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Wo Liebe ist, wird Weihnachten ein Fest

Als Buch hier erhältlich:

Willkommen in Wishing Tree, wo der Weihnachtszauber wohnt!

Die Somerville-Schwestern glauben an die Liebe, aber sie haben die Hoffnung aufgegeben, dass sie ihnen beschert wird.

Reggie ist seit der kürzesten Verlobung der Welt nicht mehr zu Hause gewesen. Ihren Eltern zuliebe, die an Weihnachten ihr Eheversprechen erneuern wollen, reist sie mit ihrer Dogge Belle nach Wishing Tree. Dort muss sie sich überwinden und über die gescheiterte Beziehung sprechen. Dann begegnet sie überraschend ihrer ersten großen Liebe Toby wieder, und erneut sprühen die Funken zwischen ihnen. Ob das neue Jahr ein neues Liebeglück für Reggie bereithält?

Dena hat das Warten auf den Richtigen satt. Sie will sich ihren Traum von einer eigenen Familie selbst erfüllen und ist jetzt endlich schwanger geworden. Als ein attraktiver Songwriter mit traurigem Blick in ihrem Bed & Breakfast übernachtet, flackert die Hoffnung auf eine neue Liebe in Dena auf. Micah, der nach dem Verlust seiner Frau nicht mehr schreiben kann, findet Inspiration in ihrer Entschlossenheit, Mutter zu werden. Aber ein Rockstar und eine Grundschullehrerin - kann das gut gehen?

Während die Weihnachtshochzeit ihrer Eltern immer näher rückt, scheint den Schwestern das wertvollste Geschenk zum Greifen nah: Liebe.


»Wenn dieser Roman Sie nicht in Weihnachtsstimmung bringt, dann wissen wir auch nicht, was sonst!« Woman's Weekly


  • Erscheinungstag: 27.09.2022
  • Aus der Serie: Wishing Tree
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745703269

Leseprobe

Für Kim, die Mutter von Belle –

danke, dass du dein bezauberndes Baby

mit mir geteilt hast.

Über sie zu schreiben war ein Highlight.

Und für die wundervollen Leserinnen und Leser

in der Susan Mallery All Access-Gruppe auf Facebook,

die mir geholfen haben, die vielen lustigen

Weihnachtstraditionen und Namen

für die Geschäfte in Wishing Tree zu erfinden –

ihr werdet eure Namen hier und da

im Buch wiederfinden.

Wenn ihr auch dabei sein wollt:

facebook.com/groups/susanmalleryallaccess.

1. Kapitel

»Das ist ein Staubsauger«, sagte Reggie Somerville und versuchte, sich ihren Zweifel nicht anmerken zu lassen. »Du hast den Staubsauger neu erfunden?«

Gizmo wandte sich ihr zu. Selbst seine dicken Brillengläser konnten den verletzten Ausdruck in seinen Augen nicht verbergen. »Das ist ein kluger Staubsauger.«

»Gibt es nicht schon diese runden Dinger, die allein durch die Zimmer flitzen?«

»Die sind dumm und mittelmäßig. Meiner ist klug.«

Reggie machte sich weniger Sorgen um die Intelligenz von Staubsaugern als um die ihres Klienten. Gizmos Gehirn arbeitete in einer komplett anderen Sphäre als das eines Durchschnittsmenschen. Seine Ideen waren wirklich außergewöhnlich – an der Umsetzung haperte es allerdings oft. Basiswissen im Programmieren sollte nicht die Voraussetzung dafür sein, ein Haushaltsgerät bedienen zu können. Was sie ihm schon ungefähr siebenundfünfzigtausendmal erklärt hatte.

Misstrauisch beäugte sie den dreieckigen Staubsaugerkopf. Das knallige Violett war ansprechend, und ihr gefiel, dass der Staubsauger sowohl allein herumfahren als auch ganz normal per Hand benutzt werden konnte. Die ausgedruckte Anleitung – ungefähr achtzehn Seiten lang – war ein wenig einschüchternd, aber sie würde sie meistern.

Wenn der Probelauf klappte, würden Gizmo und sie die nächsten Schritte besprechen, darunter auch ihre Designvorschläge. Und sobald diese umgesetzt waren, konnten sie mit dem Beta-Test seiner neuesten Erfindung anfangen. In der Zwischenzeit würde sie sehr viel staubsaugen.

»Ich schicke dir in ein paar Wochen einen Bericht«, sagte sie.

Gizmo, ein blasser, dünner Zwanzigjähriger, der mit seiner Familie nördlich von Seattle wohnte, schenkte ihr ein kleines Lächeln. »Du hast Zeit bis zum ersten Januar. Bis dahin habe ich genug damit zu tun, die Weihnachtsdeko am Haus anzubringen. Damit haben wir direkt nach Halloween angefangen, und es ist ziemlich viel Arbeit. Einige der Fehler vom letzten Jahr konnte ich ausmerzen, die animierten Teile sehen jetzt noch echter aus. Das hat viel Zeit gekostet, aber meine Grandma steht drauf.«

»Klingt lustig.«

»Wir starten alles am Freitag nach Thanksgiving, bauen aber den ganzen Dezember über weiter daran. Komm am besten mal kurz vor Weihnachten vorbei. Es wird dich umhauen.«

»Ich kann es kaum erwarten«, antwortete sie lachend.

Sie und Gizmo unterhielten sich noch ein paar Minuten, bevor sie ihn aus dem Büro in ihrem Haus nach draußen begleitete. Nachdem die Tür hinter ihm zugefallen war, lugte Belle – Reggies sechzig Kilo schwere Dänische Dogge – mit ihrem großen Kopf um den Schreibtisch herum.

»Du hast dich gar nicht von Gizmo verabschiedet«, sagte Reggie. »Ich dachte, du magst ihn.«

Belle richtete ihren Blick auf den violetten Staubsauger, der mitten auf dem Teppich stand, als wollte sie Reggie darauf hinweisen, dass die Todesgefahr immer noch nicht gebannt war.

»Der tut dir nichts«, versicherte sie ihr. »Er ist ja nicht mal angeschaltet.«

Doch Belle zog zweifelnd die Augenbrauen zusammen und gab ein kehliges Grummeln von sich, als wollte sie Reggie an Gizmos letzte Erfindung erinnern.

Reggie unterdrückte ein Lächeln. »Ja, ich erinnere mich, was mit dem Gassigeh-Roboter passiert ist«, gab sie zu.

Der robuste, seltsam aussehende Roboter hatte zunächst einen guten Eindruck gemacht, als er die besorgte Belle durch den Garten führte. Doch nach zehn Minuten war unglücklicherweise ein Programmierfehler zutage getreten, und der Roboter hatte angefangen, den Hund zu jagen. Belle – nicht der mutigste aller Hunde – war in ihrem Versuch, dem Angriff zu entkommen, durch die Fliegengittertür gesprungen und hatte sich den Rest des Tages hinter Reggies Schreibtisch versteckt.

Dieser Fehlschlag hatte Gizmo zutiefst getroffen, und er hatte beinahe so viel Trost gebraucht wie Belle. Manchmal, dachte Reggie seufzend, ist mein Job wirklich zu seltsam.

»Ich lasse den hier stehen«, erklärte sie Belle. »Er ist ausgeschaltet, du kannst ihn also beschnüffeln und dich an ihn gewöhnen.«

Belle trat zwei Schritte in Richtung Schreibtisch zurück. Ihre Körpersprache verriet deutlich, dass sie sich niemals an das Biest gewöhnen würde. Warum hat Reggie keinen normalen Job, einen, der nicht das Leben ihres einzigen Haustieres bedroht?, schien sie sich zu fragen.

»Du kannst dich auch draufsetzen«, schlug Reggie vor. »Der Roboter wiegt ungefähr zehn Pfund. Du bist mindestens zehnmal so schwer und würdest ihn vermutlich wie einen Käfer unter dir zerquetschen.«

Die Augen der Hündin weiteten sich beleidigt.

Erneut unterdrückte Reggie ein Lächeln. »Schon gut, ich werde nie mehr etwas über dein Gewicht sagen. Du bist wunderschön und wesentlich schlanker als ich.«

Sie setzte sich aufs Sofa und klopfte auf das Kissen neben sich. Mit drei Sprüngen war Belle bei ihr und lehnte sich schwer gegen sie. Der hellrosafarbene Pullover, den die Hündin trug, um sich vor dem feuchten Novemberwetter zu schützen, bot einen schönen Kontrast zu ihrem dunkelgrauen Fell. Reggie legte einen Arm um Belle und holte ihr Handy heraus. Ein Blick aufs Display verriet ihr, dass sie einen Anruf von ihrer Mutter verpasst hatte.

Sie versuchte, den Anflug von Grauen zu unterdrücken. Vergeblich. Sie liebte ihre Eltern – sehr sogar. Sie waren gute Menschen, die sie auch liebten. Doch sie würden darauf bestehen, dass sie über Thanksgiving und Weihnachten nach Hause käme, und leider fiel ihr kein einziger Grund ein, ihnen diese Bitte abzuschlagen.

Letztes Jahr war es anders gewesen. Da war sie in Seattle geblieben, nur mit Belle als Gesellschaft, und hatte die Feiertage eher ertragen als genossen. Bis Neujahr hatte sie sich Zeit gegeben, um das Ende ihrer Beziehung zu betrauern – und die damit einhergegangene ungeheure Demütigung zu verarbeiten: Der Mann ihrer Träume hatte ihr beim Entzünden des Weihnachtsbaums auf dem Marktplatz am Freitag nach Thanksgiving einen Antrag gemacht, für den Samstag eine Party organisiert und sie am Sonntag sitzen lassen.

Nachdem sie ihr Glück mit beinahe allen, die sie kannte, geteilt hatte, nachdem ihre Freundinnen ihren Ring bewundert und nach ihren Hochzeitsplänen gefragt hatten, hatte sie ihnen erklären müssen, dass Jake seine Meinung geändert hatte. Das nahm sie zumindest an. Seine tatsächlichen Worte: »Ich kann das nicht. Es ist vorbei. Tut mir leid«, hatten ihr nicht viel über seine Motive verraten.

Verletzt und beschämt hatte sie sich in ihrer Arbeit und ihrem Leben in Seattle vergraben und war seitdem nicht mehr nach Wishing Tree zurückgekehrt. Sie zog es vor, ihre Wunden im Stillen zu lecken, und redete sich ein, dass sie langsam heilten, doch die Wahrheit sah anders aus, und das wusste sie auch – sie versteckte sich. Aber nun war es an der Zeit, sich zusammenzureißen und die Sache hinter sich zu lassen. Schließlich hatte sie hart daran gearbeitet, Jake zu vergessen und mit ihrem Leben weiterzumachen. Thanksgiving war in einer Woche, und sie würde nach Hause fahren, wie sie es vorher jedes Jahr getan hatte. Außerdem war es ja nicht so, dass sie ihrem Ex-Verlobten immer noch nachweinte. Sie war über ihn hinweg, und jetzt war es an der Zeit, das ihrer Heimatstadt zu beweisen … und möglicherweise auch sich selbst.

»So lautet zumindest der Plan«, erklärte sie ihrer Hündin und drückte den Knopf, um ihre Mutter zurückzurufen.

»Hey, Mom«, sagte sie, als ihre Mutter ranging.

»Reggie! Wie schön. Das errätst du nie. Es ist so romantisch! Dein Dad und ich werden heiraten.«

Reggie blinzelte ein paarmal. »Ihr seid bereits verheiratet. Im nächsten Monat steht euer fünfunddreißigster Hochzeitstag an. Ich dachte, ihr gebt eine Party oder so.« Darüber hatte sie noch vor ein paar Wochen mit ihrer Schwester gesprochen.

Ihre Mutter lachte. »Du hast recht. Technisch gesehen sind wir verheiratet. Wir sind damals durchgebrannt, aber ich muss gestehen, ich habe es immer bedauert, keine große Hochzeit gehabt zu haben. Dein Vater meinte, ich sei darüber jetzt seit fünfunddreißig Jahren traurig und es wäre vielleicht langsam an der Zeit, etwas dagegen zu unternehmen. Also haben wir beschlossen, unsere Ehegelübde bei einer großen Hochzeit zu erneuern. Und zwar am Mittwoch vor Weihnachten.«

»Ihr veranstaltet eine echte Hochzeit?«

»Ja. Oben im Resort. Wir laden alle ein. Bisher hat die Planung viel Spaß gebracht, aber langsam läuft sie aus dem Ruder. Ich hatte gehofft, du könntest mir helfen.«

»Mit eurer Hochzeit?«

»Ja. Liebes, geht es dir gut?«

»Mir ist ein wenig schwindelig.«

»Ich weiß, es ist eine Überraschung, aber ich freue mich so. Du kommst doch über Thanksgiving nach Hause, oder?«

»Ja.«

»Gut. Ich dachte, du könntest bis Weihnachten bleiben. Im Keller ist ausreichend Platz für dich zum Arbeiten. Morgens könntest du dich um deine Geschäfte kümmern und mir nachmittags helfen. Es sind nur fünf Wochen, Reggie. Und du hast einen Job, den du von überall aus machen kannst.«

Auch wenn das theoretisch stimmte, war Reggie nicht gerade begeistert von der Aussicht, ihr Leben einzupacken und für über einen Monat bei ihren Eltern einzuziehen.

»Was ist mit Belle?«, fragte sie in der Hoffnung, dass die Erwähnung des Hundes ihre Mutter umstimmen würde.

»Du weißt doch, dass wir sie lieben.«

»Sie hat aber Angst vor Burt.«

»Ach, die beiden kommen schon miteinander klar. Das ist alles nur Spiel.«

Reggie dachte daran, wie Belle jedes Mal vor Angst zitterte, wenn sie den kleinen Dackel ihres Vaters sah. Burt war eigentlich gutmütig, aber er hatte sich mit Belle nie anfreunden können und verbrachte den Großteil seiner Zeit damit, hinter ihr herzulaufen und ihr in die Fesseln zu beißen. Belle wiederum versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen, wobei sie vom Sofa auf den Couchtisch und von da auf den Sessel sprang – und eine Schneise der Verwüstung hinterließ.

»Ich möchte, dass sie Blumenmädchen wird«, fuhr ihre Mutter fort. »Wir lassen ihr ein bezauberndes Kleid schneidern und hängen ihr einen Korb mit Rosenblättern um den Hals.«

Reggie strich Belle über den Rücken. »Sie würde ein tolles Blumenmädchen abgeben.«

»Siehst du? Komm schon, sag, dass du herkommst und mir mit der Hochzeit hilfst, Reggie. Ich brauche dich. Dena hat mit der Schule zu tun, und außerdem leidet sie fürchterlich unter morgendlicher Übelkeit. Ich habe keine Ahnung, wo sie das herhat – mir ging es während meiner beiden Schwangerschaften blendend, aber sie ist total geschafft. Außerdem warst du schon viel zu lang nicht mehr hier. Es ist an der Zeit, nach Hause zu kommen.«

Das waren beinahe die gleichen Worte, die Reggie eben zu sich selbst gesagt hatte – abgesehen von den hochzeitlichen Schuldgefühlen.

»Mom«, fing sie an und seufzte dann. Warum gegen das Unvermeidliche ankämpfen? Sobald sie zu Hause war, wäre sie froh darüber, das Richtige getan zu haben. Außerdem ging es um Weihnachten in Wishing Tree – kein anderer Ort der Welt konnte es mit dieser Magie aufnehmen.

»Klar. Ich komme. Belle und ich werden übermorgen losfahren.«

»Ich freue mich so!«, rief ihre Mutter. »Danke. Wir werden viel Spaß haben, du wirst schon sehen. Vielleicht bist du ja zum ersten Schneefall da und kannst auf die große Party der Stadt gehen. Okay, jetzt, wo ich weiß, dass du über die Feiertage bei uns bist, habe ich noch eine Bitte an dich.«

Reggie wusste nicht, ob sie lachen oder stöhnen sollte. »Was hast du getan?«

»Nichts. Wirklich.«

»Es muss was sein, sonst würden wir nicht darüber reden.«

»Ja. Guter Punkt. Also: Für ihr weihnachtliches Wohltätigkeitsprojekt will Denas Klasse etwas stricken. Normalerweise würde ich mich gern für sie darum kümmern, aber mit der Hochzeit und allem habe ich dieses Jahr keine Zeit dafür. Ich hatte gehofft, du könntest das für mich übernehmen.«

Reggie schloss die Augen. »Mom«, setzte sie an und hielt dann inne, denn sie wusste, am Ende würde sie sowieso zusagen.

Jedes Jahr überlegten die Schüler der Grundschule sich verschiedene wohltätige Projekte für den Dezember. Seitdem Dena, Reggies ältere Schwester, angefangen hatte, dort zu unterrichten, machte die Familie auch immer mit. In den letzten paar Jahren hatte Reggies Mutter sich im Wesentlichen darum gekümmert: die benötigten Materialien besorgt, die Schüler betreut und so weiter.

»Deshalb habe ich es vermieden, nach Hause zu kommen«, sagte Reggie schwach.

»Stimmt nicht. Du hast es vermieden, weil Jake Crane zu dumm war, zu erkennen, was er an dir hatte. Ich hoffe, er verbringt den Rest seines Lebens damit, diese Entscheidung zu bereuen und gegen einen fiesen Hautausschlag anzukämpfen.«

»Ja, weiter so, Mom!«

Ihre Mutter lachte. »Ich bin auf deiner Seite.«

»Das warst du immer.« Reggie lächelte. »Na gut, ich bin die neue Strickkönigin.«

»Wunderbar. Ich schicke dir alle nötigen Informationen per E-Mail. Du wirst viel Spaß mit den Kids haben. In der Zwischenzeit können wir schon mal über Geschenke für die Hochzeitsgäste nachdenken. Etwas, das wir selbst machen können, damit es etwas wirklich Besonderes ist. Ich spiele mit der Idee, Untersetzer zu bemalen. Wir könnten auch Seife machen. Das wollte ich schon immer mal lernen. Vielleicht was Blumiges.«

Sie würden Seife machen? »Du weißt aber schon, dass man süße kleine Seifen kaufen kann, oder, Mom? Sie werden übers Internet verkauft.«

»Ich werde die Geschenke nicht kaufen. Ich will, dass das ein Projekt für uns beide ist. Wie auch immer, wir sehen uns ja bald. Sag Bescheid, wenn du in Seattle losfährst, damit ich anfangen kann, mir Sorgen zu machen, wenn du nicht pünktlich hier bist.«

»Wie wäre es, wenn ich einfach unerwartet auftauche? Dann musst du dir keine Sorgen machen.«

»Wo bleibt da der Spaß? Ich kann es nicht erwarten, dich zu sehen. Und ich werde Dad schön von dir grüßen.«

»Danke, Mom. Und Glückwunsch zur Hochzeit.«

Dena Somerville hatte gewusst, dass es eine Herausforderung sein würde, als Single schwanger zu sein, aber niemals war ihr auch nur die Idee gekommen, dass ihr jede Sekunde eines jeden Tages übel sein könnte. Ihre Mutter hatte immer erzählt, wie leicht ihre Schwangerschaften gewesen waren und dass alle Frauen in ihrer Familie für die Entbindungen kaum eine Pause in ihrem Tagewerk hatten einlegen müssen.

Während sie an die Wand gelehnt auf dem Fußboden ihres Badezimmers saß und sich fragte, ob sie für diese Stunde wohl mit dem Übergeben fertig wäre, entschied Dena, dass ihre Mutter entweder gelogen hatte oder sie selbst adoptiert war.

So sollte es nicht sein, dachte sie und drehte den feuchten Waschlappen um, den sie sich in den Nacken gelegt hatte. Warum konnte sie sich nicht acht Wochen in die Zukunft beamen? Ihre Ärztin hatte ihr versprochen, dass die Übelkeit und das Erbrechen dann aufhören würden. Aber leider hatte Dena noch nicht herausgefunden, wie man die Zeit bezwang, und so war sie dem unangenehmen Wissen ausgeliefert, dass die Wellen der Übelkeit in einer oder zwei Stunden wieder hochkommen würden – und sie sich in drei von fünf Fällen erneut elegant und ohne Vorwarnung würde übergeben müssen.

Was sie wirklich traf, war, dass sie einen Plan gehabt hatte. Einen guten, praktischen Plan. Einen Plan, der beinahe überlegen genannt werden konnte. So war sie schon immer gewesen, und sie hatte ihre Pläne auch immer verwirklicht. An Schicksal oder Fügung glaubte sie nicht – deshalb steckte sie die nötige Arbeit und Mühe in die Umsetzung, auch wenn das manchmal schwer war.

Sie hatte sich ihren Kindheitstraum erfüllt und war Lehrerin geworden – ein Job, den sie noch mehr liebte, als sie sich vorgestellt hatte. Und als ihre Großmutter Regina gestorben war und ihren Nachlass zwischen ihren beiden Enkelinnen aufgeteilt hatte – wobei ihre Namensvetterin Reggie Aktien und Fonds und Dena das Wishing Tree Bed and Breakfast erhalten hatte –, war sie in die große Wohnung über dem alten Kutschenhaus gezogen und hatte ihre Sommer damit zugebracht, das B&B zu renovieren.

Was die Romantik anging, war Dena weniger erfolgreich gewesen, aber sie hatte nicht aufgegeben. Sie hatte sich bei einer Partnervermittlung angemeldet und war jedes zweite Wochenende nach Seattle gefahren, um den Einen kennenzulernen. Sie hatte drei verschiedene Dating-Apps genutzt und jedem, der zuhörte, erzählt, dass sie einen Partner suchte. Sie war zu Gruppen-Dates, Blind Dates und Doppel-Dates gegangen.

Nach zwei Jahren ernsthafter Bemühungen hatte sie dann akzeptiert, dass sie ihren Mr. Right – oder auch nur ihren Mr. Gutgenug – nicht finden würde. Und sie hatte angefangen, sich die schwierigen Fragen zu stellen: Bedeutete, die Liebe aufzugeben, auch, dass sie ihren Traum von einer Familie aufgeben musste? Die Antwort hatte nicht lange auf sich warten lassen: ein dickes, fettes Nein. Sie liebte Kinder und wollte eigene haben.

Da sie eine logisch denkende, nach Faktenlage handelnde Person war, hatte sie sich anderthalb Jahre lang über IVF-Behandlungen schlaugemacht – In-vitro-Fertilisation oder, wie ihre Schwester es nannte, die Bratenspritzenmethode – und sich letztlich dafür entschieden. Sie hatte den Termin so gelegt, dass der Stichtag der Geburt auf das Ende des Schuljahrs fallen würde und sie sich somit den ganzen Sommer ausschließlich ihrem Baby widmen konnte.

Die Farben für das Kinderzimmer hatte sie genauso sorgfältig ausgewählt wie eine gute Tagesbetreuung, und sie hatte sich Notizen gemacht, was sie sagen würde, wenn sie sich mit ihrer Familie zusammensetzte, um ihr von ihrem Vorhaben zu erzählen. Sie verfügte über ein wundervolles Netzwerk, zu dem ihre Eltern, ihre Schwester Reggie und die Angestellten des B&B gehörten, die für sie wie eine Familie waren. Sie hatte es sogar geschafft, gleich beim ersten Versuch schwanger zu werden.

Sie hatte wirklich geglaubt, an alles gedacht zu haben, aber mit dieser Übelkeit, die sie dauernd lahmlegte, hatte sie nicht gerechnet.

Der kühle Waschlappen in ihrem Nacken und die kalten Fliesen unter ihrem Po schienen ihren Magen so weit besänftigt zu haben, dass sie das Risiko eingehen konnte, aufzustehen. Als sie auf den Füßen war, hielt sie kurz inne, um zu checken, ob er sie dafür bestrafen würde, doch alles blieb ruhig. Mit etwas Glück würde sie die nächsten Stunden überstehen, ohne sich zu übergeben.

Nachdem sie den Gürtel ihres Bademantels neu gebunden hatte, ging sie zu ihrem Balkon und trat in den eisigen, dunklen Morgen hinaus. Wie immer war die scharfe, kalte Luft ein Schock für ihre Lungen und ließ sie zittern, erstickte aber auch den letzten Rest von Übelkeit.

Es war kurz vor sechs, und der Großteil der Welt schlief noch. So hoch im Norden und nur einen Monat vor dem kürzesten Tag des Jahres begann es erst gegen acht zu dämmern. Dena hob den Kopf und betrachtete die funkelnden Sterne über sich. Es war zwar kalt genug für Schnee, doch die Luft war in den letzten Wochen bemerkenswert klar gewesen. Der mythische erste Schnee ließ noch auf sich warten.

Aber bald, dachte sie lächelnd. Bald würde es Schnee geben und die damit einhergehenden Feiern, denn so machte man das in Wishing Tree.

Ein Blick nach unten verriet ihr, dass die Lichter in der Küche des B&B schon brannten – Ursula, ihre begnadete, aber scharfzüngige Köchin bereitete das Frühstück vor. Sobald sie damit fertig wäre, würde sie die Lunchboxen für die Gäste zusammenstellen, die eine bestellt hatten. Danach kam das Backen von Keksen, Brownies und Scones, die sie nachmittags in der Lobby verkauften. Und bevor Ursula nach Hause ging, würde sie noch kleine Snacks zaubern, die abends zum Wein gereicht wurden.

Manchmal waren es Mini-Quiches, manchmal eine wunderbare Käseplatte. Ihre gefüllten Champignons waren sehr beliebt, genau wie ihre Crab Puffs. Und der Wein erst! Alles wunderbare Tropfen von den guten Winzern Washingtons: L’Ecole, Painted Moon, Northstar, Lake Chelan, Doubleback und Figgins.

»Ach, Wein. Wie sehr ich dich einst geliebt habe«, murmelte Dena und lachte. Wenigstens konnte sie noch alles essen – also, soweit ihr Magen mitspielte. Weichkäse war ein No-Go, und Oliven ließen sie würgen, aber ansonsten war alles gut.

Ein Licht ging an und erhellte die Terrasse des Apartments unter ihr. Das Erdgeschoss des Kutschenhauses war aufgeteilt worden in einen Lagerraum für das B&B und eine Suite für Gäste, die etwas Schickeres, Privateres wollten. Der Preis für die Übernachtung lag entsprechend höher, aber dennoch war die Suite meistens ausgebucht, vor allem während der Feiertage.

Der derzeitige Gast – ein unglaublich gut aussehender Mann, der vor zwei Tagen eingetroffen war – hatte die Suite bis zum 2. Januar gebucht. Die Aussicht auf die wöchentlichen Eingänge auf ihrem Konto erfreute Dena beinahe so sehr wie der schnuckelige Anblick. Die meisten ihrer Gäste waren Paare und Familien. Attraktive, alleinstehende Männer fanden nur selten den Weg in ihr B&B.

Nicht, dass sein Familienstand wichtig wäre. Sie hatte akzeptiert, dass im großen Weltenplan Liebe für sie nicht vorgesehen war, außerdem war sie schwanger, womit es überhaupt keinen Sinn ergäbe, sich auf irgendeinen Mann einzulassen. Ach ja, und dann konnte sie schon allein anhand seines Aussehens erkennen, dass er weit außerhalb ihrer Liga spielte. Trotzdem, eine werdende Mutter darf ja wohl gucken und bewundern, oder?, dachte sie lächelnd.

Bisher war er ein sehr ruhiger Nachbar, der weder mit den Türen knallte noch den Fernseher zu laut stellte. Gestern Abend war Gitarrenmusik aus seiner Suite heraufgeklungen – ein Stück, das mehrmals hintereinander gespielt worden war. Die sanften Töne hatten sie in den Schlaf gewiegt, weshalb sie sich auch nicht darüber beschwert hatte.

Die Kälte drang immer stärker durch ihren Bademantel und ließ sie zittern. Schnell atmete Dena noch einmal tief ein, bevor sie hineinging, um ihren Tag zu beginnen. Sie putzte sich die Zähne und zog sich an. In der Küche aß sie das Einzige, was sie zum Frühstück runterbrachte – ein Sandwich mit Avocado und Eiersalat. Unter gewöhnlichen Umständen vielleicht eine seltsame Kombination, aber ihre Ärztin hatte ihre Zustimmung gegeben.

Sehnsüchtig schaute sie zu ihrer Kaffeemaschine und dachte, wie unendlich nahe sie beide einander einst gewesen waren. Damals, bevor etwas in der Größe einer Lima-Bohne angefangen hatte, die Macht über ihr Leben an sich zu reißen. Aber sie bedauerte es nicht wirklich – für ihr Baby auf Kaffee zu verzichten war es definitiv wert. Und sie hatte gewusst, dass dieser Entzug kommen würde. Es war die morgendliche, mittägliche, abendliche Übelkeit, die sie in die Knie zwang.

Aber für den Moment gab ihr Magen Ruhe, also füllte sie ihre Wasserflasche, holte den vorbereiteten Lunch aus dem Kühlschrank und ging nach unten zu ihrem Wagen. Wenn ihr Körper nur ein wenig mitspielte, würde sie einen guten Tag haben – was vor allem daran lag, dass jeder Unterrichtstag ein guter Tag war. Und es gab so vieles, auf das sie sich freute. Am Freitag würde sie das Wohltätigkeitsprojekt für ihre Drittklässler verkünden. Am Montag darauf fand der allmonatliche Karrieretag statt. Wenn sie sich recht erinnerte, würden ein Klempner, ein Tierarzt und ein Mann, der eine Plantage für Weihnachtsbäume betrieb, sich vorstellen. So viele Möglichkeiten, dachte sie. Sie war auf alle nur erdenklichen Weisen der glücklichste Mensch auf Erden.

2. Kapitel

Reggie ging in die Knie und hievte sich den Fünfundzwanzigkilosack Hundefutter auf die Schulter. Einer der Gründe, aus denen sie sich vor ein paar Jahren dafür entschieden hatte, sich einen Hund anzuschaffen, war, dass sie dann gezwungen wäre, für Spaziergänge das Haus zu verlassen. Zu Hause zu arbeiten machte es einem zu leicht, faul zu werden. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, Krafttraining für den Oberkörper in ihren Alltag einbauen zu müssen, nur allein, um das Trockenfutter tragen zu können, das sie für ihre Mitbewohnerin kaufte. Der positive Nebeneffekt war, dass sie nun mit Leichtigkeit den schweren Sack in den Kofferraum werfen konnte – gleich neben den Karton mit den Geschenken.

Belle wartete angespannt auf der Veranda. Abgesehen davon, dass sie nicht, nun ja, allzu mutig war, litt sie auch unter Trennungsangst. Sie schien sich ständig Sorgen zu machen, dass Reggie einfach abhauen und sie sich selbst überlassen könnte.

»Du weißt, dass das niemals passieren wird«, sagte Reggie. »Du kommst mit. Erinnerst du dich? Du warst dabei, als ich deinen Koffer gepackt habe.«

Belle winselte leise – die Erinnerung schien sie nicht zu beruhigen.

Reggie hievte einen zweiten Sack Hundefutter auf den ersten und packte drei Kartons mit Dosenfutter daneben. Dann ging sie ins Haus zurück und kontrollierte noch einmal, ob sie alle Türen und Fenster verriegelt hatte und das Heizungsthermostat auf Antifrost eingestellt war.

Ein Koffer stand bereits an der Tür, der zweite lag auf dem Sofa. Reggie überprüfte, ob sie ausreichend Pullover, Mäntel und Flanell-Overalls für Belle eingepackt hatte, und legte dann noch die Lieblingsspielzeuge ihrer Hündin sowie ein paar Kausticks dazu. Belle leckte sich die Lefzen, als sie die Tüten sah.

»Die gibt es erst, wenn wir in Wishing Tree sind«, erklärte Reggie ihr. »Okay, ich denke, das ist alles.«

Sie klappte den Koffer zu und zog Belles pinkfarbenes Halsband aus der Hosentasche. »Komm her, meine Süße, machen wir dich hübsch.«

Belle saß geduldig da, während Reggie ihr das Halsband umlegte. Danach brachte sie die Koffer ins Auto und kehrte zurück, um Mantel, Handtasche und Hund zu holen. Belle sprang auf den Rücksitz, wo Reggie sie anschnallte. Nachdem sie sichergestellt hatte, dass das Rentiergeweih am Kühlergrill festsaß, stieg sie ein und startete den Motor.

»Auf dem Weg halten wir irgendwo an, um einen Burger zu essen«, verriet sie Belle. »Bei diesem Diner, das du so magst.«

Belle wedelte mit dem Schwanz und schaute aus dem Fenster. Burger waren eines ihrer Lieblingsessen.

Reggie fuhr los in Richtung Highway 2, den sie bis zu der Ausfahrt nehmen würde, von der es dann über einen kleineren Highway nach Wishing Tree ging. Die Stadt lag zwanzig Meilen von der Grenze zu Kanada und ungefähr hundertfünfzig Meilen von Seattle entfernt. Laut Verkehrs-App konnte sie auf der Strecke mit trockenen Straßen und wenig Verkehr rechnen.

Nach einer Weile musste Reggie sich eingestehen, dass sie sich zwar darauf freute, nach Hause zu fahren, aber auch ein wenig angespannt war.

Vielleicht hat ein Jahr gereicht, um alle vergessen zu lassen, was passiert ist, dachte sie. Zum Glück wohnte Jake nicht mehr in Wishing Tree. Paisley, ihre beste Freundin und Quelle für alle Neuigkeiten aus dem Ort, hatte ihr erzählt, dass er nach seiner Zeit als Management-Assistent im Resort von Wishing Tree zum Manager eines der Unternehmen seiner Familie in Colorado befördert worden war. Auch wenn Paisley generell die Ansprechpartnerin für interessanten Klatsch war, hatte sie in diesem Fall zudem über Insiderwissen verfügt, denn sie war nicht nur ein festes Mitglied von »Team Reggie«, was die Trennung anging, sondern auch die Eventmanagerin im Resort.

»Alles wird gut«, versicherte Reggie sich laut, bevor sie das Radio einschaltete. Sicher, sie war über Jake hinweg, aber dennoch froh, dass sie ihm nicht über den Weg laufen würde. So eine Begegnung wäre bestimmt unangenehm, außerdem wollte sie nicht, dass irgendjemand glaubte, sie würde ihn noch vermissen.

Eine Stunde später merkte sie, dass die Vorfreude auf zu Hause die Anspannung überwog. Es war albern, so lange wegzubleiben, dachte sie. Sie war viel zu stark, als dass ein Mann sich zwischen sie und Wishing Tree stellen könnte.

Ihr Handy klingelte. Reggie drückte einen Knopf an ihrem Lenkrad, um den Anruf anzunehmen.

»Hallo?«

»Hey, du. Wie ist die Fahrt?«

Reggie lächelte, als sie die Stimme ihrer Schwester erkannte. »Gut. Belle hat ein Reh gesehen und versucht, aus dem Fenster zu springen, aber ich habe sie davon überzeugen können, drinnen zu bleiben.«

»Du fährst mit offenen Fenstern?«, fragte Dena überrascht. »Hier sind minus zwei Grad.«

»Nein, die Fenster sind zu. Belle interessiert sich aber nicht für geschlossene Fenster oder Wände, das weißt du doch.«

»Sie ist meine absolute Lieblingsnichte. Ist ihr Koffer größer als deiner?«

»Ich fürchte, ja. Aber das liegt daran, dass sie fabelhafter ist als ich. Wie geht es dir? Kotzt du dir immer noch überall die Seele aus dem Leib?«

Dena atmete scharf ein. »Ich versuche, es nicht überall zu tun, aber ja, mir ist immer noch übel.«

»Mom meinte, ihre Schwangerschaften wären total leicht gewesen. Es tut mir leid, dass es bei dir nicht so ist.«

»Ja, mir auch. Aber hoffentlich lässt die leider den ganzen Tag anhaltende morgendliche Übelkeit in ein paar Wochen nach. Außerdem bin ich ständig so müde. Gestern bin ich beinahe im Unterricht eingeschlafen. Aber auch das soll vorübergehen.«

»Es scheint in einer Schwangerschaft ziemlich viel zu geben, was vorübergeht«, witzelte Reggie. »Das habe ich gar nicht gewusst.«

»Ich auch nicht, aber hey, wir lernen gemeinsam.«

»Ich freue mich auf das Strickprojekt.« Reggie sah von hinten einen Truck näher kommen und dann an ihr vorbeirasen. Da sie genau vier Meilen über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit fuhr, winkte sie dem Typen zu und fragte sich, ob sie wohl in ein paar Meilen sehen würde, wie er ein Ticket für zu schnelles Fahren bekam.

»Bist du sicher, dass du das machen willst?«, fragte Dena besorgt. »Das ist ganz schön viel Arbeit. Ich könnte …«

»Nein, könntest du nicht«, unterbrach Reggie sie. »Dena, du unterrichtest Vollzeit, managst das B&B und bist schwanger. Findest du nicht, dass das genug ist? Ich habe mir die Infos durchgelesen, die Mom geschickt hat, und freue mich einzuspringen, während sie damit beschäftigt ist, ihre Hochzeit zu planen. Außerdem bringt es bestimmt Spaß und ist meine gute Tat für die Feiertage. Ich habe mit der Rundstricknadel geübt, die ich gekauft habe. Die Kinder werden eine tolle Zeit haben.«

»Danke, dass du meiner Klasse hilfst.«

»Das mache ich gern.«

»Einige der Eltern werden mitmachen«, fügte Dena angespannt hinzu. »Aber darüber reden wir, wenn du hier bist.«

»Je mehr Leute, desto mehr Mützen und Schals kriegen wir fertig. Ich finde es gut, wenn Eltern sich einbringen.«

»Wie gesagt, darüber reden wir später.«

»Okay. Sag Mom bitte nicht, dass ich schon losgefahren bin. Ich will nicht, dass sie sich die ganze Zeit über Sorgen macht.«

»Was? Unsere Mutter und sich Sorgen machen?« Dena lachte. »Wann wäre das jemals vorgekommen? Übrigens kann sie sich nicht entscheiden, ob sie uns als Brautjungfern haben will.«

Reggie zuckte zusammen. »Es ist ihre Hochzeit, und sie entscheidet, aber von meiner Seite aus gibt es dazu ein dickes, fettes Nein.«

»Von meiner Seite aus auch. Ich würde mir die ganze Zeit nur Gedanken machen, ob ich mich übergeben muss.«

Reggie grinste. »Das würde die Stimmung garantiert schnell kippen lassen.«

»Genau. Und das will niemand. Ist es für dich wirklich in Ordnung, nach Hause zu kommen?«

Der Themenwechsel kam so überraschend, dass Reggie einen Moment brauchte, um sich darauf einzustellen. »Es ist schon lange überfällig. Ich liebe es, über die Feiertage zu Hause zu sein. Und ich werde nicht zulassen, dass etwas, das vor einem Jahr passiert ist, mir das versaut.«

»Das ist eine gute Einstellung. Wie viel davon ist vorgespielt?«

»Ungefähr vierzig Prozent«, gestand Reggie.

»Das ist trotzdem nicht schlecht.« Ein neckender Unterton schlich sich in Denas Stimme. »Soll ich mich mal umhören, ob es hier einen süßen Typen auf der Suche nach Liebe gibt? Dean ist noch Single und seeehr nett anzusehen.«

»Danke, aber nein. Den besten Freund meines Ex-Freundes zu daten wäre seltsam.«

»Oh, stimmt. Sorry. Das war kein guter Vorschlag.«

Reggie lachte. »Ist schon okay. Selbst wenn ich ignorieren würde, dass er Jakes bester Freund ist, bin ich mein ganzes Leben lang mit netten Typen ausgegangen. Jetzt will ich mal jemanden ausprobieren, der ein klein wenig böser ist. Zum einen zur Abwechslung, und zum anderen, weil es dann nicht so eine Überraschung ist, wenn er mir das Herz bricht.«

»Vielleicht funktioniert es ja auch, und ihr lebt glücklich bis ans Lebensende.«

»Ja, klar. Weil das ja jeden Tag passiert.«

Vor sich sah Reggie blinkende Lichter, deshalb wechselte sie auf die linke Spur und fuhr an dem Truck vorbei, der sie vorhin überholt hatte – und der von der Highway Patrol rausgewunken worden war.

Karma, dachte sie lächelnd. Wie konnte man nicht daran glauben?

»Wir sehen uns in ein paar Stunden«, sagte sie zu Dena.

»Ja. Ich liebe dich, Belle.«

Beim Klang ihres Namens bellte die Hündin kurz auf.

»Sag deiner Mom, sie soll einen Burger-Stopp einlegen«, fügte Dena an.

Reggie lächelte. »Der ist bereits eingeplant. Hab dich lieb, Schwesterherz.«

»Ich dich auch.«

Toby Newkirk hielt sich eigentlich für einen Menschen, der sein Leben ganz gut im Griff hatte. Er nannte eine erfolgreiche Firma mit über zweitausend Mitarbeitern im Westen der USA sein Eigen. Er hatte einen achtjährigen Sohn, der glücklich und klug war und viele Freunde hatte. Er besaß ein nettes Haus und kümmerte sich um seine Großmutter. Seine Rechnungen bezahlte er pünktlich, für seinen Sohn hatte er einen College-Fonds angelegt, und er konnte sein eigenes Gewicht auf der Hantelbank stemmen, ohne in Schweiß auszubrechen. Okay – er schwitzte schon, aber trotzdem. Warum also fühlte er sich bei der Aussicht, sich mit der Klassenlehrerin seines Sohnes zu treffen, gleichzeitig schuldbewusst und nervös? Harrison ging es gut. Er las Bücher, die über seine Altersklasse hinausgingen, und hatte jetzt schon einen ziemlich beeindruckenden Fastball.

Das Gefühl des Grauens abschüttelnd, betrat er das Schulsekretariat, wo man ihm sagte, dass er in Mrs. Somervilles Klassenzimmer erwartet wurde.

Auf den Fluren der Wishing-Tree-Grundschule war es still – die Kinder hatten ihre monatliche Musikversammlung. Das hatte Harrison beim Frühstück erwähnt. Offenbar trat der Schulchor heute auf.

Toby erreichte das Klassenzimmer und sah Dena Somerville an ihrem Pult sitzen. Harrisons Lehrerin war ein Jahr älter als er, und er kannte sie schon beinahe sein ganzes Leben. Sie war von mittlerer Größe mit hellbraunen Haaren und braunen Augen. Langweilig normal, hatte ihre jüngere Schwester Reggie sich früher immer über ihr und Denas Aussehen beschwert, als sie noch auf der Highschool und – wichtig – ein Paar gewesen waren.

Das ist viele Jahre und noch mehr Meilen her, dachte er und klopfte an die offene Tür. Und Reggie Somerville war alles andere als langweilig und normal gewesen.

Dena schaute auf und schenkte ihm ein schwaches Lächeln. »Hi, Toby. Danke, dass du vorbeischaust. Das hier dauert nicht lang.«

Sie deutete auf den Stuhl vor dem Pult – ein Stuhl für Erwachsene, wofür er sehr dankbar war. Auf keinen Fall hätte er sich in einen der Kinderstühle quetschen können.

Als er saß, bemerkte er, dass Dena ein wenig blass war – als würde es ihr nicht gut gehen.

»Alles in Ordnung?«, fragte er, nicht sicher, ob er die Antwort hören wollte. Denn manchmal, wenn ein Mann eine Frau fragte, ob alles in Ordnung war, bekam er mehr Informationen, als ihm lieb war. Und je mehr sie mitteilten, desto leichter war es, falsch zu reagieren, und dann ging alles den Bach runter.

»Harrison macht sich prima«, versicherte sie ihm und drehte den Kopf zur Seite, um einmal schwer zu schlucken. »Gib mir eine Sekunde.«

Sie schien tiefer zu atmen als normal, und als sie nach dem Becher auf ihrem Pult griff, zitterten ihre Hände ein wenig. Er hätte schwören können, dass sie sogar kurz grün anlief, doch dann atmete sie scharf aus und entspannte sich.

»Mir geht es gut«, sagte sie und wandte sich wieder ihm zu.

Er hatte keine Ahnung, was da gerade passiert war. Er wusste nur, dass er gern weit, weit weg wäre – das war der instinktive Drang des Mannes, zu flüchten, wenn etwas Unangenehmes passierte, das mit Frauen zu tun hatte.

Anstatt jedoch wegzulaufen – was sowohl falsch als auch feige gewesen wäre –, blieb er sitzen und wartete.

Dena lächelte ihn entspannt an. »Ich wollte dich wissen lassen, dass wir uns bei dem Wohltätigkeitsprojekt für Harrisons Idee entschieden haben. Ich werde es den Schülern am Freitag mitteilen. Alle Drittklässler werden Mützen und Schals für bedürftige Kinder stricken. Am Montag nach Thanksgiving fangen wir damit an, und wir haben drei Wochen, um alles fertigzustellen und auszuliefern.«

»Das ist nicht viel Zeit.«

»Ich weiß. Das Problem haben wir jedes Jahr. Immer wieder sprechen wir darüber, schon im November mit dem Projekt anzufangen, aber irgendwie kommt es nie dazu.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Wir müssen hart arbeiten, um sicherzustellen, dass wir bis dahin so viele Schals und Mützen wie möglich fertig bekommen.«

»Ich hatte vor zu helfen.«

»Und ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest.« Sie schaute ihn direkt an. »Aber da könnte es ein Problem geben.«

»Welches?«

Kurz wandte sie den Blick ab. »Es tut mir leid. Das fällt unter die Kategorie ›zu viel Information‹, aber ich dachte, du hast das Recht, es zu erfahren, wegen … nun ja, wegen Reggie.«

Er runzelte die Stirn. »Deiner Schwester?«

Sie nickte. »Wie viele andere Reggies kennst du?«

»Sie ist die Einzige, aber ich habe sie seit Jahren nicht mehr gesehen.« Mindestens zehn … nein, zwölf, dachte er. Seitdem er kurz vor Ende seines letzten Highschooljahres weggegangen war. »Ich habe gehört, dass sie in Seattle wohnt.«

»Das stimmt, aber sie kommt über die Feiertage nach Hause.« Dena wedelte mit der Hand. »Normalerweise kümmert sich meine Mom darum, dass die Weihnachtsprojekte rechtzeitig fertig werden, aber meine Eltern erneuern ihr Ehegelübde mit einer großen Hochzeit, deshalb hat sie dieses Jahr keine Zeit.« Sie lächelte zögernd. »Stattdessen wird Reggie das übernehmen.«

Toby wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte, aber Dena nahm ihm die Entscheidung ab, indem sie wieder grün anlief. Sie klammerte sich an der Tischkante fest und keuchte hörbar.

»Geht es dir gut?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf und fuhr fort, schwer zu atmen. Genauso schnell, wie ihre Gesichtsfarbe sich geändert hatte, wurde sie wieder normal, und Dena sackte auf ihrem Stuhl zusammen.

»Das war ein ganz schlimmer«, murmelte sie. »Ich dachte wirklich, dass ich mich dieses Mal übergeben muss.« Sie sah ihn an. »Sorry. Das hätte ich nicht sagen sollen.«

»Du bist krank.«

»Nicht wirklich.« Sie hielt kurz inne. »Ich bin schwanger.«

»Du bist …«

Dena lachte leise. »Wow, dein Gesichtsausdruck. Ja. Ich habe mich vor ein paar Monaten einer künstlichen Befruchtung unterzogen.«

Wirklich? Er hatte schon mal davon gehört, kannte aber niemanden, der es gemacht hatte. Bis jetzt. So richtig wusste er nicht, was er davon halten sollte. »Und nun ist dir schlecht?«

»Laut meiner Ärztin wird das in ein paar Wochen vorbei sein. Bis dahin mache ich vielen Menschen Angst.«

»Zähl mich dazu.«

»Sorry.« Sie lächelte ihn an. »Zurück zum Wohltätigkeitsprojekt. Angesichts deiner damaligen Beziehung mit meiner Schwester war ich nicht sicher, ob es dir vielleicht unangenehm wäre, mit ihr zusammenzuarbeiten. Deshalb habe ich dich hergebeten, damit du weißt, was dich erwartet.«

Er war selbst erst seit einem knappen Jahr zurück in Wishing Tree, und in der ganzen Zeit hatte er kaum einmal an Reggie gedacht. Er hatte ein paar Dinge gehört – wo sie wohnte und dass sie sich genau zu der Zeit, als er mit Harrison hergezogen war, mit Jake Crane verlobt und wieder getrennt hatte, und das alles innerhalb eines Wochenendes.

»Dena, das ist lange her. Ich bezweifle, dass Reggie überhaupt noch weiß, wer ich bin.«

»Oh, ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich an dich erinnert. Du warst ihr erster fester Freund. So etwas vergisst ein Mädchen nicht.«

Über diese Information denke ich später nach, dachte er. »Ich habe kein Problem damit, mit ihr zusammen an dem Projekt zu arbeiten. Und ich gehe davon aus, dass sie dasselbe sagen wird.«

Dena grinste. »Ich werde dich auf dem Laufenden halten. Noch habe ich nicht mit ihr über dich gesprochen. Ich wollte erst mit dir Rücksprache halten. Du bist ein engagierter Vater, was ich sehr schätze. Ich weiß, dass Harrison für dich immer an erster Stelle steht. Das ist schön zu sehen.«

»Danke. Also ist alles gut?«

»Ja. Wenn du nur vielleicht überrascht tun könntest, wenn Harrison dir erzählt, dass seine Idee gewonnen hat, wäre das nett.«

»Ich werde so tun, als würde es mich umhauen.« Er stand auf, zögerte dann. »Gehe ich recht in der Annahme, dass deine Schwangerschaft auch etwas ist, wovon nicht viele Leute wissen?«

»Richtig. Und ich weiß deine Diskretion zu schätzen.«

»Die hast du. Und, äh, herzlichen Glückwunsch.«

»Danke. Stichtag ist Anfang der Sommerferien, also werde ich meine Klasse bis zum Ende des Schuljahres begleiten können.«

Sie unterhielten sich noch ein paar Minuten, dann flüchtete er. Auf der Rückfahrt zu seinem Büro im Stadtzentrum versuchte er zu entscheiden, was ihn mehr überraschte: dass Reggie nach Wishing Tree zurückkam oder dass die alleinstehende Lehrerin seines Sohnes dank künstlicher Befruchtung schwanger war.

Was Letzteres anging, hatte er keinerlei moralische Bedenken. Er kannte Dena zwar nur in ihrer Rolle als Harrisons Lehrerin und Reggies Schwester, aber er hielt sie für eine intelligente, umsichtige Frau, die nicht leichtfertig die Entscheidung treffen würde, allein ein Kind großzuziehen. Das war keine einfache Aufgabe, wie er wusste. Von Harrison hatte er erfahren, als der Junge drei Monate alt gewesen war. In der einen Sekunde war Toby ein ganz normaler Single-Mann ohne jegliche Verantwortung gewesen, in der nächsten hatte er seinen Sohn in den Armen gehalten. Seine Kenntnisse über Kinder im Allgemeinen und Babys im Besonderen passten damals auf eine Streichholzschachtel, und es wäre noch Platz für Werbung geblieben. Aber er hatte es irgendwie gemeistert.

Was Reggie anging, da hatte er Dena die Wahrheit gesagt – ihre Beziehung war schon mehrere Leben her. Sicher, damals war er verrückt nach ihr gewesen und hatte davon geträumt, sein Leben mit ihr zu verbringen, aber na und? Sie waren jung und verliebt gewesen, und jetzt waren sie weder noch. Mit ihr an dem Projekt zu arbeiten wäre keine große Sache. Vielleicht würde es sogar Spaß machen, einander wieder kennenzulernen.

Was das Risiko für sein Herz anging – da gab es keines. Abgesehen von Reggie hatte er bislang im Hinblick auf Frauen einen fürchterlichen Geschmack bewiesen. Wenn er sich nur um sich Gedanken machen müsste, würde er es vielleicht riskieren, aber für ihn stand mehr auf dem Spiel. Und in seiner Welt war Harrison das Einzige, das wichtig war.

3. Kapitel

Während der Rest des Planeten voranstürmte und wissen wollte, was die Zukunft bereithielt, war Wishing Tree, Washington, zufrieden damit, langsam vor sich hin zu schlendern. Es verfügte über Highspeed-Internetverbindungen und sogar ein blühendes Hightech-Areal am Rande der Stadt; das neue Outlet-Center war ein Hit, und es gab Gerüchte, dass einige der größeren Weingüter Verkostungsräume in der Stadt eröffnen wollten, aber tief im Herzen war Wishing Tree, was es immer gewesen war: gemütlich, familienfreundlich und vollkommen weihnachtsfixiert.

Die in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Straßen feierten alles, was mit Weihnachten zu tun hatte. Sie trugen Namen wie Glöckchenstieg und Rentierallee. Die von Osten nach Westen führenden Straßen waren nach Bäumen benannt. Douglasienweg, Blaufichtenweg, und es gab sogar den Hemlocktannen-Highway. Anstelle eines traditionellen Marktplatzes gab es den Weihnachtskranz, einen Platz, der einem Adventskranz nachempfunden war und auf dem alle wichtigen Veranstaltungen stattfanden. Umzüge – von denen es mehrere im Jahr gab – starteten und endeten hier. Der riesige Weihnachtsbaum wurde hier aufgestellt und im Rahmen einer großen Feier erleuchtet. Natürlich stand auch der Adventskalender hier. Der Weihnachtskranz war von lauter kleinen Geschäften umgeben, und es gab eine lange Liste mit Unternehmen, die nur darauf warteten, dass einer der Läden frei wurde.

Während Reggie langsam durch die vertrauten Straßen fuhr, spürte sie, wie eine Anspannung von ihr abfiel, die sie bisher gar nicht bemerkt hatte. Wieder hier zu sein ist richtig, dachte sie. Seattle war super, und sie liebte ihr Leben dort, aber nach Wishing Tree zu kommen – vor allem über Weihnachten – war auch ziemlich wundervoll.

Ihre Eltern wohnten in einem der älteren Viertel, in dem die Backsteinhäuser auf großen Grundstücken standen. Breite Veranden boten viel Platz für Weihnachtsdekorationen. Im Moment waren die Vorgärten noch mit vielen Vogelscheuchen und Truthähnen geschmückt. Am Freitag nach Thanksgiving würde sich das ändern, wenn die Stadt einen Schalter umzulegen schien. Dann würde der Weihnachtsbaum auf dem Weihnachtskranz zum allerersten Mal erstrahlen und so den Startschuss für das geben, was für sie alle die beste aller Jahreszeiten war.

Belle begann, auf der Rückbank zu winseln, als wüsste sie genau, wo sie waren, und könnte es nicht abwarten, ihre Großeltern zu sehen. Reggie fiel die Abwesenheit von Schneemännern in den Dekorationen auf. Das war eine der Regeln in der Stadt: Keine Schneemänner, bevor nicht der erste Schnee gefallen war. Und die Definition von Schneefall war in Wishing Tree sehr spezifisch. Es musste für mindestens fünfzehn Minuten stetig schneien, und am Ende musste wenigstens eine feine Schneedecke über allem liegen. Wenn das passierte, wurde überall gehupt und alle eilten zum Weihnachtskranz, um zu feiern.

Der erste Schnee fällt dieses Jahr verdammt spät, dachte Reggie, während ihr Blick über die braunen Rasenflächen glitt. Mit ein wenig Glück war sie noch hier, wenn es geschah. Schließlich hatte Wishing Tree bisher jedes Jahr weiße Weihnachten gehabt, es gab also keinen Grund, anzunehmen, dass es dieses Jahr anders sein würde.

Vor dem vertrauten zweistöckigen Backsteinhaus mit den großen Fenstern und der breiten Veranda hielt sie an. In diesem Haus waren sie und Dena aufgewachsen. Sie wusste, welche Treppenstufe knarrte, wenn sie versuchte, sich rauszuschleichen, und wie lange genau sie duschen konnte, bevor das Wasser kalt wurde. Sie wusste, wie der Regen klang, wenn er auf das Dach ihres Kinderzimmers fiel, welcher Teil des Kellers behaglich genug war, um darin zu arbeiten – und welcher so gruselig, dass sie es vermied, ihn zu betreten.

Die Haustür ging auf, und Reggies Eltern eilten heraus. Belle wäre in ihrer Begeisterung beinahe durch das Autofenster gesprungen. Reggie lief schnell um den Wagen herum, um die Hündin herauszulassen. Mit aller Freude, derer ihr riesiger Körper mächtig war, sprang Belle auf ihre beiden Lieblingsmenschen zu.

»Wer ist mein hübsches Mädchen?«, flötete Reggies Mom und breitete die Arme aus. Reggies Vater stellte sich vor sie und fing den Großteil von Belles stürmischer Begrüßung ab, bevor die Hündin bellend und fiepend im Kreis lief und dabei scheinbar mit dem gesamten Körper wedelte.

Reggie beobachtete ihre Eltern und versuchte zu erkennen, ob sich seit deren Besuch in Seattle vor ein paar Monaten etwas verändert hatte. Ihr Dad hatte ein paar graue Haare mehr an den Schläfen – etwas, das Leigh, ihre Mutter, bei sich niemals zulassen würde. Sie ging regelmäßig zum Schneiden und Färben zum Friseur und hatte noch immer die gleiche Haarfarbe wie früher – eine Haarfarbe, die Reggie von ihr geerbt hatte, genau wie die braunen Augen.

Etwas ruhiger als Belle ging Reggie auf ihre Eltern zu. Ihr Dad zog sie fest in die Arme. »Wie war die Fahrt?«, fragte er, bevor er sie für eine weitere Umarmung an ihre Mutter weiterreichte.

»Gut. Entspannt. Wir haben unterwegs angehalten und Burger gegessen.«

Leigh nahm Belles großen Kopf in die Hände. »Hat deine Mom dir einen Burger gegeben, weil du so ein gutes Mädchen bist?«

Belles langer Schwanz wippte vor und zurück und hielt dann plötzlich inne, als ein scharfes Bellen ertönte. Reggie sah Burt, den kleinen Dackel ihres Vaters, aus dem Haus und auf sie zurennen. Sofort versteckte Belle sich mit eingezogener Rute hinter ihrem Frauchen.

»Ihr müsst wirklich anfangen, ihn zu erziehen«, sagte Reggie, bevor sie sich vorbeugte und Burt begrüßte. »Hey, mein Großer.«

Burt wedelte fröhlich mit dem Schwanz, während sie ihn streichelte, bevor er Belle einen finsteren Blick zuwarf und ein tiefes Knurren ausstieß. Belle zog sich noch weiter zurück.

Leigh legte einen Arm um die Hündin. »Du musst ihm die Stirn bieten. Er ist nicht so mutig, wie er aussieht. Zeig ihm, wer der Boss ist, hübsches Mädchen. Mehr braucht es nicht.«

Was für ein guter Rat, dachte Reggie. Schade, dass Belle der englischen Sprache nicht mächtig war.

Ihre Mom scheuchte die Hunde ins Haus, während Reggie und ihr Dad sich um das Gepäck kümmerten. Die Koffer kamen nach oben in Reggies altes Kinderzimmer, und das Hundefutter wurde in die Vorratskammer gebracht. Als Letztes holte Reggie ihren Laptop und Gizmos neuen Staubsauger aus dem Wagen und brachte beides nach unten in den Hobbykeller, der ihr als Büro dienen würde.

Als sie den Laptop auf die lange Werkbank stellte, sah sie die Muster der Hochzeitseinladung sowie eine ausgedruckte Gästeliste darauf liegen. Ihre Eltern schienen das mit der Erneuerung ihrer Gelübde und der großen Feier wirklich ernst zu meinen.

Zurück im Erdgeschoss fielen ihr ein paar Veränderungen auf. Der Parkettboden war abgeschliffen und neu versiegelt worden, die Wände frisch gestrichen. In der Küche gab es einen neuen Herd mit sechs Gasflammen als Ersatz für den alten, der älter als sie gewesen war.

Die Möbel im Wohnzimmer – das nur benutzt wurde, wenn Gäste kamen – glänzten so frisch wie immer. Es war der einzige Raum im Haus, in dem keine Tiere erlaubt waren. Die große Eckcouch und die Fernsehsessel im sogenannten Fernsehzimmer hingegen sahen ein wenig abgewetzt aus, waren aber immer noch gemütlich. Vielleicht war der Fernseher ein wenig größer als bei ihrem letzten Besuch, aber ansonsten war alles noch so, wie sie es in Erinnerung hatte. Dazu zählte auch, dass Burt der Dogge in die Fesseln biss und Belle fiepend aufs Sofa sprang, wo sie zitternd stehen blieb – ihre Miene eine Mischung aus Entrüstung und Angst.

»Ach, Belle.« Reggie setzte sich neben ihre Hündin. »Du musst dir ein Rückgrat wachsen lassen. Ernsthaft, eins deiner Häufchen wiegt mehr als der ganze Hund.«

»Da hast du recht.« Ihr Vater lehnte sich von hinten über das Sofa und gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Es ist schön, dich wieder hier zu haben, Kleine.«

»Es ist schön, wieder hier zu sein.«

»Ich muss zurück in die Werkstatt.«

Leigh kam aus der Küche. »Dinner ist um halb sieben, Vince. Nicht um zwanzig vor und nicht um Viertel vor.«

Er grinste. »Sag mir noch mal, warum ich dich heiraten werde?«

Reggies Mutter lächelte. »Weil du ohne mich verloren wärst.«

»Das stimmt.«

Sie küssten sich, bevor Vince mit einem Winken in Richtung Garage verschwand. Burt schaute ihm nach und seufzte, als die Garagentür zufiel. Dann rollte er sich auf seinem Bett zusammen, das links neben einem der Fernsehsessel stand. Belle beäugte ihn misstrauisch, bevor sie auf dem Sofa zusammenklappte und ihren Kopf auf Reggies Schoß bettete.

»Also, wo stehen wir mit der Hochzeitsplanung?«, fragte Reggie, als ihre Mutter es sich im Sessel gemütlich machte.

»Manchmal glaube ich, dass ich total gut organisiert bin, und dann bin ich mir wieder nicht sicher. Dena und ich haben gestern über das Thema Brautjungfern gesprochen.«

»Ja, das hat sie erwähnt. Mom, das ist total deine Entscheidung. Wenn du willst, dass wir Brautjungfern sind, machen wir das. Wenn nicht, ist das auch in Ordnung.«

»Danke. Ich neige eher zu nicht. Ich meine, es ist ja keine echte Hochzeit.«

Reggie nickte und versuchte, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. »Aber du willst immer noch, dass Belle Blumenmädchen ist?«

»Natürlich. Du musst ihr ein Kleid schneidern. Was Hübsches mit Spitze und vielleicht einer Schleppe.«

»Eine Schleppe macht ihr vermutlich Angst, Mom. Sie könnte glauben, verfolgt zu werden.«

»Okay. Dann einfach nur ein hübsches Kleid in Rot oder Grün.«

Reggie strich Belle über den Kopf. »Wir nehmen Rot, weil dir das gut steht, was meinst du?«

Belle klopfte mit dem Schwanz aufs Sofa.

»Willst du einen Junggesellinnenabschied?«, fragte Reggie.

»Nein. Dafür bin ich zu alt. Und wir wollen auch keine Geschenke.«

»Die Gäste wollen aber vielleicht etwas schenken.«

Leigh winkte ab. »Dann sollen sie in unserem Namen an den Wohltätigkeitsverband der Stadt spenden. Dein Vater und ich brauchen nichts. Wir sind zufrieden mit dem, was wir haben, und möchten einfach nur eine große Feier.«

»Und eine Hochzeit.«

Ihre Mutter lächelte. »Und eine Hochzeit.«

Kurz darauf ging Reggie nach oben, um auszupacken. Belle folgte ihr, wobei sie sich ständig nervös umschaute, als erwarte sie, dass Burt jederzeit aus einer Ecke schießen und sie angreifen könnte.

»Du bist in Sicherheit. Er schläft unten im Fernsehzimmer«, versicherte Reggie ihr, doch Belles Miene entspannte sich nicht.

Reggie betrat ihr altes Kinderzimmer, das in dem Sommer nach ihrem ersten Collegejahr renoviert worden war. Sie hatte damals ihre Erinnerungen an die Highschool eingelagert, sodass die Regale und Schränke weitgehend leer waren. Die blassblauen Wände wirkten beruhigend.

Belle ging zu dem großen Hundebett in der Ecke und beschnüffelte es.

»Mom hält die Tür zu diesem Zimmer immer geschlossen. Also keine Angst, er hat nicht darauf gelegen«, sagte Reggie.

Nicht ganz überzeugt schnüffelte Belle weiter, bevor sie sich schließlich hinlegte. Reggie packte erst die Hundesachen aus und stapelte die Mäntel, Schuhe und Schals auf dem Absatz neben der Treppe.

Gerade hatte sie ihren Koffer aufs Bett gelegt, als sie Schritte auf der Treppe hörte und eine vertraute Stimme rief: »Du bist da!«

Belle sprang auf und rannte los, um Dena zu begrüßen. Ihre Rute schlug so fest gegen Reggies Oberschenkel, dass diese aufschrie und zurücksprang.

»Das gibt einen blauen Fleck«, murmelte sie, bevor sie ihrer Hündin folgte.

Ihre Schwester und sie umarmten einander, und Reggie musterte Denas blasses Gesicht.

»Wie geht es dir?«

»In dieser Sekunde ist mir nicht ganz so schlecht, was ganz nett ist.«

»Du siehst nicht schwanger aus.«

»Noch nicht.« Dena betrat das Zimmer und ließ sich auf den Stuhl vor dem kleinen Schreibtisch sinken. »Ich wollte das Ganze geheim halten, bis ich im dritten oder vierten Monat bin, aber weil ich mich ständig übergebe, musste ich den Leuten sagen, dass ich schwanger und nicht krank bin. Ich hasse es, wenn meine Pläne durchkreuzt werden.«

»Man kann den Verlauf einer Schwangerschaft nicht planen.«

Dena grinste. »Wenn man sich ausreichend Mühe gibt, schon. Okay, wie fühlt es sich an, zurück zu sein?«

»Es ist noch zu früh, das abschließend zu beurteilen, aber bisher gut. Ich habe beschlossen, dass es lächerlich ist zu glauben, dass die Leute sich für mein Privatleben interessieren. Es ist ein Jahr her, und Jake wohnt nicht mehr hier. Ich bin mir sicher, dass niemand etwas sagen wird.«

Dena wandte kurz den Blick ab und sah ihre Schwester dann wieder an.

»Was?«, fragte Reggie, während sie anfing, ihren Koffer auszupacken.

»Was Jake angeht, hast du recht. Das interessiert niemanden. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie nicht trotzdem über dich reden werden.«

Reggie legte ihre Unterwäsche in die Kommodenschublade. »Was redest du da?«

»Ich wollte es vorher nicht erwähnen – während du dich noch mit der Trennung herumgeschlagen hast. Aber ungefähr zu der Zeit, als das mit dir und Jake zu Ende ging, ist Toby wieder hergezogen.«

Reggies erster Gedanke war, dass es mit ihnen nicht »zu Ende« gegangen war, sondern dass Jake sie ohne eine Erklärung verlassen hatte. Aber dann sackten die Worte ihrer Schwester, und sie erkannte, dass es darum gar nicht ging.

»Toby wie in Toby?«, fragte sie und ließ sich aufs Bett fallen. »Der Toby, mit dem ich auf der Highschool zusammen gewesen bin?«

»Ja, genau der.«

Toby – an ihn hatte sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gedacht. Er war ihre erste Liebe gewesen, ihr erster fester Freund, ihr erster Alles. Sie hatten sich gestritten, sie hatte Schluss gemacht, und zwei Tage später war er weggefahren und nie wiedergekommen. Das hatte sie zumindest gedacht.

»Wie geht es ihm? Hast du ihn mal gesehen? Er ist schon ein Jahr hier, und keiner hat mir was gesagt?« Sie versuchte, sich zu erinnern, ob sie irgendetwas über ihn gehört hatte. »Seine Großmutter wohnt noch hier, oder? Und sein Vater ist vor ein paar Jahren gestorben.«

»Ja und ja.« Dena wirkte besorgt. »Er hat einen Judys Pasteten am Weihnachtskranz eröffnet und den Hauptsitz seiner Firma nach Seattle verlegt.«

»Was?«, fragte Reggie so schrill, dass Belle den Kopf hob und nach einer möglichen Gefahr Ausschau hielt. Da sie keine offensichtliche Bedrohung fand, legte sie sich wieder hin.

»Er ist in Seattle?«

Dena schüttelte den Kopf. »Den Großteil der Zeit ist er hier. Ich glaube, er fährt alle paar Wochen hin, aber er wohnt mit seiner Großmutter drüben am Lichterpark.«

Im wohlhabenderen Teil der Stadt, dachte Reggie abwesend. »Woher weißt du so viel über ihn?«

Dena atmete tief ein. »Sein achtjähriger Sohn Harrison ist in meiner Klasse.«

»Wie bitte?«

Reggie sprang auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Toby hat einen Sohn in deiner Klasse, und du hast es nie für nötig gehalten, ihn mir gegenüber zu erwähnen?«

Dena verlagerte unbehaglich das Gewicht. »Ich weiß. Das ist schlimm, oder? Ich wusste nur nicht, wie ich es sagen sollte, und immer, wenn ich überlegt habe, es dir zu erzählen, hatte ich das Gefühl, es wäre besser, es nicht zu tun.«

Das war alles zu viel für sie. »Also ist er verheiratet?«

»Nein. Er hat keine Frau. Harrison hat seine Mutter nie erwähnt, und ich frage nicht nach. Toby kommt zu allen Elternveranstaltungen. Er ist ein guter Dad, der seinen Sohn wirklich liebt.«

Toby war zurück und hatte einen Sohn?

»Wow«, sagte Reggie und kehrte zum Bett zurück. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«

»Zumindest ist es nicht Jake.«

Reggie lachte. »Stimmt.«

»Er ist ein wirklich toller Mann«, setzte Dena an.

Sofort hob Reggie abwehrend die Hände. »Stopp. Nein. Einfach nein. Denk nicht mal daran, mich mit jemandem verkuppeln zu wollen, mit dem ich in der Highschool zusammen war.«

Sie wollte noch mehr sagen, aber ihre Schwester wurde ganz blass und schien auf ihrem Stuhl ein wenig zu schwanken.

»Was ist?«, fragte sie angespannt. »Geht es dir gut?«

Dena schüttelte den Kopf und atmete ganz bewusst sehr langsam. »Gib mir eine Sekunde. Das ist die Übelkeit. Ist gleich vorbei.«

»Da steht ein Mülleimer«, sagte Reggie hilfreich.

Dena brachte ein kleines Lächeln zustande. »Danke. Sehr rücksichtsvoll von dir.«

»Ich bemühe mich.«

Nach ein paar Minuten, in denen sie tief ein- und ausgeatmet hatte, entspannte Dena sich. »Okay. Es geht wieder besser.«

Reggie musterte sie, unsicher, ob ihre Schwester die Wahrheit sagte.

»Geht es dir ansonsten gut mit der Schwangerschaft und allem?«

Um Denas Mundwinkel zuckte es. »Wenn du wissen willst, ob ich Zweifel habe, lautet die Antwort Nein. Aber ich gebe zu, schwanger zu sein ist schwieriger, als ich es mir vorgestellt habe. Ich dachte, ich hätte den perfekten Plan.«

»Du weißt, was man über Gott und Plänemachen sagt. Sie bringen ihn zum Lachen.«

»Ich dachte immer, dass Gott sich über meine Planungen freuen würde. Immerhin bedeutet das weniger Arbeit für ihn.«

Reggie lachte. »Das ist ein guter Punkt. Wie kann ich dir helfen?«

»Da gibt es nicht viel. Aber ich bin dir sehr dankbar, dass du das Strickprojekt für Mom übernimmst. Wenn du das nicht machen würdest, müsste ich …«

»Heilige Scheiße!« Reggie sprang erneut auf. »Harrison ist in deiner Klasse. Ich werde mit Tobys Sohn arbeiten.«

Dena räusperte sich. »Äh, ja, es ist ein wenig mehr als nur das. Toby ist einer der Eltern, die … nun ja, helfen.«

Nein, dachte Reggie. »O nein, so weit wird es nicht kommen.«

»Warum nicht? Laut deiner eigenen Aussage ist er nur ein Typ, mit dem du mal zusammen warst.«

»Verwende bitte nicht meine eigenen Worte gegen mich.«

Dena grinste. »Aber wo bliebe da der Spaß?« Ihr Lächeln schwand, und ihr Tonfall wurde schmeichelnd. »Komm schon, ihr strickt Mützen. Übrigens für obdachlose Kinder. Kinder, die nicht genug zu essen haben und frieren.«

»Versuch nicht, mir Schuldgefühle einzureden, nur um mich davon abzuhalten, einen kleinen Anfall zu kriegen.«

Reggie nahm ein paar Pullover aus ihrem Koffer und ging zum Schrank, wo sie sie auf ein Regalbrett legte. Dann drehte sie sich zu ihrer Schwester um. »Gut. Ich werde mit Toby zusammenarbeiten. Ich meine, das ist keine große Sache, oder? Wir sind beide erwachsen. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wie er aussieht.«

Dena lachte auf. »Oh, du wirst ihn erkennen. Und nur fürs Protokoll: Er sieht gut aus.«

»Das sind Weihnachtsbäume.« Micah Ruiz starrte auf die rollenden Hügel, die mit Bäumen bedeckt waren. Hunderten von Bäumen. Nein, korrigierte er sich, Tausenden. Zehntausenden.

»Jupp«, bestätigte sein Freund Steve Burdick grinsend. »So nennt man die. Wir haben Riesentannen, Blautannen und Frasertannen.«

»Du kannst die unterscheiden?«

Steves Grinsen wurde breiter. »Inzwischen ja.«

Micah lachte leise. »Wie lange hat es gedauert, bis du wusstest, was was ist?«

»Ein paar Monate.«

»Dir gehört tatsächlich eine Weihnachtsbaumplantage.«

»Ja.«

»In einer Stadt namens Wishing Tree.«

Steve sah ihn an. »Du scheinst mir heute ein wenig langsam zu sein. Sollte ich mir Sorgen um dich machen?«

»Ich versuche nur, das alles aufzunehmen. Zu hören, dass du eine Plantage gekauft hast, und sie wirklich zu sehen, das sind zwei unterschiedliche Dinge. Also, wie lautet der Plan?«

»Der Weihnachtsbaumverkauf in der Stadt beginnt am Samstag nach Thanksgiving und der hier draußen auch. Die Leute können herkommen und sich einen bereits gefällten Baum aussuchen, oder sie können ihren ganz persönlichen Baum suchen und selbst fällen.«

Micah schüttelte den Kopf. »Du vertraust Menschen mit Äxten?«

»Sie müssen eine Verzichtserklärung unterschreiben.«

»Ganz im weihnachtlichen Sinne.«

Micah schaute sich zwischen den endlosen Baumreihen um. Hinter ihnen erhoben sich die Berge, und über ihnen wölbte sich ein strahlend blauer Himmel. Bisher hatte er sich immer für einen Stadtmenschen gehalten, aber die letzten paar Monate hatten ihn den Wert von Abgeschiedenheit an einem schönen Ort gelehrt.

Gemeinsam mit Steve kehrte er zum Truck zurück. Sie fuhren den kurzen Weg zum Landhandel am Mountain Hemlock Highway, wo die Besitzerin – eine Frau, die schon über achtzig sein musste – hervorragenden Kaffee anbot.

Die kleine, gebeugte Mrs. Bevins mit der Brille und den weißen Locken lächelte, als sie die Männer sah.

»Schon wieder zurück, Jungs?«

»Ihrem Kaffee können wir einfach nicht widerstehen«, antwortete Steve. »Und ich wollte Micah zeigen, wo der Baumverkauf stattfinden wird.«

»Hinten raus«, sagte Mrs. Bevins. »Steve und seine Jungs werden am Samstagmorgen alles aufbauen, und ich mache hier vorn die Kasse.« Sie zwinkerte Micah zu. »Sie sollten mir Gesellschaft leisten. Sie sind ein sehr attraktiver junger Mann.«

Steve schnaubte. »Ja, er hatte schon immer ein hübsches Gesicht.«

Mrs. Bevins schenkte ihnen je einen Becher Kaffee ein. »Ich habe zwar andere Interessen, aber sein Gesicht ist auch nett.«

Micah dankte ihr, blieb aber auf Distanz. Nach Jahren der Übung war er es gewohnt, begierige Fans – oder dreiste ältere Damen – auf Abstand zu halten. Er besaß einen sechsten Sinn, was wandernde Hände anging, und wusste, wann er sich lieber fernhalten sollte.

Als er damals mit der Band angefangen hatte, hatte er die Aufmerksamkeit genossen und die Angebote nur zu gern angenommen. Relativ früh hatte er geheiratet – doch die Ehe war so schnell vorbei gewesen, dass weder er noch seine Ex-Frau irgendeinen Schaden davontrugen. Nach ein paar Jahren hatte er gelernt, etwas wählerischer zu sein, wen er mit in sein Bett nahm. Dann lernte er Adriana kennen, und von dem Moment an gab es keine andere Frau mehr für ihn.

An die Liebe geglaubt hatte er schon immer. Seine Balladen waren unglaublich erfolgreich, und er verdiente beinahe so viel an den Coverversionen von anderen Künstlern wie an seinen eigenen Aufnahmen. Aber an die Liebe zu glauben und über sie zu schreiben hatte ihn nicht darauf vorbereitet, wie es war, sie selbst zu empfinden. Adriana hatte seine Welt erschüttert und sein Herz auf eine Weise geöffnet, die er sich nie hatte vorstellen können.

Manchmal nachts, wenn sie schlief, hatte er neben ihr gesessen und sie angeschaut, unendlich dankbar dafür, dass er sie in seinem Leben hatte. Wenn er darüber nachdachte, wie unwahrscheinlich es war, den einen Menschen zu finden, der alles ins rechte Lot rückte, in den man sich verliebte und der diese Liebe erwiderte, war ihm schwindelig geworden. Sie war der absolute Höhepunkt seines Lebens gewesen, und sie und ihr ungeborenes Baby zu verlieren hatte ihn beinahe zerstört.

Schnell richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Gegenwart und ging mit Steve nach draußen. Hinter dem Laden gab es einen großen, eingezäunten Bereich mit Toren vorn und hinten.

»Die Bäume, die wir hier und in der Stadt verkaufen wollen, haben wir bereits markiert«, erklärte Steve ihm. »Am Montag fangen wir mit dem Fällen an, damit sie rechtzeitig bereitstehen.«

»Ich erinnere mich noch an die Zeit, als deine einzige Verbindung mit der Landwirtschaft war, den besten Pot-Dealer in jedem Staat zu kennen.«

»Hey.« Steve schaute sich um, als wolle er sichergehen, dass niemand in Hörweite war. »Das ist lange her. Außerdem ist Pot in Washington State jetzt legal, und ich mache so was nicht mehr.«

Micah lachte. »Kann es sein, dass du ein bisschen empfindlich bist?«

»Ich bin nicht mehr dein Party machender Drummer. Ich bin ein Familienmensch mit einem Kind und ein respektiertes Mitglied der Gesellschaft.«

»Okay. Du hast dich ganz schön gemacht.«

Das haben alle in der Band, dachte Micah. Damals, als alles anfing, waren sie noch Teenager gewesen. Jetzt, beinahe zwanzig Jahre später, hatten sie sich weiterentwickelt. Sie waren verheiratet, die meisten hatten Kinder. Er war der Letzte, der sesshaft geworden war, aber nachdem er Adriana gefunden hatte, hatte es kein Zurück gegeben.

»Wie ist es im B&B?«, fragte Steve und lehnte sich an den Zaun.

»Behaglich. Ich habe ein ruhiges Zimmer im alten Kutschenhaus.«

»Wirst du überall erkannt?«

Micah verzog das Gesicht. Erkannt zu werden war ein Berufsrisiko. »Manchmal. Die meisten Leute gucken kurz zweimal hin, gehen dann aber weiter. Ich komme damit klar.«

»Hast du dich schon ein bisschen in der Stadt eingelebt?«

»Ich bleibe meist für mich.«

Steve musterte ihn. »Du musst rausgehen. Menschen treffen. Die Atmosphäre aufsaugen. Deshalb bist du schließlich hier.«

Sein Freund hatte recht. Micah war in der Hoffnung nach Wishing Tree gekommen, ein wenig Weihnachtsstimmung zu finden. Es war ihm gelungen, seinen Körper von dem Unfall zu heilen, der ihn verletzt und Adriana das Leben genommen hatte. Und auch den Verlust seiner Frau hatte er ganz gut verarbeitet. Doch bisher fehlte ihm die Inspiration für einen neuen Song. Im letzten Jahr war ihm nicht mal ein Refrain, geschweige denn ein ganzes Lied eingefallen. Er hatte erst versucht, allein zu schreiben und dann mit einem Partner, aber beides hatte nichts gebracht. Mit seinen Weihnachtsliedern war er immer sehr erfolgreich gewesen, deshalb hatte er gehofft, dass dieser Ort, in dem sich alles um Weihnachten drehte, seiner Kreativität den benötigten Anstoß geben könnte.

Es muss einfach funktionieren, dachte er entschlossen. Er war es leid, aufzutreten. Mit beinahe vierzig war er mehr als bereit, den jungen Leuten den Spaß auf der Bühne zu überlassen. Aber zu schreiben, zu komponieren, das war etwas anderes. Das nährte seine Seele. Und seine Unfähigkeit, etwas zu erschaffen, ließ ihn frustriert und mit dem Gefühl, wertlos zu sein, zurück.

»In der Zwischenzeit musst du mir einen Gefallen tun«, riss Steve ihn aus seinen Gedanken.

Micah sah ihn an. »Klar. Schieß los.«

»Montag ist Berufsinformationstag in Noahs Klasse, und ich sollte eigentlich da sein. Aber ich schaffe es nicht, die Verkaufsstände fertig zu machen und rechtzeitig in der Schule aufzutauchen. Ich habe mit Noah gesprochen, und er ist einverstanden, wenn du stattdessen kommst.«

Noah war Steves achtjähriger Sohn. Aber obwohl Micah ohne zu zögern in ein lichterloh brennendes Gebäude rennen würde, um den Jungen zu retten, war er sich weniger sicher, was diesen Berufsinformationstag anging.

»Was soll ich den Kids erzählen?«, fragte er zweifelnd. »Nichts am Leben eines Rockstars ist sonderlich gesund.«

»Sprich übers Songschreiben. Wie dir die Idee zu ›Moonlight for Christmas‹ gekommen ist. Spiel ein paar deiner größten Hits. Das Ganze soll nicht mehr als fünfzehn Minuten dauern. Das kriegst du hin.«

Micah wollte ablehnen. Seit der Hochzeit mit Adriana vor beinahe vier Jahren hatte er nicht mehr vor einer Menschenmenge gestanden. Das Einzige, was dem nahekam, war die Trauergruppe, der er sich letztes Jahr nach ihrem Tod angeschlossen hatte. Aber Steve und der Rest der Band waren in den gut sechs Monaten, die er gebraucht hatte, um sich körperlich von dem Unfall zu erholen, für ihn da gewesen. Seitdem er die Rehaklinik verlassen hatte, hatte er immer bei einem von ihnen Unterschlupf gefunden, weil er es nicht ertragen konnte, in sein Haus in Malibu zurückzukehren. Rastlos hatte er nach einem Weg gesucht, zum Songschreiben zurückzukehren und herauszufinden, wie er wieder glücklich werden könnte – so das überhaupt möglich war.

Sein Herz sagte Nein, weil es zu schwer wäre. Aber sein Kopf sagte ihm, dass er weitermachen musste. Wonach auch immer er suchte, es lag nicht hinter ihm. Außerdem hatte er immer um das gekämpft, was er wollte, ob es um einen besseren Deal mit seiner Plattenfirma ging oder darum, das Herz von Adriana zu gewinnen.

»Ich mach’s«, sagte er deshalb schnell, bevor er es sich ausreden konnte.

»Danke.« Steve lächelte. »Ich bin dir wirklich dankbar. Die Einzelheiten schicke ich dir. Die Grundschule ist ganz in der Nähe vom B&B.«

Micah lachte. »Das hier ist Wishing Tree, Kumpel. Hier ist alles in der Nähe von allem.«

»Das macht es leichter, sich nicht zu verlaufen.«

Micah hoffte, dass das stimmte. Er könnte es gebrauchen, sich für eine Weile in seinem Leben nicht zu verlaufen. Genauso wie er etwas musikalische Inspiration gebrauchen konnte. Und vielleicht ein wenig Weihnachtsstimmung, um die Leere in sich zu füllen. Das waren große Wünsche an eine kleine Stadt, aber hey, war dies nicht die Zeit im Jahr, in der man Wunder erwarten durfte?

4. Kapitel

Dena parkte ihren Wagen neben dem Kutschenhaus. Als sie das B&B geerbt hatte, wollte sie eigentlich immer zu Fuß zur Arbeit gehen, denn schließlich befand sich die Grundschule ganz in der Nähe. Doch Lehrerin zu sein bedeutete, Akten, Ordner und überquellende Taschen mit Lernmaterialien hin und her zu schleppen, sodass sie entweder mit dem Auto fahren oder sich eine Art Sherpa zulegen musste, der ihr half, alles zu tragen. Sie hatte sich fürs Auto entschieden.

Das Ausladen verschob sie auf später und ging über die Auffahrt zum Haupteingang des dreistöckigen Hauses im viktorianischen Stil. Mitte November sollte eigentlich schon reichlich Schnee liegen, aber dieses Jahr ließ er sich Zeit. Trotz des braunen Rasens sah der Garten aber immer noch hübsch aus, was hauptsächlich an den bunten Metall-Truthähnen, Kürbissen und Pilgerfiguren lag, die zwischen den Pflanzen verteilt waren. Weitere Kürbisse lagen auf den Stufen, die zur Haustür führten, und in den Fenstern im Erdgeschoss.

Am Freitag nach Thanksgiving würden sie alles durch weihnachtliche Deko ersetzen. Dena kümmerte sich dabei um die Innenräume – das war eine ihrer Traditionen –, während sie für die Arbeiten im Garten Profis anheuerte. Auf keinen Fall durfte sie in ihrem Zustand auf eine Leiter klettern.

Drinnen schaute sie kurz ins Wohnzimmer mit seinen gemütlichen Sofas, den geschnitzten Beistelltischen und dem riesigen Kamin, um zu kontrollieren, ob irgendwelche Bücher herumlagen oder ein Gast etwas vergessen hatte. Alles war in Ordnung, und so ging sie zur Rezeption weiter, deren Tresen eine alte Bar aus einem Bordell war, das vor hundertfünfzig Jahren hier existiert hatte. Damals war Wishing Tree als wichtiger Handelsposten das erste Mal auf einer Landkarte erschienen – Goldvorkommen und Holzreichtum sei Dank.

Winona, die gut vierzigjährige Managerin und Denas rechte Hand, schaute auf und lächelte.

»Wie ist es heute gelaufen? Fühlst du dich besser?«

»Ich habe mich nur einmal übergeben und es rechtzeitig ins Bad geschafft.«

»Super. Ein kleiner Sieg.«

»Ein sehr kleiner. Ist hier alles in Ordnung?«

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