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Der Drahtzieher: Ein Gabriel-Allon-Thriller

Als Buch hier erhältlich:

London: Ein grausamer Anschlag des IS im Westend kostet unzählige Menschenleben. Ein Beweis für das teuflische Genie von Saladin, IS-Chefstratege und Urheber einiger der verheerendsten Terrorangriffe in Europa und den USA.
Gabriel Allon, legendärer Agent und mittlerweile Leiter des israelischen Geheimdienstes, führt eine multinationale Operation zu Saladins Neutralisierung an. Ihn auszuschalten hat für Allon oberste Priorität. Als bei einem Besuch Allons die Zentrale der französischen Antiterrorgruppe von einer Bombe zerstört wird, ist Gabriel sich nicht mehr sicher, wer Jäger und wer Gejagter ist …

»Der Drahtzieher ist ein absolutes Muss für alle Silva-Fans. Und für alle, die es noch nicht sind, sowieso!« medianet

»Wer Spannung, bestens gezeichnete Charaktere und noch dazu eine gekonnte Analyse des politischen Status Quo im Nahen Osten in Buchform haben möchte, sollte hier zugreifen.« Landeszeitung Lüneburger Heide

»Daniel Silva ist die Ausnahme von der Ausnahme: Ein Autor, dessen Bücher immer besser werden.« The Huffington Post

»Eine harte, aber eben auch mitreißende Lektüre.« Westfalenpost


  • Erscheinungstag: 01.10.2018
  • Aus der Serie: Gabriel Allon
  • Bandnummer: 17
  • Seitenanzahl: 528
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677707
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Wieder für meine Frau Jamie und meine Kinder Nicholas und Lily

Hütet euch vor dem Zorn eines geduldigen Mannes.

JOHN DRYDEN, Absalom und Achitophel

TEIL EINS

DER LOSE FADEN

1

KING SAUL BOULEVARD, TEL AVIV

Für etwas noch nie Dagewesenes, das mit solchen institutionellen Risiken behaftet war, ging alles ohne viel Aufhebens über die Bühne. Und nahezu geräuschlos. Das war das Bemerkenswerte daran: die operative Stille, in der alles stattfand. Gewiss, es hatte eine dramatische Ankündigung gegeben, die das Fernsehen live übertragen hatte, eine Aufsehen erregende erste Kabinettssitzung und eine opulente Party in Ari Schamrons Villa am See Genezareth, zu der alle Freunde und Mitstreiter aus seiner bewegten Vergangenheit gekommen waren – Geheimdienstchefs, Politiker, ein Monsignore aus dem Vatikan, ein Londoner Galerist und sogar ein unverbesserlicher Kunstdieb aus Paris –, um ihm alles Gute zu wünschen. Aber ansonsten verlief alles erstaunlich glatt. An einem Tag saß Uzi Navot im Büro des Direktors an seinem riesigen Schreibtisch aus Rauchglas, und am Tag darauf hatte Gabriel Allon seinen Platz eingenommen. Verschwunden war jedoch auch Navots moderner Schreibtisch, denn Glas war nicht Gabriels Stil.

Holz gefiel ihm besser. Liebevoll poliertes, altes Holz. Und natürlich Gemälde: Er merkte sehr bald, dass er nicht zehn, zwölf Stunden pro Tag in einem Raum ohne Gemälde zubringen konnte. Außer zwei unsignierten eigenen Bildern hängte er mehrere Werke seiner Mutter auf, die zu ihrer Zeit eine der prominentesten Künstlerinnen Israels gewesen war. Dazu kam ein großes abstraktes Gemälde seiner ersten Frau Leah, das sie während ihrer gemeinsamen Studienzeit an der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem gemalt hatte. Am späten Nachmittag konnten Besucher des obersten Stockwerks Opernklänge hören – Puccinis La Bohème war ein besonderer Favorit –, die unter seiner Tür hervordrangen. Diese Musik konnte nur eines bedeuten: Gabriel Allon, der Fürst des Feuers, der Racheengel, Ari Schamrons Ziehsohn, hatte endlich seinen rechtmäßigen Platz als Direktor des israelischen Geheimdiensts eingenommen.

Aber sein Vorgänger blieb in der Nähe. Tatsächlich bezog Uzi Navot das auf dem Flur gegenüberliegende Büro, das einst Schamrons geschützter kleiner Schlupfwinkel gewesen war. Bisher war noch kein verabschiedeter Direktor unter demselben Dach wie sein Nachfolger geblieben. Die neue Regelung verstieß gegen einen der heiligsten Grundsätze des Diensts, der alle paar Jahre einen Neuanfang forderte. Natürlich gab es ehemalige Direktoren, die nicht loslassen konnten. Sie kreuzten gelegentlich am King Saul Boulevard auf, erzählten Geschichten aus dem Krieg, erteilten unerbetene Ratschläge und waren allgemein lästig. Und dann gab es natürlich Schamron, den Unzerstörbaren, den brennenden Busch. Schamron hatte den Dienst von Anfang an nach eigenen Vorstellungen aufgebaut. Er hatte ihm seine Identität, sogar seine eigene Sprache gegeben und hielt es für sein angestammtes Recht, sich dort einzumischen, wie’s ihm passte. Es war Schamron gewesen, der Navot zum Direktor gemacht hatte, und der »Alte« hatte ihm den Posten wieder weggenommen, als seine Zeit um war.

Aber es war Gabriel, der darauf bestand, dass Navot mit allen Privilegien seiner bisherigen Stellung blieb. Sie teilten sich eine Sekretärin – die energische Orit, am King Saul Boulevard wegen ihrer Fähigkeit, unerwünschte Besucher abzuwimmeln, als Eiserne Lady bekannt –, und Navot behielt seinen Dienstwagen und so viele Personenschützer wie bisher, was zu leisem Protest in der Knesset führte, aber als friedenstiftende Maßnahme unerlässlich war. Sein genauer Titel war ziemlich vage, was jedoch für den Dienst typisch war. Schließlich waren seine Mitarbeiter von Beruf Lügner, die nur untereinander die Wahrheit sprachen. Allen anderen gegenüber – ihren Frauen, ihren Kindern, den Bürgern, die zu beschützen sie geschworen hatten – tarnten sie sich sorgfältig.

Standen ihre Bürotüren offen, was im Allgemeinen der Fall war, konnten Gabriel und Navot sich über den Flur hinweg sehen. Sie telefonierten jeden Morgen miteinander, trafen sich zum Lunch – manchmal im Kasino, manchmal unter vier Augen in Gabriels Büro – und kamen jeden Abend zu einer kurzen Besprechung zusammen, die bei Gabriels Opernmusik stattfand, die Navot verabscheute, obwohl er aus einer guten Wiener Familie stammte. Navot hatte keinen Sinn für Musik, und die bildenden Künste langweilten ihn. Ansonsten stimmten Gabriel und er in allen Dingen völlig überein, zumindest wenn es um den Dienst und die Sicherheit des Staates Israel ging. Navot hatte durchgesetzt, jederzeit Zugang zu Gabriel zu haben, und bestand darauf, an allen wichtigen Besprechungen auf der Führungsebene teilzunehmen. Im Allgemeinen schwieg er einer Sphinx gleich und saß mit verschränkten muskulösen Armen und schwer zu deutendem Gesichtsausdruck am Tisch. Gelegentlich beendete er jedoch einen von Gabriel begonnenen Satz, als wolle er demonstrieren, dass zwischen sie kein Blatt Papier passte. Sie glichen Boas und Jachin, den beiden Säulen am Eingang von Salomos Tempel, und wer auch nur daran dachte, sie gegeneinander auszuspielen, würde einen hohen Preis zahlen. Gabriel war ein beliebter Direktor, aber trotzdem der Chef des Diensts, der an seinem Hof keine Intrigen duldete.

Intrigen waren allerdings unwahrscheinlich, denn die Männer und Frauen seines Führungsstabs bildeten eine verschworene Gemeinschaft. Alle stammten aus der Eliteeinheit Barak, die einige der spektakulärsten Unternehmen in der Geschichte des an Superlativen nicht armen Diensts durchgeführt hatte. Sie hatten jahrelang in einem Kellerraum gearbeitet, der eigentlich ein Lagerraum für alte Möbel gewesen war. Jetzt arbeiteten sie in Büros, die sich an Gabriels Suite anschlossen. Selbst Eli Lavon, einer der prominentesten Bibelarchäologen Israels, hatte seine Dozentenstelle an der Hebrew University aufgegeben, um in den Dienst zurückzukehren. Normalerweise beaufsichtigte Lavon die Beschatter, die Taschendiebe und die Lauscher, die mit versteckten Kameras und Mikrofonen arbeiteten. In der Praxis setzte Gabriel ihn für alle möglichen Aufgaben ein, wie er’s für richtig hielt. Lavon, der beste Überwacher, den der Dienst je hervorgebracht hatte, arbeitete seit dem Unternehmen »Zorn Gottes« mit Gabriel zusammen. Sein kleines Büro mit Ausgrabungsfunden in einer Vitrine war eine Oase der Stille, in der Gabriel sich manchmal für ein paar Minuten erholte. Lavon war nie sehr redselig gewesen. Wie Gabriel arbeitete er am besten geräuschlos im Dunkel.

Einige Veteranen fragten sich, ob Gabriel gut beraten sei, wenn er so viele Loyalisten und Relikte aus seiner ruhmreichen Vergangenheit in den Führungsstab holte. Aber sie behielten ihre Bedenken für sich. Außer Schamron hatte kein anderer Direktor sein Amt mit mehr Erfahrung und einem größeren Vertrauensvorschuss angetreten. Gabriel war schon länger in der Branche als jeder andere und hatte in dieser Zeit ungewöhnliche Freunde und Komplizen gewonnen. Der britische Premierminister verdankte ihm seine Karriere, der Papst sein Leben. Trotzdem war er kein Mann, der rücksichtslos alte Schulden einforderte. Der wirklich Mächtige, sagte Schamron, braucht nie um einen Gefallen zu bitten.

Aber er hatte auch Feinde, die das Leben seiner ersten Frau zerstört und später versucht hatten, seine zweite Frau zu ermorden. Feinde in Moskau und Teheran, für die er das einzige Hindernis bei der Verwirklichung ihrer Pläne war. Vorläufig waren sie besiegt, aber sie würden zweifellos wieder auferstehen. Das galt auch für den Mann, mit dem er sich zuletzt duelliert hatte. Tatsächlich stand dieser Mann auf der To-do-Liste des neuen Direktors ganz oben. Die Computer des Diensts hatten ihm einen willkürlich erzeugten Decknamen zugewiesen. Aber hinter den elektronisch gesicherten Türen am King Saul Boulevard benutzten Gabriel und sein Stab den glorreichen Kampfnamen, den er angenommen hatte. Saladin … Sie sprachen mit Respekt und gewisser Besorgnis von ihm. Er hatte es auf sie abgesehen. Wann er zuschlagen würde, war nur eine Frage der Zeit.

Bei befreundeten Geheimdiensten machte ein Foto die Runde. Es war von einem CIA-Agenten in der paraguayischen Stadt Ciudad del Este in dem berüchtigten Dreiländereck Südamerikas gemacht worden. Es zeigte einen arabisch aussehenden Mann, groß, kräftig gebaut, mit einem Libanesen, der angeblich Verbindungen zum internationalen Dschihadismus hatte, auf der Terrasse eines Cafés. Der ungünstige Aufnahmewinkel verhinderte den Einsatz von Software zur Gesichtserkennung. Aber für Gabriel, der selten scharfe Augen besaß, war dieser Mann Saladin. Zwei Tage vor dem schlimmsten Terroranschlag auf amerikanischem Boden seit dem 11. September hatte er Saladin mit eigenen Augen in der Halle des Hotels Four Seasons in Washington, D. C., gesehen. Gabriel wusste, wie Saladin aussah, wie er roch, wie die Luft reagierte, wenn er einen Raum betrat oder verließ. Und er wusste, wie Saladin ging. Wie sein Namensvetter hinkte er stark: als Folge einer Verletzung durch Bombensplitter, die in einem Haus mit vielen Zimmern und Innenhöfen in der Nähe von Mossul im Nordirak unter primitiven Umständen behandelt worden war. Dieses Hinken war jetzt sein Markenzeichen. Die äußere Erscheinung eines Mannes ließ sich auf vielerlei Weise verändern; Haare konnten geschnitten oder gefärbt werden, Gesichtszüge ließen sich operativ korrigieren. Aber ein Hinken wie Saladins blieb ewig.

Wie er’s geschafft hatte, aus den USA zu flüchten, wurde intensiv diskutiert, und alle Versuche, ihn erneut aufzuspüren, waren fehlgeschlagen. Berichten nach sollte er in Asunción, Santiago oder Buenos Aires gesehen worden sein. Es gab sogar ein Gerücht, er habe in Bariloche, dem bei NS-Kriegsverbrechern so beliebten argentinischen Wintersportort, Zuflucht gefunden. Diese Idee verwarf Gabriel sofort. Trotzdem konnte er sich vorstellen, Saladin halte sich irgendwo öffentlich sichtbar auf und plane dort seinen nächsten Anschlag. Davon war er sogar überzeugt.

Seit dem kürzlichen Anschlag in Washington mit seinen zerstörten Gebäuden und Denkmälern und der katastrophalen Opferzahl war Saladin als das neue Gesicht des islamischen Terrors etabliert. Aber was plante er als Nächstes? In einem seiner letzten Interviews, bevor er aus dem Amt schied, behauptete der US-Präsident, Saladin könne kein ähnlich großes Unternehmen mehr planen, weil das US-Militär sein früher so effizientes Netzwerk zerschlagen habe. Saladins Antwort bestand daraus, dass er einem Selbstmordattentäter befahl, sich vor der US-Botschaft in Kairo in die Luft zu sprengen. »Peanuts«, konterte das Weiße Haus. Nur ein halbes Dutzend Tote, kein Amerikaner unter den Opfern. Die Verzweiflungstat eines Mannes auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit.

Vielleicht, aber es gab noch weitere Angriffe. In der Türkei schlug Saladin anscheinend nach Belieben zu – Hochzeiten, Busse, öffentliche Plätze, der belebte Flughafen Istanbul –, und seine Gefolgsleute in Westeuropa, die seinen Namen fast andächtig sprachen, verübten als Einzeltäter eine Serie von Attentaten, die eine Spur des Todes durch Frankreich, Belgien und Deutschland zogen. Zugleich war zu ahnen, dass etwas Großes bevorstand: ein koordiniertes Unternehmen, ein spektakulärer Terroranschlag, der es mit dem in Washington würde aufnehmen können.

Aber wo? Ein weiterer Anschlag auf die USA erschien wenig wahrscheinlich. Bestimmt, sagten die Experten, würde der Blitz nicht zweimal an derselben Stelle einschlagen. Letzten Endes war die Stadt, die Saladin für seinen nächsten Auftritt wählte, für niemanden eine Überraschung, vor allem nicht für berufsmäßige Terroristenjäger. Trotz seiner Geheimhaltungssucht liebte Saladin das Rampenlicht. Und wo hätte er eine bessere Bühne finden können als im Londoner West End?

2

ST. JAMES’S, LONDON

Vielleicht stimmt es tatsächlich, dachte Julian Isherwood, während er beobachtete, wie der Wind unter dem fast schwarzen Himmel dichte Regenschleier vor sich hertrieb. Vielleicht ist unser Planet wirklich kaputt. Ein Hurrikan in London – und noch dazu Mitte Februar! Für solche Verhältnisse war Isherwood, der groß und schlaksig war, nicht gut gewappnet. Im Augenblick hatte er im Eingang seines Stammlokals – Wiltons Restaurant in der Jermyn Street – Zuflucht gesucht. Er schob den Ärmel seines Regenmantels zurück und sah stirnrunzelnd auf seine Armbanduhr. Schon 19.40 Uhr; er war zu spät dran. Er suchte die Straße nach einem Taxi ab. Natürlich war keines zu sehen.

Aus der Bar des Wiltons drang halbherziges Lachen, dann war der dröhnend laute Bariton des dicklichen Oliver Dimbleby zu hören. Das Wiltons war jetzt das Stammlokal einer kleinen Gruppe von Kunsthändlern, die auf alte Meister spezialisiert waren und ihre Galerien in den verwinkelten Gassen von St. James hatten. Früher war Green’s Restaurant & Oyster Bar in der Duke Street ihr Favorit gewesen, aber das Green’s hatte nach Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft, die den riesigen Londoner Immobilienbesitz der Königin verwaltete, schließen müssen. Das war symptomatisch für die Veränderungen in diesem Viertel und der Londoner Kunstwelt insgesamt. Altmeister waren völlig aus der Mode. Die heutigen Sammler, mit sozialen Medien und Apps für iPhones über Nacht zu Geld gekommene globale Milliardäre, interessierten sich nur für moderne Kunst. Selbst die Impressionisten waren allmählich passé. Seit Neujahr hatte Isherwood nur zwei Gemälde verkauft. Beide Durchschnittsware, Schule von soundso, in der Manier von soundso. Oliver Dimbleby hatte seit einem halben Jahr nichts mehr verkauft. Auch Roddy Hutchinson nicht, der als der aggressivste Londoner Kunsthändler galt. Aber sie versammelten sich allabendlich im Wiltons an der Bar, um einander zu versichern, der Sturm werde sich bald legen. Allein Julian Isherwood glaubte nicht daran, sondern fürchtete mehr denn je das Gegenteil.

Er hatte schon früher schlimme Zeiten erlebt. Seine englische Erscheinung, seine englische Eleganz und sein urenglischer Name tarnten die Tatsache, dass er eigentlich gar kein Engländer war. Gewiss, er hatte einen britischen Pass in der Tasche, aber er war als Kind deutscher Juden in Frankreich aufgewachsen. Nur eine Handvoll verlässlicher Freunde wusste, dass Isherwood 1942 als unbegleitetes Flüchtlingskind nach London gelangt war, nachdem zwei baskische Hirten ihn über die verschneiten Pyrenäen getragen hatten. Oder dass sein Vater, der bekannte Pariser Galerist Samuel Isakowitz, mit seiner Frau im Todeslager Sobibór ermordet worden war. Obwohl Isherwood die Geheimnisse seiner Vergangenheit sorgfältig hütete, hörte der israelische Geheimdienst von seiner dramatischen Flucht aus dem von den Deutschen besetzten Europa. Und als es Mitte der siebziger Jahre zahlreiche palästinensische Anschläge auf israelische Einrichtungen in Europa gab, war er als Sajan, als freiwilliger Helfer, angeworben worden. Isherwood hatte nur einen einzigen Auftrag ausgeführt: Er hatte mitgeholfen, einen jungen Restaurator und Berufskiller namens Gabriel Allon mit einer glaubhaften Legende auszustatten und sie aufrechtzuerhalten. In den letzten Jahren hatten ihre Karrieren sich bemerkenswert unterschiedlich entwickelt. Als Direktor des israelischen Geheimdiensts war Gabriel jetzt einer der mächtigsten Spione der Welt. Und Isherwood? Der stand leicht angeheitert in der Jermyn Street im Eingang von Wiltons Restaurant, fröstelte im Westwind und wartete auf ein Taxi, das nie kommen würde.

Er sah erneut auf seine Armbanduhr. 19.43 Uhr. Weil er keinen Schirm bei sich hatte, hielt er sich seine alte lederne Aktentasche über den Kopf und hastete zum Piccadilly hinüber, wo er nach weiteren fünf Minuten im Regen dankbar auf den Rücksitz eines Taxis sank. Er nannte dem Fahrer eine ungefähre Adresse – sein wahres Ziel zu nennen wäre ihm zu peinlich gewesen – und sah sorgenvoll auf die Uhr, als das Taxi in Richtung Piccadilly Circus kroch. Dort bog es auf die Shaftesbury Avenue ab und erreichte um Punkt acht Uhr die Charing Cross Road. Damit war Isherwood für seine Reservierung offiziell zu spät dran.

Vermutlich hätte er anrufen und sagen sollen, er sei aufgehalten worden, aber damit hätte er riskiert, dass das Restaurant seinen Tisch anderweitig vergab. Dabei hatte er einen Monat lang betteln und Leute bestechen müssen, um überhaupt einen zu bekommen. Isherwood hatte keine Lust, das alles mit einem panikartigen Anruf aufs Spiel zu setzen. Außerdem war Fiona vielleicht schon da. Das gehörte zu den Dingen, die Isherwood am meisten an Fiona Gardner schätzte: Sie war pünktlich. Außerdem gefielen ihm ihr blondes Haar, ihre blauen Augen, ihre langen Beine und ihre sechsunddreißig Jahre. Im Augenblick fand er tatsächlich nichts, was ihm an Fiona nicht gefiel – und nur deshalb hatte er sich intensiv um einen Tisch in einem Restaurant bemüht, in das er normalerweise keinen Fuß gesetzt hätte.

Weitere fünf Minuten verstrichen, bevor das Taxi Isherwood endlich vor dem St Martin’s Theatre, dem Dauerspielort von Agatha Christies Mausefalle, absetzte. Er überquerte rasch die West Street zu dem berühmten Ivy, das sein wahres Ziel war. Der Maître d’hôtel teilte ihm mit, Miss Gardner sei noch nicht da, aber sein Tisch sei wie durch ein Wunder noch frei. Isherwood gab seinen Regenmantel an der Garderobe ab und wurde zu einer Sitznische mit Blick auf die Litchfield Street geleitet.

Dort saß er allein und betrachtete missbilligend sein Spiegelbild im Fenster. Mit seinem Anzug aus der Savile Row, der scharlachroten Krawatte und der grauen Lockenmähne war er eine ziemlich elegante, wenn auch leicht zweifelhafte Erscheinung: ein Look, den er als würdevolle Verderbtheit bezeichnete. Trotzdem ließ sich nicht leugnen, dass er das Stadium erreicht hatte, das Vermögensberater gern den »Lebensherbst« nannten. Nein, dachte er trübselig, du bist alt. Viel zu alt, um Frauen wie Fiona Gardner nachzustellen. Wie viele andere hatte es schon gegeben? Die Kunststudentinnen, die Junior-Kuratorinnen, die Rezeptionistinnen, die hübschen Girls, die bei Christie’s und Sotheby’s Telefongebote entgegennahmen. Isherwood war nicht wählerisch; er hatte sie alle geliebt. Er glaubte an die Liebe, wie er an die Kunst glaubte. Liebe auf den ersten Blick. Ewige Liebe. Liebe, bis der Tod uns scheidet. Das Problem war nur, dass er sie nie gefunden hatte.

Plötzlich musste er an einen nicht lange zurückliegenden Nachmittag in Venedig denken: ein Ecktisch in Harry’s Bar, ein Bellini, Gabriel … Der hatte ihm versichert, er könne noch heiraten und ein, zwei Kinder bekommen. Sein verwüstetes Spiegelbild sagte etwas anderes. Er hatte sein Verfallsdatum überschritten. Er würde, mit seiner Galerie verheiratet, allein, kinderlos sterben.

Isherwood sah nochmals auf seine Armbanduhr. 20.15 Uhr. Jetzt hatte Fiona Verspätung, was ihr nicht ähnlich sah. Er zog sein Smartphone aus der Innentasche seines Jacketts und sah, dass er eine SMS bekommen hatte: SORRY, JULIAN, ABER ICH KANN LEIDER NICHT … Er las nicht weiter. Vielleicht war das nur gut. Es würde ihm ein gebrochenes Herz ersparen. Und vor allem würde es verhindern, dass er sich wieder einmal zum Narren machte.

Er steckte sein Smartphone ein und überlegte, was er tun sollte. Er konnte bleiben und allein dinieren, oder er konnte gehen. Er entschied sich für Letzteres, denn im Ivy dinierte man nicht allein. Isherwood stand auf, holte sich seinen Mantel, ging mit einer gemurmelten Entschuldigung an dem Maître d’hôtel vorbei und trat auf die Straße hinaus, als eben ein weißer Ford Transit vor dem St Martin’s Theatre hielt. Der Fahrer, der einen weit geschnittenen dunkelblauen Kolani trug und etwas in der Hand hielt, das wie eine Waffe aussah, sprang sofort heraus. Nicht irgendeine Waffe, dachte Isherwood, sondern eine Kriegswaffe! Vier weitere Männer, alle mit weiten dunkelblauen Jacken und Sturmgewehren, kletterten durch die Hecktür aus dem Laderaum. Isherwood wollte seinen Augen nicht trauen. Dies sah wie eine Szene aus einem Film aus, den er aus Paris und Washington kannte.

Die fünf Männer marschierten in eng geschlossener Formation zum Eingang des Theaters. Isherwood hörte Holz zersplittern, dann fielen Schüsse. Nur wenige Sekunden später waren die ersten Schreie zu hören: gedämpft, aus weiter Ferne. Schreie aus Isherwoods Albträumen. Er dachte wieder an Gabriel und fragte sich, was er in dieser Situation getan hätte. Er wäre sofort ins Theater gestürmt, um möglichst viele Menschenleben zu retten. Aber Isherwood besaß nicht Gabriels Mut, auch nicht seine Fähigkeiten. Er war kein Held. Tatsächlich war er eher das Gegenteil.

Die albtraumhaften Schreie wurden lauter. Isherwood zog sein Smartphone heraus, wählte mit zitternden Fingern die 999 und meldete einen Terroranschlag aufs St Martin’s Theatre. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und starrte das Luxusrestaurant an, das er soeben verlassen hatte. Die reichen Gäste darin schienen nichts von dem Massaker zu ahnen, das ganz in ihrer Nähe stattfand. Isherwood fürchtete jedoch, die Terroristen würden sich nicht mit nur einem Überfall begnügen. Das angesagte Ivy konnte ihr nächstes Ziel sein.

Er überlegte, welche Optionen ihm offenstanden. Wieder waren es zwei: Er konnte flüchten – oder versuchen, möglichst viele Menschenleben zu retten. Dies war die leichteste Entscheidung seines Lebens. Als er zum Eingang des Restaurants stolperte, hörte er von der Charing Cross Road her eine Detonation. Dann eine weitere. Dann eine dritte. Du bist kein Held, dachte er, als er wie ein Verrückter die Arme schwenkend ins Ivy stürmte, aber du kannst dich wenigstens ein paar Augenblicke lang wie einer benehmen. Vielleicht hatte Gabriel recht. Vielleicht war’s doch noch nicht zu spät für ihn.

3

VAUXHALL CROSS, LONDON

Sie waren zu zwölft, ihrer Abstammung nach Araber und Afrikaner, ihren Reisepässen nach Europäer. Alle hatten einige Zeit im Kalifat des Islamischen Staats verbracht – auch in dem jetzt zerstörten Ausbildungslager am Rand der alten syrischen Stadt Palmyra – und waren unentdeckt nach Westeuropa zurückgekehrt. Später würde festgestellt werden, dass sie ihre Befehle über Telegram Messenger, einem cloudbasierten kostenlosen Messaging-Dienst mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, erhalten hatten. Sie bekamen nur mitgeteilt, wann sie an einem bestimmten Ort sein sollten. Sie wussten nicht, dass andere denselben Befehl erhalten hatten und auf welche Weise sie zu einer größeren Verschwörung gehörten. In Wirklichkeit wussten sie nicht einmal, dass sie Akteure einer Verschwörung waren.

Sie sickerten mit dem Zug und auf Kanalfähren einzeln nach Großbritannien ein. Zwei oder drei wurden bei der Einreise kurz befragt; die anderen wurden mit offenen Armen empfangen. Vier von ihnen reisten in die Kleinstadt Luton weiter, vier nach Harlow und vier nach Gravesend. Dort wurden sie jeweils von einem örtlichen Vertreter des Netzwerks erwartet, der auch ihre Ausrüstung – Sturmgewehre und Sprengstoffwesten – bereithielt. In jeder Weste steckte ein Kilogramm TATP, ein hochexplosiver kristalliner Sprengstoff aus Nagellackentferner und Wasserstoffperoxid. Ihre Sturmgewehre waren AK-74 aus weißrussischer Produktion.

In Einsatzbesprechungen informierten die örtlichen Kontaktpersonen des Netzwerks die Viererzellen über ihre Angriffsziele und ihren Auftrag. Sie waren keine Selbstmordattentäter, sondern Selbstmordkrieger. Sie sollten möglichst viele Ungläubige erschießen und sich erst in die Luft sprengen, wenn sie von der Polizei umzingelt waren. Zweck ihres Angriffs war nicht die Zerstörung von Gebäuden oder Denkmalen, sondern möglichst viel Blutvergießen. Sie sollten keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen, Erwachsenen und Kindern machen. Gnade durfte es nicht geben.

Am Spätnachmittag setzten sich Männer der drei Zellen in Luton, Harlow und Gravesend zu einem Abschiedsmahl zusammen. Anschließend bereiteten sie ihren Leib rituell auf den Tod vor, bevor sie um 19 Uhr drei identische weiße Ford Transit bestiegen. Gefahren wurden sie von den örtlichen Kontaktpersonen des Netzwerks; die Selbstmordkrieger mit ihren Westen und Sturmgewehren saßen im Laderaum. Keine der Zellen wusste von den anderen, aber alle drei waren nach West London unterwegs, wo sie zur selben Zeit angreifen würden. Ein exakter Zeitpunkt war Saladins Markenzeichen. Bei Terroranschlägen sei Timing, wie im Leben, alles, fand er.

Das altehrwürdige Garrick Theatre hatte zwei Weltkriege, den Kalten Krieg, eine Weltwirtschaftskrise und die Abdankung eines Königs erlebt. Aber es hatte noch nie etwas mitgemacht wie um 20.20 Uhr an diesem Abend, als fünf IS-Terroristen das Theater stürmten und in die Menge zu schießen begannen. Über hundert Menschen würden in den ersten dreißig Sekunden des Überfalls sterben, und weitere hundert würden in den folgenden fünf Minuten sterben, als die Terroristen das Theater systematisch Reihe für Reihe, Sitz für Sitz durchkämmten. Rund zweihundert Zuschauer konnten sich durch die seitlichen und rückwärtigen Ausgänge retten, was auch dem Ensemble und allen Bühnenarbeitern gelang. Viele von ihnen würden niemals mehr ein Theater betreten.

Sieben Minuten nach ihrem Eindringen verließen die Terroristen das Garrick wieder. Draußen liefen ihnen zwei unbewaffnete Beamten der Metropolitan Police über den Weg. Nachdem sie die beiden erschossen hatten, rannten sie zur Irving Street weiter und schossen in einem Restaurant nach dem anderen um sich, bis ihnen am Rand des Leicester Square zwei bewaffnete Polizeibeamte entgegentraten. Obwohl sie nur mit 9-mm-Pistolen Glock 17 bewaffnet waren, gelang es ihnen, zwei Terroristen zu erschießen, bevor die ihre Sprengstoffwesten zünden konnten. Zwei der überlebenden Terroristen sprengten sich im belebten Foyer des Odeon Cinemas in die Luft, der dritte in einem gut besetzten italienischen Restaurant. Insgesamt starben allein bei diesen Angriffen fast vierhundert Menschen – mehr als bei jedem anderen Anschlag in der Geschichte Großbritanniens, mehr als im Jahr 1988 bei dem Bombenanschlag auf Pan-Am-Flug 103 über dem schottischen Lockerbie.

Unglücklicherweise operierte diese Fünfmannzelle jedoch nicht allein. Ebenfalls um Punkt 20.20 Uhr drang eine weitere Zelle – die Luton-Zelle, wie sie später genannt wurde – während einer Vorstellung von Miss Saigon ins Prince Edward Theatre ein. Weil das Prince Edward mit 1600 zu 656 Plätzen weit größer war als das Garrick, lag die Zahl der Toten und Verletzten entsprechend höher. Außerdem zündeten alle fünf Terroristen ihre Sprengstoffwesten in Bars und Restaurants entlang der Old Compton Street. So gab es in nur sechs Minuten über fünfhundert Tote.

Das dritte Ziel war das St Martin’s Theatre, in das fünf Terroristen um Punkt 20.20 Uhr eindrangen. Diesmal intervenierte jedoch ein Sondereinsatzkommando der Metropolitan Police. Später wurde gemeldet, ein nur als »bekannter Londoner Galerist« bezeichneter Mann habe die Polizei schon in den ersten Sekunden des Überfalls alarmiert. Dieser Kunsthändler hatte auch mitgeholfen, das benachbarte Luxusrestaurant Ivy zu räumen. So blieb es bei diesem dritten Überfall bei »nur« vierundachtzig Toten. In jeder anderen Stadt wäre diese Zahl undenkbar gewesen; hier war sie Grund zur Dankbarkeit. Saladin hatte London in Angst und Schrecken versetzt. Es würde nie mehr so sein wie früher.

Am Morgen danach war das Ausmaß der Katastrophe deutlich erkennbar. Die meisten Toten lagen dort, wo sie zusammengebrochen waren; viele saßen noch in ihren Theatersitzen. Der Londoner Polizeipräsident hatte das gesamte West End zum Tatort erklärt und Einheimische und Touristen aufgefordert, das Viertel zu meiden. Die dortigen U-Bahn-Stationen wurden nicht angefahren, und alle Geschäfte und öffentlichen Einrichtungen blieben geschlossen. Der Handel an der Londoner Börse begann pünktlich, aber als die Kurse ins Bodenlose stürzten, wurde er eingestellt. Die wirtschaftlichen Verluste waren wie die an Menschenleben katastrophal.

Aus Sicherheitsgründen wartete Premierminister Jonathan Lancaster bis Mittag, bevor er die Tatorte besichtigte. Mit seiner Gattin Diana ging er zu Fuß vom Garrick zum Prince Edward und zuletzt zum St Martin’s. Vor der improvisierten Einsatzzentrale der Met auf dem Leicester Square gab er anschließend eine kurze Pressekonferenz. Blass und sichtlich betroffen versicherte er, die Verantwortlichen würden zur Rechenschaft gezogen. »Der Feind ist entschlossen«, sagte er, »aber wir sind es auch.«

Der Feind blieb jedoch eigenartig still. Gewiss, auf den bekannten extremistischen Webseiten wurden Gratulationen gepostet, aber es gab keine amtliche Mitteilung des IS-Oberkommandos. Erst um 17 Uhr Londoner Zeit übernahm der IS auf Twitter die Verantwortung für die Terroranschläge und veröffentlichte Fotos der fünfzehn Attentäter. Einige Terrorismusanalysten zeigten sich erstaunt, dass der Name Saladin nicht erwähnt wurde. Ihre besser informierten Kollegen wunderte das nicht. Saladin, sagten sie, sei ein Meister. Und wie viele Meister zog er es vor, seine Werke nicht zu signieren.

War der erste Tag durch Trauer und Solidarität gekennzeichnet gewesen, wurde der zweite von Zwiespalt und Schuldzuweisungen geprägt. Im Unterhaus kritisierten Abgeordnete der Opposition den Premierminister und seine Geheimdienste scharf, weil sie die Verschwörung nicht rechtzeitig entdeckt und vereitelt hatten. Vor allem fragten sie, wie die Terroristen sich in einem Staat, der eines der restriktivsten Waffengesetze der Welt hatte, Sturmgewehre hatten beschaffen können. Der Leiter der Abteilung Terrorismusbekämpfung der Metropolitan Police verteidigte seine Handlungsweise ebenso in einer Pressemitteilung wie Amanda Wallace, die Generaldirektorin des Inlandsgeheimdienstes MI5. Aber Graham Seymour, der Generaldirektor des als MI6 bekannten Secret Intelligence Service, zog es vor, sich nicht zu äußern. Bis vor Kurzem hatte die britische Regierung die Existenz des MI6 nie erwähnt, und kein Minister wäre auf die Idee gekommen, den Namen seines Chefs öffentlich zu nennen. Seymour waren die alten Methoden lieber gewesen als die neuen. Er war der geborene Spion und als solcher ausgebildet. Und ein Spion ließ sich nie mit einer Äußerung zitieren, wenn der Tipp einer geplant undichten Stelle an einen wohlgesinnten Journalisten ausreichte.

Die Verantwortung für die Terrorismusabwehr in Großbritannien lag in erster Linie beim MI5, der Metropolitan Police und dem Gemeinsamen Analysezentrum für Terrorismus. Trotzdem hatte auch der Secret Intelligence Service eine wichtige Rolle dabei zu spielen, Anschlagspläne im Ausland zu entdecken, bevor sie in Großbritannien in die Tat umgesetzt wurden. Graham Seymour hatte den Premierminister mehrfach gewarnt, ein IS-Anschlag stehe unmittelbar bevor, aber seine Spione hatten keine belastbaren Beweise beschaffen können, um ihn zu verhindern. Deshalb betrachtete er die Londoner Anschläge mit ihren erschreckenden Opferzahlen als den einzigen großen Misserfolg in seiner langen ruhmreichen Karriere.

Zum Zeitpunkt der Anschläge war Seymour in seinem prächtigen Büro über Vauxhall Cross gewesen – er hatte die Detonationsblitze von seinem Fenster aus gesehen –, das er in den folgenden dunklen Tagen nur selten verließ. Seine engsten Mitarbeiter redeten ihm zu, er brauche mehr Schlaf, und machten sich insgeheim Sorgen, weil er ungewohnt erschöpft wirkte. Seymour beschied sie knapp, sie sollten ihre Zeit lieber darauf verwenden, wichtige Informationen zu sammeln, die den nächsten Anschlag verhindern würden. Was er wollte, war ein loser Faden: ein Angehöriger von Saladins Netzwerk, der sich anwerben und »umdrehen« ließ. Niemand aus der Führungsriege; diese Männer waren viel zu loyal. Der Mann, den Graham Seymour suchte, war ein kleines Rädchen, ein Wasserträger, ein Mann aus der dritten Reihe. Vielleicht wusste er nicht mal, dass er einer Terrororganisation angehörte. Möglich war sogar, dass er den Namen Saladin nie gehört hatte.

In Krisenzeiten genießen Polizeien, geheime oder andere, bestimmte Vorteile: Sie führen Razzien durch, sie nehmen Verhaftungen vor, sie laden zu Pressekonferenzen ein, um der Öffentlichkeit zu versichern, dass sie alles Menschenmögliche zum Schutz der Bürger tun. Spione dagegen können nicht auf solche Mittel zurückgreifen. Per Definition arbeiten sie im Geheimen, in finsteren Gassen, Hotelzimmern und sicheren Häusern und an allen anderen gottverlassenen Orten, an die Agenten sich freiwillig oder gezwungenermaßen wagen müssen, um wichtige Informationen über auswärtige Mächte zu beschaffen. Zu Beginn seiner Karriere hatte auch Graham Seymour so gearbeitet. Jetzt konnte er die Bemühungen anderer nur noch aus dem vergoldeten Käfig seines Büros beobachten. Seine größte Angst war, ein anderer Dienst könnte ihm zuvorkommen, einen losen Faden entdecken und seine Organisation wieder zu einer lediglich unterstützenden Rolle verdammen. Der MI6 konnte Saladins Netzwerk nicht allein zerschlagen; dafür würde er die Hilfe befreundeter Dienste in Westeuropa, dem Nahen Osten und jenseits des Großen Teichs in Amerika brauchen. Aber wenn er rechtzeitig die richtigen Informationen beschaffte, würde Graham Seymour der Erste unter Gleichen sein. Auf mehr konnte man als Chefspion in der heutigen Welt nicht hoffen.

Und so blieb er in seinem Büro, Tag für Tag, Nacht für Nacht, und beobachtete neiderfüllt, wie Met Police und MI5 die restlichen Agenten Saladins in Großbritannien aushoben. Sein MI6 lieferte dagegen kaum Erkenntnisse. Tatsächlich erfuhr Seymour mehr von seinen Freunden in Langley und Tel Aviv als von den eigenen Mitarbeitern. Genau eine Woche nach den Anschlägen fand er schließlich, eine Nacht im eigenen Bett würde ihm guttun. Die Überwachungskameras zeichneten auf, dass sein Jaguar die Tiefgarage zufällig genau um 20.20 Uhr verließ. Als die Limousine auf der Fahrt nach Belgravia jedoch die Themse überquerte, summte sein abhörsicheres Smartphone leise. Er erkannte die angezeigte Rufnummer und erst recht die Frauenstimme, die im nächsten Augenblick zu hören war. »Hoffentlich störe ich nicht«, sagte Amanda Wallace, die Generaldirektorin des MI5, »aber ich habe etwas, das dich interessieren dürfte. Willst du nicht auf einen Drink vorbeikommen? Ich gebe einen aus.«

4

THAMES HOUSE, LONDON

Thames House, die MI5-Zentrale am Fluss, war ein Gebäude, das Seymour gut kannte: Er hatte hier fast dreißig Jahre lang gearbeitet, bevor er die Leitung des MI6 übernommen hatte. Auf dem Weg zu Amanda Wallace’ Bürosuite machte er an der Tür des Dienstzimmers halt, in dem er als stellvertretender Generaldirektor gearbeitet hatte. Miles Kent, der jetzige Stellvertreter, saß noch an seinem Schreibtisch. Er war vermutlich der einzige Mann in London, der schlechter aussah als Seymour.

»Graham«, sagte Kent und sah von seinem Computer auf. »Was führt dich in unseren stillen Winkel des Reichs?«

»Das möchte ich von dir erfahren.«

»Würde ich’s dir sagen«, antwortete Kent ruhig, »würde die Bienenkönigin mich rausschmeißen.«

»Wie hält sie sich?«

»Hast du das nicht gehört?« Kent winkte Seymour herein und schloss die Tür. »Charles ist mit seiner Sekretärin durchgebrannt.«

»Wann?«

»Ein paar Tage nach den Anschlägen. Er hat mit ihr im Ivy gegessen, als die dritte Zelle das St Martin’s überfallen hat. Angeblich hat ihn das dazu bewogen, sich kritisch im Spiegel zu betrachten. Er hat sich gesagt, so könne er nicht weiterleben.«

»Er hatte eine Ehefrau und eine Geliebte. Was wollte er noch mehr?«

»Offenbar eine Scheidung. Amanda ist bereits aus dem Haus ausgezogen. Sie schläft hier im Büro.«

»Das kommt heutzutage öfter vor.«

Diese Nachricht überraschte Seymour. Er hatte Amanda erst an diesem Morgen in der Nummer 10 Downing Street gesehen, und sie hatte keinen Ton davon gesagt. Tatsächlich war er erleichtert darüber, dass Charles’ indiskretes Liebesleben endlich ans Tageslicht gekommen war. Die Russen verstanden sich sehr gut darauf, solche Schwächen aufzuspüren, und waren nie zimperlich, wenn es galt, sie zu ihrem Vorteil zu nutzen.

»Wer weiß sonst noch davon?«

»Ich hab’s nur zufällig erfahren. Du kennst Amanda – sie hält ihr Privatleben streng geheim.«

»Schade, dass Charles nicht ebenso diskret war.« Seymour griff nach der Türklinke, ging aber noch nicht. »Hast du eine Ahnung, weshalb sie mich so dringend sprechen will?«

»Weil es ihr Spaß macht, mit dir zu reden?«

»Unsinn, Miles!«

»Ich weiß nur«, sagte Kent, »dass es irgendwas mit Waffen zu tun hat.«

Seymour trat auf den Korridor hinaus. Über Amanda Wallace’ Tür brannte das grüne Lämpchen. Trotzdem klopfte er leicht an, bevor er eintrat. Amanda blätterte, an ihrem großen Schreibtisch sitzend, in einem aufgeschlagenen Dossier. Sie blickte auf und bedachte Seymour mit einem kühlen Lächeln. Es war so perfekt, dass er vermutete, sie habe es vor dem Spiegel eingeübt.

»Graham«, sagte sie und stand auf. »Wie schön, dass du kommen konntest.«

Amanda kam langsam hinter dem Schreibtisch hervor. Wie immer trug sie einen maßgeschneiderten Hosenanzug, der ihrer großen, hageren Gestalt schmeichelte. Ihre Annäherung war vorsichtig. Graham Seymour und Amanda Wallace waren ungefähr zur selben Zeit vom MI5 rekrutiert worden und hatten sich fast dreißig Jahre lang erbittert bekämpft. Jetzt bekleideten sie zwei der wichtigsten Geheimdienstposten der westlichen Welt, aber ihre Rivalität hatte kaum abgenommen. Der Gedanke, die Terroranschläge könnten ihre Beziehung auf eine neue Grundlage stellen, war verlockend, aber Seymour glaubte nicht recht daran. Der unvermeidliche parlamentarische Untersuchungsausschuss würde schwere Fehler und Versäumnisse des MI5 aufdecken. Amanda würde sich erbittert ihrer Haut wehren und auch dafür sorgen, dass Seymour und der MI6 einen guten Teil der Verantwortung übernahmen.

Am Ende von Amandas poliertem Konferenztisch stand ein Tablett mit Gläsern, Flaschen und einem Cocktailshaker. Sie mixte für Seymour einen Gin Tonic und für sich selbst einen Martini mit einer Olive und Perlzwiebeln. Nachdem sie sich wortlos zugetrunken hatten, führte sie Seymour zu der Sitzgruppe hinüber und bot ihm mit einer Handbewegung einen der modernen Ledersessel an. Auf einem wandgroßen Flachbildschirm liefen die BBC World News. Britische und amerikanische Flugzeuge griffen IS-Stellungen in der Nähe der syrischen Stadt Raqqa an. Den irakischen Teil des Kalifats hatte die Zentralregierung in Bagdad größtenteils zurückerobert. Aber die Gebietsverluste hatten die Fähigkeit des Islamischen Staats, Terroranschläge im Ausland zu verüben, keineswegs beeinträchtigt. Das bewiesen die jüngsten Anschläge in London.

»Wo ist er deiner Ansicht nach?«, fragte Amanda.

»Saladin?«

»Wer sonst?«

»Wir haben keine gesicherten Erkenntnisse über …«

»Du redest nicht mit dem Premierminister, Graham.«

»Ich vermute ihn irgendwo außerhalb des rapide schrumpfenden Kalifats.«

»Wo genau?«

»Vielleicht in Libyen oder einem der Emirate am Persischen Golf. Oder er könnte in Pakistan oder einem vom IS kontrollierten Teil Afghanistans sein. Oder«, sagte Seymour, »er ist näher, als wir denken. Er hat Geld und Freunde. Und denk daran, dass er mal einer von uns war. Vor dem zweiten Irakkrieg war er beim irakischen Muchabarat, hat in Saddams Auftrag palästinensische Terroristen unterstützt. Er kennt sich in der Szene aus.«

»Das ist gewaltig untertrieben«, sagte Amanda Wallace. »Saladin lässt fast Sehnsucht nach der guten alten Zeit mit KGB-Spionen und IRA-Bombenlegern aufkommen.« Sie nahm Seymour gegenüber Platz und stellte ihr Glas auf den Couchtisch. »Ich muss dir etwas erzählen, Graham. Charles hat mich wegen seiner Sekretärin verlassen. Sie ist halb so alt wie er. Welch banales Klischee!«

»Das tut mir sehr leid, Amanda.«

»Wusstest du, dass er eine Affäre hatte?«

»Es hat allerlei Gerüchte gegeben«, antwortete Seymour taktvoll.

»Mir sind sie nicht zu Ohren gekommen – dabei leite ich den MI5! Anscheinend haben die Leute recht: Die Ehefrau erfährt immer als Letzte davon.«

»Gibt’s keine Chance auf eine Aussöhnung?«

»Keine.«

»Die Scheidung wird bestimmt unangenehm.«

»Und teuer«, fügte Amanda hinzu. »Vor allem für Charles.«

»Du wirst zum Rücktritt gedrängt werden.«

»Genau deswegen«, sagte Amanda, »werde ich deine Unterstützung brauchen.« Sie schwieg einen Augenblick. »Ich weiß, dass unsere Privatfehde hauptsächlich von mir ausgegangen ist, Graham, aber nun wird’s Zeit, sie zu beenden. Wenn die Berliner Mauer fallen konnte, müssten wir’s schaffen können, wie Freunde miteinander umzugehen.«

»Ich bin völlig deiner Meinung.«

Diesmal wirkte Amandas Lächeln fast echt. »Und jetzt zu dem wahren Grund, weshalb ich um deinen Besuch gebeten habe.« Als sie einen Knopf der Fernbedienung drückte, erschien auf dem Flachbildschirm das Gesicht eines Mannes ägyptischer Abstammung Anfang dreißig mit Dreitagebart. Es gehörte Omar Salah, dem Anführer der sogenannten Harlow-Zelle, den ein bewaffneter Polizeibeamter vor dem St Martin’s Theatre erschossen hatte, bevor er seine Sprengstoffweste hatte zünden können. Seymour kannte die Akte Salah sehr gut. Er gehörte zu den Tausenden von europäischen Muslimen, die nach Syrien oder in den Iran gereist waren, nachdem der IS im Juni 2014 sein Kalifat ausgerufen hatte. Nach seiner Rückkehr nach Großbritannien war Omar Salah vom MI5 über ein Jahr lang überwacht worden. Gut ein halbes Jahr vor den Anschlägen hatte der MI5 ihn jedoch von der Liste akuter Gefährder gestrichen. A4, die Überwacher, waren heillos überlastet, und Salah schien sich nicht mehr für den radikalen Islam und den Dschihad zu interessieren. Die Einstellungsverfügung trug Amandas Unterschrift. Weder sie noch ihre britischen Geheimdienstkollegen ahnten, dass Salah weiter mit dem IS-Oberkommando in Verbindung stand und dabei eine Verschlüsselung benutzte, die selbst die mächtige amerikanische National Security Agency nicht knacken konnte.

»Das war nicht deine Schuld«, sagte Seymour ruhig.

»Vielleicht nicht«, antwortete Amanda. »Aber vermutlich werde ich den Sündenbock spielen müssen – außer es gelingt mir, den bedauerlichen Fall Salah zu meinem Vorteil zu nutzen.« Sie machte eine Pause, dann fügte sie hinzu: »Oder besser gesagt zu unserem Vorteil.«

»Und wie wäre das möglich?«

»Omar Salah hat nicht nur eine islamistische Mörderbande ins St Martin’s Theatre geführt. Er war auch der Mann, der die Waffen ins Land geschmuggelt hat.«

»Wo hat er sie herbekommen?«

»Von einem IS-Agenten in Frankreich.«

»Sagt wer?«

»Sagt Omar.«

»Bitte, Amanda«, sagte Seymour müde, »es ist schon spät.«

Sie nickte zu dem Gesicht auf dem Bildschirm hinüber. »Er war gut, unser Omar, aber er hat einen kleinen Fehler gemacht. Er hat den Laptop seiner Schwester für IS-Zwecke benutzt. Wir haben ihn am Tag nach dem Attentat beschlagnahmt und seither ausgewertet. Heute Nachmittag haben wir eine gelöschte verschlüsselte Nachricht gefunden, die Omar angewiesen hat, nach Calais zu fahren und sich mit einem Mann zu treffen, der sich ›Skorpion‹ nennt.«

»Klangvoll«, meinte Seymour düster. »Aber ist auch die Rede von Waffen?«

»Die Nachricht ist verschleiert, aber eindeutig. Außerdem stimmt sie mit einer Mitteilung überein, die wir letztes Jahr von der DGSI erhalten haben. Anscheinend haben die Franzosen diesen Skorpion seit einiger Zeit auf dem Radar. Leider wissen sie nicht allzu viel über ihn, auch seinen wahren Namen nicht. Ihrer Theorie nach gehört er einer Bande von Drogenschmugglern an, vermutlich aus Marokko.«

Klingt logisch, dachte Seymour. Die Verbindungen zwischen dem IS und kriminellen Netzwerken in Europa waren nicht zu leugnen.

»Hast du den Franzosen das alles schon mitgeteilt?«, fragte er.

»Ich habe nicht die Absicht, die Sorge für unsere nationale Sicherheit in die Hände der DGSI zu legen. Außerdem möchte ich den Skorpion vor den Franzosen aufspüren. Aber das kann ich leider nicht«, fügte sie rasch hinzu. »Mein Mandat endet an den Küsten.«

Seymour schwieg.

»Ich will mir nicht anmaßen, dir gute Ratschläge zu erteilen, Graham. Aber an deiner Stelle würde ich gleich morgen früh einen Mann nach Frankreich schicken. Jemanden, der gut Französisch spricht. Der sich mit kriminellen Organisationen auskennt. Der keine Angst davor hat, sich die Hände schmutzig zu machen.« Sie lächelte. »Du hast nicht zufällig einen Mann dieser Art, was, Graham?«

5

HAMPSHIRE, ENGLAND

In die Hafenstadt im Süden Englands war er wie viele andere vor ihm gekommen: auf dem Rücksitz eines Dienstwagens mit getönten Scheiben. Der Van hatte in rascher Fahrt den Jachthafen und die Klinkerbauten der alten viktorianischen Lagerhäuser passiert, bevor er auf einen schmalen Weg abgebogen war, der über den ersten Fairway eines Golfplatzes führte, der an diesem Vormittag den Möwen überlassen blieb. Gleich nach dem Fairway kam ein ehemaliger Burggraben, hinter dem eine alte Festung mit grauen Steinmauern aufragte. Dieser von Heinrich VIII. im Jahr 1545 errichtete Bau diente jetzt als zentrale MI6-Ausbildungsstätte für Spione.

Der Van hielt kurz an dem Wachhäuschen, bevor er auf den Innenhof fuhr, auf dem die Wagen der Ausbilder in drei ordentlichen Reihen parkten. Der Fahrer des Vans, der sich nur als Reg vorgestellt hatte, bedeutete dem Mann auf dem Rücksitz mit einem Nicken, er solle aussteigen. Das Fort ist kein Hotel, hätte er hinzufügen können, aber das sparte er sich. Der Neue sei ein Spezialfall, war den Ausbildern von Vauxhall Cross mitgeteilt worden. Wie alle frisch Angeworbenen würde er bei jeder Gelegenheit hören, er sei in einen exklusiven Club aufgenommen worden. Die Mitglieder dieses Clubs lebten nach anderen Regeln als ihre Landsleute. Sie wussten Dinge, taten Dinge, die andere niemals taten. Aber der Kerl auf dem Rücksitz kam Reg nicht wie jemand vor, der sich dadurch geschmeichelt fühlen würde. Tatsächlich machte er den Eindruck eines Mannes, der schon sehr lange nach anderen Regeln lebte.

Das Fort bestand aus dem Ostflügel, dem Westflügel und dem Hauptgebäude, in dem der größte Teil der Ausbildung stattfand. Direkt über dem Wachhäuschen lag die Wohnung des Direktors, und hinter den Wällen gab es einen Tennisplatz, Squashcourts, einen Krocketparcours, einen Hubschrauberlandeplatz und eine Schießbahn. Es gab auch einen Schießstand in der Halle, aber Reg hatte den Verdacht, der Neue würde nicht viel Ausbildung mit Schusswaffen oder anderen Waffen brauchen. Er war Soldat in einer Eliteeinheit gewesen. Das merkte man an seinem durchtrainierten Körper, seiner straffen Haltung und der Art und Weise, wie er seinen Seesack schulterte, bevor er über den Hof davonging. Ohne einen Laut, wie Reg auffiel. Er war definitiv ein schweigsamer Typ. Er war an Orten gewesen, die er lieber vergessen hätte, und hatte Aufträge ausgeführt, über die man nur in abhörsicheren Räumen sprach. Ein gefährlicher Mann, mit dem man sich besser nicht anlegte.

Gleich hinter dem Eingang des Westflügels lag die kleine Loge, in der George Halliday, der Portier, den Neuankömmling erwartete. »Marlowe«, sagte der Neue wenig überzeugend. »Peter Marlowe«, fügte er nach kurzer Pause hinzu. Und Halliday, der dienstälteste hiesige MI6-Mitarbeiter – angeblich ein Relikt aus der Zeit König Heinrichs –, fuhr mit seinem blassen, spinnenartigen Zeigefinger eine Namensliste hinunter. »Ah, richtig, Mr. Marlowe. Wir haben Sie schon erwartet. Schade, dass das Wetter so schlecht ist, aber an Ihrer Stelle würde ich mich daran gewöhnen.«

Während Halliday das sagte, bückte er sich, um einen Schlüssel unter der Theke hervorzuholen. »Erster Stock, letztes Zimmer links. Sie haben Glück, es ist ein Zimmer mit Meerblick.« Er legte den Schlüssel auf die Theke. »Sie kommen mit Ihrem Gepäck zurecht?«

»Ich denke schon«, sagte der Neue mit einem angedeuteten Lächeln.

»Oh«, sagte der Alte plötzlich, »den hätte ich fast vergessen.« Er drehte sich um und zog aus einem der Brieffächer einen kleinen Umschlag. »Der ist gestern Abend für Sie gekommen. Er ist von ›C‹.«

Der Neue griff nach dem Umschlag, steckte ihn in eine Tasche seiner Barbour-Jacke. Dann schulterte er seinen Seesack – wie ein Soldat, fand Halliday – und trug ihn die Treppe zur Unterkunft hinauf. Die Tür seines Zimmers öffnete sich knarrend. Er ließ den Seesack von der Schulter gleiten und musterte seine Umgebung mit dem scharfen Blick eines geschulten Beobachters. Ein Einzelbett, ein Nachttisch mit Leselampe, ein kleiner Schreibtisch, Kommode und Kleiderschrank für seine Sachen, ein Bad mit Toilette. Irgendein Graduierter, der eben von einer guten Universität kam, hätte das Apartment vermutlich mehr als ausreichend gefunden, aber den Neuen beeindruckte es nicht sonderlich. Als Besitzer eines beträchtlichen Vermögens – illegal erworben, aber trotzdem beträchtlich – wohnte er im Allgemeinen komfortabler.

Er schlüpfte aus seiner Jacke, warf sie aufs Bett und zog dabei den Umschlag aus der Tasche. Er riss ihn widerstrebend auf und zog ein Kärtchen heraus. Es trug keinen Absender, und die Mitteilung bestand lediglich aus einem Satz in auffälliger grüner Tinte.

Großbritannien ist besser dran, seit Du hier bist, um es zu beschützen …

Eine Mitteilung dieser Art hätte ein gewöhnlicher Berufsanfänger vermutlich als kostbare Erinnerung an seinen ersten Tag bei einem der ältesten und stolzesten Geheimdienste der Welt aufbewahrt. Aber der als Peter Marlowe bekannte Mann war kein gewöhnlicher Berufsanfänger. Darüber hinaus hatte er an Orten gearbeitet, an denen eine Mitteilung dieser Art einen das Leben kosten konnte. Deshalb verbrannte er sie – nachdem er sie wie üblich zweimal gelesen hatte – im Waschbecken im Bad und spülte die Asche weg. Dann trat er an das schmale Fenster und blickte übers Meer zur Isle of Wight hinüber. Und fragte sich wieder einmal, ob er vielleicht den größten Fehler seines Lebens gemacht hatte.

Sein richtiger Name war natürlich nicht Peter Marlowe. In Wirklichkeit hieß er Christopher Keller, was wiederum rätselhaft war, weil Keller nach Überzeugung Ihrer Majestät Regierung seit über fünfundzwanzig Jahren tot war. Folglich galt er seit Glyndwr Michael, dem obdachlosen Waliser, dessen Leichnam Hitlerdeutschland im Rahmen des Unternehmens Mincemeat gefälschte Dokumente geliefert hatte, als erster Verstorbener, der bei einem britischen Geheimdienst arbeitete.

Von alledem wusste das Ausbildungspersonal im Fort jedoch nichts. Tatsächlich wusste es fast gar nichts über den Neuen. Beispielsweise wusste es nicht, dass er ein Veteran der Eliteeinheit Special Air Service war, noch immer den Regimentsrekord für den vierzig Meilen langen Gepäckmarsch über die schroffen Brecon Beacons in South Wales hielt und im Killing House, dem berüchtigten SAS-Häuserkampftrainingsgebäude, die höchste Punktzahl erzielt hatte. Ein weiterer Blick in seine Akte – die auf persönliche Anweisung des Premierministers versiegelt worden war – hätte gezeigt, dass er Ende der achtziger Jahre, auf dem Höhepunkt der Unruhen in Nordirland, nach West Belfast eingeschleust worden war, wo er unter Katholiken lebte und Agenten in der Irish Republican Army führte. Weniger detailliert geschildert wurde ein Vorfall in einem Farmhaus in South Armagh, als Keller enttarnt worden war und verhört und hingerichtet werden sollte. Die genauen Umstände seiner Flucht waren ungewiss; fest stand nur, dass dabei vier erfahrene IRA-Kämpfer umgekommen waren, zwei von ihnen buchstäblich in Streifen geschnitten.

Nach seiner hastigen Evakuierung aus Nordirland kam Keller ins SAS-Hauptquartier in Hereford zurück, um sich lange zu erholen und als Ausbilder eingesetzt zu werden, wie er glaubte. Aber nachdem die Iraker im August 1990 in Kuwait einmarschiert waren, wurde er einer auf Wüstenkrieg spezialisierten Sabre-Einheit zugeteilt und in den westlichen Irak verlegt, um Saddam Husseins tödliche Scud-Raketen aufzuspüren. In der Nacht zum 29. Januar 1991 entdeckten Keller und sein Team ungefähr hundert Meilen nordwestlich von Bagdad eine Abschussrampe, deren Koordinaten sie über Funk meldeten. Eineinhalb Stunden später kam eine Kette alliierter Jagdbomber im Tiefflug herangedonnert. Aber dann gab es eine tragische Verwechslung, und die Maschinen griffen statt der Scud-Stellung das SAS-Team an. Das britische Oberkommando nahm an, das gesamte Team sei mit seinem Anführer gefallen.

In Wirklichkeit war Keller ohne einen Kratzer davongekommen, was seine Spezialität war. Anfangs wollte er sich bei seiner Einheit melden, um sich abholen zu lassen. Stattdessen begann er aus Zorn über die Unfähigkeit seiner Vorgesetzten loszumarschieren. Mit der Kandura und der Ghutra eines Wüstenbewohners getarnt und in der Kunst geübt, unentdeckt zu bleiben, gelangte er durch die Linien der Koalitionstruppen und unerkannt nach Syrien. Von dort aus zog er durch die Türkei, Griechenland und Italien weiter, bis er auf die wilde Insel Korsika gelangte, wo ihn Don Antonio Orsati aufnahm – ein Gangsterboss, dessen Familie korsischer Banditen auf Auftragsmorde spezialisiert war.

Der Don gab Keller eine Villa und eine Frau, um seine Wunden zu heilen. Als Keller sich dann erholt hatte, gab er ihm Arbeit. Mit seinem nordeuropäischen Aussehen und seiner SAS-Ausbildung konnte Keller Kontrakte erfüllen, für die Orsatis Taddunaghiu – seine korsischen Berufskiller – nicht infrage kamen. Als angeblicher Vertreter für Orsatis Olivenöl reiste Keller fast fünfundzwanzig Jahre lang kreuz und quer durch Westeuropa und mordete auf Anweisung des Dons. Die Korsen akzeptierten ihn als einen der ihren, und er revanchierte sich für ihre Großzügigkeit, indem er ihre Sitten annahm. Er kleidete sich wie ein Korse, aß und trank wie ein Korse und betrachtete den Rest der Welt mit der fatalistischen Geringschätzung eines Korsen. Er trug sogar einen korsischen Talisman an einer Halskette – eine Hand aus roter Koralle –, um den bösen Blick abzuwehren. Nun war er endlich wieder heimgekehrt – in eine alte Festung aus grauem Stein über einem kalten, granitgrauen Meer. Hier sollte er lernen, ein richtiger britischer Spion zu sein. Aber als Erstes würde er wieder lernen müssen, ein Engländer zu sein.

Die zur gleichen Zeit wie Keller angeworbenen zukünftigen Agenten entsprachen mehr den traditionellen MI6-Kriterien: weiß, männlich, aus der Mittel- oder Oberschicht. Außerdem hatten sie gerade ihr Studium in Oxford oder Cambridge abgeschlossen. Alle außer Thomas Finch, der die London School of Economics absolviert und als Investmentbanker gearbeitet hatte, bevor er sich dann doch hatte anwerben lassen. Finch sprach fließend Mandarin und hielt sich für besonders clever. Beim ersten Kamingespräch der Neuen hatte er nur halb im Scherz darüber geklagt, er bezahle die Ehre, seinem Vaterland zu dienen, mit einer spürbaren Gehaltskürzung. Keller hätte das auch behaupten können, aber er war vernünftig genug, es nicht zu tun. Er erzählte den anderen, er komme aus dem Lebensmittelgroßhandel und mache in seiner Freizeit gern Bergtouren, was beides stimmte. Auf sein Alter angesprochen – er war viel älter als die anderen, vielleicht der älteste Rekrut, der je angeworben worden war –, behauptete er, ein Spätentwickler zu sein, was ganz und gar nicht stimmte.

Ihr Lehrgang wurde offiziell als IONEC – Intelligence Officers New Entry Course – bezeichnet. Er sollte die Neuen auf einfache Tätigkeiten in Vauxhall Cross vorbereiten, wo sie eine Zusatzausbildung erhalten würden, bevor sie im Feld eingesetzt werden konnten, ohne ihrem Land oder ihrer Karriere unwiderruflich zu schaden. Es gab zwei Hauptausbilder: Andy Mayhew, groß, rothaarig, geschwätzig, und Tony Quill, ein hagerer ehemaliger Agentenführer, der angeblich einer Nonne den Habit abschwatzen und ihr den Rosenkranz stehlen konnte, wenn sie nicht aufpasste. Vauxhall Cross hatte beider Personalakten unter die Lupe genommen, um festzustellen, ob sie jemals einem SAS-Offizier namens Christopher Keller begegnet sein konnten. Das war nicht der Fall. Mayhew hatte hauptsächlich in der Zentrale gearbeitet; Quill kannte den Ostblock und den Nahen Osten. Keiner von ihnen war jemals in Nordirland gewesen.

Der erste Teil des Lehrgangs handelte vom MI6 selbst – von seiner Geschichte, seiner Struktur, seinen großen Erfolgen, seinen katastrophalen Misserfolgen. Obwohl er viel kleiner als die entsprechenden russischen und amerikanischen Dienste war, schlug er sich dank des Einfallsreichtums und der angeborenen Gerissenheit seiner Führenden recht gut, wie Quill gern sagte. Während die Amerikaner auf Technologie setzten, spezialisierte der MI6 sich auf von Menschen gewonnene Erkenntnisse, und seine Agenten galten als die besten Anwerber und Führungsoffiziere der Branche. Die harte Arbeit, Männer und Frauen dazu zu bringen, ihr Land oder ihre Organisation zu verraten, fiel der Intelligence Branch (IB) zu. Sie hatte etwa dreihundertfünfzig Mitarbeiter, von denen die meisten als Diplomaten getarnt in britischen Botschaften arbeiteten. Ungefähr achthundert Mitarbeiter hatte die Abteilung General Services (GS), die für technische Angelegenheiten zuständig und in den geografischen MI6-Hauptverwaltungen tätig war. Jede Hauptverwaltung wurde von einem Controller geleitet, der dem Generaldirektor unterstand. Obwohl Mayhew und Quill das nicht wussten, hatte »C« bereits festgelegt, dass Peter Marlowe keiner der bestehenden Hauptverwaltungen zugeteilt werden würde. Er würde eine eigene bilden. Gewissermaßen eine Einmann-Hauptabteilung.

Nachdem das Fundament gelegt war, konzentrierten Mayhew und Quill sich auf die praktischen Fertigkeiten, die jeder Spion beherrschen musste – wirksame Tarnung, Überwachung entdecken und abschütteln, Geheimschriften, tote Briefkästen, Übergaben im Vorbeigehen, Gedächtnisübungen. Denn das Gedächtnis eines Spions, sagte Quill, sei sein einziger Freund auf der Welt. Und dann gab es natürlich die langen, detaillierten Vorträge darüber, wie man Informanten ausfindig machte und erfolgreich anwarb. In diesem Punkt genoss Keller einen unfairen Vorteil gegenüber den anderen Lehrgangsteilnehmern: Er hatte in einer Umgebung, in der der kleinste Fehler zu einem grausamen Tod führen konnte, Agenten angeworben und geführt. Tatsächlich war er sich sicher, Mayhew und Quill ein paar Tipps dazu geben zu können, wie man einen Treff so organisierte, dass Agent und Führungsoffizier ihn überlebten. Stattdessen spielte er in den Unterrichtsräumen im Hauptgebäude die Rolle eines stillen, aufmerksamen Kursteilnehmers, der lernen wollte, statt zu versuchen, sich einzuschmeicheln oder zu imponieren. Das überließ er Finch und Baker, einem Literaturwissenschaftler aus Oxford, der sich bereits Notizen für seinen ersten Spionageroman machte. Keller sprach nur, wenn er angesprochen wurde, und hob nie die Hand, um sich mit einer Antwort zu melden. Er war so unsichtbar, wie man es in einem beengten Raum mit zwölf Lehrgangsteilnehmern sein konnte. Andererseits war das sein besonderes Talent – sich in jeder Umgebung unsichtbar zu machen.

Auf den Straßen der nächsten Stadt Portsmouth, auf denen die meisten praktischen Übungen stattfanden, waren Kellers überragende Fähigkeiten schwieriger zu tarnen. Er leerte seine toten Briefkästen, ohne aufzufallen, und seine Kontakte im Vorbeigehen hätten aus dem Lehrbuch stammen können. Nach sechs Wochen fand eine ganztägige Übung statt, zu der das MI5 ein A4-Überwachungsteam schickte. Es sollte demonstrieren, dass eine professionelle Überwachung – durch wirkliche Spezialisten, nicht die Bananenrepublik-Variante – fast unmöglich zu entdecken war. Während die anderen keinen einzigen ihrer Überwacher entdeckten, gelang es Keller, alle vier Mitglieder eines Eliteteams zu identifizieren, das ihn im Einkaufszentrum Cascades beschattet hatte. Das MI5 verlangte ungläubig eine zweite Chance, aber das Ergebnis blieb gleich. Am Tag darauf ging es nicht darum, Beschatter zu entdecken, sondern abzuschütteln. Keller schaffte das in nur fünf Minuten und verschwand spurlos. Später an diesem Abend wurde er im Druid’s Arms in der Binstead Road aufgefunden, wo er mit französischem Akzent Karaokesongs mitgrölte. Er verließ den Pub mit den Namen und Telefonnummern aller übrigen Gäste – und einem Heiratsantrag. Am folgenden Morgen rief Quill die Personalabteilung in Vauxhall Cross an und fragte, wo sie diesen Peter Marlowe gefunden habe.

»Wir haben ihn nicht gefunden«, sagte die Personalabteilung. »Er gehört ›C‹ persönlich.«

»Schickt mir noch zehn solcher Kerle«, sagte Quill, »dann herrscht das Empire wieder über die Welt.«

Die eigentliche IONEC-Arbeit fand abends im Speisesaal mit privater Bar statt. Die Lehrgangsteilnehmer wurden zum Trinken animiert – Alkohol spiele im Leben eines Spions eine wichtige Rolle, hieß es – und konnten alle zwei, drei Tage einen speziellen Gast zum Abendessen begrüßen: Controller, Strategen, legendäre Agenten. Einige wenige waren noch im Dienst. Die meisten waren weißhaarige Gestalten in verknitterten Anzügen, die von ihren Duellen mit dem KGB in Berlin, Wien und Moskau erzählten. Russland war erneut der Hauptfeind, das MI6-Primärziel – das große Spiel, sagte ein vertrockneter Kalter Krieger, sei wieder aufgelebt. Quill warnte sie, dass die Russen sich irgendwann um jeden von ihnen bemühen würden: mit Schmeichelei, mit Geld oder mit Erpressung. Von ihrer Reaktion, wenn der Bär sie aufsuchte, würde abhängen, ob sie nachts schliefen oder in einer selbst geschaffenen Hölle schmorten. Dann spielte er ihnen Kim Philbys berühmte Pressekonferenz aus dem Jahr 1965 vor, in der er bestritt, ein KGB-Spion zu sein. Quill nannte Philby den raffiniertesten Lügner, den er je gehört habe.

James Bond mochte eine Lizenz zum Töten gehabt haben, aber im wirklichen Leben hatten MI6-Agenten keine. Mord als Werkzeug war streng verboten, und die meisten britischen Spione trugen selten eine Waffe, die sie noch seltener benutzten. Trotzdem waren sie nicht nur Champagnerspione, jedenfalls nicht alle, und die Welt wurde zunehmend gefährlicher. Das bedeutete, dass sie Grundkenntnisse im Umgang mit Schusswaffen erwerben mussten – wie man das Magazin einsetzte, wie man eine Pistole durchlud, wie man das Ding hielt, damit man weder sich selbst noch einen Kollegen erschoss, solche Sachen. Auch dabei ließ Kellers Können sich schwer verbergen. Am ersten Tag der Schießausbildung drückte der Ausbilder ihm eine 9-mm-Browning in die Hand und wies ihn an, auf eine fünfzehn Meter entfernte Mannscheibe zu schießen. Keller hob rasch die Waffe, schien kaum zu zielen und jagte alle dreizehn Schuss durch den Kopf der Mannscheibe. Als er aufgefordert wurde, das zu wiederholen, saßen alle Schüsse im linken Auge der Mannscheibe. Danach war Keller von der Schießausbildung befreit. Auch an dem rudimentären IONEC-Selbstverteidigungskurs brauchte er nicht mehr teilzunehmen, nachdem er einem Ausbilder, der mit einer ungeladenen Waffe auf ihn zielte, fast eine Schulter ausgerenkt hatte. Danach traute sich niemand mehr – nicht mal Mayhew, der die Statur eines Rugbyspielers hatte –, gegen ihn anzutreten.

Obwohl sie von der sie umgebenden Zivilbevölkerung weitgehend isoliert waren, versuchten Mayhew und Quill keineswegs, sie von der Außenwelt abzuschotten, ganz im Gegenteil. Beim Frühstück lag ein Stapel britischer und ausländischer Zeitungen aus, und auf den großen Flachbildfernsehern in der Lounge liefen BBC World News und CNN. Während der Terroranschläge in London drängten die Neuen sich davor zusammen – zornig, verzweifelt und in dem Bewusstsein, dass sie bald in diesem Krieg würden kämpfen müssen. Einer von ihnen früher als alle anderen.

In der Woche darauf ging der IONEC zu Ende. Alle zwölf Lehrgangsteilnehmer bestanden die Abschlussprüfung mühelos – Marlowe mit Bestnoten, Finch weit abgeschlagen auf dem ehrenvollen zweiten Platz. An diesem Abend dinierten sie ein letztes Mal mit Mayhew und Quill. Und am Morgen danach legten sie ihre Zimmerschlüssel bei dem alten George Halliday auf die Theke und trugen ihr Gepäck auf den Hof hinaus, auf dem Reg der Fahrer mit einem kleinen Bus wartete, um die frischgebackenen Spione nach London zu bringen. Einer fehlte jedoch. Sie suchten ihn überall, in allen Räumen der West- und Ostflügel und des Hauptgebäudes, auf dem Schießplatz, auf den Tennis- und Krocketplätzen und in der Turnhalle, bis Reg schließlich mit elf statt zwölf Jungspunden nach London abfuhr. Es war Quill, der das unter seinem Fenster hängende Seil ebenso entdeckte wie den winzigen Stofffetzen am Stacheldrahtzaun und die frischen Fußabdrücke am Strand, die von einem Mann stammten, der gut hundert Kilo wog und es eilig hatte. Wie schade! dachte Quill. Noch zehn Kerle wie er, dann hätte das Empire wieder die Welt beherrscht.

6

WORMWOOD COTTAGE, DARTMOOR

Ähnlich wie Saladins Fluchtroute aus Amerika ließ sein genauer Fluchtweg sich später nicht rekonstruieren. Es gab jedoch Hinweise wie den hellblauen VW Jetta, der an diesem Morgen um 10.15 Uhr auf dem Parkplatz von Morrisons Supermarkt gestohlen wurde. Aufgefunden wurde er am selben Nachmittag hundert Meilen weiter westlich in Devon – in dem Weiler Coldeast vor dem Lebensmittelgeschäft mit Postagentur abgestellt. Der Tank war voll, und auf dem Fahrersitz lag eine Karte mit einigen handschriftlichen Zeilen, die den Autobesitzer um Entschuldigung für eventuelle Unannehmlichkeiten baten. Die zuständige Hampshire Constabulary nahm Ermittlungen wegen des Autodiebstahls auf. Sie endeten ziemlich abrupt, als Tony Quill mit dem Chief Constable telefonierte, der prompt die handschriftliche Mitteilung herausrückte. Später konnte man jedoch hören, wie der Chief äußerte, er habe die Mätzchen der Jungs aus König Heinrichs alter grauer Festung allmählich satt. Auf den Straßen von Portsmouth Räuber und Gendarm zu spielen war eine Sache. Aber irgendeinem armen Kerl das Auto zu stehlen – auch wenn’s nur zu Übungszwecken war – gehörte sich einfach nicht.

Die Kleinstadt Coldeast war nur deshalb bemerkenswert, weil sie am Rand des Nationalparks Dartmoor lag. An dem bewussten Tag regnete es so stark, dass es vorzeitig dunkel wurde. Deshalb achtete niemand auf Christopher Keller, als er mit einem Rucksack über einer Schulter die Old Liverton Road in Angriff nahm. Als er die Village Hall in Liverton erreichte, herrschte stockfinstere Nacht, aber das hatte nichts zu sagen, denn er kannte den Weg. Er bog auf eine zwischen Hecken verlaufende schmale Straße ab und folgte ihr an der Old Leys Farm vorbei nach Norden. Einmal musste er zur Seite treten, um einen klapprigen Kleinlaster vorbeizulassen, aber ansonsten hätte er der letzte Mensch der Welt sein können.

Großbritannien ist besser dran, seit Du hier bist, um es zu beschützen …

In Brimley bog er nach Westen ab und gelangte auf Fußwegen nach Postbridge. Aus dem Dorf führte eine Straße hinaus, die auf keiner Karte eingezeichnet war und an einem abweisend massiven Stahltor endete. Der Hausmeister Parish hatte vergessen, es aufzusperren. Keller erklomm es geräuschlos und marschierte die lange Zufahrt zu dem Cottage hinauf, das in dem kahlen Hochmoor auf einem kleinen Hügel stand. Über der unversperrten Haustür brannte eine gelbliche Lampe wie eine Kerze. Bevor Keller eintrat, putzte er sich sorgfältig die Stiefel an der Fußmatte ab. In der Diele roch es appetitanregend nach Fleisch, Kartoffeln und Gewürzen. Er warf einen Blick in die Küche und sah Miss Coventry – wie immer sorgfältig zurechtgemacht und vage Ehrfurcht gebietend – mit einer Schürze um ihre stattliche Taille am offenen Backrohr stehen.

»Mr. Marlowe«, sagte sie und drehte sich nach ihm um. »Wir hatten Sie früher erwartet.«

»Ich bin verspätet weggekommen.«

»Aber hoffentlich ohne Probleme?«

»Ohne.«

»Aber wie Sie aussehen! Sie Ärmster. Sind Sie die ganze Strecke marschiert?«

»Nicht ganz«, sagte Keller lächelnd.

»Sie tropfen Wasser auf meinen sauberen Fußboden.«

»Können Sie mir das jemals verzeihen?«

»Unwahrscheinlich.« Sie nahm ihm die Jacke ab. »Ich habe Ihnen Ihr altes Zimmer hergerichtet. Auf dem Bett liegen frische Sachen, im Bad finden Sie, was Sie an Toilettenartikeln brauchen. Bis ›C‹ eintrifft, haben Sie noch Zeit für ein schönes heißes Bad.«

»Was gibt’s zum Abendessen?«

»Cottage Pie.«

»Mein Leibgericht.«

»Darum habe ich ihn gemacht. Eine schöne Tasse Tee, Mr. Marlowe? Oder möchten Sie lieber etwas Stärkeres?«

»Vielleicht einen Whiskey, um die Knochen zu wärmen.«

»Ich kümmere mich darum. Gehen Sie jetzt hinauf, bevor Sie sich den Tod holen.«

Keller ließ seine Stiefel in der Diele zurück und stieg die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Auf dem Bett lagen frische Sachen bereit: eine beige Cordsamthose, ein olivgrüner Pullover, Unterwäsche und ein Paar fester Wildlederschuhe, alles in passender Größe. Dazu eine Packung Marlboro und ein goldenes Feuerzeug. Keller las die Gravur. Auf die Zukunft … Keine Anrede, kein Name. Keller wusste auch so, von wem es stammte.

Er streifte seine nassen Klamotten ab und stellte sich lange unter eine kochend heiße Dusche. Als er wieder ins Zimmer kam, stand auf dem Nachttisch ein Glas Whiskey auf einem weißen Untersetzer mit dem MI6-Logo. Er zog sich an und nahm sein Glas mit ins Wohnzimmer im Erdgeschoss, in dem er Graham Seymour am Kaminfeuer sitzend antraf – wie immer elegant in Tweed und Flanell. Seymour hatte das uralte Bakelit-Radio eingeschaltet und hörte Nachrichten.

»Das gestohlene Auto«, sagte er, indem er aufstand, »war ein hübscher Touch.«

»In solchen Fällen ist’s besser, ein bisschen Lärm zu machen. Hast du mir das damals nicht beigebracht?«

»Habe ich das?« Seymour lächelte spitzbübisch. »Ich bin nur froh, dass die Sache ohne Gewalt abgegangen ist.«

»Ein MI6-Agent«, sagte Keller gespielt ernst, »wendet niemals Gewalt an. Und sieht er sich doch gezwungen, zuzuschlagen oder eine Waffe zu ziehen, liegt das nur daran, dass er seine Arbeit nicht richtig getan hat.«

»Vielleicht sollten wir über dieses Prinzip mal nachdenken«, meinte Seymour. »Mir tut’s nur leid, einen Mann wie Peter Marlowe zu verlieren. Wie ich höre, waren seine Prüfungsergebnisse recht eindrucksvoll. Andy Mayhew hat sich dein Verschwinden so zu Herzen genommen, dass er seinen Rücktritt angeboten hat.«

»Aber nicht Quill?«

»Nein«, antwortete Seymour. »Quill ist aus härterem Holz geschnitzt.«

»Hoffentlich warst du mit dem armen Andy nicht zu streng.«

»Ich habe die Verantwortung selbst übernommen, aber auch eine gründliche Überprüfung der Sicherheitsmaßnahmen im Fort veranlasst.«

»Wer weiß noch von unserer kleinen List?«

»Der Controller für Westeuropa und seine beiden Stellvertreter.«

»Wie steht’s mit Whitehall?«

»Der Vereinte Geheimdienstausschuss«, antwortete Seymour kopfschüttelnd, »weiß überhaupt nichts.«

Der Geheimdienstausschuss beaufsichtigte MI5 und MI6 und erteilte ihnen Aufträge. Er setzte Prioritäten fest, beurteilte das Produkt, beriet den Premierminister und achtete darauf, dass die Spione sich an ihre Vorschriften hielten. Graham Seymour war jedoch zu dem Schluss gelangt, der Secret Intelligence Service brauche mehr Bewegungsfreiheit und müsse in einer immer gefährlicheren Welt zupackender reagieren können. Daher seine erneuerte Bekanntschaft mit Christopher Keller.

»Weißt du«, sagte Seymour, während sein Blick über Kellers muskulöse Gestalt glitt, »du siehst fast wieder wie einer von uns aus. Schade, dass du bald fortmusst.«

In der Küche setzten sie sich an den Tisch in dem gemütlichen kleinen Erker, dessen Fenster mit den bleigefassten Scheiben aufs Hochmoor hinausführten. Miss Coventry trug den Cottage Pie mit gemischtem Salat und einer Flasche Bordeaux aus dem gut sortierten Weinkeller auf. Seymour verbrachte einen großen Teil des Abendessens damit, Keller über den IONEC auszufragen. Vor allem interessierten ihn die Qualitäten der übrigen Lehrgangsteilnehmer.

»Bekommst du denn nicht alle Beurteilungen und Testergebnisse auf den Tisch?«, fragte Keller.

»Doch, natürlich. Aber mich interessiert dein Urteil.«

»Im Vergleich zu Finch sieht jede Schlange alt aus«, sagte Keller. »Das heißt, dass er das Zeug zu einem erstklassigen Spion hat.«

»Bakers Testergebnisse waren auch ziemlich gut.«

»So gut wie das erste Kapitel des Thrillers, an dem er arbeitet.«

»Und der Lehrgang selbst?«, fragte Seymour. »Haben sie’s geschafft, dir irgendwas Neues beizubringen?«

»Kommt darauf an.«

»Worauf?«

»Wie du mich einsetzen willst.«

Mit dem zurückhaltenden Lächeln eines Spions ging Seymour nicht auf Kellers Aufforderung ein, seine zukünftige Verwendung als ausgebildeter MI6-Agent wenigstens zu skizzieren. Während Regen an die Erkerfenster trommelte, sprach er stattdessen von seinem Vater. Arthur Seymour hatte über dreißig Jahre lang für England spioniert. Aber gegen Ende seiner Karriere, als Philby und die übrigen Maulwürfe und Verräter ihn bloßgestellt hatten, schickte der MI6 ihn in die graue Festung am Meer, wo er die nächste Generation britischer Spione für ihre Aufgabe begeistern sollte. »Und er hat jede Minute seines Exils gehasst«, sagte Seymour, »denn er wusste genau, dass er in eine Sackgasse geraten war. Mein Vater hat das Fort immer als Krypta gesehen, in die der MI6 seine zerschlagenen alten Leichname geworfen hat.«

»Schade, dass dein Vater dich nicht jetzt sehen kann.«

»Ja«, sagte Seymour distanziert. »Wirklich schade.«

»Er war streng zu dir, der Alte?«

»Er war zu jedermann streng, vor allem zu meiner Mutter. Zum Glück hat er sich nie viel um mich gekümmert. In den sechziger Jahren war ich mit ihm in Beirut, als Philby auch dort war. Dann hat er mich ins Internat gesteckt. Danach war er nur jemand, den ich einige Male im Jahr gesehen habe.«

»Er muss von dir enttäuscht gewesen sein, als du zum MI5 gegangen bist.«

»Er hat mir gedroht, mich zu enterben. Wie alle beim MI6 war er der Überzeugung, der MI5 bestünde nur aus Polizisten und Proleten.«

»Wieso bist du also hingegangen?«

»Weil ich nach meinen eigenen Leistungen beurteilt werden wollte. Oder vielleicht«, fügte Seymour nach kurzem Zögern hinzu, »weil ich zu keinem Dienst wollte, der von Verrätern ausgeweidet worden war. Vielleicht wollte ich Spione fangen, statt welche anzuwerben. Vielleicht wollte ich dazu beitragen, dass keine IRA-Bomben mehr auf unseren Straßen detonieren.« Er machte eine Pause. »Das hat uns letztlich zusammengeführt.«

Keller nickte schweigend.

»Wir haben in Belfast gute Arbeit geleistet, du und ich. Wir haben viele Anschläge verhindert, unzählige Leben gerettet. Und was hast du gemacht? Du bist abgehauen und hast dich Orsatis kleiner Mörderbande angeschlossen.«

»Das ist eine sehr verkürzte Darstellung.«

»Nur aus zeitlichen Gründen.« Seymour schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe um dich getrauert, du Dreckskerl. Und deine Eltern natürlich auch. Beim Gedenkgottesdienst habe ich versucht, deinen Vater zu trösten, aber er war untröstlich. Du hast ihnen etwas Schreckliches angetan.«

Keller zündete sich eine Zigarette an, dann legte er Seymour sein neues goldenes Feuerzeug hin. »Du erinnerst dich an die eingravierte Widmung?«

»Schön, du hast recht. Halten wir uns nicht mit vergangenen Dingen auf. Du bist völlig wiederhergestellt, Christopher. So gut wie neu. Jetzt brauchst du nur noch eine nette Frau, die dein schönes Haus in Kensington mit Leben erfüllt.« Seymour wollte nach Kellers Zigaretten greifen, tat es dann aber doch nicht. »Acht Millionen Pfund, ein stolzer Kaufpreis. Nach meiner Rechnung bleiben dir nur noch fünfundzwanzig Millionen, die du bei Don Antonio verdient hast. Wenigstens liegt das Geld jetzt auf einer erstklassigen britischen Bank, nicht mehr in der Schweiz und auf den Bahamas. Es ist heimgekehrt – genau wie du.«

»Wir haben eine Vereinbarung«, sagte Keller ruhig.

»Und ich halte mich natürlich daran. Keine Sorge, du darfst dein unrecht Gut behalten.«

Keller äußerte sich nicht dazu.

»Und die Frau?«, fragte Seymour. »Hast du schon eine im Auge? Wir müssten sie natürlich genau überprüfen.«

»Ich war ziemlich beschäftigt, Graham. Ich hatte wenig Gelegenheit, jemanden kennenzulernen.«

»Was ist mit der, die dir im Druid’s Arms einen Heiratsantrag gemacht hat?«

»Sie war ziemlich angeheitert. Außerdem hat sie geglaubt, ich sei Franzose.«

Seymour lächelte. »Sie wird nicht die Letzte bleiben, die das glaubt.«

7

LONDON – KORSIKA

Es war fünfzehn Jahre her, dass Christopher Keller sich zuletzt freiwillig hatte fotografieren lassen. Bei dieser Gelegenheit hatte er in einem Dorf im korsischen Zentralmassiv in einem kleinen Fotoatelier auf einem wackeligen Hocker gesessen. An den Wänden hatten zahlreiche Porträts gehangen – Brautpaare, Witwen, Patriarchen –, keiner lächelnd, denn die Dorfbewohner waren ernsthafte Leute, die gegenüber Fremden und modernen Dingen wie Kameras, die angeblich mit dem bösen Blick behaftet waren, misstrauisch waren. Der Fotograf war ein entfernter Verwandter von Don Antonio Orsati, irgendein angeheirateter Cousin zweiten Grades. Trotzdem war er in Gegenwart des harten, schweigsamen Engländers, der Orsatis Aufträge übernahm, die für gewöhnliche Taddunaghiu zu schwierig waren, ängstlich befangen gewesen. An diesem Tag hatte er sechs verschiedene Aufnahmen gemacht, auf denen Keller sich kaum wiedererkannte. Diese Fotos kamen in sechs gefälschte französische Pässe, die Keller in seinen Jahren als Berufskiller benutzte. Zwei dieser Reisepässe waren noch immer gültig. Einer lag in einem Bankschließfach in Zürich, der andere in einer Bank in Marseille, was er seinen neuen Arbeitgebern beim Secret Intelligence Service jedoch verschwiegen hatte. Man weiß nie, hatte er sich gesagt, wann man einen Trumpf im Ärmel brauchen kann.

Auch der Techniker, der Keller für den MI6 fotografierte, war in seiner Gegenwart nervös gewesen und hatte daher ungewöhnlich hastig gearbeitet. Die Aufnahmen wurden nicht in Vauxhall Cross gemacht – Keller sollte das Dienstgebäude möglichst selten betreten –, sondern in einem behelfsmäßigen Atelier in Bloomsbury. Das fertige Produkt zeigte einen ernsten Mann von etwa fünfzig Jahren, der aussah, als komme er gerade von einem langen Badeurlaub im Süden zurück. Laut dem Reisepass, für den das Foto gemacht wurde, hieß er Nicholas Evans und war nicht fünfzig, sondern achtundvierzig Jahre alt. Der MI6 stattete Keller mit einem britischen Führerschein auf den gleichen Namen, drei verschiedenen Kreditkarten und einem Aktenkoffer voller Unterlagen aus, die seine Legende als Reisevertreter betrafen. Außerdem erhielt Keller ein MI6-Smartphone für abhörsichere Gespräche mit Vauxhall Cross. Er vermutete ganz richtig, dass der MI6 ihn damit jederzeit orten und notfalls auch belauschen konnte. Deshalb hatte er vor, sich bei nächster Gelegenheit von diesem Mobiltelefon zu trennen.

Keller verließ London am folgenden Morgen mit dem Eurostar um 5.40 Uhr nach Paris. Nach seiner Ankunft um 9.15 Uhr hatte er gut zwei Stunden Zeit, um sich zu vergewissern, dass er nicht beschattet wurde. Mithilfe einiger Tricks, die er im Fort von Mayhew und Quill gelernt hatte – und verschiedener anderer, die sich auf den Straßen von West Belfast bewährt hatten –, stellte er zweifelsfrei fest, dass ihm niemand folgte.

Sein nächster Zug, der TGV nach Marseille, fuhr um 11.30 Uhr vom Gare de Lyon ab. Seiner Legende entsprechend arbeitete er unterwegs fleißig am Laptop, während draußen die Cézanne-Farben des Südens – Chromgelb, gebrannte Siena, Veronesegrün, Ultramarin – wie angenehme Kindheitserinnerungen am Rand seines Gesichtsfelds vorbeizogen. Nach seiner Ankunft in Marseille gegen 14 Uhr verbrachte er eine Stunde damit, durch die vertrauten schmutzigen Straßen der Stadt zu streifen, bis er bestimmt wusste, dass seine Ankunft nicht bemerkt worden war. Dann betrat er an der Place de la Joliette eine Privatbank, in der Monsieur Laval, sein Kundenbetreuer, ihn zu seinem Schließfach geleitete. Keller nahm seinen gefälschten französischen Pass und fünftausend Euro heraus und legte dafür sein MI6-Handy, Reisepass, Führerschein, Kreditkarten und Laptop hinein.

Draußen ging Keller auf dem Quai du Lazaret in wenigen Minuten zum Fährterminal, wo er ein Erste-Klasse-Ticket für die Nachtfähre nach Korsika kaufte. Der Mann an der Kasse wunderte sich nicht darüber, dass er bar zahlte. Schließlich war dies Marseille, und die Fähre verkehrte nach Ajaccio. In einem benachbarten Café bestellte er eine Flasche Bandol Rosé, von der er gut zwei Drittel trank, während er den Figaro las – erstmals seit Monaten entspannt und zufrieden. Wieder eine Stunde später stand er leicht angeheitert, aber hellwach am Bug der Fähre, als sie nach Süden durchs Mittelmeer pflügte. Dabei ging ihm eine alte Redensart durch den Kopf: Wer zwei Frauen hat, verliert seine Seele. Aber wer zwei Heimaten hat, verliert den Verstand.

Kurz vor Tagesanbruch wachte Keller auf, weil er glaubte, durchs offene Kabinenfenster wehe korsischer Rosmarin- und Lavendelduft herein. Er stand auf, zog seine grau-weißen englischen Sachen an und ging zwanzig Minuten später in Begleitung korsischer Familien, die wegen der frühen Tageszeit noch mürrischer waren als sonst, von Bord der Fähre. In einer Bar gegenüber dem Terminal fragte er, ob er das Telefon für ein Ortsgespräch benutzen dürfe. Unter normalen Umständen hätte der Barbesitzer diese Bitte eines Ausländers mit einem Schulterzucken abgetan. Oder er hätte sich als Ausrede einfallen lassen, das Telefon funktioniere seit dem letzten Scirocco nicht mehr. Aber Keller brachte seinen Wunsch in akzentfreiem Inseldialekt vor. Und der Barbesitzer war so perplex, dass er sogar lächelte, als er das Telefon auf die Theke stellte. Dann bereitete er für Keller unaufgefordert einen starken Kaffee zu und schenkte ihm einen Cognac ein, denn in diesen kalten Morgen sollte sich niemand ohne eine kleine Stärkung hinauswagen müssen.

Die von Keller gewählte Telefonnummer kannten nur wenige Einheimische, und sie war vor allem den französischen Behörden unbekannt. Der Mann, der sich meldete, schien erfreut zu sein, Kellers Stimme zu hören, und wirkte seltsamerweise keineswegs überrascht. Er forderte Keller auf, in der Bar zu bleiben, und versprach, ihm einen Wagen zu schicken. Der kam etwa eine Stunde später mit einem jungen Mann namens Giancomo am Steuer. Keller kannte ihn seit seiner Kindheit. Giancomo wollte ein Taddunaghiu wie Keller werden, den er vergötterte. Vorläufig war er der Laufbursche des Dons. Auf Korsika gab es schlechtere Beschäftigungen für einen Fünfundzwanzigjährigen.

»Der Don hat gesagt, du würdest nie zurückkommen.«

»Sogar der Don«, meinte Keller philosophisch, »irrt sich manchmal.«

Giancomo machte ein finsteres Gesicht, als sei das eine Gotteslästerung gewesen. »Der Don ist wie der Heilige Vater. Er ist unfehlbar.«

»Jetzt und immerdar«, sagte Keller ruhig.

Sie fuhren die Westküste der Insel entlang. In Porto nahmen sie eine mit Olivenhainen und Schwarzkiefern gesäumte Straße ins Inselinnere und begannen den langen, kurvenreichen Aufstieg in die Berge. Keller öffnete sein Fenster. Da war er wieder, der vertraute Duft von Rosmarin und Lavendel, der Geruch der Macchia. Sie bedeckte Korsika von Nord bis Süd, von Ost bis West: ein dichter, verfilzter Buschwerkteppich, der geradezu die Identität der Insel definierte. Die Korsen würzten ihr Essen mit Produkten der Macchia, heizten im Winter damit und nutzten sie in Vendetta- und Kriegszeiten als Zufluchtsort. Nach hiesiger Überzeugung konnte ein Gejagter sich in die Macchia flüchten und dort unbegrenzt lange unentdeckt bleiben. Keller wusste, dass das stimmte.

Zuletzt erreichten sie das Dorf der Orsatis, eine Ansammlung geduckter sandfarbener Häuser mit roten Ziegeldächern, die sich um den Glockenturm einer Kirche drängten. Angeblich ging es auf die Zeit der Vandalen zurück, als Küstenbewohner vor den Invasoren in die Berge geflüchtet waren. Jenseits des Dorfs, in einem kleinen Tal mit Olivenhainen, die das beste Öl Korsikas lieferten, lag Don Antonio Orsatis Landgut. An der Einfahrt hielten zwei bewaffnete Männer Wache. Sie berührten respektvoll ihre korsischen Mützen, als Giancomo durchs Tor rollte und die lange Auffahrt in Angriff nahm.

Er parkte im Schatten vor dem Herrenhaus. Keller betrat es allein und stieg die kühlen Steinstufen zu Orsatis Büro hinauf. Don Antonio saß an dem riesigen Eichenschreibtisch und machte Eintragungen in seinem in Leder gebundenen Hauptbuch. Für korsische Begriffe war er hünenhaft: über einen Meter achtzig groß und breitschultrig. Er trug eine bequeme Leinenhose, staubige Ledersandalen und ein blütenweißes Hemd, das seine Frau ihm jeden Morgen bügelte – und jeden Nachmittag, wenn er von seinem Mittagsschlaf aufstand. Sein Haar war so schwarz wie seine Augen. Auf dem Schreibtisch stand eine Zierflasche mit Olivenöl aus eigener Herstellung. Diesen als Tarnung dienenden Geschäftszweig benutzte der Don dazu, seine Gewinne aus Auftragsmorden zu waschen.

»Wie gehen die Geschäfte?«, fragte Keller zuletzt.

»Welcher Teil? Blut oder Öl?« In Don Antonios Welt waren Blut und Öl untrennbar miteinander verbunden.

»Beides.«

»Öl nicht so gut. Die Niedrigzinspolitik ist schlecht fürs Geschäft. Und die Briten mit ihrem unsinnigen Brexit!« Er wedelte mit der Hand, als wolle er einen üblen Geruch vertreiben.

»Und Blut?«, fragte Keller.

»Hast du zufällig von dem deutschen Geschäftsmann gelesen, der letzte Woche aus dem Hotel Carlton in Nizza verschwunden ist?«

»Wo ist er?«

»Fünf Seemeilen westlich von Ajaccio.« Der Don lächelte. »So ungefähr.«

»Eben noch mitten im Leben«, zitierte Keller ein korsisches Sprichwort, »und in der nächsten Stunde tot.«

»Denk daran, Christopher, das Leben währt so lange, wie man braucht, um an einem Fenster vorbeizugehen.« Der Don klappte das schwere Hauptbuch wie einen Sargdeckel zu und musterte Keller nachdenklich. »Ich hätte nicht erwartet, dass du so bald auf die Insel zurückkommen würdest. Gefällt dir dein neues Leben vielleicht doch nicht so gut?«

»Bei Weitem nicht«, antwortete Keller.

Das gefiel Don Antonio, der ihn weiter kritisch beäugte. Der Engländer kam sich vor, als mustere ihn ein Raubtier.

»Deine Freunde im britischen Geheimdienst wissen hoffentlich nicht, dass du hier bist.«

»Vielleicht doch«, bekannte Keller freimütig. »Aber sei unbesorgt, dein Geheimnis ist bei ihnen sicher.«

»Ich kann mir den Luxus, unbesorgt zu sein, nicht leisten. Und was die Briten angeht«, sagte der Don, »ist ihnen nicht zu trauen. Du bist der einzige Bewohner dieser grässlichen Insel, aus dem ich mir jemals etwas gemacht habe. Wenn sie nur aufhören würden, bei uns Urlaub zu machen, wäre mit der Welt alles in Ordnung.«

»So fördern sie die Wirtschaft der Insel.«

»Sie trinken zu viel.«

»Das ist kulturell bedingt, fürchte ich.«

»Und nun«, sagte Don Antonio, »bist du wieder einer von ihnen.«

»Beinahe.«

»Sie haben dir einen neuen Namen gegeben?«

»Peter Marlowe.«

»Dein alter Name gefällt mir besser.«

»Der war nicht verfügbar. Der arme Kerl ist tot, weißt du.«

»Und deine neuen Arbeitgeber?«, fragte der Korse.

»Läuse gibt’s in jedem Bett«, antwortete Keller.

»Nur der Löffel«, sagte Don Antonio, »kennt den Kummer des Topfes.«

Danach entstand geselliges Schweigen zwischen ihnen. Zu hören waren nur der Wind in den Schwarzkiefern und das Knacken des aromatischen Holzfeuers in dem offenen Kamin in dem großen Büro. Schließlich fragte er, wozu Keller auf die Insel zurückgekehrt sei, und der Engländer deutete ausweichend an, sein Besuch hänge mit seiner neuen Arbeit zusammen.

»Der britische Geheimdienst hat dich hergeschickt?«

»Mehr oder weniger.«

»Sprich nicht in Rätseln zu mir, Christopher.«

»Ich weiß nur gerade kein passendes Sprichwort.«

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