Widmung
Für all die Ärzt*innen, Reinigungskräfte, Landwirt*innen
und Menschen in systemrelevanten Berufen,
die uns 2020 sicher durch die Pandemie gebracht haben.
Danke.
Wem begegnet man im Bambusreich?
Wem begegnet man im Bambusreich?
Hüter des Drachens
Schattenjäger
Südwald-Bewohner
Große Pandas
Sonnenrot Schattenforst
Regen Glücksberg
Pfingstrose Glücksberg (Regens Ziehmutter)
Kiesel Glücksberg (Regens ehemals bester Freund)
Horizont Glücksberg (Mutter von Tanne)
Zypresse Glücksberg (Vater von Tanne)
Tanne Glücksberg
Frosch Glücksberg
Blüte Glücksberg (Regens Erzfeindin und Sonnenrots Scherge)
Ginseng Glücksberg (Sonnenrots Scherge)
Lorbeer Glücksberg
Eibenholz Glücksberg
Ahorn (Findelkind)
Nebel (alte Pandabärin)
Goldstumpfnasen
Strammbein (Anführer)
Flinkschwanz
Zitterpfote
Hartfaust
Nordwald-Bewohner
Große Pandas
Blättchen Rankforst
Pflaume Rankforst (Blättchens Tante)
Pfeffer (Blättchen und Regens vorgeblicher Bruder)
Hyazinthe Rankforst (Mutter von Bambusrohr)
Bambusrohr Rankforst
Sturmwind Rankforst
Wacholder Rankforst
Gras Rankforst
Holzapfel Rankforst
Rote Pandas
Flitzer Kletterweit (Blättchens bester Freund)
Sucher Kletterweit (Flitzers Mutter)
Wanderer Springhoch
Läufer Heilherz
Die Bewohner des Weißkammgebirges
Geist Winterjunges
Schauer Winterjunges
Schneesturm Winterjunges
Frost Winterjunges
Eiskalt
Flink Eiskaltjunges
Graupel Eiskaltjunges
Prolog
Prolog
Als Schneesturm über den Bergkamm trat und vor ihr das Schneefeld mit dem Gähnenden Schlund auftauchte, durchfuhr sie ein Kribbeln und ihr sträubte sich das Fell: da die vertrauten Schneewehen, die vereinzelten Bäume, schwarz und widerständig, selbst hier noch im Herzen des Weißkammgebirges. Da auch die Felsen, auf denen sie mit ihren Wurfgeschwistern geübt und sich spielerisch auf das Erwachsensein vorbereitet hatte. Und hinter den Felsen dann der Schlund, in dem ihre Mutter in den Tod gestürzt war.
Das alles schien schon lange her zu sein.
Heute waren die Bedingungen für den Sprung ideal. Trotz der Kälte ging bloß ein leichter Wind und der wolkenlose Himmel glich einer blassblauen Steppe.
Schneesturm blickte zurück und wartete auf ihren Bruder. Sie waren nur noch zu zweit und bald schon würde sie auch Frost den Rücken kehren müssen. So war es nun mal bei den Schneeleoparden. Nach dem Sprung über den Gähnenden Schlund würden sie auf der Fährte der Schneekatze ihrer Wege gehen. Und nur die Schneekatze würde wissen, ob sie sich je wiedersehen würden.
Frost kommt schon zurecht. Und sie selbst würde es auch schaffen. Seit Winters Tod waren sie ja ohnehin auf sich allein gestellt gewesen, hatten ihre Beute selbst jagen und ihr Territorium gegen ausgewachsene Leoparden verteidigen müssen. Schneesturm leckte sich die Pfote und putzte sich das verstümmelte Ohr, und bei der Berührung des tauben Narbengewebes verspürte sie einen seltsamen Stolz. Gestöber, der alte Schneeleopard, hatte wohl gedacht, ein paar schutzlose verwaiste Jungen könnte man leicht aus ihrer Höhle vertreiben – aber da hatte er sich getäuscht.
Als Frost zu ihr aufschloss, schmiegte sich Schneesturm einen Moment an ihn.
»Bist du bereit?«, fragte er.
»Na klar«, antwortete sie.
Frost nickte. »Ich auch.«
Doch keiner von beiden rührte sich.
»Was wohl Schauer und Geist jetzt machen?«, fragte Frost.
Schneesturm seufzte. »Ich hoffe, sie müssen nicht frieren und haben genügend zu fressen. Und sind zusammen.« Mit ihrer Pranke scharrte sie im Schnee und dachte mit Sorge an Schauers schwache Lunge und an Geists schwanzlosen, schwerfälligen Körper. Nicht zum ersten Mal plagte Schneesturm das schlechte Gewissen.
»Ich vermisse sie«, sagte Frost bloß. »Hoffentlich wissen sie … « Weiter sprach er nicht, aber Schneesturm wusste ohnehin, was er sagen wollte.
Hoffentlich wissen sie, dass wir ihnen nicht die Schuld an Mutters Tod geben.
Das wünschte sich Schneesturm auch, aber sie glaubte es nicht, denn kurz bevor Geist gegangen war, hatte sie ihm noch vorgeworfen, für alles verantwortlich zu sein. Überhaupt hatte sie furchtbare Dinge gesagt. Und jetzt würde er wohl nie erfahren, dass sie inzwischen ganz anders darüber dachte …
»Wen haben wir denn hier?«, war plötzlich eine Stimme zu hören. »Traut ihr euch auch mal wieder her?«
Schneesturm wirbelte herum. Vor ihr baumelten zwei lange, flauschige Schwänze aus einem kahlen Baum. Stöhnend verdrehte sie die Augen: Flink und Graupel, die Jungen von Eiskalt, lagen nebeneinander auf knorrigen Ästen und beobachteten sie mit zuckenden Schwänzen.
»Komisch, ich habe euch hier nicht mehr gesehen, seit …«, Graupel tat, als müsste er überlegen. »Ach ja … seit einer von euch Wunderlingen den Sprung versucht hat.«
»Ist wohl nicht so gut gelaufen, was?«, fragte Flink.
»Wollt ihr eurer Mutter am Grund des Schlunds jetzt etwa Gesellschaft leisten?«, höhnte Graupel.
Da preschte Schneesturm los. Jagte durch den Schnee schnurstracks auf den Baum mit den beiden Leoparden zu. Im Nu waren Eiskalts Jungen auf den Pfoten, legten ängstlich die Ohren an. Flink kletterte auf einen höheren Ast, und Graupel konnte gerade noch den Schwanz einziehen, bevor Schneesturm mit der Pranke danach hieb.
»Starke Worte für zwei Kleine, die den Sprung noch nicht einmal gewagt haben«, sagte Frost seelenruhig und schlenderte hinter seiner Schwester her.
»Die müssen ja auch gar nicht über den Schlund springen«, fauchte Schneesturm und lief im Kreis um den Baum herum. »Unsere Mutter ist zwar tot, aber wenigstens haben wir gelernt, für uns selbst zu sorgen. Diese beiden werden in Eiskalts Höhle leben, bis ihnen die Zähne ausfallen!«
Graupel knurrte. Doch als Schneesturm in Lauerstellung ging, als wollte sie jeden Moment in den Baum hochspringen, wurde aus dem Knurren ein Jaulen, und Graupel flüchtete ebenfalls auf den Ast weiter oben, wo er mit seiner Schwester um den Platz rangelte.
Schneesturm richtete sich entspannt auf.
»Komm«, sagte sie zu Frost. »Als erwachsene Leoparden legen wir uns nicht mehr mit Jungen an.«
Damit wandte sie sich ab und trabte mit Frost durch den Schnee. Sollten Graupel und Flink ruhig fauchen. Eigentlich hatte sie die beiden mit dem Spruch bloß ärgern wollen, aber im Grunde stimmte es ja. Auf der anderen Seite des Gähnenden Schlunds wären sie ein für alle Mal erwachsen, da konnten Eiskalts Jungen sagen, was sie wollten.
Als sie sich der Abbruchkante näherten, bekam Schneesturm Herzklopfen. Erinnerungen stiegen in ihr auf, schreckliche, aber auch schöne: An Winter, wie sie sich mit Eiskalt angelegt hatte, um ihre Jungen zu schützen, und wie sie von dem vereisten Vorsprung abgestürzt war. An Geist, wie er unversehrt aus dem Schlund geklettert war, und an die schlimmen Dinge, die sie ihm an den Kopf geworfen hatte. Schneesturm atmete einmal tief durch und hob den Kopf. Jetzt durfte sie sich von den Erinnerungen nicht niederdrücken lassen.
Obwohl es ein strahlend heller Tag war und kein Lüftchen ging, lag der Grund des Gähnenden Schlunds im Schatten. Keine Spur von Winters Gebeinen – natürlich nicht, sie mussten längst unter Schnee begraben sein, dennoch riskierte Schneesturm einen Blick. Danach konzentrierte sie sich auf die Felssäule in der Mitte der Schlucht. Heute wirkte sie viel näher als damals, als sie noch ein Junges gewesen war. In dem Moment fasste sie Mut. Sie würde es schaffen.
»Nur zu«, sagte Frost und zuckte belustigt mit den Ohren. »Du willst doch immer die Erste sein.«
Schneesturm leckte ihrem Bruder über die Stirn. »Wir sehen uns drüben.«
Sie nahm Anlauf und sprang. Mitten im Flug machte ihr Herz einen solchen Satz, dass sie es selbst in den Pfoten noch spürte, doch dann landete sie auch schon auf der verschneiten Säule. Ohne Verschnaufpause setzte sie zum neuerlichen Sprung an und flog durch die Luft. Mit den Vorderpfoten kam sie hart auf dem gegenüberliegenden Rand des Schlunds auf, warf sich nach vorne und rannte ein Stückchen über die flache Schneedecke, bevor sie umkehrte, um nach ihrem Bruder zu sehen.
Von hier aus wirkte Frost auf der anderen Seite sehr klein, die Übungsfelsen und die verkrüppelten Bäume sogar winzig.
Frost drückte sich mit dem Hinterteil an den Boden und zuckte mit dem Schwanz. Schneesturm grub die Krallen in den Schnee.
Los, Frost. Du schaffst das.
Er sprang. Es war ein guter, kraftvoller Sprung und Frost landete mit einer Pfotenlänge Spiel auf der Säule. Doch dann geriet er ein wenig ins Schlittern, hielt aber nicht inne, sondern stieß sich mit letzter Kraft ab.
Schneesturm war gleich klar, dass es nicht reichen würde. Sie hastete zur Abbruchkante, sah seinen verzagten Blick und die fallende Flugkurve. In einem verzweifelten Versuch, die gegenüberliegende Seite zu erreichen, fuhr Frost die Krallen aus. Und es gelang ihm tatsächlich, sich im Fels festzukrallen, während er mit dem Körper dagegenprallte. Scharrend und kratzend versuchte er sich hochzuziehen. Eine seiner Krallen splitterte. Blitzschnell beugte sich Schneesturm vor und packte ihren Bruder am Genick.
Ihre Zähne schlossen sich um sein Nackenfell, sie spannte die Muskeln an, suchte Halt im Schnee, damit sie nicht beide in die Tiefe stürzten und an den Felsen zerschellten. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung schob sie sich rückwärts. Frost gelang es, erst eine Pfote und dann eine weitere über die Felskante zu setzen, da fielen sie hintenüber und rollten in einem wirren Knäuel aus Fell und Krallen durch den Schnee.
Von einer Schneewehe wurden sie aufgehalten, lagen keuchend ineinander verkeilt da, stumm vor Schreck.
Von der anderen Seite des Schlunds ertönte ein Jaulen. »Sie haben’s geschafft!«
Schneesturm hob den Kopf und schaute zu Flink und Graupel hinüber. Flink peitschte aufgeregt mit dem Schwanz, bis Graupel ihr aufs Ohr schlug.
»Mit Müh und Not«, spottete er so laut, dass Schneesturm und Frost es hören mussten. »Gut, dass sie ihm noch ein letztes Mal den Schwanz gerettet hat!«
Flink kicherte.
»Apropos Schwanz, ich glaube, du sitzt gerade auf meinem«, miaute Frost.
Schneesturm rappelte sich auf und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie mitgenommen sie war.
»Wir haben’s geschafft«, sagte sie. »Jetzt sind wir erwachsen.«
»Stimmt«, erwiderte Frost. »Das heißt wohl auch, dass …«
Der Schnee unter ihnen geriet ins Wanken. Im ersten Augenblick glaubte Schneesturm, ihre Pfoten würden noch von dem Schock zittern. Doch dann gab es einen neuerlichen Ruck und ein dumpfes Grollen war zu vernehmen. Irgendwann war es so laut, als würde ein Geschöpf von der Größe des ganzen Gebirges brüllen. Frost stupste sie an, und stolpernd wichen sie weiter vom Schlund zurück. Im selben Moment kam eine ganze Ladung Schnee ins Rutschen und fiel in die Tiefe. Auf der gegenüberliegenden Seite traten auch Flink und Graupel den Rückzug an und flüchteten über das Schneefeld.
»Ist bloß ein Erdbeben«, sagte Frost und schmiegte sich an Schneesturm. »Stimmt’s?«
»Sicher.« Doch so sicher war sie sich gar nicht. Der Untergrund bebte zwar, aber der Lärm klang, als würde die Schneekatze höchstpersönlich vor Wut brüllen. Schneesturm sah sich um. Auf unbekanntem Terrain von einem Erdbeben überrascht zu werden, war gefährlich. Es konnten sich Schnee- oder Gesteinslawinen lösen. Das offene Schneefeld fühlte sich zwar nicht sicher an, aber zu dem kleinen zerklüfteten Bergrücken hinter ihnen zog es sie auch nicht …
Da entdeckte sie etwas weit weg am Horizont: einen gewaltigen Berg mit violett schimmernden Hängen … von dessen Spitze Rauch aufstieg.
»Was ist das denn?«, keuchte sie.
Frost folgte ihrem Blick und schüttelte den Kopf. »Ist die Schneekatze böse auf uns?«
»Oder warnt sie uns vor einer Gefahr?«, fragte Schneesturm. »Der Rauch gefällt mir gar nicht.«
Abermals sah sie sich in der fremden Umgebung um, dann blickte sie auf den Schwanz ihres Bruders, der sich um ihre Vorderpfoten geschlungen hatte.
»Frost? Jetzt ist kein guter Zeitpunkt, sich zu trennen. Ich glaube nicht, dass die Schneekatze will, dass wir alleine umherirren. Wollen wir vorläufig noch zusammenbleiben? Bloß noch eine Weile?«
Frost nickte schon, bevor sie die Frage beendet hatte.
»Was auch immer da los ist, lass es uns gemeinsam durchstehen. Die Schneekatze würde es so wollen.«
»Mutter sicher auch«, fügte Schneesturm leise hinzu.
Und während die Erde grollte, standen sie Seite an Seite und blickten zu dem rauchenden Berg in der Ferne.
Liebe Schneekatze, bitte sorg dafür, dass auch Geist und Schauer in Sicherheit sind.
1. Kapitel
1. Kapitel
Regen saß im Schlamm und schaute wütend hoch zu dem weißen Panda, aus ihrer Kehle drang ein Knurren. Geist blickte missmutig wie immer. Vom Grund der Grube konnte Regen bloß sein breites, weißes Gesicht erkennen, ein paar Zweige und einen Streifen grauen Himmels.
»Was willst du denn jetzt schon wieder?«, fauchte sie.
Neben ihr wachte Pfingstrose aus ihrem Schlummer und hob den Kopf. Bei Geists Anblick schnaubte sie spöttisch, rollte sich auf die andere Seite und starrte gegen die Grubenwand. Hier saßen sie zur Strafe schon seit Tagen gefangen, weil Regen vor allen Pandas verkündet hatte, dass Sonnenrot in Wirklichkeit gar keine Drachenzunge war. Nicht, dass mir irgendein Panda geglaubt hätte, dachte Regen verbittert. Alle hatten sich gegen sie und ihre Mutter Pfingstrose gewandt, und keiner hatte Sonnenrots Affendiener davon abgehalten, sie abzuführen.
»Sonnenrot ist auf dem Weg«, sagte Geist.
So kurz angebunden sprach er immer. Regen hatte erwartet, dass er so geschwätzig wäre wie Sonnenrot und etwas Schadenfreude an den Tag legen würde, da sie jetzt eine Gefangene war, doch meistens ließ er sie links liegen.
Geist ist bloß der Schläger, der uns in die Grube zurückstößt, wenn wir rausklettern. Sonnenrot ist der Anführer.
»Ach ja? Und warum sagst du mir das?«, keifte Regen. »Soll ich mich vielleicht hübsch machen? Hmm, warte mal.« Mit den Pfoten klatschte sie in den Schlamm. »Kann ich ja nicht, ich sitze ja in diesem Loch fest.«
»Sonnenrot könnte es dir noch viel unbequemer machen«, meinte Geist.
»Genau.« Ein plattes, blaues Gesicht schob sich über den Grubenrand. Ein Affe aus Strammbeins Goldstumpfnasen-Gang. Wahrscheinlich war es Zitterpfote. Sie futterte eine gelbe Ginkgo-Frucht – schon die vierte heute, wenn Regen sich nicht verzählt hatte. »Benimm dich lieber, sonst werfen wir nicht bloß Früchte zu euch runter. Wir haben extra schöne spitze Steine gesammelt.«
Obwohl sie es beunruhigend fand, ließ sich Regen nichts anmerken. »So schlecht, wie du zielst! Du triffst doch nicht mal einen Takin, wenn er vor dir steht«, höhnte sie.
»Wart’s nur ab«, entgegnete Zitterpfote. »Vielleicht stopfen wir Geist zu euch, lassen euch beide ein Kämpfchen austragen, was meinst du?« Sie stieß Geist in die Rippen. Als er knurrte, sprang sie keckernd davon.
»Wir zwei gegen dich? Da würdest du aber alt aussehen, und wenn du zehnmal Sonnenrots weißes Monster bist«, rief Regen.
Geist legte den Kopf schief. »Ihr seid beide ausgehungert. Und steif, weil ihr seit Tagen im feuchten Schlamm sitzt.«
»Und du bist wohl so ein ganz Harter, weil du die Drecksarbeit für Sonnenrot machst«, konterte Regen.
Geist runzelte die Stirn. Offenbar hatte sie einen wunden Punkt getroffen.
»Du weißt nichts über mich und meine Herkunft. Ich habe das Kämpfen von Winter gelernt, der besten Schneeleopardin im ganzen Weißkammgebirge. Wenn ich wollte …« Er schüttelte den Kopf. »Zettelst du immer Auseinandersetzungen an, die du nicht gewinnen kannst?«
Ja, immer, dachte Regen. »Von Leoparden ausgebildet, nicht schlecht«, sagte sie laut. »Bestimmt praktisch, wenn Sonnenrot dich auf die Hasenjagd schickt.«
»Halt endlich mal die Klappe«, meinte Geist.
»Komm doch her, wenn du was willst«, versetzte Regen.
»Kinder, Kinder, müsst ihr euch denn immer zanken?« Sonnenrots breites schwarz-weißes Gesicht tauchte am Grubenrand auf. Regen nahm wieder Platz und auch Pfingstrose richtete sich auf. Geist trat respektvoll zurück. »Alles vollkommen unnötig, wenn ihr bloß mit uns zusammenarbeiten würdet.«
»Niemals«, bellte Regen. »Was willst du überhaupt von uns? Was könnten wir hier in der Grube schon ausrichten?«
»Du behauptest, eine Drachenzunge zu sein«, sagte Sonnenrot. »Dann spuck doch mal eine Prophezeiung aus.«
»Wieso sollte ich?«
»Weil ich einige Möglichkeiten habe, dir das Leben da unten schwer zu machen«, knurrte Sonnenrot. »Das ist eine einmalige Chance für dich. Verrate mir eine Prophezeiung, sonst bekommst du Ärger.«
Was für eine Prophezeiung? Seit ich hier gefangen bin, hatte ich keine einzige mehr. Und ich hab’s wirklich versucht …
Doch das würde sie ihm nicht auf die Nase binden. Regen überlegte. Neben Sonnenrot sah sie Geists Ohrenspitzen aufblitzen, auch Zitterpfotes Schwanz war noch zu erkennen …
»Okay, hier hast du deine Prophezeiung.« Regen streckte die Pfoten aus und schloss die Augen. In dem Moment dachte sie an unbeschwerte Zeiten zurück, in denen sie Frosch und Tanne mit ihren falschen Weissagungen hinters Licht geführt hatte, um sich vor der Arbeit zu drücken. »Der Drache spricht zu mir. Er sagt … einer deiner Affen kotzt gleich.«
Regen schlug die Augen auf und strahlte Sonnenrot an, der wütend das Gesicht verzog.
»Na schön«, knurrte er. »Wenn du nicht mit …«
»Ja, aber«, krähte Zitterpfote, hielt sich mit einer Pfote den Bauch, in der anderen hatte sie noch die fünfte Frucht. »Mir ist schon ein bisschen schlecht …« Sie wandte sich ab und man hörte, wie sie sich quiekend erbrach.
Wie auf Kommando. Regen sah Sonnenrot feixend an.
»Sehr witzig«, fauchte er, dabei zuckte sein Augenlid. »Ich hoffe, du genießt die halbe Ration. Von jetzt an bekommt ihr nur noch die Hälfte zu fressen, bis du mir was Echtes lieferst.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er davon und Geist folgte ihm.
Regen sah verunsichert zu Pfingstrose. Ihre Adoptivmutter war bei dem Stichwort Fressen in sich zusammengesunken. Aber selbst wenn Regen willig gewesen wäre – es gab ja gar keine Prophezeiung, die sie Sonnenrot mitteilen konnte …
Pfingstrose bemerkte ihren Blick und seufzte. »Schon gut, Regen. Du hast alles richtig gemacht. Wir müssen uns einfach irgendwie befreien.«
»Da habt ihr euer Fressen, ihr dummen Pandas«, rief ein Affe von oben. Es war allerdings nicht Zitterpfote, sondern ein anderes junges Affenweibchen. »Hier kommt die halbe Portion!«
Sechs Ginkgo-Früchte landeten neben Regen im Schlamm.
Verwirrt blickte sie auf. Beim letzten Mal hatten sie auch sechs Früchte bekommen, hätten es jetzt nicht bloß drei sein sollen? Nicht, dass sie sich beschweren wollte …
Doch das Gesicht am Grubenrand kam ihr bekannt vor. Regen musste allerdings kurz in ihrer Erinnerung graben.
Flinkschwanz. Sie hatte mit weiteren Affen für Sonnenrot gestreiften Bambus gesammelt und Regen später beim Überqueren des Flusses erwischt, ihre Begleiter aber nicht alarmiert.
Warum hilfst du mir? Doch als Regen sie fragen wollte, legte Flinkschwanz ihren langen braunen Finger auf die Lippen und beugte sich über die Grube.
»Du musst dir eine Prophezeiung ausdenken«, flüsterte sie. »Was Glaubhaftes. Sonst wird Strammbein auch noch sauer – und das willst du sicher nicht.« Flinkschwanz richtete sich wieder auf und sammelte einen Ginkgo-Kern auf. »Lasst es euch schmecken, Gefangene!«, rief sie laut und warf den Kern in die Grube, verpasste Regen dabei aber um Bärenlänge. Bevor Regen noch reagieren konnte, war sie verschwunden.
Regen und Pfingstrose sahen sich überrascht an. Regen reichte ihrer Mutter rasch eine Frucht und verbarg den Rest hinter ihrem Rücken, falls einer der anderen Affen einen Blick zu ihnen hinunterwerfen sollte.
»Wie spät mag es sein?«, fragte Pfingstrose. Regen blinzelte in den Himmel. Die Sonne war schon vor langer Zeit über sie hinweggezogen und es dämmerte bereits.
»Wahrscheinlich ist es Schwindelicht«, antwortete Regen.
Pfingstrose nickte traurig. Ihre Mutter litt darunter, nicht die richtigen Zeiten für die Mahle einhalten zu können. Allerdings war Regen überzeugt, dass der Drache es ihnen in Anbetracht der Umstände nicht übelnehmen würde, doch Pfingstrose hatte sich auch davon nicht aufmuntern lassen.
»Zum Mahl des Schwindelichts verbeugen sich deine Pandas vor dir. Für die Ginkgo-Frucht und deine Güte danken wir dir.«
Regen verbeugte sich und wartete höflich, bis Pfingstrose aufgegessen hatte, bevor sie sich über ihre eigene stinkende gelbe Frucht mit dem harten Kern hermachte. Während des Essens schwiegen sie. Nachdem Regen sich überzeugt hatte, dass keiner sie beobachtete, schob sie ihrer Mutter eine zweite Frucht zu. Pfingstrose seufzte, bevor sie hineinbiss. Regen wusste genau, was in ihr vorging. Auch sie sehnte sich nach dem Geschmack von Bambus. Und ihr war schmerzhaft bewusst, dass sich direkt hinter der Grube ganze Bambuswälder ausdehnten.
»Eine richtige Prophezeiung bekomme ich nicht einfach so, sonst hätte ich schon längst eine gehabt«, sagte Regen leise. »Sicher kann ich mir was ausdenken, das glaubhaft wirkt. Aber ob Sonnenrot darauf reinfällt, weiß ich nicht. Irgendwie muss ich es schaffen, dass wir hier rauskommen …«
»Wir schaffen es gemeinsam«, meinte ihre Mutter.
»Ja, aber ich bin die Drachenzunge«, entgegnete sie. Noch immer kam es ihr seltsam vor, es laut auszusprechen.
Könnte mich Blättchen jetzt doch hören, dachte sie. Auch wenn sie mich mit ihrer Nettigkeit garantiert nerven würde und nicht einmal schadenfroh wäre, dass sie recht behalten hatte. Säßen wir auch in diesem Loch, wenn ich auf sie gehört hätte?
Die restlichen Früchte bewahrten sie für das Mahl des steigenden Monds auf, und tatsächlich gaben ihnen die Affen auch nichts mehr zu essen, bis das Tageslicht völlig erloschen war und die Äste über ihnen von der Dunkelheit verschlungen wurden. Regen konnte gerade noch Pfingstroses weißes Fell vor der schwarzen Grubenwand ausmachen, als sie dem Drachen leise dankten und sich eine Frucht teilten, damit noch eine für das Mahl des sinkenden Monds übrig blieb.
Anschließend legte sich Pfingstrose wieder hin, vergrub den Kopf unter den Tatzen und schlief zwar nicht gleich ein, doch nach einer Weile wurde ihr Atem ruhig und regelmäßig. Regen setzte sich hellwach auf und lauschte dem Knurren ihres Magens. Bei den Affen kam die Wachablösung, das war nie zu überhören, denn immer gerieten sie in Streit. Regen wartete, bis sich die Wogen geglättet hatten und sich ihr aufgeregtes Geschnatter wieder beruhigte.
Eine Weile herrschte Stille. Auch die Vögel und kleinen Waldwesen waren verstummt. Selbst der Wind hatte sich gelegt.
Regen stand auf und streckte sich so gut es ging. Wie Geist gesagt hatte, war sie tatsächlich steif. Aber was blieb ihr anderes übrig, sie musste irgendwie aus dieser Grube hinauskommen.
Letzte Nacht war es ihr nicht gelungen, vorletzte auch nicht. Noch ein Grund, sich Blättchen herbeizusehnen. Ihre Schwester wäre die glitschige Grubenwand sicher locker hochgeklettert. Aber Blättchen war nicht da, also musste Regen es weiter versuchen.
Dass es nicht vollkommen hoffnungslos war, hatte sie von ihren gescheiterten Versuchen gelernt. Auf einer Seite ragten ein paar Felsbrocken und Baumwurzeln aus der Erde, da fand man mit den Tatzen besser Halt. Wenn sie jetzt noch die gebogene Wurzel mit den Krallen erwischte, könnte sie sich vielleicht daran hochhieven.
Sie verkrallte sich in die Wurzel und zog sich hoch. Strampelte mit den Hinterpfoten, trat Erde los und bemühte sich zugleich, die Affen nicht mit ihrem ängstlichen Keuchen zu wecken. Endlich spürte sie festen Fels unter den Tatzen und stemmte sich hoch, den Bauch gegen die erdigen Wände gedrückt. Regen spähte nach oben. In der Dunkelheit war der Grubenrand gerade noch auszumachen. Sie konnte es schaffen. Da fand sich ein weiterer Fels, der Halt gab, und wenn sie sich jetzt gefährlich weit nach rechts lehnte und nach dieser wackligen Wurzel griff, könnte sie die Krallen in den Bau eines Pfeifhasen graben, den Sonnenrots Schergen beim Ausheben der Grube rücksichtslos offen gelegt hatten.
Sie war ihrem Ziel schon ganz nah. Vor ihr lag vielleicht noch eine Bärenlänge. So hoch hatte sie es in den vergangenen Nächten nie geschafft! Jetzt brauchte sie bloß noch …
Wieder sah sie nach oben. Was funkelte denn da? Augen mit schlitzförmigen Pupillen beobachteten sie vom Rand der Grube.
Vor Schreck rutschte Regen mit der Hintertatze weg. Sie verlor den Halt und stürzte. Auch wenn es kein tiefer Fall war, blieb ihr erst einmal die Luft weg, als sie mit heftigem Plumps im Schlamm landete. Keuchend rang sie nach Atem und schaute wieder hoch. Das Augenpaar war weg.
Schattenjäger?
Nein … seine Augen haben ähnlich ausgesehen, sind aber doch anders. Ich glaube, dieses Tier war kleiner. Und Schattenjäger hätte sich auch nicht einfach wortlos in Luft aufgelöst. Oder?
Ihr klopfte das Herz bis zum Hals, doch das Wesen war ohne das geringste Schnauben oder Pfotentrappeln in der Nacht verschwunden.
Regen erschauderte.
Dort oben lauerten nicht bloß Geist, Sonnenrot und die Goldstumpfnasen. Dort in der Dunkelheit lauerte noch jemand. Und beobachtete sie.
2. Kapitel
2. Kapitel
Blättchen stob kichernd den Hang hinunter. Auch wenn ihr vom vielen Laufen die Tatzen brannten, fühlte sie sich heiter und beschwingt. Es war ein sonniger Morgen und ihr verschollener Bruder Pfeffer lief neben ihr. Blättchen hatte ihn aufgespürt, den verschollenen Drilling! Nun fehlte bloß noch Regen, dann stand ihrer Zukunft als Drachenzungen nichts mehr im Weg. Der Gedanke war aufregend und beängstigend zugleich.
»Ich hab Wasser gefunden!«, rief Flitzer. Blättchen gab Pfeffer einen kleinen Stups und eilte der Stimme ihres roten Pandafreunds entgegen. Flitzer stand mit den Vordertatzen in einem klaren Gebirgsbach und trank. Blättchen und Pfeffer gesellten sich zu ihm und schlürften das herrlich kühle Nass.
Nachdem sie ihren Durst gestillt hatten, schüttelte sich Blättchen die Tropfen vom Maul, setzte sich und kratzte sich hinterm Ohr.
»Wo Regen und Pflaume jetzt wohl sind?« Blättchen sah Flitzer an.
»Regen wollte Sonnenrot ja unbedingt zur Rede stellen«, antwortete Flitzer. »Falls sie sich getrennt haben sollten, hat Regen womöglich versucht, den Fluss zu überqueren. Der Wasserstand ist gesunken, vielleicht hat sie’s ja geschafft!«
Bei dem Gedanken wurde Blättchen angst und bange. Vergeblich hatte sie versucht, ihre Schwester davon abzubringen, es mit der falschen Drachenzunge alleine aufzunehmen, aber wenn sich Regen einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ sie sich nicht davon abbringen. »Hoffentlich steckt sie nicht in der Klemme. Lass uns einen Abstecher in den Südwald machen und nach ihr schauen. Vielleicht können wir sie vor einem schlimmen Fehler bewahren.«
»Nein!«, quiekte Pfeffer. Blättchen sah ihn verwundert an. »Ähm, nein, ich, ähm, glaub nicht, dass sie im Südwald ist. Ich hab sie, glaub ich, gesehen. Hier. Auf dieser Uferseite.«
»Was?« Blättchen schnappte nach Luft. »Wirklich? Wo denn?«
»Und warum sagst du das jetzt erst?« Flitzer zog die Stirn kraus. »Hast du nicht behauptet, Blättchen ist der erste Drilling, dem du begegnet bist?«
»Ja, ja, ist sie auch. Begegnet bin ich Regen ja auch nicht«, entgegnete Pfeffer. »Bei allem, was passiert ist, komme ich noch ganz durcheinander … Aber gesehen hab ich sie. Noch vor den Affen, bevor ich erfahren hab, was es mit den weißen Ballen auf sich hat, deshalb hab ich’s zwar bemerkt, mir aber nichts dabei gedacht …« Traurig leckte er sich die verschorfte Tatze, wo sein eigener großer Ballen hätte sein sollen. Der arme Pfeffer hatte sich aus Angst vor den Affen den eigenen Ballen abgebissen. Was musste er für Todesängste ausgestanden haben!
Flitzer schien gute Lust zu haben, ihn noch weiter zu löchern, doch Blättchen wollte Pfeffer nicht noch mehr aufwühlen und brachte ihren Freund mit einem Blick zum Schweigen.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie zu Pfeffer. »Wir beschützen dich vor den Affen. Sobald wir Regen gefunden haben, kann uns keiner mehr was anhaben. Wo hast du sie denn gesehen?«
»An einem vertrockneten Flussbett«, antwortete Pfeffer. »Im ähm … «, er sah sich um. »Im Osten des Nordwalds.«
»Dann nichts wie los!« Blättchen versetzte Pfeffer einen sanften Nasenstupser. »Wir finden sie schon. Alles wird gut, du wirst sehen.«
Auf ihrer Wanderschaft durch die kargen Berge des Nordwalds hielt Blättchen unermüdlich nach Zeichen Ausschau: Zeichen von ihrer Schwester wie Geruchs- oder Tatzenspuren und auch nach Zeichen vom Drachen. Als sie sich damals auf der Suche nach Tante Pflaume verirrt hatten, hatte ihr der Drache eine Fährte aus Kiefernnadeln gelegt, und sie war überzeugt, dass es auch seine Fledermäuse gewesen waren, die ihr den Weg zum Dunkelsee und den anderen Rankforst-Pandas gezeigt hatten und letztlich auch zu Pfeffer. Vielleicht erwartete sie an diesem ausgetrockneten Flussbett ein weiteres Zeichen. Vielleicht würde Pfeffer es sogar selbst entdecken! Mit neuem Mut setzte sie ihren Weg fort.
»Du musst uns alles von dir erzählen, Pfeffer!«, rief sie. »Wo bist du aufgewachsen? Hattest du auch eine Tante, die sich um dich gekümmert hat?«
»Ich bin lange allein gewesen«, meinte Pfeffer. »Ich war noch ein winziges Junges, so winzig, dass ich nicht einmal Fell hatte. Neben mir lagen zwei andere Jungen, das müsst wohl ihr beide gewesen sein, du und Regen.«
»Wow!« Blättchen war schwer beeindruckt. »Aus der Zeit weiß ich gar nichts mehr! Kannst du dich auch noch an unsere Mutter Orchidee erinnern?«
»Aber ja«, antwortete Pfeffer.
»Du hast es gut.« Blättchen seufzte. »Wenigstens hat noch einer von uns Erinnerungen an Mutter. Erzähl doch mal ein bisschen von ihr.«
»Sie roch nach frischem Bambus«, sagte Pfeffer träumerisch. »Ihr Fell war weich wie Morgentau und ihre Augen … ein helles Goldbraun. Wie Bernstein.«
»Wow!«, rief Blättchen erneut. Natürlich malte sie sich auch gerne aus, wie Orchidee selig lächelnd ihre winzigen rosafarbenen Jungen geleckt hatte, die sich an ihr weiches Fell gekuschelt hatten, aber Pfeffer konnte sich wirklich daran erinnern.
»Kannst du dich gar nicht mehr an die Zeit als Neugeborenes erinnern, Blättchen?«, fragte Flitzer.
»Nein, ich weiß überhaupt nichts mehr aus dieser Zeit«, erwiderte Blättchen traurig.
»Ich nämlich auch nicht«, sagte Flitzer. Irgendwie klang er komisch und dazu peitschte er aufgeregt mit seinem langen gestreiften Schwanz.
»Mag schon seltsam sein.« Pfeffer lachte. »Ob’s daran liegt, dass ich eine Drachenzunge bin?«
»Jeder von uns hat eine besondere Gabe«, meinte Blättchen. »Regen ist im Schwimmen gut, ich im Klettern. Vielleicht ist es bei Pfeffer das Gedächtnis!«
Flitzer ließ das Peitschen sein. »Gut möglich.«
Um ungestört mit ihrem Freund zu tuscheln, trödelte Blättchen ein wenig und ließ Pfeffer vorgehen.
»Ich find ihn ja selbst etwas merkwürdig«, sagte sie. »Aber mal ehrlich, ist doch entspannter, als sich alle paar Schritte mit Regen zu streiten, oder?«
Flitzer gluckste. »Da hast du recht!«
»Regen ist meine Schwester und natürlich hab ich sie lieb«, fügte Blättchen schnell hinzu, »aber es ist echt leichter, wenn jemand versteht, worum es geht.«
So drangen sie immer weiter nach Osten vor, legten Pausen für die Mahle ein und mussten auch mitunter stehen bleiben, damit Pfeffer sich orientieren konnte. Blättchen zeigte ihm, wo es zum Dunkelsee ging, in dessen Nähe nun die Rankforst-Pandas und die Roten Pandas lebten, Pfeffer hingegen zog es jetzt Richtung Norden.
Die Gegend, in die er sie führte, war zwar wesentlich bewaldeter als im Rankforst, aber üppig grün und einladend war es nicht. Es wirkte eher, als hätte der Winter in diesem Teil des Waldes verfrüht Einzug gehalten: am Boden nichts als Tannennadeln und vertrocknetes Laub, ab und zu mal ein schroffer Fels. Auch wenn viele Bäume schon kahl waren, warfen ihre dicht verschlungenen Äste unheimliche, düstere Schatten auf den Berghang. Zwar hatten sie gerade erst zum Mahl der langen Strahlen angehalten, doch unter dem Dach dieses Waldes konnte es einem glatt wie das Mahl des steigenden Mondes vorkommen.
»Ich habe ein komisches Gefühl.« Flitzer schnupperte misstrauisch an einem Fels. »Kommt es dir nicht auch ein bisschen …«
»Ein bisschen wie?«, fragte Blättchen. Tatsächlich war ihr selbst mulmig zumute. Die Schatten schienen sich zu bewegen, aber nicht im guten Sinne, nicht als würde gleich ein schuppenbedeckter Leib ihr den Weg weisen wollen, eher als wollte etwas nicht gesehen werden. Ging ihre Fantasie mit ihr durch?
»Weiß ich nicht. Mir gefällt es hier nicht«, sagte Flitzer. »Was sollte Regen hier gewollt haben?«
»Pfeffer?«, rief Blättchen sofort. »Bist du sicher, dass wir noch richtig sind?«
»Auf jeden Fall.« Pfeffer starrte entschlossen vor sich auf den Weg. »Auch wenn es unheimlich ist, wir müssen weiter.«
Tiefer und tiefer drangen sie in diesen anscheinend todgeweihten Wald, Bambus sahen sie kaum noch, aber Blättchen sammelte jeden noch so kleinen Schössling, den sie entdecken konnte, und trug ihn im Maul mit sich, damit sie später fürs Mahl des Schwindelichts ein paar Happen hatten.
Flitzer war losgerannt, um für sich selbst etwas Futter zu besorgen. Blättchen war froh, dass sie die Käfer oder das Moos, nach denen er suchte, nicht fressen musste – Flitzer wusste, dass er ihr auch Mäuse und Fische nicht anzubieten brauchte, mit denen er vorliebnahm, wenn mal keine Früchte oder Pilze aufzutreiben waren. Mit knurrendem Magen sortierte sie ihr kleines Häufchen Bambusstängel.
»Komm, wir schauen uns noch mal um, ob wir nicht wenigstens noch ein paar Sprossen finden«, sagte sie zu Pfeffer. »Solange bis Flitzer zurück ist.«
Doch kaum hatten sie unter dem ersten Baum geschnuppert, kam Flitzer auch schon angewetzt und blieb zitternd neben Blättchen stehen.
»Was hast du?«, fragte sie. Ihr Fell kribbelte und sie blickte angestrengt in das kleine Waldstück, aus dem er gekommen war.
»Ich hab da was gehört«, murmelte er.
»Was denn?«
Flitzer tippelte nervös auf der Stelle, zertrat dabei knisternd das trockene Laub. »Ich weiß nicht. Es hat sich bewegt. Und klang … schwer.«
»Schwer wie ein Panda?«, fragte Blättchen sofort. »Könnte es Regen gewesen sein?«
»Wohl eher gleich mehrere Pandas. Oder was anderes. Ich weiß es nicht, Blättchen. Mir gefällt das nicht.«
»Vielleicht sollten wir einfach nachsehen«, flötete Pfeffer und ging sorglos auf das Waldstück zu. Blättchen blieb fast das Herz stehen.