×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Eis«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Eis« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Eis

Als Buch hier erhältlich:

Nichts ist kälter als der Tod im ewigen Eis

Wildtierbiologin Alex Carternimmt ein Angebot an, in der kanadischen Arktis eine Eisbären-Population zu erforschen. Gemeinsam mitihrem Team spürt sie die Bären auf, folgt ihnen mit dem Helikopter über gefährliches Terrain. Doch es passieren immer bedrohlichere Dinge: Irgendjemand will um jeden Preis Alex' Forschung verhindern. Als ihr Helikopter in der Luft in Flammen aufgeht, findet sie sich plötzlich inmitten von nichts als Eis wieder – und am Horizont nähern sich bewaffnete Unbekannte …


  • Erscheinungstag: 28.06.2022
  • Aus der Serie: Ein Alex Carter Thriller
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749904112

Leseprobe

Zum Buch

Nach der Erforschung einer Vielfraß-Population in den Rocky Mountains zieht es Wildtierbiologin Alex Carter als Nächstes in die kanadische Arktis – dort soll sie Eisbären beobachten und deren Gesundheitszustand festhalten. Die Gegend ist rau, die Menschen wortkarg und distanziert, und Alex kann die verstreut lebenden Tiere nur mühsam aufspüren. Nach kurzer Zeit stellt Alex außerdem fest, dass bei einem mysteriösen Einbruch in das Forschungszentrum einzig und allein ihre Forschungsergebnisse und Proben gestohlen wurden. Und dann kündigt auch noch ihre bisher so zuverlässige Helikopterpilotin. Es wird immer deutlicher, dass irgendjemand gezielt versucht, Alex‘ Studien zu sabotieren. Während des nächsten Fluges mit einem Ersatzpiloten geht jedoch weit draußen im Eis der Helikopter plötzlich in Flammen auf, Alex und ihr Team überleben nur knapp. Im ewigen Eis, ohne Ausrüstung, umgeben von feindlichen Fremden, kriminellen Wilderern und gefährlichen Tieren, beginnt für Alex der Kampf ums nackte Überleben.

Zum Autor

Die Idee für die Reihe um Alex Carter kam Alice Henderson bei ihrem Brotjob, den sie mit großer Leidenschaft ausübt: Sie arbeitet als Rangerin in einem Naturreservat, wo sie abgelegene Kameras überprüft, das Auftreten bestimmter Spezies überwacht und Brutgebiete aufzeichnet. Neben Wölfen, Wildkatzen und gefährdeten Fledermäusen beobachtete sie auch Bären-Populationen.

Für Jason
Wildtierforscher, Aktivist, Freund

Für meinen Dad,
der ein talentierter Schriftsteller
und eine sanfte Seele ist. Er weckte in mir
die Liebe zur Tierwelt.

Und für alle Aktivisten und Organisationen
wie Polar Bears International, die für die Erhaltung
gefährdeter Arten kämpfen.

PROLOG

HUDSON BAY, MANITOBA, KANADA

Während Rex Tildesen erstaunt auf das Sonarbild schaute, ahnte er nicht, welche Gefahr seine Entdeckung barg. Er ließ das Bild auf sich wirken, ballte triumphierend die Faust. Das musste es sein, der Fund des Jahrhunderts. Nein, der letzten beiden Jahrhunderte. Des Jahrtausends. Wann hatte man den Kensington-Runenstein in Minnesota noch gleich gefunden? 1898? Doch auch wenn der Stein in letzter Zeit mehr Aufmerksamkeit erhielt und neuerlich analysiert worden war, galt er weiterhin nicht als echter Beweis für die Anwesenheit der Wikinger in Minnesota. Es sei zu weit westlich, monierten die Skeptiker. Die Wikinger konnten unmöglich so weit gelangt sein.

Aber Rex, ein Meeresarchäologe, glaubte, dass sie sehr wohl so weit gelangt waren und dass sie dafür durch die Hudson Bay gesegelt waren. Er studierte das Sonarbild auf dem Monitor, während das Boot sanft auf dem Wasser schaukelte. Die Form des Wracks entsprach exakt den Abmessungen eines Wikinger-Langschiffs, und in diesem Gebiet gab es keine anderen historischen Schiffswracks. Das musste es sein. Endlich! Ein Beweis für seine Theorie! Er hatte es gewusst!

Aber er musste vorsichtig sein. Als der Farmer Olof Ohman 1898 den Kensington-Runenstein im Wurzelwerk eines uralten Baums gefunden hatte, hatte niemand an die Echtheit der Inschrift geglaubt. Man hatte Ohman beschuldigt, die Runen selbst in den Stein gehauen zu haben – und das, obwohl er fast keine Schulbildung besaß und praktisch Analphabet war. Die Skeptiker hatten Olofs Leben ruiniert, hatten Hohn und Spott über ihn ausgeschüttet. Rex musste aufpassen, dass ihm nicht das Gleiche passierte.

Der Runenstein erzählte die schaurige Geschichte einer Gruppe von dreißig Wikingern auf einer Erkundungsmission im Westen Vinlands. Einige von ihnen verließen eines Tages ihr Lager, um zu fischen, und bei ihrer Rückkehr entdeckten sie, dass ihre Kameraden von Unbekannten niedergemetzelt worden waren, der Boden war blutgetränkt. Sie flohen vom Schauplatz des Grauens und kehrten zu ihrem Schiff zurück, das vierzehn Tagesreisen entfernt war. An der schmalen Kantenseite des Runensteins war das Jahr 1362 eingemeißelt, eine Datierung, die gut zu einer von König Magnus angeordneten Mission im Jahr 1355 passte, bei der die Wikingersiedlungen westlich von Grönland kontaktiert und rechristianisiert werden sollten.

Skeptiker hielten den Stein jedoch für eine Fälschung. Sie verwiesen auf die selten verwendeten Runen und behaupteten, sie seien um die Zeit nicht gebräuchlich gewesen, obwohl inzwischen Dokumente aufgetaucht waren, die das Gegenteil belegten. Auch bestätigten moderne Datierungsmethoden, dass die Granitkristalle in den Runen seit Hunderten von Jahren verwitterten – Ohman konnte sie also nicht selbst in den Stein gehauen haben.

Doch die meisten Wikinger-Forscher hielten bis heute an den alten abschlägigen Ansichten über den Runenstein fest, ignorierten die neuen Erkenntnisse. Im Laufe der Jahre hatte man überall im östlichen Nordamerika Schwerter, Dechsel und Äxte der Wikinger gefunden. Falls Rex beweisen konnte, dass die Nordmänner durch die Hudson Bay gesegelt waren, konnte er dies als Argument dafür anführen, dass sie tatsächlich bis weit westlich von Labrador und Neufundland vorgedrungen waren, bis nach Minnesota.

Rex musste also wahnsinnig vorsichtig sein. Sein Ruf hatte bereits gelitten, weil er so vehement an seine Hudson-Bay-Theorie glaubte. Zunächst aber musste er einen Tauchgang absolvieren, um herauszufinden, ob dort unten irgendwelche Artefakte herumlagen. Gespannt und aufgeregt stieg er in seinen Trockenanzug. Er wusste, dass er nicht allein tauchen sollte, aber seine Partnerin lag an Land mit der Dekompressionskrankheit darnieder; bei ihrem letzten Tauchgang war sie zu schnell aufgestiegen.

Sasha. Er war so aufgeregt, dass er beinahe vergessen hätte, ihr seinen Standort durchzugeben. Ihm war klar, was sie sagen würde. Aber er würde auf keinen Fall warten mit dem Tauchgang. Nicht nachdem er dieser Entdeckung jahrelang hinterhergejagt war.

Er funkte Sasha an und vernahm augenblicklich ihre vertraute Stimme. »Genießt du das Wetter da draußen?«, begrüßte sie ihn.

»Ist fast wie in Malibu.« Er hob den Blick, schaute prüfend zum Himmel und sah eine schwarze Wolkenfront am Horizont. Nahebei glitzerte eine Eisscholle im Sonnenschein, der zwischen den Wolken hindurchbrach. Im Eis zu navigieren war schwierig, um nicht zu sagen anspruchsvoll, weil er sich in einer schmalen Wasserrinne zwischen dem Festland und dem Packeis halten musste. Er hätte noch zwei Monate warten können bis zur Schmelze, aber an Land wäre ihm die Decke auf den Kopf gefallen vor Ungeduld; er musste seine Forschung vorantreiben.

»Wieder irgendwelche Schiffscontainer gefunden?«, fragte Sasha.

Da quer durch die Hudson Bay mehrere Schifffahrtsrouten verliefen, gab es tatsächlich immer wieder versunkenes Frachtgut auf dem Meeresgrund.

»Nein, heute nicht. Aber ich habe etwas anderes entdeckt. Es sieht wie ein Langschiff aus, hat die richtigen Maße. Und es liegt in nur zwölf Metern Tiefe. Ich muss es mir ansehen.«

»Heh«, sagte sie. »Das sollte nur eine Erkundungsfahrt sein. Markier die Position. Aber geh nicht ohne mich runter.«

»Wenn du nicht im Bett liegen würdest, müsste ich es nicht allein machen«, scherzte er. Er wusste, dass es sie wurmte, an Land Däumchen drehen zu müssen. »Ich bin ja nur ein paar Minuten unten. Ich werfe kurz einen Blick drauf.«

»Wenn es das ist, wofür du es hältst, dann kann es auch noch ein paar Tage warten.«

»Vielleicht könnte es das«, sagte Rex, »aber ich kann es nicht. Ich kann nicht warten. Ich melde mich, sobald ich wieder an Bord bin.« Er nannte ihr seine Koordinaten und meldete sich ab, bevor sie weitere Einwände erheben konnte.

Sobald er rückwärts von der Bordwand kippte, spürte er den Druck des arktischen Meerwassers auf dem Trockenanzug. Er tauchte langsam hinab, schaltete die Tauchlampe ein, deren Lichtstrahl durch die trübe Dunkelheit schnitt.

Bald kam das Wrack in Sicht, die eingefallenen, vierundzwanzig Meter langen Überreste eines Langschiffs. Vieles davon war verrottet, aber einige Details konnte er dennoch erkennen, darunter mehrere lange, schlanke, mit Schlick bedeckte Gebilde, die Ruder und Mast gewesen sein mochten. Enttäuschung überkam ihn, als er erkannte, dass die Überreste zu verrottet waren, um direkt feststellen zu können, ob es sich um ein Wikinger-Gefährt handelte.

Drum herum verstreut lagen schlammbedeckte Objekte, die er aufhob und abwischte. Die meisten waren so korrodiert, dass er sie erst würde reinigen müssen, bevor er bestimmen konnte, worum es sich handelte. Er hob ein halbes Dutzend Stücke vom Meeresboden auf und schob sie in seinen Tauchbeutel.

Er checkte die Zeit. Noch zwanzig Minuten, bis er auftauchen musste. Er schwamm um das Boot herum, nahm es fasziniert von allen Seiten in Augenschein. Er würde mit einer Kamera zurückkehren müssen, um herauszufinden, ob es an dem Wrack vielleicht spezifische Wikinger-Merkmale gab.

Während des anschließenden Aufstiegs legte er einen Sicherheitsstopp ein. Er platzte fast vor Ungeduld. Er wollte die Objekte reinigen und sie im Tageslicht betrachten. Prüfen, ob es sich vielleicht um einen Mantelknopf handelte oder um die Klinge einer Queraxt oder um einen Spinnwirtel. Eines der Objekte war lang genug, um Teil eines zerbrochenen Schwerts zu sein.

Helligkeit kroch in seine Welt, als er sich der Oberfläche näherte. Sein Kopf stieß in die Luft, und er zog die Tauchmaske auf die Stirn. Als er die letzten Meter zum Boot schwamm, bemerkte er, dass die schwarze Wolkenfront herangerückt war.

Er hievte sich an Bord und legte behutsam den Tauchbeutel ab.

Während er sich aus dem Trockenanzug schälte, vernahm er plötzlich das Geräusch eines anderen Bootsmotors. Er wandte sich um und erblickte einen ramponierten Fischtrawler, der auf ihn zuraste. Er erstarrte, die obere Hälfte seines Tauchanzugs heruntergeklappt, in der Hand das Handtuch, mit dem er sich eben das Gesicht abgetrocknet hatte.

Einen Moment lang dachte er, der Trawler würde ihn rammen, doch er bremste scharf ab, und das herüberschwappende Kielwasser brachte sein Boot derart ins Schwanken, dass er sich an der Reling abstützen musste.

Der Trawler glitt längsseits heran, und zwei Männer und eine Frau sprangen zu ihm an Bord.

»Was soll das? Was ist hier los?«, echauffierte sich Rex.

»Wir haben Ihren Funkverkehr mitgehört«, sagte einer der Männer, als würde das alles erklären. Er schien das Kommando zu haben. Er hatte einen Schmerbauch, ein wettergegerbtes Gesicht, halblanges schwarzes Haar und einen fusseligen Kinnbart. Eine Narbe verlief über seinen Nasenrücken. Schräg hinter ihm stand ein großer und Furcht einflößender Mann mit kurz geschorenem schwarzen Haar und bedrohlichen braunen Augen, die aus einem scharfsinnigen sienafarbenen Gesicht blickten. Er verschränkte seine muskelbepackten Arme und starrte auf Rex herab. Die Frau war die Furchterregendste von allen. Sie sah aus, als würde sie noch vor dem Frühstück Welpen töten und sich dann auf den Weg machen, um ein Altersheim in die Luft zu sprengen, nur aus Jux und Dollerei. Ihr langes braunes Haar hatte sie im Nacken zusammengebunden, und der tote Blick ihrer stechenden blauen Augen jagte Rex einen Schauer über den Rücken. Ihr starres Gesicht war wie aus Elfenbein gemeißelt.

»Was haben Sie da unten gefunden?«, wollte der Anführer wissen.

»Da unten?«, fragte Rex lahm.

Der Anführer trat vor, und die Frau knackte mit den Fingerknöcheln, streckte sich und ließ dann ihren Kopf im Nacken kreisen, als würde sie sich für einen Käfigkampf bereitmachen.

»Habe ich mich nicht klar ausgedrückt?«

Rex trat einen Schritt zurück. »Ähm …«

»Haben Sie ein Problem damit, eine simple Frage zu beantworten?«, fragte der Mann.

Die anderen blieben stumm. »Nein, ich … äh …«

»Was haben Sie gefunden?«

»Ein Wrack«, sagte Rex. »Nur ein altes Wrack.«

»Was für ein altes Wrack?«

Was waren das für Leute? Archäologie-Piraten? »Ich weiß nicht, wie alt es ist.«

»Sie haben über Funk gesagt, Sie hätten mehrere Wrackfunde gemacht.«

»Ja. Ich bin Meeresarchäologe.«

»Wir suchen nach einem bestimmten Wrack. Haben Sie eine Liste der Wracks, die Sie gefunden haben? Die Positionen?«

In Rex flammte Wut auf, er bekam heiße Ohren. Falls diese Leute wirklich Plünderer oder Piraten waren, würde er ihnen auf keinen Fall die Standorte seiner Funde verraten. Nicht, wenn einer davon ein Wikinger-Wrack war. Dafür hatte er zu lange und zu hart gearbeitet. Er wollte die offizielle Anerkennung seines Fundes durch die akademische Welt, genau wie damals bei Anne und Helge Ingstad in L’Anse aux Meadows.

»Ich wüsste nicht, warum ich Ihnen irgendetwas zeigen sollte. Wer, zum Teufel, sind Sie überhaupt?«, verlangte Rex zu wissen.

Der Anführer zog eine Pistole und drückte die Mündung an Rex’ Stirn. »Ich bin der, dem du dein Herz ausschütten wirst. Und die beiden …«, fügte er hinzu und deutete mit dem Daumen auf seine stummen Komplizen, »sie lieben es, Leute zum Reden zu bringen.«

Die Frau zog eine Eisenzange aus ihrer Lederjacke, und Rex spürte, dass er weiche Knie bekam. Ihm war eiskalt. Er stand hier mit nacktem Oberkörper in der arktischen Kälte. Er musste sich etwas überziehen.

Die Frau mit dem toten Blick trat zu ihm heran, schubste ihn auf eine Sitzbank, beugte sich mit der Eisenzange über ihn. Im nächsten Moment schoss ihm ein weiß glühender Schmerz durch den Kopf. Er versuchte sich zu wehren, sich loszureißen. Dann aber ertrug er die Schmerzen nicht länger. Er versuchte sich verständlich zu machen, doch keine seiner Antworten gefiel ihnen. Das Letzte, was er sah, bevor ihn Dunkelheit umfing, waren seine Blutspritzer auf dem weißen Bootsdeck.

1. KAPITEL

SNOWLINE RESORT WILDTIERRESERVAT, MONTANA

Der Vielfraß war die Felswand hinabgestiegen. Alex Carter stand am Rand des schroffen Hangs und schaute ungläubig auf seine Spuren, die an der nahezu senkrechten Klippe hinabführten, von einem Felsvorsprung zum nächsten. Ihm zu folgen war ein Ding der Unmöglichkeit. Sie zog ihr Fernglas heraus und fokussierte es auf den Fuß des Steilhangs. In der Ferne erkannte sie eine gezackte Linie im Schnee, wo der Vielfraß in den subalpinen Tannenwald verschwunden war.

Nachdem sie die Spuren am Nachmittag entdeckt hatte, war sie ihnen bis hier oben gefolgt, in der Hoffnung, weitere Hinweise auf seine Aktivitäten zu entdecken. Doch er war nur geradewegs die Bergflanke hinauf- und auf der anderen Seite wieder hinuntermarschiert, ohne einen Fressstopp einzulegen. Alex hatte auf ihren Skiern kaum mithalten können, war ihm umständlich gefolgt, erstaunt über die Energie und Vitalität des Tieres.

Für das letzte Stück hatte sie die Skier abgenommen und war zu Fuß weitergegangen. Diese großen Mitglieder der Wiesel-Familie ließen sich durch nichts aufhalten. Sie bewegten sich auf jedem Terrain, als wäre es eben, ganz gleich, wie viele Höhenmeter zwischen den für Vielfraße interessanten Punkten lagen.

Sie stellte sich auf einen vereisten Felsen und blickte durch das Fernglas auf die unter ihr liegende Landschaft, als sie einen dunklen Punkt bemerkte. Er kam zwischen den Tannen hervor und überquerte in gerader Linie ein Schneefeld, ohne stehen zu bleiben, bis er eine weitere dichte Baumgruppe am Fuß eines Hügels erreichte. Dann verlor Alex ihn aus dem Blick.

Als sie sich umwandte, stürzte sie beinahe auf dem glatten Felsen, und ihr Herz hämmerte, als sie das Gleichgewicht wiederfand. Vorsichtig stieg sie hinunter und holte ihre Skier. Nun würde sie sich in umgekehrter Richtung auf den Weg machen und die Spuren des Vielfraßes zurückverfolgen, um herauszufinden, woher er gekommen war.

Auf Skiern fuhr sie talwärts bis zu einer Stelle, wo seine Spuren eine Kurve beschrieben und entlang einer Kammlinie über die Bergwand führten. Ihre Skier glitten durch den pulverigen Schnee, ihr Atem weiß in der eisigen Luft. Während sie mit Armen und Beinen schwungvoll eine steile Böschung erklomm und auf der anderen Seite wieder hinabglitt, bemerkte sie andere Spuren neben denen des Vielfraßes. Erst die zarten, weniger tiefen Pfotenabdrücke eines Hermelins, dann die Abdrücke eines Kojoten.

Sie hatte festgestellt, dass andere Raubtiere Vielfraßen gern folgten, weil sie hofften, deren Nahrungsreste zu finden. Knapp einen Kilometer weiter erreichte Alex den Rand eines Lawinenschachts, einen steilen Abschnitt am Hang, wo die Lawinen im Laufe der Zeit alle Bäume niedergewalzt hatten. Der Vielfraß war einfach durchgelaufen.

Ein Stück entfernt lag ein Schneehaufen, in dem etwas Braunes schimmerte. Prüfend blickte sie den Hang hinauf, hielt Ausschau nach gefährlichen Schneewechten, die herunterkrachen könnten. Sie entdeckte keine und beschloss nachzuschauen, was dort lag. Die Raubtierspuren, denen sie gefolgt war, liefen an dieser Stelle zusammen, dazu gab es noch Grizzly- und Fuchsspuren. Die Abdrücke des Vielfraßes führten kreisförmig um den Schneehaufen herum.

Sie bückte sich und wischte mit ihrem Fäustling den Schnee von dem braunen Etwas. Ein gefrorener Wapiti-Kadaver kam zum Vorschein. Erneut blickte Alex in die Höhe, suchte den Steilhang ab. Wie es aussah, war hier eine Schneewechte heruntergekracht, wahrscheinlich erst vor wenigen Tagen. Offenbar hatte sie das Wapiti überrascht.

Vielfraße waren Experten darin, gefrorene Kadaver im Schnee zu vergraben. Die meisten verfügten über ein Netz von Vorratslagern, zwischen denen sie im Winter unermüdlich unterwegs waren.

Sie bückte sich und machte mit ihrer Kamera Fotos von den Vielfraßspuren. Sie bemerkte nun leichte Unterschiede zwischen den Vorderpfoten und vermutete, dass sich hier zwei Vielfraße getroffen hatten, wahrscheinlich ein Elterntier und ein Jungtier, das im Winter zum ersten Mal allein unterwegs war und von seinen Eltern die besten Futterplätze gezeigt bekam.

Nachdem sie ihre Fotos gemacht hatte, kehrte Alex zwischen die Bäume zurück und umging weiter oben am Hang den Lawinenschacht. Auf der anderen Seite nahm sie wieder die Fährte des Vielfraßes auf, die jedoch über eine Steilwand bergauf führte, wo Alex ihr am Ende nicht mehr folgen konnte.

Die letzten Monate hatte sie fast ausschließlich mit derlei Dingen verbracht, praktisch jeden Tag, um in dem neu ausgewiesenen Wildschutzgebiet im Nordwesten Montanas die Population der Vielfraße und ihre Bewegungsmuster zu erfassen. Sie liebte die Einsamkeit, die Stille der verschneiten Wälder, das Schneeprasseln auf ihrer Parkakapuze. Das von ihr im gesamten Schutzgebiet installierte Netz selbstauslösender Kameras war vollumfänglich im Einsatz, jede allzeit bereit, Fotos des Vielfraßes zu machen, der ihre Infrarotstrahlen kreuzte.

Sie stieg höher, machte ihre Runde und wechselte an einer der Kameras die Speicherkarte und den Akku. Sie entdeckte keine weiteren Vielfraßspuren und kehrte, als sich am Himmel allmählich Dunkelheit ausbreitete und die Temperatur sank, in die Wärme der alten Ski-Lodge zurück.

Das Wildtierreservat war ursprünglich ein beliebtes Ski-Resort gewesen, das in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts abgewirtschaftet hatte. Der Eigentümer hatte das Land dem Land Trust for Wildlife Conservation geschenkt. Sie hatte von der Stiftung den wunderbaren Auftrag erhalten, herzukommen und eine Studie über die hiesigen Vielfraße durchzuführen, den einzigen Bewohnern des verlassenen Skigebiets. Diese Erfahrung war genau das gewesen, was sie gebraucht hatte. Nun aber blickte sie ins Ungewisse. Die Studie endete in wenigen Wochen, und einen Folgeauftrag hatte sie noch nicht.

Als Alex ihre Skier vor der Lodge an die Wand lehnte und auf den Eingangsstufen mit ihren Stiefeln aufstampfte, hörte sie drinnen das Telefon klingeln. Sie schloss die Tür hinter sich und eilte zu dem alten Wählscheibentelefon an der Rezeption des ehemaligen Hotels. Handyempfang gab es hier oben keinen.

»Hallo?«

»Alex, hier ist Sonia.«

Alex lächelte, als sie die Stimme ihrer alten Studienfreundin hörte. Sie kannten sich aus Berkeley, wo sie zusammen in Wildtierbiologie promoviert und danach eine Saison lang in Spitzbergen gemeinsam Eisbären markiert hatten. Anschließend hatte Sonia ihre Laufbahn der Eisbärenforschung gewidmet und in der Arktis gearbeitet. Inzwischen war sie für eine gemeinnützige Organisation namens International Institute for Polar Bear Research tätig.

»Hey, Sonia, wie geht’s dir?«

»Prima. Total gut. Ehrlich gesagt kann ich einen Wahnsinnserfolg vermelden.«

Alex setzte sich auf einen Hocker am Empfangstresen. »Arbeitsmäßig?«

»Japp. Du weißt doch, dass ich seit einer Ewigkeit auf die Genehmigung warte, um die Eisbärenpopulation in der westlichen Hudson Bay studieren zu können.«

Alex wusste davon. Die Erteilung der Genehmigung war immer wieder verschoben worden; Sonia wartete nun bereits seit mehreren Jahren. Anderen Forschern erging es genauso. »Ist sie endlich durch?«

»Ja! Ich kann es nicht glauben. Kanadas neuer Minister für Umwelt und Klimawandel hat zu meinem Glück ein besonderes Interesse an Eisbären. Er ist zur Beaufortsee gereist und hat eine Woche lang als Freiwilliger bei unserer Studie mitgeholfen. Ich habe ihm von meinen Schwierigkeiten erzählt – und siehe da, ein paar Wochen später hatte ich die Genehmigung.«

»Das ist großartig!« Alex wusste, dass die Eisbären in Schwierigkeiten steckten, und je mehr Daten man über die Ursachen und die Geschwindigkeit des Populationsrückgangs sammeln konnte, desto besser konnte man die politischen Entscheidungsträger darüber unterrichten, wie sie den Tieren helfen konnten. »Aber es gibt ein Problem bei der Sache. Ich sitze hier oben an der Tschuktschensee fest, stecke knietief in einer anderen Studie. Unsere NGO hatte für die Hudson-Bay-Geschichte niemanden eingeteilt, weil wir nicht mehr daran glaubten, in absehbarer Zeit die nötige Genehmigung zu erhalten.«

Eine Welle der Vorfreude stieg in Alex auf. Fragte ihre Freundin sie etwa, ob sie …

»Wann endet deine Vielfraß-Studie?«

»In zwei Wochen«, sagte Alex und hielt fast die Luft an.

»Möchtest du die Eisbären übernehmen?«

Alex grinste. »Auf jeden Fall!«

Sie hörte, wie Sonia ein erleichtertes Seufzen ausstieß. »Oh, ich kann dir gar nicht sagen, wie viel mir das bedeutet. Die Sache ist schon verrückt. Jahrelang durfte ich dort keine Studie durchführen. Und jetzt klappt es auf einmal, und ich habe keine Zeit. Hör zu, ich habe einen Assistenten für dich, einen diplomierten Studenten, mit dem ich schon in Grönland zusammengearbeitet habe. Er heißt Neil Trevors. Er fliegt nächste Woche nach Churchill. Er kümmert sich schon mal um alles, um die Ausrüstung und einen Hubschrauberpiloten. Könntest du danach hinkommen?«

»Na sicher. Das ist toll. Und perfektes Timing. Ich hatte noch nichts Neues in Aussicht.« Alex strahlte über das ganze Gesicht. Manitoba. Die kanadische Arktis. Eisbären. Und sie wusste, dass sie ihnen im Hubschrauber hinterherfliegen würde, eine Aussicht, die ihr einen freudigen Schauer über den Rücken jagte. Sie liebte es, in der Luft zu sein, die Zeit in Spitzbergen war ein großartiges Erlebnis gewesen. »Danke, dass du an mich gedacht hast, Sonia.«

»Aber natürlich! Ich rufe dich nachher noch mal an, um dir die Flugdaten durchzugeben. Welcher Flughafen ist in deiner Nähe?«

»Missoula«, sagte sie zu ihrer Freundin.

»Okay. Nochmals danke, Alex.«

Sie legten auf. Einen Moment lang blieb Alex reglos sitzen, ließ das Ganze sacken. Sie würde von Missoula aus nach Kanada fliegen. Sie dachte daran, wie sie im letzten Herbst auf dem abgelegenen kleinen Airport gelandet war und welche riesige Veränderung in ihrem Leben damit einhergegangen war. Nun erwartete sie das nächste Kapitel, eine neue Mission, und sie war sich sicherer denn je, seinerzeit die richtige Entscheidung getroffen zu haben, als sie eine unglückliche Beziehung und den Lärm, die Abgase und Bostons Gehabe hinter sich gelassen hatte.

Sie glitt vom Hocker. Ein überwältigendes Glücksgefühl durchströmte sie, und sie ballte freudig die Fäuste.

Alex fuhr zum Briefkasten am Ende der langen Auffahrt hinunter, um ihre Post zu holen, und kehrte anschließend in die Wärme der Lodge zurück. Sie setzte sich an einen Tisch und sah die Post durch. Sie freute sich über das kleine Päckchen aus Berkeley; es war von ihrem Vater. Er schickte ihr selbst gebackene Zimtkekse und zwei ausgeschnittene Artikel aus der New York Times. In einem ging es um Vielfraße, im anderen um einen neuen Sauropoden, dessen Skelett man in der Mongolei entdeckt hatte.

In einem Brief vom Zentrum für Biologische Diversität wurde um eine Spende gebeten. Ganz unten im Stapel lag eine Postkarte. Alex stand auf, starrte auf sie hinab. Die Postkarte zeigte das historische Zentrum der nächsten Kleinstadt, Bitterroot, mit den Holzbürgersteigen und dem mit Marmor verkleideten Postgebäude aus dem späten neunzehnten Jahrhundert.

Ich wollte mich nur kurz melden, stand auf der Karte. Sie sollen wissen, dass ich immer in der Nähe bin, wenn Sie mich brauchen. Keine Unterschrift.

Mit der Postkarte in der Hand ging sie zum Schreibtisch in der Lobby, öffnete dessen Schublade und nahm die anderen Postkarten heraus – alle in der derselben sorgfältigen Druckschrift geschrieben – und legte sie vor sich aus.

Kurz nach ihrer Ankunft in Montana hatte es angefangen mit den mysteriösen Botschaften. Ursprünglich waren die Karten an ihre alte Adresse in Boston geschickt und dann von der Post nachgesandt worden – bis auf die, die wegen der lahmarschigen Umzugsfirma erst Monate später in Montana eingetroffen war. Nachdem sie ihr Apartment gekündigt hatte, hatte sie die Firma beauftragt, ihre wenigen Besitztümer einzulagern. Die Umzugsleute hatten dann hinter der Apartmenttür eine Postkarte entdeckt und sie in den Versandkarton gelegt, in dem Alex sich ein paar essenzielle Gegenstände nach Montana hatte nachschicken lassen (Ersatz-Laptop, Festplatten, ihr Lieblingsfernglas zur Vogelbeobachtung).

Nun ordnete sie die Postarten in der richtigen Reihenfolge. Keine war unterschrieben, und die Handschrift war ihr unbekannt. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, von wem sie stammten. Die erste war wohl die ohne Poststempel, die der unbekannte Absender unter der Apartmenttür durchgeschoben hatte. Sie zeigte ein Bild des Hauses des Freiheitskämpfers Paul Revere, und die Nachricht auf der Rückseite lautete: Hoffe, Sie wurden nicht verletzt. Die Karte musste kurz nach ihrer Teilnahme an der Einweihungsfeier des Feuchtbiotops eingetroffen sein, bei der ein Bewaffneter aufgetaucht war. Er hatte beabsichtigt, so viele Menschen wie möglich zu erschießen, und war erst gestoppt worden, als jemand ihn mit zwei Schüssen getötet hatte. Dieser Unbekannte war nie gefasst worden und blieb bis heute ein Rätsel.

Die zweite Postkarte war an ihre alte Bostoner Adresse geschickt und hierher nachgesandt worden, kurz nachdem sie den jetzigen Forschungsauftrag angenommen hatte. Auf der Karte war der berühmte Uhrturm der UC Berkeley abgebildet, wo sie ihren Doktor gemacht hatte.

Auf der Rückseite stand die simple Nachricht: Ich hoffe, Ihnen gefällt Ihr neuer Posten.

Auch die dritte Postkarte war aus Boston nachgesandt worden. Sie zeigte eine bergige Aussicht voller Kakteen im Saguaro Nationalpark in Arizona. Alex hatte dort Gabelhornantilopen studiert.

Auf der Karte stand: Ich verstehe, warum Sie diesen Ort lieben.

Dann hatte ihr Vater in Berkeley ein mysteriöses Paket erhalten, das ein GPS-Gerät enthielt, das sie in New Mexico bei der Beobachtung des Mexikanischen Fleckenkauzes verloren hatte. Er hatte das Paket an sie weitergeleitet, und jetzt hielt sie den handgeschriebenen Zettel in der Hand, der dem Paket beigelegt war. Darauf stand: Es war sehr nützlich. Das Paket war aus Cheyenne verschickt worden, der Region, in die sie nach New Mexico gegangen war, um eine Studie über Schwarzfußiltisse durchzuführen.

Diese mysteriöse Person hatte also in New Mexico ihr GPS-Gerät gefunden und es nach Wyoming mitgenommen, musste also nach ihr dort eingetroffen sein. War die Person ihr gefolgt? Oder war es Zufall gewesen? Vielleicht lebte die Person ja in Cheyenne und hatte das Gerät bei der erstbesten Gelegenheit an die auf dem Gerät angegebene Adresse geschickt, nämlich an die ihres Vaters.

Dann hatte sie hier in Montana ein gepolsterter Umschlag erreicht, der nicht nachgesandt worden war, sondern ihre aktuelle Adresse im Resort aufwies. Im Umschlag befand sich eine DVD mit Aufnahmen einer Bodycam. Das Video ruckelte, während der Träger mit einer Waffe in der Hand zwischen Bäumen hindurcheilte, ein Mann, wie sie am muskulösen Unterarm erkannte. Dann gab er zwei Schüsse ab und tötete den rachsüchtigen Amokläufer bei der Einweihungsfeier des Feuchtbiotops. Der Träger der Bodycam hatte ihr das Leben gerettet. Sie erinnerte sich noch an das Frösteln, das sie verspürte hatte, als ihr Retter dann am Ende der Aufnahme sagte: Alex, Sie haben mir einmal aus der Klemme geholfen, und jetzt habe ich das Gleiche für Sie getan.

Sie hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Nach dem Erhalt der DVD hatte sie eine Weile nichts mehr von ihm gehört. Doch einen Monat später, mitten im Winter, hatte er ihr dann eine Postkarte mit einem Landschaftsmotiv aus dem verschneiten, nahe gelegenen Glacier National Park geschickt, auf der stand: Ist eine schöne Gegend hier oben. Ruhig. Man könnte sich an das Leben in den Bergen gewöhnen.

Ein paar Wochen später war eine Postkarte eingetroffen, die den nahe gelegenen Flathead Lake zeigte. Der Text lautete: Ist ruhig geworden in letzter Zeit. Das ist eine schöne Abwechslung.

Und nun diese neueste Karte, wieder in der unverkennbaren Handschrift. Sie las sie erneut. Ich wollte mich nur kurz melden. Sie sollen wissen, dass ich immer in der Nähe bin, wenn Sie mich brauchen.

Sie starrte auf die Karte, schüttelte verwirrt den Kopf. Ihn brauchen? Sie wusste nicht mal, wer er war. Was hatte sie getan, um seine Aufmerksamkeit zu erregen? Der früheste Hinweis auf ihre Vergangenheit war die Karte mit dem Uhrturm in Berkeley. Hatte er sie damals schon gekannt? Sie starrte auf die Druckbuchstaben. Und der erste Beleg dafür, dass er sich in ihrer Nähe aufgehalten hatte, war, als sie ihr GPS-Gerät in New Mexico verloren hatte. Er hatte es entweder gefunden oder gestohlen. Und in dem Gerät waren alle Orte gespeichert, an denen sie zuvor gewesen war, einschließlich Berkeley.

Die Fleckenkauzstudie in New Mexico war nach den Gabelhornantilopen erfolgt; er könnte also mithilfe ihrer gespeicherten GPS-Wegpunkte dorthin zurückgekehrt sein. Sie vergegenwärtigte sich, mit wem sie bei dem New-Mexico-Trip zu tun gehabt hatte. Vor allem mit netten Leuten vom LTWC, mit denen sie weiterhin in Kontakt stand. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass einer von ihnen ihr anonyme Postkarten schickte. Warum auch? Des Weiteren war sie einigen wütenden Bauunternehmern begegnet, die den Lebensraum des Fleckenkauzes in ein Golf-Resort verwandeln wollten. Sie hatte den Plan vereitelt, also würden die Bauunternehmer ihr bestimmt nicht »aus der Klemme helfen« wollen.

Sie dachte an die Abende zurück, an denen sie essen gegangen war, an Forscherkollegen, mit denen sie sich unterhalten hatte. Niemand stach in ihrer Erinnerung hervor.

Sie drehte die neueste Postkarte um. Welches Interesse hatte dieser Mann an ihr?

Sie legte die Karten in die Schublade zurück und machte sich etwas zu essen, bevor sie schlafen ging.

In den nächsten beiden Wochen unternahm Alex ihre letzten Feldtrips, packte die selbstauslösenden Kameras ein und baute die Köderstationen ab, mit denen sie die Vielfraße angelockt hatte.

Der Abschied vom Reservat fiel ihr schwer. Sie hatte angefangen, diese schroffe, ungezähmte Bergwelt als ihr neues Zuhause zu betrachten.

Die letzten Tage verbrachte sie damit, die restliche Ausrüstung zusammenzusuchen und dem nächsten Forscher bereitzustellen, der das Reservat für einige Monate sein Zuhause nennen würde. Ihre Klamotten stopfte sie in ihren Rucksack; sie wusste, dass sie sich in Churchill, Manitoba, alles besorgen konnte, was sie noch benötigte.

Sie verabschiedete sich von der Lodge. Sie war ihr eine willkommene Zuflucht gewesen, ein Ort, an dem sie das nächste Kapitel ihres Lebens hatte aufschlagen können, den sie vermissen würde. Dann trat sie hinaus und schloss zum letzten Mal die Haustür.

Sie war bereit für die Arktis.

Das vertraute Geräusch von Jolene Bakers altem Pick-up drang die lange Zufahrt hinauf. Jolenes Grundstück grenzte an das Reservat, und sie schaute hier für den LTWC ehrenamtlich nach dem Rechten, wenn keine Forscher vor Ort waren.

Jolene sprang aus dem Wagen und half Alex, ihren Rucksack auf die Ladefläche zu werfen. Sie umarmten sich und machten sich auf den Weg zum Flughafen von Missoula.

»Danke noch mal, dass du mich fährst«, sagte Alex. »Das hättest du nicht tun müssen.«

»Gern geschehen«, sagte Jolene. »Ich gebe Ben die Schlüssel, wenn er das nächste Mal kommt.« Alex reichte ihr die Resort-Schlüssel, plötzlich melancholisch. Ben Hathaway war der Regionalkoordinator des LTWC; sie waren sich während ihres Aufenthalts einige Male begegnet. Sie genoss seine Gesellschaft, er war eine Art Seelenverwandter, liebte wie sie die Tierwelt.

Je weiter sie sich vom Reservat entfernten, desto trauriger wurde Alex, obwohl sie sich wahnsinnig auf das Eisbärenabenteuer freute. Jolene plauderte freundlich, erzählte von ihrem neuesten Kunstprojekt und ihrem Mann. In ihrer Gegenwart musste Alex nicht viel reden. Es fiel ihr leicht, den fröhlichen Erzählungen zu lauschen, während sie selbst in ihrem bittersüßen Abschiedsgefühl schwelgte.

Am Flughafen umarmten sie sich noch einmal, und Jolene machte vor dem Terminal ein Selfie von ihnen. »Wir werden dich vermissen, Kleine«, sagte sie. »Pass auf dich auf.«

»Mach ich. Du auf dich auch.« Dann betrat sie das kleine Terminal und winkte Jolene ein letztes Mal zu.

Als das Flugzeug abhob, beobachtete Alex, wie Missoulas schneebedeckte Berge unter ihr verschwanden. »Auf Wiedersehen«, flüsterte sie den Vielfraßen zu. »Viel Glück.« Sie hoffte, dass die Anwesenheit der seltenen Tiere in dem Gebiet dazu führte, dass sich mehr Spender für den LTWC engagieren würden, um den geschützten Lebensraum der Vielfraße weiter zu vergrößern.

Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und las eine Reihe aktueller Forschungsberichte über die Eisbärenpopulation in der westlichen Hudson Bay. Es war eine von neunzehn Populationen, die sich über den gesamten Globus verteilten, und zählte zu denjenigen, die wegen der zunehmenden Eisschmelze, der Umweltverschmutzung und einer Reihe anderer Faktoren kleiner wurden.

Ein Mann hinter ihr hustete ständig. Als die Flugbegleiterin mit Getränken und Brezeln vorbeikam, warf Alex zwischen den Sitzen einen Blick auf den Mann. Er hustete erneut und machte sich nicht die Mühe, die Hand vor den Mund zu nehmen. Puh. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war, krank zu werden. Sie hoffte, dass er auf der nächsten Etappe der Reise nicht mehr dabei sein würde.

Da es keinen Direktflug nach Churchill gab, das einen winzigen Flughafen hatte, stieg sie in Saskatoon, Saskatchewan, in eine kleinere Propellermaschine um und in Gillam, Manitoba, in eine noch kleinere. Wegen der Turbulenzen beim Landeanflug auf Churchill wurde nicht wenigen Passagieren übel, und sie war froh, einen widerstandsfähigen Magen zu haben, während das winzige Flugzeug hin und her geschüttelt wurde und sie sich ein ums andere Mal an den Armlehnen festkrallte. Sie flogen durch eine dichte Wolkenschicht, und dann tauchte Churchill unter ihr auf, eine weite weißgraue Landschaft. Sie erkannte am Boden die winzigen Fichten, die zum zirkumpolaren Taigawald gehörten, der die Landmassen der Arktis bedeckte. Im Norden sah sie die eisbedeckte Weite der Hudson Bay, und eine Welle freudiger Aufregung erfasste sie. Und dann landeten sie unsanft und kamen zum Stehen.

Sie war da. In Churchill, Manitoba, der Eisbärenhauptstadt der Welt.

2. KAPITEL

CHURCHILL, MANITOBA, KANADA

Alex stieg die kurze Flugzeugtreppe hinunter auf die Rollbahn und betrat das kleine Terminal. Es gab nur ein einziges Gepäckband, an dem sie mit den anderen Passagieren auf ihren Rucksack wartete.

Sie entdeckte ihn, schlang ihn sich um die Schulter und trat hinaus in die grauweiße Welt. Die arktische Kälte raubte ihrer Lunge augenblicklich die Luft. Trotz des bewölkten Himmels war es gleißend hell. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf. Nebelschwaden hingen über der Landschaft und beschränkten die Sichtweite auf wenige Hundert Meter.

Sie wartete einige Minuten, bis ein blauer SUV vorfuhr. Ein schlanker Mann in den Zwanzigern stieg aus. Der eisige Wind wehte ihm die langen braunen Haare ins sonnenverbrannte Gesicht. Er schob sie sich hinter die Ohren und trat auf sie zu. »Dr. Carter?«

Sie lächelte. »Ja.«

»Ich bin Neil Trevors. Ihr Forschungsassistent.«

Sein Händedruck war lasch, und sie versuchte, ihm in Gedanken nicht augenblicklich ein dickes Minus zu geben. Sie hatte die Theorie, dass die Art, wie ein Mann einer Frau die Hand schüttelte, viel darüber aussagte, was er von ihr hielt. Ein starker, selbstbewusster Händedruck verriet, dass der Mann sie als gleichwertig betrachtete.

Neil öffnete die hintere Wagentür, während Alex ihren Rucksack abnahm und ihn hineinschob und ihre Laptoptasche danebenstellte.

Als sie losfuhren, erklärte er: »Die meisten Wissenschaftler kommen im Forschungszentrum unter. Aber es ist voll belegt, weil Sie so kurzfristig eintreffen. Ich habe Ihnen stattdessen ein Zimmer im Borealis Motel gebucht. Es ist nicht gerade das Waldorf Astoria, aber Sie haben ein Einzelzimmer und ein eigenes Bad, was Sie im CCAS nicht hätten. Dort sind es vier Leute pro Zimmer.«

»Das Motel klingt perfekt.« Alex wusste nicht, ob sie für ein Leben in einer Wohngemeinschaft schon bereit gewesen wäre nach so vielen Monaten der Einsiedelei. Sie musste es langsam angehen lassen.

»Sie werden für die Dauer Ihres Aufenthalts ein Fahrzeug brauchen. Die Zeitfenster für Hubschrauberflüge öffnen sich nur sporadisch, und wenn wir ein paar klare Stunden erwischen, müssen wir sofort starten. Der Heli steht am Zentrum, und einen Block südlich von Ihrem Motel gibt es eine Autovermietung.«

Während sie über die Fahrbahn glitten, betrachtete sie die Stadt. Sie fuhren am blauweiß getünchten Itsanitaq Museum vorbei und am braungrauen Town Centre Complex. In dem weitläufigen Gemeindezentrum können Churchills Einwohner Sport treiben, in die Bibliothek gehen, sich medizinisch versorgen lassen und in den langen Wintern andere Menschen treffen.

»Wann fangen wir an? Haben Sie einen Piloten besorgt?«, fragte sie.

Neil nickte. »Ilsa Angstrom. Sie ist gut.«

Er beugte sich über das Lenkrad und schaute zum Himmel. »Wenn sich der Nebel auflöst, könnte es morgen klappen.«

»Großartig!« Alex konnte es kaum erwarten.

»Möchten Sie zuerst im CCAS vorbeischauen?«

»Ja, gerne.«

Alex war müde von den langen Flügen, wollte aber unbedingt das Zentrum für Arktisforschung sehen. Wenn sie nicht im Hubschrauber unterwegs war oder schlief, würde sie schließlich die meiste Zeit dort verbringen, vor allem, weil es im Zentrum ein gut ausgestattetes Labor gab, wie sie gehört hatte.

Er wendete auf der La Vérendrye Avenue und bog in eine lange schnurgerade Straße ein, auf der sie wenig später ein gedrungenes, einstöckiges graues Gebäude erreichten. Ein farbenfrohes Wandgemälde zeigte eine Eisbärin und ihr Junges vor einem tiefschwarzen Himmel mit grünen und roten Lichtschleiern.

Das Gebäude selbst hatte mehrere große Fenster, die auf eine kleine Fichtengruppe in einer Schneelandschaft blickten. An einer Seite befanden sich zwei Rolltore, hinter denen Fahrzeuge abgestellt oder repariert wurden.

Gleich vor dem Zentrum stand ein Hubschrauber, ein stromlinienförmiger Bell, wie Alex erkannte, ganz ähnlich wie der, mit dem sie in Spitzbergen geflogen war.

»Der Heli ist jederzeit startbereit«, erklärte Neil. »Die komplette Ausrüstung ist an Bord, einschließlich Survival-Kit und unserem Spreadsheet.«

Wie Alex wusste, enthielt das Spreadsheet eine Datentabelle mit Werten über jeden ihrer markierten Bären. Alter, Gewicht, Geschlecht, Datum der letzten Sichtung, Identifikationsnummer, Standort, körperliche Verfassung, Körpermaße. Dies half den Forschern, die Bewegungen der Population nachzuverfolgen und zu vermeiden, einen bereits markierten Bären abermals zu katalogisieren. Jedem Tier wurde bei seiner ersten Betäubung eine kleine weiße Plastikscheibe mit einer Kennnummer am Ohr befestigt.

Sie kletterten aus dem SUV und betraten den gut beheizten Eingangsbereich des Zentrums. Sofort spürte Alex die Energie, die in der Luft lag, das Summen der Forschungsaktivität, des unbedingten Lernenwollens. Eine junge Frau mit wuscheligen roten Haaren schlenderte an ihnen vorbei, den Blick auf ihr Tablet gerichtet, in der anderen Hand einen Kaffeebecher.

Neil sprach sie an. »Dawn, das ist Alex Carter. Sie ist für Sonia hier.« Zu Alex gewandt, fügte er hinzu: »Dawn ist Klimatologin.«

Augenblicklich erhellten sich Dawns Züge. »Schön, Sie kennenzulernen. Ich bewundere Sonia sehr. Herzlich willkommen!«

Alex folgte Neil, während er ihr eine Reihe von Biologen und Klimatologen vorstellte, die beim Abendessen saßen. Sie versuchte sich die Namen und die Arbeitsschwerpunkte zu merken, wusste aber, dass sie später noch einmal würde nachfragen müssen. Eine Person fiel ihr allerdings auf, denn sie hatte auf dem Flug eine ihrer Forschungsarbeiten gelesen.

»Das ist Mirabel Esperanza«, sagte Neil und deutete auf die Frau. »Sie erforscht die Ausdehnung des Meereises.«

Alex reichte ihr die Hand. »Schön, Sie kennenzulernen. Ich verfolge Ihre Forschungen.«

Mirabel strahlte, schüttelte Alex’ Hand. »Mucho gusto!«

»Ich würde gerne mit Ihnen darüber sprechen, während ich hier bin.«

»Na klar, wär mir ein Vergnügen«, entgegnete Mirabel.

Alex war die Frau auf Anhieb sympathisch.

Neil zeigte Alex den Geräteraum mit der Ausrüstung für Außeneinsätze, den Gemeinschaftsraum und das mit modernster Technik ausgestattete Labor: Es gab eine Trennzentrifuge für Blutproben von Eisbären und Robben, diverse Hochleistungsmikroskope, ein Gasanalysegerät und vieles mehr.

Der Wohnbereich bestand aus Zimmern mit jeweils zwei Etagenbetten. Manchmal wurden dort sogar Privatpersonen beherbergt, die Bildungsurlaub machten – Leute, die etwas über Polarlichter, Eisbären, Belugas, Wildblumen oder Vögel lernen wollten.

In der kleinen, aber ausgezeichnet bestückten Bibliothek gab es bequeme Stühle und eine Fülle von Büchern zur Arktisforschung. Wie überall im Gebäude gab es auch hier drahtloses Internet, und einige Forscher klebten an ihren Handys und Laptopbildschirmen.

Nach Beendigung des Rundgangs kehrten sie in die Cafeteria zurück. »Schön, euch alle kennenzulernen«, sagte Alex und winkte den Leuten zu.

Mirabel winkte zurück, und Dawn, die Klimatologin, blickte von ihrem Kaffee auf und sagte: »Freut mich, Sie hierzuhaben!«

Es war ein gutes Gefühl, unter Forscherkollegen zu sein, unter Leuten, die ihr Leben dem Ziel widmeten, den Planeten und die Myriaden von Lebewesen, die darauf lebten, besser zu verstehen.

Sie wappnete sich gegen die Kälte, als Neil ihr die Eingangstür öffnete und sie zum Auto zurückkehrten.

Sie fuhren weiter durch die Stadt, vorbei an Motels, einem Lebensmittelladen, am Revier der RCMP – Kanadas königlicher berittener Polizei, kurz Mounties – und einem Postamt.

Er hielt vor einem kleinen Motel aus blau gestrichenem Holz. Es bestand aus zwölf nebeneinanderliegenden Zimmern mit einem Metallstuhl und einem kleinen Tisch vor jeder Tür.

»Ich habe Sie schon eingecheckt.« Neil reichte ihr den Schlüssel für Zimmer 6, der an einem altmodischen Motel-Schlüsselanhänger aus Plastik hing, auf dem der Name und die Adresse des Motels standen, dazu die Bitte: Werfen Sie den Zimmerschlüssel in einen beliebigen Briefkasten, falls Sie vergessen haben, ihn vor Ihrer Abreise zurückzugeben.

Alex zog ihre Laptoptasche und den Rucksack vom Rücksitz. »Danke, dass Sie mich abgeholt haben.«

»Kein Problem. Ich schicke Ihnen morgen früh eine SMS, sobald ich weiß, ob wir Flugwetter haben.«

»Klingt gut.« Sie warf den Wagenschlag zu, und er fuhr weiter. Sie ging mit ihrem Gepäck zu Nummer 6 und schloss die Tür auf.

Das Zimmer war sauber und schlicht. Doppelbett, Schreibtisch mit Stuhl, Kaffeemaschine, Mikrowelle, kleiner Kühlschrank. Verglichen mit einigen ihrer Feldeinsätze in den letzten Jahren, bei denen sie nur ein Zelt und eine Wasserflasche gehabt hatte, war es der reinste Luxus.

Sie setzte sich auf die Bettkante und schaltete ihr Handy ein. Sie hatte drei verpasste Anrufe: ihre beste Freundin Zoe Lindquist, ihr Vater und Sonia. Als Erstes rief sie Sonia zurück, um ihr mitzuteilen, dass sie gut angekommen sei und Neil getroffen habe. Sonia freute sich, dass Alex loslegen konnte, und Alex versprach, dass sie nach ihrem ersten Arbeitstag Bericht erstatten würde.

Dann rief sie Zoe an. Zoe war eine erfolgreiche Schauspielerin, die in Los Angeles lebte. Momentan war sie aber am Set in North Carolina. Von einem sechswöchigen Drehplan hatte Zoe noch ein oder zwei Wochen vor sich.

»Hey«, meldete sich ihre Freundin. »Wie ist es im eisigen Norden?«

»Eisig.«

»Schon Eisbären gesehen?«

»Noch nicht, aber wir legen hoffentlich bald los. Wir müssen auf besseres Wetter warten.«

»Ich weiß, wie du dich fühlst«, sagte Zoe. »Hier schüttet es seit drei Tagen wie aus Eimern, und wir konnten keine einzige Szene drehen.«

»Was ist das eigentlich für ein Film?«

»Etwas Historisches. Er spielt im achtzehnten Jahrhundert. Unabhängigkeitskrieg. Ich trage gerade eine total lächerliche Haube, und das Korsett bringt mich um. Wir können wohl bald ein paar Stunden drehen. Am Horizont zeigt sich ein blauer Streifen.« Alex hörte, wie Zoe ein wenig herumrutschte, es raschelte in der Leitung, dann war sie wieder da. »Wie konnten sich Frauen in dieser Kleidung überhaupt bewegen?«

»Ich glaube, der Gedanke dahinter war, dass sie sich gar nicht bewegen sollten

»Nun, das ist gelungen. Ich kann kaum atmen und muss die ganze Zeit kerzengerade dasitzen. Ist total anstrengend.«

»Wie läuft es mit deinen Kollegen und der Crew?«

Zoe seufzte. »Mein Co-Star ist Nick Buchanan, das sagt ja wohl alles. Alle anderen sind großartig.«

Nick war seit Jahrzehnten eine große Nummer in Hollywood, doch er hatte nie gelernt, seinen Erfolg mit Demut zu betrachten.

»Du glaubst ja nicht, was der alles verlangt«, fuhr Zoe fort. »Er trinkt nur eine bestimmte Mineralwassersorte, die extra aus Thailand eingeflogen werden muss. Er hat einen eigenen Catering-Tisch, den die anderen nicht mal angucken dürfen. Sautierter Brokkoli, eine bestimmte französische Brie-Sorte, italienische Crostini, seinen eigenen Barista und abends sein persönlicher Weinkellner. Er hat eine kuratierte Weinsammlung am Set. Kuratiert. Musst du dir mal vorstellen. Ich schwöre, hier gibt es eigens einen Typen, der ihm den Wein einschenkt und erklärt, dass diese oder jene Sorte einen Hauch von Limonen- oder Lederaroma habe. Leder. Ohne Witz. Offenbar schwimmen Lederriemen in dem Fass, in dem der Wein lagert. Unfassbar. Und dabei hat Nick nur fünf Szenen im ganzen Film. Er spielt einen hochnäsigen britischen General. Die Rolle dürfte ihm zumindest nicht schwerfallen.«

Alex lachte. Zoe beschwerte sich immer über die Arbeit am Set, aber Alex wusste, dass sie es absolut liebte.

»Wie ist es bei dir in Churchill?«

»Eine kleine Stadt. Sehr flach. Alles ist schneebedeckt, und überall stehen diesen niedrigen Fichten. Es ist hier so weit im Norden, dass ich praktisch mitten in der Taiga bin.«

»In der was?«

»Die Taiga. Der zirkumpolare boreale Wald, der sich an den nördlichen Breitengraden entlang über den ganzen Globus erstreckt. Die Taiga bewirkt einen Großteil der natürlichen Kohlenstoffsenke des Planeten, indem sie der Atmosphäre CO2 entzieht.«

»Das ist ja mal etwas Gutes. Ich wette aber, selbst diese Taiga kann nicht Nicks CO2-Fußabdruck ausgleichen, solange er sich jeden Tag eisgekühlte, extra dünn geschnittene Drachenfruchtscheiben aus Uruguay einfliegen lässt.«

Alex kicherte. »Wahrscheinlich nicht. Aber ich freue mich auf das Projekt. Falls es morgen kein Flugwetter gibt, werde ich mich in Churchill umsehen, schauen, was es so gibt.«

»Lass dir nicht von einem Bären das Gesicht abbeißen. Als du in Spitzbergen warst, habe ich mir die ganze Zeit vor Angst fast in die Hose gemacht.«

»Mir das Gesicht abbeißen zu lassen steht nicht auf meiner Agenda. Keine Sorge.«

»Hast du etwas von dem süßen Typen gehört, der bei dieser Stiftung arbeitet?«

Alex dachte an Ben. »Wir haben ein paarmal telefoniert. Es gibt mögliche Projekte für mich beim LTWC, wenn ich hier fertig bin.«

»Du klingst glücklich.«

»Ich bin glücklich.«

»Boston zu verlassen war die richtige Entscheidung. Was du jetzt tust, ist genau dein Ding«, sagte Zoe.

Alex lächelte.

»Obwohl ich natürlich immer noch gerne eine beste Freundin hätte, mit der ich auf dem Rodeo Drive shoppen gehen kann. Man darf natürlich nicht alles glauben, was einem die Verkäuferinnen dort erzählen. ›Oh, ja, Miss Lindquist. Dieser orangefarbene Kartoffelsack von Kleid steht Ihnen ausgezeichnet. Besonders die neonpinken Puffärmel und die blauen Zwölf-Zentimeter-Stilettos.‹ Ich brauche eine ehrliche Meinung. Wenn ein berühmter Modeschöpfer für mich ein Kleid für die Oscar-Verleihung entwirft, möchte ich wissen, ob ich darin wie ein schmachtendes oranges Walross aussehe. Es können ja nicht alle von Chanel sein.«

»Wer ist Chanel?«, fragte Alex im Spaß. »Nein, warte, das Parfum, stimmt’s?«

»Ach, hör auf. Nein, meine beste Freundin muss oben in der Arktis rumturnen und Eisbären zusehen, wie sie an süßen Robbenbabys knabbern. Ich habe voll das Glück.«

»Das Leben ist hart. Was ist deine nächste Szene?«

»Ich soll einer Horde betrunkener britischer Rotröcke Bier einschenken, aber dabei belausche ich sie, denn ich bin eine Spionin. In einer späteren Szene schleiche ich mit meinen verschlüsselten Aufzeichnungen über ihre Truppenbewegungen nachts durch die Stadt, um sie der Kontinentalarmee zu geben. Es kommt zu einem Feuergefecht. Ich darf mit einer Schwarzpulverpistole um mich schießen und so.«

»Klingt cool.«

»Das wird es auch sein, wenn wir jemals wieder im Freien drehen können. Der Streifen blauer Himmel, den ich vorhin erwähnt habe? Der ist schon wieder verschwunden. Und die Luftfeuchtigkeit hier! Es ist fast wie Regen. Wir atmen praktisch Wasser ein und werden innen und außen nass.« Zoe gluckste. »Ich habe ein so hartes Leben. Du hast ja keine Ahnung.« Sie hielt inne, bedeckte kurz den Hörer, um mit jemand anderem zu sprechen. »Sieht so aus, als würden wir gleich eine Innenszene drehen.«

Alex hörte, wie ein Mann durch ein Megafon rief: »Okay, Leute. An die Plätze! An die Plätze!«

»Das ist mein Stichwort«, sagte Zoe.

»Viel Glück beim Drehen.«

»Viel Glück mit deinen Eisbären. Und denk dran: Lass dir nicht das Gesicht abbeißen!«

Alex lachte. »Ich tue mein Bestes.«

Sie legten auf, und Alex kramte in ihrer Tasche nach ihrem Ladegerät, rief dann ihren Vater an. Ihre Miene erhellte sich, als sie seine Stimme hörte.

»Hey, Mäuschen. Wie war dein Flug?«

»Ereignislos«, sagte sie. »Es gab kein Kind, das gegen meine Rückenlehne getreten hätte. Aber so ein Kerl hat unaufhörlich gehustet und sich nicht den Mund zugehalten. Meistens habe ich nur gelesen und aus dem Fenster gestarrt. Ich bin gerade in Churchill angekommen.«

»Klingt nach einer friedlichen Reise. Abgesehen vom Huster.«

»Wie läuft es bei dir?«

»Gut. Mein Barbershop-Quartett hat diesen Samstag einen Auftritt.«

»Wunderbar! Bist du nervös?«

Er lachte. »Na klar! Aber es wird Spaß machen. Konntest du dich schon einrichten?«

Sie schaute durch das Zimmer. »Im Forschungszentrum war gerade kein Platz für mich, aber ich wurde in einem annehmbaren Motel untergebracht.«

»Klingt doch gut.«

»Ist in Ordnung.«

»Wann geht es aufs Eis? Das wird bestimmt aufregend. Nehmt ihr einen Hubschrauber wie in Spitzbergen?«

»Ja. Und hoffentlich bald. Drück mir die Daumen, dass wir gutes Wetter kriegen. Ich schicke dir Fotos von unterwegs.«

»Tu das bitte. Und was steht sonst noch auf dem Programm?«

»Nichts Besonderes. Falls es morgen immer noch neblig ist, werde ich Lebensmittel für meinen Zimmerkühlschrank einkaufen. Und bei der Post eine neue Nachsendeadresse beantragen.« Sie hielt inne. »Hast du eigentlich noch mehr seltsame Pakete gekriegt?«

»Wie das mit deinem GPS-Gerät?«

»Yeah.«

»Nope. Kein einziges. Hast du schon rausgefunden, wer es geschickt hat?«

»Nein. Aber ich habe weiter Postkarten mit derselben Handschrift erhalten.«

»Klingt unheimlich«, sagte ihr Vater mit einem besorgten Unterton in der Stimme.

»Finde ich auch.«

»Pass gut auf dich auf, Mäuschen.«

»Mach ich.«

Ihre Unterhaltung führte zu den Büchern, die sie gerade lasen, und sie gaben sich gegenseitig Lesetipps. Er erzählte von einigen interessanten Artikeln, die er in der New York Times über den Klimawandel und CO2-Steuern gelesen hatte. Sie erzählte ihm interessante Fakten über Eisbären, die sie im Flugzeug gelesen hatte.

»Ich sollte vor morgen etwas schlafen«, sagte sie schließlich. »Viel Glück für deinen Auftritt am Samstag. Ich hab dich lieb.«

»Danke. Ich hab dich auch lieb, Mäuschen.«

Sie legten auf, und sie begann, ihren Rucksack auszupacken. Der hustende Passagier im Flugzeug fiel ihr ein und sie fischte etwas Vitamin C heraus, dann zog sie sich aus und nahm eine kurze heiße Dusche. Sie war so müde, dass ihr allmählich der Rücken wehtat, und so stieg sie kurzerhand in ihren Pyjama und legte sich mit ihren Papieren ins Bett.

Bis kurz vor ihrer Landung in Churchill war sie in eine ebenso faszinierende wie beunruhigende Studie über den arktischen Meereisschwund vertieft gewesen. Sie nahm sich vor, darüber mit Mirabel zu sprechen.

Sie las die Studie zu Ende und griff dann nach dem Roman, in dem sie zwischendurch im Flugzeug gelesen hatte, einen Thriller über einen Archäologen, der die Reste einer untergegangenen Zivilisation entdeckt. Sie schreckte auf, als ihr das Buch auf die Brust fiel. Sie legte es beiseite, löschte das Licht, schlief ein und träumte von dem bevorstehenden Abenteuer.

3. KAPITEL

Als Alex am nächsten Morgen erwachte, war es draußen so diesig, dass ihr die Welt vorkam wie in einem Fantasy-Film, ein ätherisches Reich aus ewigem Nebel. Sie duschte und zog sich an, dann ging sie rüber zur Autovermietung. Ihre Stiefel knirschten im Schnee, während sie durch die wabernden Nebelschwaden schritt. Es schneite unablässig, was der bereits elfenbeinfarbenen Landschaft eine weitere weiße Farbschicht hinzufügte.

Die Autovermietung hatte noch zwei Fahrzeuge im Angebot, einen Ford Explorer und einen Jeep Wrangler, beide mit Allradantrieb. Sie wählte den Jeep und füllte unzählige Formulare aus, während der Angestellte mit einem Computerproblem rang. Schließlich übergab er ihr die Wagenschlüssel, und sie war startbereit.

Sie fuhr zur Post und füllte ein Nachsendeformular aus, gab als neue Adresse das Forschungszentrum an. Irgendwann würde dort ein Bett für sie frei werden, und dann musste sie ihre Anschrift nicht abermals ändern.

Mit einem mulmigen Gefühl fragte sie sich, ob sie auch hier oben in der kanadischen Arktis Post von dem unbekannten Absender erhalten würde.

Sie verdrängte das Gefühl und fuhr die La Vérendrye Avenue hinunter, dann über die kleinere Straße weiter zum Forschungszentrum, genoss dabei die grauweiße Aussicht ringsum. Churchill war sehr flach – mit Weiden und den niedrigen immergrünen Fichten, die überall aus dem Schnee ragten. Das Forschungszentrum lag am Stadtrand. Es schneite unvermindert weiter, hinter der Windschutzscheibe sah sie kleine Schneegestöber auf der Fahrbahn, weiße Schneefahnen schlängelten sich über den schwarzen Asphalt.

Als sie am Zentrum eintraf, blieb sie ein paar Minuten draußen stehen und hob ihr Gesicht zum Himmel. Die kalten Schneeflocken fühlten sich gut auf ihrer Haut an. Genüsslich sog sie die frische arktische Luft ein, erfreut über den unverhofften Tapetenwechsel.

Im Forschungszentrum herrschte rege Betriebsamkeit. Die Cafeteria war leer bis auf zwei Forscher, die beim Frühstück saßen und sich über das schwindende Meereis unterhielten. Sie erkannte Mirabel vom Vortag, aber deren Kollegen hatte sie noch nicht kennengelernt. Er war Anfang dreißig, hatte zerzaustes braunes Haar und ein sandfarbenes, wettergegerbtes Gesicht, das die Jahre in der rauen Natur widerspiegelte.

Autor