Unsinn.” Tiefe Falten erschienen auf Ruths runzliger Stirn. “Außerdem geht mich die Ehe deines Bruders nichts an.”

“Genauso wenig wie mein Liebesleben.”

Ungerührt spritzte Ruth Spülmittel ins Wasser, band sich eine Schürze um die mollige Taille und erklärte: “Ich bin nicht neugierig, mein Sohn. Was ich dir gesagt habe, geschah aus Sorge um dich und Mrs Reid. Wie werdet ihr beide mit der Situation fertig werden, wenn sie außer Kontrolle gerät, kannst du mir das mal sagen?”

“Da gibt es nichts zu sagen, Ma.”

“Du hast mir kein einziges Wort darüber verraten, was zwischen euch vorgeht.”

“Was willst du hören?”

“Ich kümmere mich lieber um meine eigenen Angelegenheiten, aber … nun, ich möchte nicht, dass du noch einmal verletzt wirst, mein Junge.” Ruth spülte einen schmutzigen Teller ab. “Und was Lydia Reid angeht, so finde ich, dass sie mehr Kummer durchgemacht hat, als sie ertragen kann. Du willst ihr doch nicht noch mehr Leid zufügen, oder?”

“Wovon sprichst du überhaupt?”

“Normalerweise interessiert mich der Klatsch nicht. Das wäre reine Zeitverschwendung. Aber wenn mein ältester Sohn derjenige ist, über den die Leute reden, dann höre ich schon mal hin.”

Gordon ging zur Kaffeemaschine und goss sich noch eine Tasse Kaffee ein. “Sprich weiter. Was wird geredet?”

“Es heißt, du wärst hinter Tyler Reids Witwe her.”

“Ich bin ein paarmal dort gewesen, um nach ihr zu sehen. Sonst steckt nichts dahinter.” Beschwichtigend legte er seiner Mutter die Hand auf die Schulter. “Ich habe nicht die Absicht, mich mit Lydia Reid oder sonst einer Frau einzulassen. Für den Rest meines Lebens bleibe ich Single.”

“Wie man hört, sind ihre wohlhabenden Freunde nicht gerade begeistert über eure Beziehung.”

“Wir haben keine Beziehung!”

“Kein Grund, derart laut zu werden, mein Sohn. Ich mache dir keinen Vorwurf. Schließlich bist du ein erwachsener Mann.” Sie stellte das Geschirr ins Abtropfgestell.

“Gerade jetzt braucht sie einen guten Freund. Jemand, mit dem sie reden kann. Und ich brauche auch jemanden.”

“Du brauchst schon seit langer Zeit jemanden. Genau das macht mir Sorgen.” Ruth trocknete die Hände an der Schürze ab und legte ihrem Sohn den Arm um die Hüfte.

“Wird das jetzt endlich das berüchtigte Aufklärungsgespräch, das Eltern mit ihren Kindern führen sollten?”, fragte er lächelnd.

“Ich spreche nicht von einem Techtelmechtel auf dem Heuboden, ich rede von Liebe.”

Lachend umarmte Gordon seine Mutter noch einmal fest, bevor er seine Kaffeetasse nahm und sich wieder an den Tisch setzte. “Mach dir darüber keine Gedanken. Ich bin immun gegen die Liebe. Von diesem Irrglauben hat Macie mich gründlich kuriert.”

“Merk dir meine Worte, mein Junge. Du hast gerade mal so viel Kontrolle über die Liebe wie über das Wetter. Sieh dich also vor, oder du findest dich mitten in einem Tornado wieder.”

“Wir bekommen einen Tornado?” Molly kam in die Küche gestürmt. Kurze schwarze Locken umrahmten ihr Engelsgesicht, und tiefe Grübchen erschienen auf ihren Wangen, als sie ihren Vater anlächelte.

“Die einzigen Tornados hier befinden sich im Kopf deiner Großmutter”, beruhigte Gordon seine Tochter und hob sie auf seinen Schoß. “Du siehst heute wirklich hübsch aus. Ist das Kleid neu?”

“Grandma hat es für mich genäht.” Molly zog den Saum des schlichten rosa Kleides hoch.

Vor dem Haus ertönte eine Autohupe. Sofort sprang sie vom Schoß ihres Vaters und stürzte zur Hintertür. “Bis nach dem Gottesdienst.”

“Sie ist ziemlich aufgeregt wegen der Kirche heute.”

“Für die Anwesenheit werden jetzt goldene Sternchen verteilt.” Mit einer Tasse Kaffee nahm Ruth neben ihrem Sohn Platz.

“Sie scheint gut ohne Macie zurechtzukommen, findest du nicht?”

“Sie kam auch gut ohne Macie zurecht, als sie noch lebte. Du weißt genauso gut wie ich, dass ich das Kind aufgezogen habe. Aber sie braucht eine Mutter. Eine, die viel jünger ist als ich und ihr beibringen kann, was Mädchen heutzutage wissen müssen.”

“Du hast wohl gewisse Vorstellungen?”

“Hier auf dem Land gibt es einige nette Mädchen, die stolz wären, dich zu heiraten. Und genau das brauchst du: eine Frau, die hier draußen aufgewachsen ist und das Farmleben kennt.”

“Falls du dich fragst, ob ich irgendwelche Pläne in Bezug auf Lydia Reid habe, kann ich dich beruhigen. Eine Lady wie sie würde einen Farmer wie mich gar nicht erst nehmen.”

“Bitte dank deiner Mutter noch einmal für das hervorragende Essen”, sagte Lydia. Glenn stand unmittelbar hinter ihr, während sie den Schlüssel ins Schloss ihrer Haustür steckte. “Und vielen Dank für die Spazierfahrt heute Nachmittag. Das Herbstlaub ist eine wahre Pracht.”

“Es war mir ein Vergnügen, das versichere ich dir.” Glenn folgte ihr in die Diele.

“Klingt es furchtbar unhöflich, wenn ich dich nicht mehr hereinbitte?”

Glenn führte ihre Hand an seine Lippen. “Fühlst du dich nicht wohl?”

“Ich bin nur etwas müde.” Langsam zog Lydia ihre Hand zurück. “Tylers Angelegenheiten zu regeln war nicht leicht für mich.”

“Das verstehe ich. Jeder tut es.” Glenn straffte die Schultern und sah Lydia direkt an. “Die Menschen in Riverton haben eine sehr hohe Meinung von dir.”

“Willst du auf etwas Bestimmtes hinaus?”

“Liebes, ich hasse es, das Thema noch einmal zur Sprache zu bringen, aber es geht um Gordon Cameron.”

Seufzend schloss Lydia die Augen. “Gordon Cameron ist ein netter Mann, der mich einige Male besucht hat. Ich habe seine Tochter sehr lieb gewonnen.”

“Er weiß, dass du Freunde hast, die sich um dich kümmern.”

“Aber keiner dieser Freunde versteht so gut wie Gor… Mr Cameron, was ich durchmache.”

“Lydia, die Leute reden”, beharrte Glenn.

“Das habt ihr zwei, Eloise und du, mir bereits gesagt.”

“Meine Liebe, es wäre dumm, für so einen Mann deinen guten Ruf aufs Spiel zu setzen.”

“Was glauben die Leute eigentlich, mache ich mit Mr Cameron?”

Glenn senkte verlegen den Blick. “Natürlich glaubt niemand, dass … dass du irgendeine … intime Beziehung mit Cameron hast. Wie dem auch sei, seine regelmäßigen Besuche machen einen schlechten Eindruck. Du solltest ihm wirklich die Situation erklären, bevor er sich noch mehr in dein Leben drängt.”

“Ich danke dir für deine Besorgnis, Glenn.” Lydia begleitete ihren Nachbarn auf die Terrasse. “Ich bin wirklich ziemlich müde. Wenn es dir also nichts ausmacht …”

“Sicher, sicher.” Glenn ging die Treppe hinunter. Auf dem Bürgersteig blieb er stehen und winkte ihr zum Abschied zu. “Vergiss nicht, ich bin nebenan, wenn du mich brauchst.”

Lydia zwang sich zu einem Lächeln, winkte freundlich und schloss langsam die Haustür. Dann kickte sie aufatmend ihre Pumps mit den neun Zentimeter hohen Absätzen von den Füßen.

Wenig später machte Lydia es sich in bequemer beigefarbener Hose und passendem Pullover mit einer Tasse Kaffee auf der Couch gemütlich. Die Spätnachmittagssonne fiel durch die Bäume im Garten und warf die ersten Schatten in das Wohnzimmer.

Nur selten hatte Lydia während ihrer vierjährigen Ehe mit Tyler einen Sonntagnachmittag in Ruhe zu Hause verbracht. Ständig mussten sie wichtige Leute treffen oder Dinnerpartys geben.

In ihrem ersten, romantischen Ehejahr war sie so in ihren gutaussehenden jungen Ehemann verliebt gewesen, dass sie seinen Launen gern nachgab. Sogar nachdem der rosarote Schleier verblasst war und sie akzeptieren musste, dass ihre Liebe nie die große Leidenschaft werden würde, spielte sie die Rolle der perfekten Ehefrau, was Tyler ihr dankte, indem er sich Geliebte nahm. Die ganze Zeit hatte Lydia die Wahrheit vermutet, aber nicht die Kraft besessen, sich damit auseinanderzusetzen. Lieber hielt sie weiterhin die Fassade einer glücklichen Ehe aufrecht.

Den köstlichen süßen Kaffeegeschmack noch auf der Zunge, richtete Lydia ihre Aufmerksamkeit auf den Fernsehschirm, wo einer ihrer Lieblingsfilme lief. John Wayne und Maureen O'Hara füllten den Raum mit ihrer magischen Ausstrahlung. Wie stets bei dieser besonderen Szene aus “Der Sieger” schmolz Lydia dahin. Der Wind strich durch Maureen O'Haras leuchtend rotes Haar, während sie in John Waynes leidenschaftliche Umarmung sank. Einen weltbewegenden Augenblick lang teilte Lydia die Gefühle der Heldin. Mit geschlossenen Augen spürte sie starke Arme, die sie hielten, fordernde Lippen, die sich auf ihre pressten.

Urplötzlich wusste sie, dass Gordon sie lieben würde.

Lydia riss die Augen auf. Ihr Herz raste. Nein! Wie konnte sie an Gordon denken, wenn ihr Mann erst einige Monate tot war? Sie hatte versucht, sich einzureden, dass sie nichts außer Mitgefühl und Verständnis für Gordon empfand. Ihre Bekanntschaft war nur etwas, das sie beide kurze Zeit nötig hatten, bis sie den Schock über den Tod ihrer Ehepartner überwunden hatten.

Aber sie konnte das intensive Verlangen nicht leugnen, das sie jedes Mal empfand, wenn sie an Gordon dachte – und Lydia dachte oft an ihn. Mehr als einmal hatte er sich in ihre Träume geschlichen, und in diesen Träumen erlebte sie all die Leidenschaft, die in ihrer Ehe gefehlt hatte.

Diese Gefühle waren falsch. Trotzdem konnte Lydia sie nicht ändern. Vielleicht hatte Glenn recht. Sie sollte Gordon erklären, wie leicht man die Situation missverstehen konnte. Schließlich musste sie ihren guten Ruf bewahren und er ebenfalls – vor allem wegen seiner Tochter.

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