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Das Leben ist kein Flickenteppich

Von einem Wagen angefahren, vom Verlobten verlassen - das Leben meint es gerade nicht gut mit Nora Stuart. Darum will sie Kraft sammeln, am einzigen Ort, der ihr einfällt: zu Hause auf Scupper Island. Nach fünfzehn Jahren wird sie jedoch immer noch wie das schwarze Schaf der Kleinstadt-Gemeinschaft behandelt. Während ihre Mutter so kühl ist wie früher, spürt Nora, für wen sie jetzt da sein will: für ihre rebellische Nichte Poe. Gemeinsam mit ihr, einem Mann aus Noras Vergangenheit und ihrem Bernhardiner Boomer zeigt sie allen, was Familie wirklich heißt.


  • Erscheinungstag: 03.09.2018
  • Seitenanzahl: 464
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955768133
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Dieses Buch widme ich Dr. Stacia Bjarnason –

du bist der Inbegriff von Güte,

unvorstellbar klug, mutig, lustig

und noch dazu eine Hundeliebhaberin.

Es ist mir eine Ehre, mit dir befreundet zu sein.

1. Kapitel

Mein erster Gedanke, nachdem ich gestorben war, lautete: Wie wird mein Hund damit zurechtkommen?

Der zweite Gedanke: Ich hoffe, wir können das mit dem offenen Sarg immer noch machen.

Der dritte Gedanke: Ich habe für meine eigene Beerdigung nichts zum Anziehen.

Der vierte: Ich werde Daniel Radcliffe nicht mehr kennenlernen.

Der fünfte: Hat Bobby wirklich gerade mit mir Schluss gemacht?

Lasst mich eine Stunde zurückspulen.

Es war eine ruhige Nacht im Boston City Hospital – also, ruhig für mich. So wie üblich. Es war zwar eines der größten und geschäftigsten Krankenhäuser von ganz New England, ich aber arbeitete hier als Gastroenterologin. Was bedeutete, die meisten meiner Patienten bekamen ihre Diagnose tagsüber im Sprechzimmer, bevor die Lage zu kritisch wurde – ich meine, jeder dreht schließlich durch, wenn er nicht ordentlich auf Toilette gehen kann. Abgesehen von den seltenen Notfällen wie Blutungen oder geplatzten Gallenblasen ist es ein ziemlich ruhiges Arbeitsgebiet.

Und eines mit einer geringen Sterblichkeitsrate.

Ich hatte gerade nach den vier Patienten gesehen, die meine Praxis hierher überwiesen hatte – zwei ältere Damen, die wegen eines Einlaufs von ihren Pflegeheimen zu uns geschickt worden waren. Einer der beiden Fälle hatte sich als kleine Verstopfung herausgestellt, die sich gut mit einer kurzfristigen Umstellung auf flüssige Nahrung lösen ließ. Die andere Patientin litt unter einer Colitis ulcerosa, einer entzündlichen Erkrankung des Dickdarms, die mein Kollege morgen operieren würde.

»Keine Ballaststoffe mehr, Mrs. DeStefano, okay? Etwas weniger Pasta und dafür mehr Salat und Gemüse«, hatte ich zu meiner Patientin gesagt.

»Liebes, ich bin Italienerin. Ich würde lieber sterben, als mich bei der Pasta zurückzuhalten.«

»Nun, dann essen Sie mehr Gemüse und ein kleines bisschen weniger Nudeln.« Die Frau war immerhin sechsundneunzig. »Sie wollen doch nicht öfter hier landen, oder? So lustig sind Krankenhäuser auch nicht.«

»Sind Sie verheiratet?«, fragte sie.

»Noch nicht.« Mein Gesicht fühlte sich seltsam an, wie immer, wenn ich ein falsches Lächeln aufsetzte. »Aber ich habe einen sehr netten Freund.«

»Ist er Italiener?«

»Er hat irische Wurzeln.«

»Tja, man kann nicht immer Glück haben«, sagte sie. »Kommen Sie mich mal besuchen. Sie sind zu dünn. Ich werde Ihnen eine Pasta Fagioli machen, die Sie zum Weinen bringt, so gut ist sie.«

»Klingt himmlisch.« Ich wies Mrs. DeStefano nicht darauf hin, dass sie nicht länger im eigenen Haus wohnte. Und egal, wie süß diese kleine alte Lady auch sein mochte, ich besuchte keine Fremden, nicht einmal Fremde, die mich für dünn hielten – Gott möge sie segnen. »Versuchen Sie, ein wenig zu schlafen«, sagte ich. »Ich werde morgen wieder nach Ihnen sehen, in Ordnung?«

Meine Absätze klapperten auf dem glänzenden Fliesenboden, als ich das Zimmer verließ … Für die Arbeit zog ich mich immer sehr sorgfältig an, was vermutlich daran lag, dass ich meine Liebe zur Mode später als die meisten entdeckt hatte. Ich richtete meinen weißen Arztkittel – den zu tragen ich immer noch unglaublich aufregend fand. Auf der Brusttasche war mein Name eingestickt: Dr. Nora Stuart, Abteilung für Gastroenterologie.

Ich könnte ein wenig am Computer arbeiten. Die Schwestern auf der Station würden mich dafür lieben. Meine Visite war durch, und ich musste Zeit totschlagen und hoffen, dass Bobby am Ende seiner Schicht endlich einmal auch wirklich fertig wäre. Er arbeitete in der Notaufnahme, sodass dies nur selten der Fall war.

Aber ich wollte nicht allein nach Hause gehen, selbst wenn dort Boomer, unser riesiger Berner Sennenhund, auf mich wartete. Boomer, der Lichtstrahl in meinem immer grauer werdenden Leben.

Nein. Mein Leben war toll. Super sogar. Besser, sich jetzt nicht der Nabelschau zu widmen. Vielleicht würde ich Roseline anrufen, meine beste Freundin hier in Boston. Sie war Geburtshelferin. Oh, vielleicht hatte sie sogar Notdienst, und ich könnte ihr helfen, ein Baby auf die Welt zu bringen. Ich schrieb ihr eine Nachricht und erhielt umgehend die Antwort, dass sie zum Dinner bei ihren Schwiegereltern war und ernsthaft über Mord nachdachte.

Zu schade. Roseline verstand das Grau in meinem Leben. Andererseits verließ ich mich vielleicht ein wenig zu sehr auf sie. Ich antwortete ihr mit Vorschlägen, wie sie die Leichen verschwinden lassen könnte, und steckte mein Handy in die Tasche zurück.

Langsam schlenderte ich zum Schwesternzimmer hinüber. Ah, wie bezaubernd. Del, einer meiner liebsten Pfleger, saß mit einem Lolli im Mund am Tisch und ging einen Stapel Papiere durch. »Hey Kumpel«, sagte ich.

»Dr. Nora! Wie läuft’s?«

»Super! Wie geht es dir? Wie war das Date vor Kurzem?«

Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und grinste breit. »Sie ist die Eine«, sagte er selbstzufrieden. »Ich wusste es in der Sekunde, in der sie mich angelächelt hat.«

»Wirklich?«

»Wirklich. Ich meine, sie hat hochgeschaut, und ich bin quasi vor ihr auf die Knie gegangen. Es war, als würden wir uns schon immer kennen. Als wären wir füreinander gemacht, verstehst du?«

»Klar!«, sagte ich etwas zu enthusiastisch. »Mit mir und Bobby war es genauso.«

Dels Lächeln fiel ein klein wenig in sich zusammen.

In dem Moment erklang eine Durchsage über das Lautsprechersystem. »Achtung, Achtung. Achtung, bitte. Dr. Stuart. Dr. Nora Stuart, bitte sofort in die Notaufnahme Raum elf.«

Ich sprang auf. »Oh! Das bin ich!« Ein Aufruf an mich, in die Notaufnahme zu kommen, war selten genug und deswegen immer noch aufregend. »Ich bin dann mal weg. Bye, Del!«

Ich rannte den Flur hinunter und fühlte mich ziemlich cool. Mit einer Hand hielt ich das Stethoskop fest, damit es nicht gegen meine Brust schlug, und ich fragte mich, worum es wohl ging. Ein Fremdkörper in der Speiseröhre (mit anderen Worten Ersticken)? Eine Blutung im unteren Gastrointestinalbereich? Das war immer aufregend. Üblicher für eine Notaufnahme in der Stadt wäre eine Ösophagusvarize aufgrund zu hohen Alkoholkonsums oder einer Hepatitis – dabei handelt es sich um kleine Blutgefäße in der Speiseröhre, die platzen und dafür sorgen können, dass der Patient verblutet.

Ich liebte es, in die Notaufnahme zu gehen. Die Gastroenterologie war genauso wichtig wie die Notfallmedizin, aber niemand schrieb eine Fernsehserie darüber. Die coolen Typen hingen in der Notaufnahme ab, und mein Freund war ihr König. Bobby sagte oft, dass es nur wenig gab, was das Team aus der Notaufnahme nicht flicken konnte – aber wenn sie mich anpiepten, nun … dann war ich jetzt die Königin.

Ich lief die Treppe zur Notaufnahme hinunter und zu der Schwester, die die Ersteinschätzung übernahm. Ellen schaute auf und sagte: »Zwölfjähriger mit Bauchschmerzen. Sieht krank aus. Raum elf.«

»Danke, Ellen!« Sie erwiderte mein Lächeln nicht. Bobby liebte sie, aber zu mir war sie so charmant wie die Dementoren in den »Harry Potter«-Büchern – immer auf der Suche danach, etwas Glück zu zerstören.

Entschlossen, aber nicht zu eilig, machte ich mich auf den Weg zum Untersuchungsraum elf. Heute Abend war es in der Notaufnahme ziemlich ruhig. Es gab die üblichen Verdächtigen: ein paar alte Leute, ein paar Kids, ein paar Drogenabhängige, einen Kerl mit einer blutigen Hand, der mir zulächelte, als ich an ihm vorbeiging.

Gastroenterologie … Nun, irgendjemand musste sich darum kümmern, oder? Und mir gefiel es. Also meistens. Neunzig Prozent meiner Patienten ging es später besser. Was die Darmspiegelungen anbelangte … ob man es glaubt oder nicht, sie hatten etwas Meditatives. Aber klar, sie waren nicht gerade das beste Thema für einen Small Talk auf einer Party. Ich konnte gar nicht zählen, wie oft die Leute zusammengezuckt waren, wenn ich ihnen von meiner Spezialisierung erzählte, aber wenn sie ein Magengeschwür bekämen, würden sie es sicher gut finden, mich zu kennen.

Jabrielle, eine der Neuzugänge in der Notaufnahme, stand vor dem Untersuchungszimmer. Sie schwärmte ein wenig zu sehr für Bobby, was sie demonstriert hatte, als sie ihm auf der letzten Party, die wir gemeinsam besucht hatten, sehr tief in die Augen geschaut hatte. Es war eine dieser Wir-können-den-Blickkontakt-jetzt-nicht-unterbrechen-weil-diese-Unterhaltung-so-intensiv-ist-Situationen gewesen. Jabrielle war außerdem irritierend hübsch.

»Sind Sie die Gastro-Spezialistin?«, fragte sie und schaffte es wieder einmal, mich nicht wiederzuerkennen.

»Ja«, sagte ich. »Ich bin Nora. Wir haben uns schon mal getroffen. Dreimal, um genau zu sein.« Sie schaute mich immer noch leer an. »Bobbys Freundin?«

»Oh. Richtig. Wie auch immer, ich vermute eine Appendizitis, aber seine Schmerzen liegen etwas weiter in der Mitte. Wir warten noch auf die Laborbefunde. Ich wollte ihn ins CT schieben, aber die Begleitperson wollte erst Ihre Meinung hören und sehen, ob wir das vielleicht vermeiden können.«

Der Patient sah sehr jung aus für seine zwölf Jahre. Seine Haut war aschfahl, sein Gesicht schmerzverzerrt. Wir wollten ihn nicht der Strahlung des Computertomografen aussetzen, wenn es nicht unbedingt nötig war. »Hey Kumpel«, sagte ich. »Wir werden uns gut um dich kümmern, okay?« Ich lächelte die Mutter an, während ich mir die Hände wusch. »Ich bin Dr. Stuart. Es tut mir leid, dass Ihr Sohn solche Schmerzen hat.« Ich sah mir die Aufnahmeakte an. Caden Lackley, kein Trauma, hatte bis heute normal gegessen, akute Unterleibsschmerzen, Fieber, Übelkeit und Erbrechen. »Durchfall oder weicher Stuhl, Caden?« Wie gesagt, nicht der beste Partytalk.

»Nein«, sagte er.

»Okay. Dann schauen wir uns das mal an.«

Ich tastete seinen Bauch ab, der sehr hart war – eines der Anzeichen für eine Blinddarmentzündung. Aber der Schmerz befand sich nicht an der dafür zu erwartenden Stelle; ehrlich gesagt war er gar nicht in der Nähe des sogenannten McBurney-Punktes in seinem unteren rechten Bauchbereich. »Das ist nicht sein Blinddarm«, sagte ich.

Jabrielle schürzte ihre perfekten Lippen. Sie war genervt, dass sie nicht recht gehabt hatte. Alle Ärzte in der Notaufnahme waren so – sie hassten es, wenn wir Spezialisten nicht mit ihrer Einschätzung übereinstimmten.

Der Junge atmete mit einem Mal scharf ein, als ich die Stelle direkt unter seinen rechten Rippen abtastete. Auf der linken Seite hatte er keine Schmerzen. Ich rollte ihn auf die Seite und klopfte seinen Rücken nach Nierenproblemen ab, aber er zeigte keine Reaktion.

Für Gallensteine war er vermutlich noch zu jung. Vielleicht eine Pankreatitis, aber auch die war angesichts seines Alters unwahrscheinlich. Und ohne Durchfall konnte es sich nicht um Morbus Crohn handeln. »Wie lange tut dir der Bauch schon weh, Caden?«

»Seit Sonntag.«

Das war eine schön spezifische Antwort. Heute war Donnerstag, also fünf Tage mit Bauchschmerzen. »Hat es zwischendurch aufgehört und wieder angefangen?«

»Nein. Es war die ganze Zeit da.«

Ich überlegte eine Sekunde. »Hast du am Wochenende etwas anderes als sonst gegessen?«

»Wir sind auf einer Feier bei meiner Schwester gewesen«, schaltete die Mutter sich ein. »Da gab es viel zu essen, aber nichts, was er nicht schon vorher probiert hätte.«

»Irgendetwas mit kleinen Knochen oder Gräten? Fisch? Hühnchen?«

Sie sahen einander an. »Nein, nichts mit Knochen oder Gräten«, sagte sie.

»Was ist mit einem Zahnstocher?«, fragte ich weiter.

»Ja«, sagte er. »Die Jakobsmuscheln waren in Bacon eingewickelt.«

Bingo. »Hast du vielleicht einen Zahnstocher verschluckt?«, hakte ich nach.

»Ich glaube nicht«, erwiderte er.

»Er hat die Muscheln gegessen wie Popcorn«, sagte seine Mutter.

»Nun, die sind ja auch lecker.« Ich lächelte. »Manchmal verschluckt man etwas, ohne es zu bemerken, Caden. Ich werde jetzt eine Endoskopie durchführen. Du bekommst eine schön entspannende Medizin, und ich schiebe eine winzige Kamera in deinen Magen und schaue mich um. Vielleicht sehe ich ja einen Zahnstocher. Klingt das nach Spaß?«

Für mich tat es das.

Ich bat Jabrielle, ihm ein wenig Midazolam zur Entspannung zu geben, dann sprühte ich seinen Hals mit Lidocain aus, um ihn zu betäuben, damit Caden nicht anfangen würde zu würgen. Seine Mom saß neben ihm und hielt seine Hand.

»Das tut gar nicht weh«; sagte ich und machte mich an die Arbeit. Langsam ließ ich das Endoskop in seine Kehle gleiten und erklärte dabei die ganze Zeit ruhig, was ich tat. Auf einem Monitor konnte ich Cadens Speiseröhre und den Magen sehen. Gesundes Gewebe, das wunderschöne Netz aus Blutgefäßen, die gräulichen Wände des Magens, die vor Leben pulsierten.

Und da, im unteren Magenbereich, sah ich den Zahnstocher, der durch die Magensäure schwarz gefärbt war und aus der Wand von Cadens Zwölffingerdarm hervorschaute. Mit der Pinzette an der Spitze des Endoskops packte ich ihn und zog ihn langsam heraus. »Tada!«, sagte ich und hielt ihn so, dass mein Patient ihn sehen konnte. »Wir haben ihn, Caden. Morgen wirst du dich schon viel besser fühlen.«

»Gut gemacht«, murmelte Jabrielle.

»Danke«, sagte ich. »Ich werde ihm noch ein Antibiotikum mitgeben, aber er sollte bald wieder ganz auf dem Damm sein. Und zukünftig iss ein wenig vorsichtiger, mein Großer, okay? Der hier hätte ziemlichen Schaden anrichten können. Wenn er in deine Leber gerutscht wäre, hätte das übel ausgehen können.«

»Ich danke Ihnen vielmals, Doktor«, sagte seine Mom. »Wir hatten ja keine Ahnung!«

»Es war mir ein Vergnügen«, erwiderte ich. »Er scheint mir ein toller Junge zu sein.«

Ich zog meine Handschuhe aus, schüttelte der Mutter die Hand, zerzauste Cadens Haare und ging hinaus, um das Rezept ausschreiben zu lassen.

Ich fühlte mich ein wenig heldenhaft.

Unbehandelt hätte der Zahnstocher eine Sepsis auslösen können. So etwas konnte tödlich enden. Auch wenn das nicht allzu oft passierte, konnte ich doch sagen, dass ich heute Abend ein Leben gerettet hatte.

In dem Moment wurden die Türen zur Notaufnahme aufgestoßen, und eine Gruppe Menschen stürmte mit einer Trage in ihrer Mitte durch den Flur. »Schüsse im Vorbeifahren in den Hals«, bellte jemand – Bobby, es war mein Schatz! »Enormer Blutverlust im Fahrzeug, Level-Eins-Infusion mit vier Einheiten Blutgruppe Null fertigmachen. Blutbank wegen weiterer Bluttransfusionen anrufen und Trauma-Code für Raum eins ausrufen! Bewegt eure Ärsche, Leute! Beeilung!«

Hektik brach aus, Menschen rannten in alle Richtungen und taten, was ihr Herr ihnen befohlen hatte. Ich schlich mich näher an den Raum, in dem die Action stattfand. Ich war wie hypnotisiert. Guter Gott, es sah aus, als fehle dem Mann die halbe Kehle. Da klaffte ein fleischiges Loch von der Größe einer Faust, und Bobbys Hand steckte darin.

»Ich klemme seine Halsschlagader mit meinen verdammten Fingern ab!«, brüllte Bobby. »Wo zum Teufel ist der Chirurg?«

Bobbys Arm war von Blut getränkt, sein Kittel mit roten Spritzern übersät. Der Rest des Teams rannte um den Patienten herum, schnitt seine Kleidung auf, legte verschiedene Zugänge.

»Nein, du kannst nicht intubieren, du Idiot!«, bellte Bobby einen AiP, wie ein Arzt im Praktikum genannt wurde, an. »Siehst du nicht, dass meine Hand in seinem Hals steckt? Nimm den Beatmungsbeutel, du Trottel!«

Ich vermisste meine AiP-Zeit definitiv nicht. Die Ärzte in der Notaufnahme waren brutal gewesen.

Dr. McKnight vom OP-Team platzte herein und zog sich ihre Handschuhe an. Den Gesichtsschutz hatte sie bereits aufgesetzt, um sich vor allen über das Blut übertragbaren Krankheiten zu schützen. Jemand half ihr, einen Kittel anzuziehen. »Klammern«, befahl sie. »Sofort!« Wenn es jemanden gab, der noch ein wenig selbstbewusster war als ein Arzt aus der Notaufnahme, dann war es ein Chirurg. Oder in diesem Fall eine Chirurgin. »Behalte deine Hand dort, Bobby, und wage es nicht einmal zu atmen. Wenn du den Griff lockerst, verblutet er innerhalb von fünf Sekunden. Wie zum Teufel hat er es überhaupt geschafft, hier noch mit einem Puls anzukommen?«

Dann sah eine Schwester, dass ich zuguckte, und schloss die Tür. Schließlich gehörte ich nicht zum Team der Notaufnahme.

Ich riss mich aus meiner ehrfürchtigen Benommenheit und schloss den Mund. Der Hausmeister wischte bereits die Blutspur auf dem Boden auf, und die Hälfte der Angestellten – einschließlich Jabrielle, die mir einen bösen Blick zuwarf, weil ich mit meiner langweiligen Endoskopie dafür gesorgt hatte, dass sie die wirklich gute Show verpasst hatte – lungerte am Fenster in der Tür des Untersuchungszimmers herum, um zu sehen, ob der Mann es schaffen würde.

Die Patienten in den anderen Untersuchungszimmern schwiegen, wie es schien, aus Respekt – in ihrer Mitte hatte sich immerhin gerade ein fernsehwürdiges Drama ereignet.

Ich ging zurück zur Erstaufnahme. »Hi noch mal, Ellen«, sagte ich. »Das ist aber …«

»Sind Sie mit Ihrer Untersuchung fertig?«, unterbrach sie mich.

»Oh, ja. Äh … er hatte einen Zahnstocher verschluckt. Ich habe eine Endoskopie durchgeführt und …«

Sie sah mich böse an und nahm den Telefonhörer in die Hand. Richtig. Sie hatte zu tun, und ich war eine nervtötende Ärztin, die ihr das Leben erschwerte … Diese Meinung vertraten viele Krankenschwestern, vor allem in der Notaufnahme. Was für mich umso mehr ein Grund war, alles zu tun, um ihnen zu zeigen, wie sehr ich ihre Arbeit schätzte. Aber Ellen war nicht der Typ, der auf menschliche Güte stand, also schlich ich zum Computer und gab meinen Bericht ein.

Ich war gerade fertig, als die Tür von Bobbys Untersuchungszimmer aufging und das Team herauskam. Sie eilten zum Fahrstuhl, der in den Operationsbereich führte. Ich hörte das Piepen, das einen gleichmäßigen Herzschlag anzeigte. Irgendwie hatten sie dem Mann das Leben gerettet – oder ihm zumindest eine Chance gegeben.

Dr. McKnight stieg mit dem Transportteam zusammen in den Fahrstuhl. Als die Türen sich schlossen, rief sie: »Gute Arbeit, Leute. Bobby, super Job.«

Die Türen gingen zu, und Applaus brach aus.

Die Schichtablöse für die Notaufnahme trudelte ein. Alle wussten, dass es eine spektakuläre Rettung gegeben hatte, und waren gleichzeitig ein wenig neidisch, dass es nicht in ihrer Schicht passiert war.

Bobby und sein Team schienen es auch nicht eilig zu haben, das Zepter zu übergeben. Sie klatschen einander ab, machten viel Gewese um ihre blutige Kleidung, ihre Rolle in dem Drama, Dr. McKnights zügige und geschickte Anastomose, mit der sie die zerfetzten Blutgefäße überbrückt hatte.

Bobby sagte nicht viel – das musste er auch nicht, weil er ganz eindeutig ihr Gott war.

Endlich glitt sein Blick in meine Richtung. Ich lächelte und war stolz auf ihn, auch wenn eine kleine irritierende Stimme in mir sagte, dass es langsam Zeit wurde, dass er mich sah.

»Oh hey«, sagte er. Wir waren schon so lange zusammen, ich erkannte an seinem Ton, dass er vergessen hatte, dass ich heute Abend auch arbeitete. »Äh … wir wollten eine Pizza bestellen und noch ein wenig hierbleiben, um zu sehen, wie der Patient sich so macht.«

»Klar. Logisch. Hey, Bobby, das war umwerfend. Ich habe ein wenig zusehen können.«

Er zuckte bescheiden mit den Schultern. »Hast du auf mich gewartet?«, fragte er.

Meine leichte Genervtheit flammte wieder auf. »Nein, ich hatte einen Patienten. Ein Zwölfjähriger, der einen Zahnstocher verschluckt hatte. Ich habe seinen Magen gespiegelt, und er sah nicht perforiert aus. Ich denke, wir haben den Eindringling erwischt, bevor er eine Sepsis auslösen konnte.«

»Cool. Also, willst du dich zu uns gesellen?«

Ich unterdrückte ein Seufzen. Nein, wollte ich nicht. Ich wollte nach Hause gehen, mit Bobby und Boomer spazieren gehen und dann Pad Thai essen. Wenn wir hierblieben, müsste ich Gus, unseren Hundesitter, anrufen. Ich wollte Bobby alles über meine Untersuchung erzählen, über mein Bauchgefühl darüber, was den Schmerz verursacht hatte, ein Bauchgefühl, das gute Ärzte von durchschnittlichen unterschied.

Aber er war derjenige, der seine Hand in die Kehle eines anderen Mannes gesteckt hatte.

»Klar«, sagte ich.

»Cool. Ich mach mich nur eben frisch.« Er ging und hielt kurz inne, damit der Hausmeister ihm die Hand schütteln konnte.

Fünf Minuten später betrat ich den Aufenthaltsraum, wo der Rest des Teams bereits in von Adrenalin getränktes Geplapper vertieft war. Es gab noch mehr Glückwünsche. Noch mehr High fives. Noch mehr Witze.

»Wer holt die Pizza?«, fragte Jabrielle.

Alle sahen mich an, die Außenseiterin. Die langweilige Gastroenterologin (die heute Abend auch ein Leben gerettet hatte, auch wenn diese Geschichte nie gesendet werden würde).

»Das kann ich machen«, sagte ich. »Was hättet ihr gerne?«

Trotz eines Magna-cum-Laude-Abschlusses von der Tufts University, einem Doktortitel von der gleichen Universität und einem Job, in dem ich ein Drittel mehr verdiente als mein Freund, fühlte ich mich in die Tage zurückversetzt, als ich im Scupper Island Clam Shack, einer Imbissbude am Strand, die Kunden bedient hatte.

»Danke, Nora«, sagte Bobby. Ein paar andere Leute hielten kurz in ihrem Selbstlob inne, um sich ihm anzuschließen.

»Gern geschehen.« Ich marschierte durch die Notaufnahme und versuchte, nicht zu seufzen.

Im Korridor stand eine Trage. Eine junge Frau mit einer Halskrause lag darauf und hielt Händchen mit einem Mann, der ungefähr in ihrem Alter war und auch eine Halskrause trug. Collegestudenten nach einem Autounfall, nahm ich an. Er beugte sich vor, sodass seine Stirn ihre berührte, und sie schob eine Hand in seine Haare. Sie sprachen nicht. Und das mussten sie auch nicht, so greifbar war ihre Liebe.

Bobby und ich waren einst auch so gewesen. Nach dem großen bösen Vorfall.

Aber das war schon sehr, sehr lange her.

Ich fühlte mich … grau.

Draußen lauerte eine typische Bostoner Aprilnacht – trommelnder Regen, ein kalter Wind aus der Bucht, der Geruch nach Meer und Müll, da die Müllabfuhr gerade streikte. Es war halb neun, was in diesem Teil der Stadt Ruhe bedeutete, denn wir waren hier nicht in SoHo.

Ich trat vom Bürgersteig auf die Straße und sah nach links.

Aus dieser Richtung kam ein Lieferwagen mit einem riesigen grünen Plastikkäfer auf dem Dach und den Worten Beantown Bug Killers auf der Heckscheibe. Ich sah noch, dass der Fahrer einen dieser grauenhaften Holzfällerbärte mit Krümeln darin trug und eine Red-Sox-Kappe aufhatte. Auf dem Armaturenbrett lagen Servietten von Dunkin’ Donuts. Und dann erfasste der Lieferwagen mich.

Anfangs spürte ich nichts, doch ich wusste, es würde wehtun. Wow, wie viele Gedanken einem in einer Sekunde durch den Kopf gehen konnten. Hatte das mal jemand gemessen? Bremsen kreischten, als ich wie eine Puppe durch die Luft flog und mir entfernt bewusst war, dass das hier böse enden würde. Ich hatte nicht einen Schritt zur Seite machen können; dazu war keine Zeit gewesen. Dann raste der Boden auf mich zu, und mein Kopf prallte hart auf den Asphalt. Eine Wagentür schlug zu, dann hörte ich einen Mann mit dickem Südstaatenakzent sagen: »Sie machen wohl Witze, Lady. Ich hab Sie nicht mal geseh’n. Oh mein Gott! Geht es Ihnen gut? Fuck!«

Seine Stimme verebbte.

Ich roch Müll, süßlich-sauer – ich lag direkt neben einer umgekippten Mülltonne. Wäre das Letzte, was ich sehen würde, Müll? Ich wollte Boomer.

Ich wollte meine Mom.

Die Mülltonne verblasste. Ich konnte nichts mehr sehen.

Ich sterbe, dachte ich. Dieses Mal sterbe ich wirklich.

Und dann war ich weg.

2. Kapitel

Wie wird mein Hund damit zurechtkommen?

Wie es schien, war meine Seele noch nicht bereit zu gehen und klammerte sich an den Sorgen der materiellen Welt fest.

Armer Boomer, Hund aller Hunde, mein kleiner, süßer Fünfzig-Kilo-Welpe, der mich beschützte und ins Badezimmer kam, wenn ich duschte, um Wache zu halten, nur für den Fall, dass jemand einbrach. Boomer, der mich mit seinem riesigen Herzen liebte, der seinen Kopf auf mein Bein legte, der um nichts anderes bat, als dass ich ihm die Ohren kraulte. Der vor Tauben Angst hatte und Enten anbetete … Niemand würde ihn je so lieben, wie ich ihn liebte. Er würde für den Rest seines Lebens traurig und verwirrt sein.

Ich wusste, ich hätte nicht auf den dummen Bobby warten sollen! Und warum zum Teufel musste ich die Pizza holen? Warum war ich nicht für mich eingestanden und hatte der wunderschönen, arroganten Jabrielle gesagt, sie solle verdammt noch mal selber gehen? Sie war eine AiP! Ich war eine echte Ärztin.

Aber das hatte ich nicht getan, und nun war ich tot.

Ich hoffe, wir können das mit dem offenen Sarg immer noch machen.

Ich hatte mir meine Beerdigung oft vorgestellt – wie ich auf rosafarbenem Satin lag und unglaublich umwerfend aussah, wie im Hintergrund leise die traurigen Lieder von U2 und Ed Sheeran spielten, während meine Freunde über den kostbaren Erinnerungen an mich weinten und lachten. Ein geschlossener Sarg gehörte nicht zu diesem Bild, Beantown Bug Killers hin oder her. Ich fragte mich, ob mein Gesicht eingedrückt war. Igitt.

Ich habe zu meiner eigenen Beerdigung nichts anzuziehen.

Sicher, ich war, zumindest in den letzten fünfzehn Jahren oder so, eine Kleiderhure gewesen. Aber für mein Begräbnis wollte ich etwas Besonderes. Das dunkelblaue Kleid mit den weißen Punkten von Brooks Brothers, auf das ich ein Auge geworfen hatte, oder das Kleid von Kate Spade mit den pinkfarbenen Blumen. Aber vielleicht wäre das auch etwas zu festlich.

Ich werde Daniel Radcliffe nicht mehr kennenlernen.

Das war sowieso weit hergeholt, das wusste ich. Aber ich hatte mir immer vorgestellt, nach einer Show am Broadway am Seitenausgang auf ihn zu warten. Unsere Blicke würden sich treffen, er würde sein unnachahmliches Lächeln aufblitzen lassen, wir würden auf einen Drink ausgehen, unsere Lieblingserinnerungen an Harry Potter miteinander teilen, und ich würde herausfinden, dass er die Zerstörung von Hogwarts auch hasste und mit mir einer Meinung war, dass Ron die gute Hermine überhaupt nicht verdient hatte. Doch jetzt, wo ich tot war, würde das definitiv nicht mehr passieren.

Na gut, niemand benahm sich, als wäre ich tot, aber ich war mir dessen trotzdem ziemlich sicher. Vielleicht war es ihnen bisher nur noch nicht aufgefallen. Ich schätze, diese Notaufnahme war doch nicht das Nonplusultra der modernen Medizin, oder? Ich dachte, ich hörte die Worte ausgerenkte Patella und Orthopäden rufen und Trauma-Alarm. Ich war mir ziemlich sicher, einen Lichttunnel gesehen zu haben, aber mein Geist schaltete zwischendurch immer wieder ab.

Was piepte denn da so? Das schmerzte in meinem Kopf.

Ich hatte darüber schon gelesen. Außerkörperliche Erfahrungen. Die Seele blieb noch eine Weile, bevor sie ins Jenseits weiterreiste. Kannte ich irgendjemanden, der mich im Himmel begrüßen würde? Vielleicht mein Dad – wenn er denn tot war. Meine gemeine Großmutter, die mir immer gesagt hatte, ich wäre fett? Ich hoffte, sie würde nicht da sein. Wer noch? Vielleicht diese süße Patientin, die während meiner Praktikumszeit an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben war. Gott, was hatte ich sie geliebt. Mein erster Todesfall.

»Sie ist also deine Freundin?«, fragte jemand. Ich kannte die Stimme. Jabrielle. Dieser spöttische Ton war unverkennbar.

»Ja.« Bobby.

Würde er gleich anfangen zu schluchzen? Einen Moment mal, war Bobby zu meinem Unfall gerufen worden? Oder war er hysterisch gewesen, hatte meinen Namen gerufen, war von zwei bulligen Wachmännern weggezerrt worden? Wie auch immer, der arme, arme Mann. Verdammt, ich wünschte, ich könnte mich erinnern! Ich schätzte, ich war ein wenig zu spät zu meinem eigenen Tod gekommen. Was irgendwie in vielen Filmen passierte.

Das dauerhafte Piepen war nervtötend.

»Wie lange seid ihr schon zusammen?«, fragte Jabrielle.

»Ah, noch nicht ganz ein Jahr. Es ist schon lustig. Ich wollte dieses Wochenende mit ihr Schluss machen.« Eine Pause. »Na ja, sie befindet sich sowieso nicht in bester Verfassung.« Leises Gelächter.

Ich hätte beinahe gelächelt.

Warte mal. Was?

Hat Bobby gerade mit mir Schluss gemacht?

Ich war noch nicht mal ganz kalt! Hatte er … Wollte er …

»Also, was wirst du jetzt machen?« Wieder Jabrielle.

»Es wäre ziemlich mies, sie jetzt abzuservieren, schätze ich.«

Ein weibliches Schnurren. »Nun, sobald du ein freier Mann bist, ruf mich an.«

»Ich wünschte, ich müsste nicht so lange warten.«

Macht ihr Witze?

Nein. Nein, nein. Ich war tot. So etwas machte mir nichts mehr aus. Bald würde ich zu den Sternen hinaufschweben oder so.

Aber nur zur Sicherheit beschloss ich zu versuchen, meine Augen zu öffnen.

Oh Mist. Ich war nicht tot. Ich war in der Notaufnahme. Das Piepen war der Herzmonitor, schön regelmäßig bei 78 Schlägen pro Minute. Sauerstoffsättigung bei 98 Prozent. Blutdruck 130 zu 89, ein wenig hoch, aber angesichts der Schmerzen war das zu erwarten.

Und Bobby spielte mit einer Strähne von Jabrielles Haaren.

»Macht es euch was aus?«, fragte ich mit krächzender Stimme.

Sie sprangen auseinander.

»Hey! Du bist wach! Ganz ruhig, Honey, alles wird wieder gut.« Bobby nahm meine Hand – aua, meine Schulter! – und lächelte mir zuversichtlich zu. Er hatte aber auch schöne blaue Augen. »Du bist von einem Auto angefahren worden.«

»Beantown Bug Killers«, fügte Jabrielle hinzu.

»Bin ich gestorben?«

Bobby grinste. »Du hast eine Gehirnerschütterung – keine Angst, die Bilder aus dem CT sagen, dass alles gut ist. Außerdem hast du geprellte Nieren, ein gebrochenes Schlüsselbein und eine verschobene Kniescheibe, die wir wieder gerichtet haben – dafür mussten wir dich betäuben. Das Bein ist geschient, und wir warten auf den Orthopäden, der sich das mal ansehen soll. Kannst du deine Zehen spüren?«

Mir tat alles weh. Mein Rücken, mein Kopf, meine Schulter, mein Knie. Ich war ein einziger pochender Schmerz. Aber was auch immer sie mir gegeben hatten, sorgte dafür, dass es mir irgendwie egal war.

Ich schätze, mein Lichtertunnel war der Computertomograf gewesen.

»Ich will einen anderen Arzt«, sagte ich.

»Honey, sei nicht so.«

»Entschuldige bitte, aber du hast über meine Leiche hinweg geflirtet.« Ich entzog ihm meine Hand. Autsch.

Er verdrehte die Augen. »Du warst nicht tot, Nora.«

Wut überdeckte für eine Sekunde die Schmerzen. »Nun, ich dachte, ich wäre tot. Raus mit euch. Mit euch beiden. Und seid nicht überrascht, wenn ich eine Beschwerde wegen unprofessionellen Verhaltens einreiche. Und ruf Gus an, damit er mit Boomer Gassi geht.«

Die Nachwirkung des Betäubungsmittels oder die Gehirnerschütterung zog mich zurück in die Dunkelheit, und bevor die Tür ins Schloss fiel, war ich schon wieder eingeschlafen.

Als ich aufwachte, lag ich in einem normalen Krankenhauszimmer. Bobby schlief auf dem Sessel neben meinem Bett. Ein paar schlappe weiße Nelken, deren Blüten am Rand schon ganz braun waren, standen auf dem Tischchen neben mir. Wenn das mal keine Metapher für unsere Beziehung war. Ich spürte, dass es schmerzhaft wäre, mich zu bewegen, also atmete ich vorsichtig ein und nahm Bestand auf.

Mein linker Arm lag in einer Schlinge. An meinem rechten Bein befand sich eine Art Schiene. Mein Rücken schmerzte, mein Bauch tat weh, und mein Kopf pochte. Bei jedem Herzschlag sah ich kleine Lichtblitze am Rande meines Sichtfelds.

Aber ich lebte noch. Offensichtlich war das Gefühl einer außerkörperlichen Erfahrung von der Gehirnerschütterung und den Medikamenten verursacht worden.

Bobby regte sich. Er hatte noch nie gut schlafen können. Nun schlug er die Augen auf. »Hey. Wie geht es dir?«

»Ganz okay.«

»Erinnerst du dich daran, was passiert ist?«

»Ich bin von einem Lieferwagen angefahren worden.«

»Richtig. Du wolltest die Straße überqueren, und da hat er dich erwischt. Abgesehen von der Verschiebung der Kniescheibe hast du dir das Schlüsselbein sowie die sechste und siebte Rippe auf der linken Seite gebrochen. Die Gehirnerschütterung ist auch nicht von schlechten Eltern. Das Trauma-Team hat dich für ein oder zwei Nächte zur Beobachtung eingewiesen.«

»Hast du Gus angerufen?«

»Was? Oh, ja.« Einen Moment lang schwieg er, dann beugte er sich vor. »Das mit Jabrielle tut mir leid.«

Überraschenderweise zog sich meine Kehle bei diesen Worten zusammen, und mir stiegen Tränen in die Augen, die langsam über meine Schläfen rannen und in meinen Haaren versickerten. »Zumindest hast du es mir leicht gemacht«, flüsterte ich.

»Was habe ich dir leicht gemacht?«

»Unsere Beziehung zu beenden. Ich kann wohl schlecht darüber hinwegsehen, dass du eine andere Frau angemacht hast, während ich verletzt vor dir in der Notaufnahme lag, oder?«

Er wirkte beschämt. »Es tut mir aufrichtig leid. Das war wirklich nicht galant.«

»Nein.«

»Roseline war hier. Ich hatte sie angerufen. Im Moment ist sie oben auf der Entbindungsstation, aber sie kommt später noch mal vorbei.«

»Toll.«

Einen Moment lang schwiegen wir.

Einst dachte ich, ich würde Bobby Byrne heiraten. Ich dachte, er hätte Glück, mich zu kriegen. Aber irgendwo in unserem gemeinsamen Jahr – nach dem großen bösen Vorfall – hatte ich mich verloren. Was einst ein heller, glänzender Penny gewesen war, war schmutzig und dumpf und nutzlos geworden, und es war höchste Zeit für mich, das zuzugeben.

Bobby liebte mich schon lange nicht mehr.

In den nächsten Wochen würde ich Hilfe benötigen. Mit Gehirnerschütterungen war nicht zu spaßen, und ein verletzter Arm und ein geschientes Bein würden meine Mobilität erheblich einschränken. Ich brauchte Hilfe, und ich würde nicht bei Bobby bleiben.

Das Problem war, wir wohnten zusammen. Roseline war frisch verheiratet, ansonsten hätte ich mich bei ihr einquartiert. Andere Freunde … hatte ich nicht.

»Ich will nach Hause«, sagte ich.

»Klar. Morgen wirst du entlassen. Ich kann mir ein paar Tage freinehmen.«

»Ich meinte nach Hause. Auf die Insel.«

Bobby blinzelte verwirrt. »Oh.«

Seltsamerweise sehnte ich mich nach meiner Mutter. Ich wollte die Pinien und die felsige Küste. Ich wollte in dem Zimmer schlafen, in dem ich seit fünfzehn Jahren nicht mehr geschlafen hatte.

Ich wollte meine Schwester sehen.

Ja, ich würde nach Hause fahren, so wie man es tat, wenn man dem Tod ins Auge geblickt hatte. Ich würde mich von der Praxis freistellen lassen und nach Scupper Island zurückkehren, mich mit meiner Mutter versöhnen, Zeit mit meiner Nichte verbringen, darauf warten, dass meine Schwester zurückkam und … nun ja, mein Leben überdenken. Ich mochte nicht gestorben sein, aber ich war nah genug dran gewesen. Ich hatte eine zweite Chance bekommen. Ich konnte es besser machen.

»Und ich nehme Boomer mit«, fügte ich hinzu.

Eine Woche später tat mir noch immer alles weh. Mein Knie war mit einer Manschette geschützt, und mein einer Arm lag noch in der Schlinge, sodass ich mich nur auf eine Krücke stützen konnte. Zum letzten Mal sah ich mich in unserer Wohnung um – die eigentlich Bobbys Wohnung war. Roseline hatte am Vorabend vorbeigeschaut, und wir waren ein wenig rührselig geworden, aber sie meinte, sie würde mich auf Scupper besuchen kommen. Bobby hatte sich dankenswerterweise rar gemacht und die ganze Woche auf der Couch geschlafen.

Ich hätte nie bei ihm einziehen sollen. Vor dem großen bösen Vorfall, der uns erschüttert hatte, waren wir erst wenige Monate zusammen gewesen. Es war viel zu früh gewesen. Aber damals hatte eine Rückkehr in meine Wohnung vollkommen außer Frage gestanden. Bobby hatte vorgeschlagen zusammenzuziehen, und ich hatte Ja gesagt. Außerdem waren wir verliebt gewesen.

Und nicht zu vergessen, Bobby gab es einen Kick, wenn er Menschen retten konnte.

In der Woche nach meinem Zusammentreffen mit den Beantown Bug Killers (die mir jeden Tag Blumen geschickt hatten) hatte ich viel nachgedacht. Ich wollte aufhören, Angst zu haben, aufhören, mich mit der halben Liebe zufriedenzugeben, die Bobby mir schenkte, aufhören, mich so grau zu fühlen. Es war höchste Zeit.

Mit Boomer an der Leine stand Bobby neben der Tür. In seinen meerblauen Augen schimmerten Tränen. »Das ist schwerer, als ich gedacht habe«, gab er zu.

»Wir werden uns ja trotzdem weiterhin sehen. Immerhin haben wir das gemeinsame Sorgerecht für Boomer.«

Ja, wir teilten uns den Hund. Schließlich hatten wir ihn uns auch zusammen angeschafft.

»Willst du einen Ausflug machen, Boomer?«, warf ich die Worte in den Raum, die jeder Hund am liebsten hörte. »Willst du mit mir Auto fahren?«

Bobby fuhr uns zum Anleger, wo die Fähren nach Nantucket, Martha’s Vineyard, Provincetown, Portland oder, wie in meinem Fall, nach Scupper Island ablegten. Meine Heimat, eine kleine Insel drei Meilen vor der rauen und zerklüfteten Küste Maines gelegen. Die Scupper-Island-Fähre fuhr beinahe jeden Tag nach Boston; sie diente auch als Postschiff und konnte genau drei Autos mitnehmen.

Bobby lud meine Koffer aus und kaufte mir eine Fahrkarte. Seit unserer Trennung war er wieder sehr beflissen und hatte sich in den letzten Tagen wie ein wahrer Prinz verhalten – er hatte mir meine Schmerzmittel gebracht, mir vorgelesen, bis ich eingeschlafen war, ja, er hatte sogar für mich gekocht.

Mir war das egal. Er hatte in meinem Krankenzimmer die Haare einer anderen Frau befummelt, und das würde ich nie vergessen.

Die Fähre legte an, das gleiche kleine, verbeulte Ding wie immer. Jake Ferriman, der Kapitän mit dem äußerst passenden Namen, gehörte zum festen Inventar. Er begrüßte mich jedoch nicht, sondern machte nur das Boot fest und sprang mit einem kleinen Beutel Post in der Hand von Bord.

Ich hoffte, meine Mom würde mich von der Fähre abholen. Nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatte ich sie angerufen und ihr gesagt, dass ich nach Hause kommen würde. Ich hatte ihr von meinen Verletzungen erzählt und ihr versichert, dass es mir gut ging. Ich glaube, ich hatte die Worte Ich erwarte eine vollständige Genesung gebraucht, weil ich immer auf der Suche nach der Aufmerksamkeit meiner Mutter war. Ihre einzige Reaktion war ein Seufzen gewesen, gefolgt von: »Ich werde dich am Anleger abholen.« Ich hatte alles hinuntergeschluckt, was ich sagen wollte. Das konnte warten. Immerhin fing ich ganz neu an.

Jake kehrte zurück, dieses Mal mit einem Sack Post für die Inselbewohner in der Hand. Er sah auf sein Klemmbrett. »Sie reisen allein?«, fragte er und beäugte Boomer.

»Mit dem Hund.«

Er runzelte die Stirn, sah mich noch mal an und hakte dann etwas auf seiner Liste ab.

»Ich schätze, das war es dann«, sagte Bobby. »Ruf mich an, wenn du dich eingelebt hast, okay?«

Ganz vorsichtig umarmte er mich, dann knöpfte er meinen Mantel über meiner Schlinge zu. Wieder hatte ich einen Kloß im Hals. »Pass auf dich auf«, flüsterte ich.

Wir waren lange Zeit Freunde gewesen und beinahe ein Jahr lang ein Paar. All das war jetzt vorbei.

Bobbys Augen schimmerten feucht.

Jake hievte meine Koffer an Bord, dann nahm er Boomers Leine. Mein Hund sprang fröhlich auf das Boot und hielt die Nase in den Wind. Ich folgte etwas vorsichtiger.

In der Kajüte setzte ich mich und legte meine Krücke neben mir ab. Dann sah ich Bobby durch das Fenster und winkte. Das Lächeln wollte mir nicht ganz gelingen.

»Waren Sie schon mal auf Scupper?«, fragte Jake.

Ich blinzelte überrascht, weil er nicht wusste, wer ich war. Andererseits war ich jetzt erwachsen und nicht mehr das übergewichtige Kind mit der schlechten Haut und der noch schlechteren Haltung. »Ich bin dort aufgewachsen. Ich bin Nora Stuart, Mr. Ferriman.«

»Sharons Mädchen?«

»Ja.«

»Die mit dem Kind?«

»Nein. Die andere.« Die Ärztin, hätte ich beinahe angefügt, doch das wäre Angeberei gewesen, und so etwas taten die Leute aus Maine nicht.

Jake gab einen undefinierbaren Laut von sich, und ich spürte, dass unsere Unterhaltung vorbei war.

Er startete den Motor, löste die Festmacherleinen, und los ging’s. Bostons hübsche Skyline wurde immer kleiner, als wir auf das dunkelgraue Wasser hinaus in Richtung der am Horizont hängenden Wolken fuhren.

Die Nerven in meiner Hand kribbelten, und ich tätschelte zur Ablenkung Boomers Kopf. Er sah mich mit seinem süßen Hundelächeln an. »Tut mir leid, Kumpel«, flüsterte ich. »Niemand wird sich darüber freuen, uns zu sehen.«

3. Kapitel

Scupper Island, Maine, war nach Captain Jedediah Scupper benannt, dem Kapitän eines Walfangschiffes, der Nantucket verließ, nachdem er eine Wahl zum Kirchenrat verloren hatte. Er beschloss, sich auf einer eigenen Insel niederzulassen und Nantucket den Mittelfinger zu zeigen – was Nantucket nicht viel auszumachen schien. Captain Scupper brachte seine Frau und fünf Kinder mit, und diese Kinder fanden Ehepartner, und bevor man sichs versah, entstand eine rechtmäßige Gemeinde.

Im Laufe der Jahre entwickelte sich das Leben hier genauso wie auf den meisten Inseln Maines – die Bewohner litten, nachdem die Walfangindustrie ausstarb, und wandten sich dann der Fischerei und dem Hummerfang zu.

Die Inselbewohner einte der Stolz auf ihren Überlebenswillen und ihre Zähigkeit. Wirbelstürme, die eisigen Nordostwinde, gekenterte Boote und die Mühsal des Alltags hatten sie zusammengeschweißt. Als das »Vergoldete Zeitalter«, die Blütezeit der amerikanischen Wirtschaft, begann, entstand auf Scupper ein neuer Geschäftszweig: die Dienstleistungsindustrie. Putzen, Gärtnern, Catering, Zimmermanns- und Klempnerarbeiten, Kinderbetreuung, sich um die reichen Leute und ihren Besitz kümmern.

Das alles veränderte sich nie.

Ich war in dem Glauben aufgewachsen, dass Scupper Island trotz der Reichen, die im Juni anreisten – und die wir die Sommernervensägen nannten –, uns gehörte, den zähen Yankees. Wir kamen mit den Sommerleuten klar, denen die großen Häuser an den Klippen gehörten und deren hölzerne Segelboote in unseren idyllischen Buchten ankerten. Die Kinder waren attraktiv und höflich, aber nicht unsere echten Freunde, denn sie trugen Klamotten von Vineyard Vines und Ralph Lauren, hatten europäische Kindermädchen und aßen in den einheimischen Restaurants, in denen unsere Eltern arbeiteten.

Aber sie sorgten dafür, dass wir Essen auf dem Tisch hatten, und viele von ihnen waren wirklich sehr nett. Sie spendeten für unsere Schulen, bezahlten die Steuern, die unsere Straßen instand hielten, und unterstützten die örtliche Wirtschaft. Trotzdem waren wir immer froh, wenn sie am Labor Day im September wieder abreisten. Die fröhlichen Repräsentanten für ihre sommerlichen Fluchten zu sein, war auf Dauer etwas ermüdend.

Scupper gehörte uns. Meiner Schwester und mir, unserem Dad und definitiv unserer Mom.

Meine Mutter – Sharon Potter Stuart (und glaubt mir, ihr Mädchenname war für diesen Muggel ein konstanter Quell der Freude) – war Inselbewohnerin in vierter Generation und hier geboren und aufgewachsen. Sie war eine typische zähe Frau aus Maine – sie konnte Wild schießen, es ausnehmen und noch am gleichen Tag ein Gulasch daraus zubereiten. Sie hackte und stapelte ihr eigenes Holz, baute ihr eigenes Obst und Gemüse an und empfand Restaurantbesuche als reine Zeitverschwendung. Sie konnte einfach alles – angeln, segeln, ein Auto reparieren, Biscuits herstellen, unsere Kleider nähen. Einmal hatte sie sogar eine Verletzung genäht, als der Arzt von Scupper Island sich um eine schwierige Geburt kümmern musste.

Scupper war nicht nur der Name unseres Gründers, sondern ist auch ein Teil eines Schiffes – ein Speigatt, das dafür sorgt, dass das Wasser im Boot wieder ins Meer hinausfließt, anstatt sich im Kiel zu sammeln. Es war deshalb irgendwie passend, dass so viele Bewohner Scupper Island verließen und sich zu größeren Wassern aufmachten. Wenn man seinen Lebensunterhalt nicht auf dem Meer oder mit den Touristen verdiente, war das Überleben auf der Insel nicht leicht.

Mom war nie auf dem College gewesen, hatte nie Urlaub gemacht. Einmal beging ich den Fehler, sie zu fragen, ob wir mal nach Disney World fahren könnten, so wie es beinahe jede amerikanische Familie tat. »Warum um alles in der Welt sollten wir da hinfahren? Glaubst du, dort ist hübscher als hier?«, hatte sie erwidert.

Meine frühesten Erinnerungen an meine Mutter waren alle gut. Sie war sicher und verlässlich, so wie Mütter es sein sollten. Unsere Mahlzeiten waren nahrhaft, wenn auch etwas uninspiriert. Jeden Tag flocht sie meine störrischen Haare, zähmte die wilden Locken geduldig, ohne dass es jemals ziepte, und sorgte dafür, dass wir sauber waren. Sie trank den ganzen Tag schwarzen Kaffee, den sie in einem Topf auf dem Herd kochte, und sah uns beim Spielen zu, während sie ihre Hausarbeit erledigte. Dabei spielte immer ein Anflug eines Lächelns um ihre Mundwinkel.

Unser Haus war zwar schlicht eingerichtet, aber sauber und ordentlich. Die Hausaufgaben wurden unter den Augen unserer Mutter am Küchentisch erledigt. Sie besuchte sämtliche Elternveranstaltungen der Schule. Wenn wir über einen Parkplatz oder die Kreuzung an der Main Street und Elm Street gingen, nahm sie meine Hand, aber ansonsten gab es nicht viel körperliche Zuwendung. Als ich noch klein war und sie mich badete, hatte sie manchmal einen Waschlappen auf meinen Kopf gelegt und mir gesagt, was für einen schicken Hut ich da aufhätte. Ansonsten war sie einfach da. Versteht mich nicht falsch, ich wusste, wie wichtig das war.

Sie hat mich mit Sicherheit geliebt. Und was meine Schwester anging … nun, Lily war einfach magisch.

Meine Schwester war genau zwölf Monate und einen Tag jünger als ich, und in allem das totale Gegenteil von mir. Meine Haare waren braun und kraus, nicht wirklich lockig, aber auch nicht glatt; Lilys waren schwarz und ganz dünn. Meine Augen waren eine matschige Mischung aus Braun und Grün; Lilys waren von einem reinen, klaren Blau. Ich war kräftig und groß wie unsere Mutter; Lily war eher eine Elfe mit knochigen Ellbogen und bläulich-weißer Haut. Lily wurde oft auf Moms kräftiger Hüfte getragen. Als ich einmal fragte, ob ich auch getragen werden könnte, meinte Mom, ich wäre ihr großes Mädchen.

Ich liebte meine Schwester. Sie war auch mein Baby, obwohl uns nur ein Jahr trennte. Ich liebte ihre flaumigen Haare, ihre Augen, liebte es, wie sie ihren dünnen kleinen Körper an mich kuschelte, wenn sie nach einem bösen Traum in mein Bett krabbelte. Ich liebte es, älter, größer, stärker zu sein.

Diese frühen Jahre waren so süß gewesen. Als ich jetzt an ihre Unbeschwertheit zurückdachte, zog sich mein Herz zusammen. Damals, als Lily mich liebte. Als meine Eltern einander liebten. Damals, bevor Moms Herz von Beton ummantelt war.

Damals, als Dad noch da war.

Mein Vater hatte einen geheimnisvollen Job. Lily und ich nannten es nur »Geschäftemachen«. Er war keiner von der Insel; er war im magischen New York geboren, aber in Maine aufgewachsen. Er hatte in der Stadt ein Büro und eine Sekretärin. Später erfuhr ich, dass er Versicherungen verkaufte.

Doch als ich sechs war und die Tagesschule besuchte, begann er, von zu Hause aus zu arbeiten. Er beanspruchte unser kleines Arbeitszimmer und tippte auf seinem Computer – dem ersten, den wir je hatten. Er schreibe ein Buch, sagte er, und wäre jetzt häufiger für uns da. Lily und ich flippten vor Freude aus. Beide Eltern zu Hause? Das wäre ja wie ein nie endendes Wochenende.

Doch die Realität sah anders aus. Es gab viele angespannte Unterhaltungen zwischen unseren Eltern; aus dem Zimmer, das Lily und ich uns teilten, konnten wir die Worte zwar nicht verstehen, aber wir spürten die Stimmung, die Energie zwischen Mom und Dad; brüchig und angespannt und voller unausgesprochener Worte.

Mom nahm einen Job als Managerin im Excelsior Pines an, dem großen Hotel am Ende von Scupper. Sie hatte schon immer die Buchhaltung für ein halbes Dutzend örtlicher Firmen gemacht, und wir hatten sie oft bis in die Nacht hinein auf ihrem Taschenrechner herumtippen gehört. Aber jetzt verließ sie das Haus, bevor wir in den Schulbus stiegen, und kam erst nach dem Abendessen zurück.

Unser Leben veränderte sich von Grund auf. Vorher hatten wir Dad nur ein oder zwei Stunden am Tag gesehen. Jetzt schien er fest entschlossen, Spaß mit seinen Mädchen zu haben. Nach der Schule wartete er bereits an der Bushaltestelle, steckte uns auf die Rückbank seines Trucks, und dann zogen wir los, um Abenteuer zu erleben. Kein Wascht euch die Hände, macht eure Hausaufgaben, hier ist dein Apfel.

Nein, Sir. Stattdessen erklommen wir den Eagle Mountain und taten so, als liefen wir vor dem Gesetz davon. Wir erkundeten bei Ebbe die Höhlen auf der wilden Seite der Insel und fragten uns, ob wir dort leben und uns nur von Muscheln ernähren könnten, so wie die Passamaquoddy, zu denen Lily und ich so gern gehört hätten.

Im späten Frühling hielt Daddy unsere Hände auf der Spitze des unheilvoll benannten Deerkill Rock, eines Granitfelsens, der über das Meer hinausragte. »Seid ihr bereit, meine tapferen kleinen Kriegerinnen?«, fragte er, und wir rannten zum Rand und sprangen so weit hinaus, wie wir konnten. Die Schwerkraft riss uns sofort auseinander, und der Sturz war so tief, dass ich glaubte, ich könne fliegen. Die Luft rauschte an meinem Gesicht vorbei, durch meine zerzausten Haare, bis ich schließlich in der eisigen Umarmung des Meers landete. Wie Korken ploppten wir an die Wasseroberfläche. Keuchend, kreischend und mit vor Kälte tauben Beinen schwammen Lily und ich neben unserem lachenden, stolzen Vater ans Ufer zurück.

Er nahm uns mit an die höchste Stelle der Eastman Hill Road, die durch Bodenfröste ganz löchrig war. Dort luden wir unsere Fahrräder ab und rasten die Straße hinunter. Die Bänder an unseren Lenkern flatterten, der Wind wischte mir die Tränen aus den Augen, und meine Arme zitterten vor Anstrengung, den Lenker festzuhalten. Fahrradhelme gab es für uns damals nicht. Lily war zu klein und dünn, um die Abfahrt alleine zu meistern, also setzte Dad sie auf seinen Lenker, und die beiden sausten vor mir hinab. Ihr Lachen trieb zu mir hinüber und legte sich wie eine Decke um mich.

Dad kochte uns auch die besten Mahlzeiten. Essen für Reisende nannte er es – über dem Lagerfeuer gekochter Eintopf, wie seine ungarische Großmutter es ihm beigebracht hatte. Er erzählte uns Geschichten von magischen Menschen, die einen durch Hypnose dazu bringen konnten zu fliegen; die sich unsichtbar machen konnten; die mit Tieren redeten und auf wilden Pferden ritten. Dort, im Schein des Feuers, während das Meer gegen die Granitfelsen der Inselküste schlug und ein Sägekauz seinen einsamen Ruf ausstieß, kam uns das mehr als nur möglich vor. Es schien wahr zu sein.

Dann rief Mom uns und schüttelte mit verkniffener Miene den Kopf über unsere dreckigen Füße und schickte uns ins Haus, um zu baden.

In den Sommern haben wir Burgen errichtet und draußen geschlafen, um später von Insekten zerbissen, aber glücklich ins Haus zurückzukehren. Tagsüber, wenn Mom arbeitete oder an ihren freien Nachmittagen einkaufen ging, entließ Dad Lily und mich in die Wildnis, während er an seinem Buch arbeitete. Wir wanderten umher, schauten uns aus sicherer Entfernung die Häuser der Reichen an, suchten an den felsigen Ufern unbeobachtet und glücklich nach Schätzen und kehrten in der Dämmerung nach Hause zurück – Lily mit einem Sonnenbrand, ich mit einer gesunden Bräune.

Und in der Zwischenzeit wurde meine Mutter immer wütender. Sie sagte zwar nichts, aber man spürte es an ihren strengen Befehlen bezüglich der Hausaufgaben und unserer Pflichten im Haus. Doch der Reiz der Freiheit, vor allem unter Dads strahlender Ermutigung und regelmäßiger Teilnahme, war so groß, dass wir uns nicht darum scherten, was unsere Mutter dachte.

Manchmal versuchte ich, die Stimmung meiner Mutter aufzuhellen – ich brachte ihr Lupinen mit, die ich am Straßenrand gepflückt hatte, oder ein Stück Seeglas vom Strand für ihre Schale, doch in Wahrheit liebte ich es, wenn Daddy das Sagen hatte. Während unsere Mutter immer spröder wurde, blühte unsere Liebe zu unserem Daddy immer weiter auf. Einst hatte ich Freunde gehabt – Cara Macklemore und Billy Ides –, aber sie kamen nicht mehr vorbei, nachdem ich ihre Einladungen, zum Spielen zu ihnen zu kommen, einmal zu oft ausgeschlagen hatte. Zu Hause hatte ich mehr Spaß. Lily und ich brauchten keine Freunde. Wir hatten einander und Dad. Und Mom. Klar. Die auch.

Also tat ich so, als gäbe es die Spannung zwischen unseren Eltern nicht. Mom arbeitete mit grimmiger Miene, Dad schrieb sein Buch und spielte mit uns, und das Leben war größtenteils wunderbar.

Abgesehen von den Momenten, in denen Mom uns aufspürte. Ich weiß nicht, woher sie wusste, wo wir waren, aber ab und zu tauchte ihr Wagen auf, während wir gerade Abenteuer erlebten, und sie stieg aus und schrie unseren Vater an. »Was macht ihr hier draußen? Bist du denn total verrückt geworden?«

»Sharon, entspann dich!«, erwiderte Dad grinsend und außer Atem von unseren Abenteuern. »Sie haben Spaß. Sie sind draußen an der frischen Luft und spielen.«

»Wenn du damit nicht aufhörst, werden wir noch eines Tages an einem Sarg stehen!«

Dads Lächeln fiel wie ein Stein aus seinem Gesicht. »Glaubst du, ich würde zulassen, dass einem meiner Mädchen etwas zustößt? Glaubst du, ich liebe sie nicht auch? Mädchen, glaubt ihr, Daddy liebt euch?«

Natürlich sagten wir Ja. Woraufhin meine Mom die Lippen noch fester aufeinanderpresste und ihre Augen ganz hart wurden. Dann befahl sie uns entweder, in ihren Wagen zu steigen, oder, schlimmer noch, sie stieg selber ein und fuhr einfach davon, was einen Schatten über den Rest unseres Tages warf.

»Ihr seid so mutig, meine Mädchen«, sagte Dad immer. »Warum sollte man am Leben sein, wenn man keine Abenteuer erleben kann, oder? Wer will schon ständig verkniffen und wütend sein?«

Um seinen Standpunkt zu verdeutlichen, gingen wir noch einmal schwimmen oder springen oder fuhren noch einmal den Eastman Hill mit den Fahrrädern hinunter. Blieben eine weitere halbe Stunde draußen, aßen Eis zum Abendessen.

Lily war besonders gut darin, sich Dads Philosophie zu eigen zu machen. Einst ein Mutterkind, fing sie nun an, ihr aus dem Weg zu gehen, sie zu ignorieren oder – was noch schlimmer war – vor ihr darüber zu reden, wieso sie mit Daddy immer so viel Spaß hatte.

Meine Blumen und Seeglasscherben kamen dagegen nicht an. »Danke, Nora«, sagte Mom. Aber ich konnte ihren Schmerz nicht ungeschehen machen – ich war nicht Lily, die magische, wunderschöne Tochter.

Nichts, was ich tat, schien bei meiner Mutter Eindruck zu hinterlassen. Nicht die Einsen in meinem Zeugnis, nicht das Kunstprojekt zum Muttertag – eine kleine, selbst getöpferte gelbe Vase mit blauen Punkten darauf. (Lily meinte, sie hätte ihres in der Schule vergessen; es fand nie den Weg zu uns nach Hause.)

Ich lernte, meiner Mutter zur Begrüßung einen Kuss zu geben, wenn sie nach Hause kam, und ihr von meinem Tag zu erzählen, damit ich den Punkt Mit Mom reden von meiner mentalen Liste abhaken konnte. Ab und zu bedachte Mom mich mit einem Blick, der mir verriet, dass ich hier niemandem etwas vormachen konnte. Unsere Mutter war keine kleine schwarze Regenwolke, die über uns hing, aber in ihrer Gegenwart war der Himmel immer von einem unnachgiebigen Grau.

Doch Daddy lachte viel, und mit ihm und Lily hatte ich so viel Spaß, so viele lustige Spiele und Abenteuer und eingebildete Mahlzeiten, so viele lange Geschichten vor dem Ins-Bett-Gehen oder im Auto, wenn wir einen Ausflug ins Nirgendwo unternahmen. Natürlich liebte ich ihn am meisten.

Nur selten regten sich Schuldgefühle in mir. Lily war diejenige, die wirklich gemein zu Mom war, nicht ich. Ich bemühte mich wenigstens.

Eines Frühlingstages, ich war elf, gingen Lily und ich von der Bushaltestelle nach Hause und fanden unsere Mutter unerwarteterweise am Küchentisch sitzend vor, wo sie einen Kaffee trank. Lily lief einfach an ihr vorbei die Treppe hinauf in unser Zimmer und ließ ihren Rucksack auf den Boden und sich aufs Bett fallen, wie sie es immer tat.

»Hi Mom!«, sagte ich mit gespielt fröhlicher Stimme. »Rate mal! Brenda Kowalski hat sich während unserer Mathearbeit übergeben, und es ist beinahe bis auf meinen Tisch gespritzt! Sie musste früher nach Hause gehen.«

»Tja, das ist schade.« Sie schaute nicht auf, sondern saß nur da und starrte geradeaus, die Finger fest um den Kaffeebecher gekrallt. Sie hatte ihre Arbeitsuniform aus schwarzer Hose und weißer Bluse gegen eine Jeans und ein Flanellhemd getauscht.

Mehr sagte sie nicht. Mom saß einfach da und spielte mit ihrem Ehering.

»Wo ist Dad?«, platzte es aus mir heraus, als ich die Stille nicht mehr ertrug.

Ihr Blick huschte zu mir, dann wieder fort. »Er ist weg«, sagte sie.

»Wo?«

»Ich weiß es nicht. Er hat die Insel verlassen.«

Ohne uns? Das war seltsam. Normalerweise wartete er immer, bis wir aus der Schule kamen, um uns mit der Fähre nach Portland mitzunehmen, wo es eine Bäckerei mit dem köstlichsten Gebäck gab, von dem wir uns aussuchen durften, was wir wollten.

»Wann kommt er zurück?«, wollte ich wissen.

»Ich bin mir nicht sicher.«

Mein Herz wummerte in meiner Brust. »Was meinst du damit, du bist dir nicht sicher?«

»Ich weiß es nicht, Nora. Er hat es nicht für nötig befunden, es mir zu sagen.«

Etwas stimmte hier nicht. Etwas Großes. In der Sekunde spürte ich, wie meine Kindheit ins Wanken geriet.

Ich lief die Treppe hinauf. Unser Zimmer hatte Dachschrägen und war genau in der Mitte geteilt: meine Hälfte sauber und aufgeräumt, wie Mom es verlangte, Lilys ein einziges Chaos. Meine Schwester lag mit Kopfhörern auf den Ohren auf ihrem ungemachten Bett und wartete darauf, dass Mom ging und Dad mit dem Unterhaltungsprogramm für den Nachmittag auftauchte, denn es gab immer irgendeinen Spaß. An jedem einzelnen Tag.

Ich ging ins Schlafzimmer meiner Eltern, und der Atem verließ mich in zitternden Stößen.

Der Schrank stand offen, genau wie die beiden oberen Schubladen der Kommode – seine Schubladen.

Offen und leer. Die Schuhe unseres Vaters – er besaß mehr Paare als Mom – waren fort. Seine Socken waren fort. Seine T-Shirts. Alles war weg, und die nackten Kleiderbügel hingen wie Knochen an der Stange im Schrank.

Mitten auf der Kommode lag sein Ehering.

Ich rannte ins Badezimmer und übergab mich. Mein Magen drehte sich, mein Körper zuckte unter den explosionsartigen Würgeanfällen, die mein Schinken-Tomaten-Sandwich und zwei Haferkekse mit Gewalt aus meinem Körper katapultierten. Auf der Oberfläche schwammen ein paar kleine Apfelstückchen.

»Was ist los?«, fragte Lily. Obwohl sie erst zehn war, klang ihre Stimme oft schon sehr spöttisch.

»Daddy ist weg«, sagte ich. Meine Augen tränten. Ich übergab mich erneut, und die Galle brannte in meiner Kehle.

»Was meinst du mit weg? Wovon redest du da?«

Während ich vor der Toilette kniete, rannte meine Schwester ins Schlafzimmer unserer Eltern und dann nach unten. Sie schrie meiner Mutter Anschuldigungen ins Gesicht, die sie mit flacher, unversöhnlicher Stimme beantwortete. Etwas aus Keramik zerbrach – Moms Becher, wie ich wettete, bevor ich bei dem Gedanken an den Geruch von Kaffee wieder spucken musste.

»Ich hasse dich!«, schrie Lily. »Ich hasse dich!«

Dann fiel die Tür ins Schloss, und es war wieder still.

Ich wartete darauf, dass meine Mom nach oben kommen und sich um mich kümmern würde. Das tat sie nicht.

Später an jenem Abend erzählte Lily mir, was passiert war. Oder zumindest ihre Version der Ereignisse. Unsere Mutter, die so langweilig und hassenswert und gemein war, hatte unseren Vater vertrieben. Er war es leid gewesen, sich mit ihr herumzuschlagen, also hatte er sich seinen Roman geschnappt und war nach New York City gezogen, immerhin sein Geburtsort, wo er nun vermutlich kurz davorstand, ein berühmter Schriftsteller zu werden. Er würde uns anrufen und uns sagen, dass wir unsere Taschen packen sollten, weil New York der größte Platz für Abenteuer wäre, und wir würden umziehen, und Mom könnte hier auf ihrem dummen Scupper Island bleiben.

Wenn das stimmte … wenn unser Dad unsere Mutter nicht mehr ertrug, konnte ich ihm das ehrlich gesagt nicht vorwerfen. Er war eine Scharlachtangare, ein seltener, wunderschöner Vogel, den ich nur einmal im Leben gesehen hatte. Er glänzte tiefrot, und sein Gesang war hell und fröhlich. Meine Mom hingegen war eine Trauertaube, grau und langweilig, die endlos die gleichen Töne seufzte.

Aber ich wollte nicht, dass sie sich scheiden ließen.

In meiner Version der Ereignisse, die ich mich nicht traute Lily zu erzählen, würde Dad mit einem Strauß Rosen zurückkommen. Mom würde das weiße Kleid mit den roten Blumen darauf tragen – das einzige Kleid, das sie besaß –, und sie würden einander umarmen, und wir würden alle zusammen nach New York ziehen, aber im Sommer nach Scupper kommen, so wie die reichen Leute.

Tage vergingen. Eine Woche. Lily weigerte sich, zur Schule zu gehen, und mir wurde die Zubereitung des Frühstücks übertragen, während Mom zur Arbeit ging. Nachts lauschte ich den mit einem Mal furchteinflößenden Geräuschen unseres alten Hauses, den gedämpften Schluchzern von Lilys Zimmerseite. Ich versuchte, in ihr Bett zu klettern, um sie zu trösten, aber sie schubste mich von sich.

Ich wartete auf einen Anruf meines Vaters. Doch er meldete sich nicht.

Er hatte auch keine Telefonnummer hinterlassen. Sein Bruder wohnte in Pennsylvania – Jeff, acht Jahre älter als mein Vater, ein Mann, den wir nur zweimal getroffen hatten. Eines Nachmittags rief ich ihn an, als meine Mutter zu einem Treffen in der Schule gefahren war – es ging um Lilys Benehmen. Nachdem ich meinen Onkel gefragt hatte, ob er wüsste, wo mein Vater sein könnte, herrschte erst einmal langes Schweigen.

»Es tut mir leid, meine Süße«, sagte er. »Ich weiß es nicht. Aber wenn ich etwas von ihm höre, sage ich dir Bescheid.«

An seinem Tonfall hörte ich, dass er nicht damit rechnete.

Eine weitere Woche schlich dahin. Mom kam am Samstagmorgen nach Hause und erklärte uns, sie hätte ihre Arbeitszeiten geändert, damit sie nach der Schule bei uns sein könnte.

»Hier will dich keiner«, sagte Lily mit einer so kühlen, gemeinen Stimme, dass ich zusammenzuckte.

»Und dich hat niemand gefragt«, erwiderte Mom sanft.

Und das war das Ende unserer tiefschürfenden Familiendiskussion.

Was, wenn Mom unseren Dad umgebracht hatte? War das möglich? Sie konnte innerhalb weniger Sekunden einem Wolfsbarsch den Kopf abhacken, ihm mit dem Messer den Bauch aufschneiden und ihn ausnehmen … Sie wusste, wie man mit einer Waffe umging … Wir lebten auf einer Insel, also könnte sie seinen Körper überall abladen und den Rest von den Gezeiten erledigen lassen. Ich bedauerte es, den Roman von Patricia Cornwell gelesen zu haben, den ich aus der Bücherei geschmuggelt hatte. Ganz zu schweigen von Stephen King, dem Schutzheiligen von Maine. Lag mein Vater in irgendeinem Brunnenschacht wie Dolores Claibornes Ehemann?

Nun, auf der Insel gab es keinen Brunnenschacht. Und Mom hatte nicht mit der Polizei gesprochen.

Dad hatte gepackt. Seinen Ehering zurückgelassen. Klar, das hätte Mom auch vortäuschen können, aber ich wusste, das hatte sie nicht.

Er war einfach … verschwunden. Doch Lily und ich waren das Licht seines Lebens. Das hatte er uns immer wieder gesagt. Er würde uns nicht einfach allein lassen. Ganz sicher käme er bald zurück, um uns zu holen.

Aber er kam nicht. Er kam nicht, er schrieb nicht, er rief nicht an.

Die Wochen wurden zu Monaten. Ich versuchte, Lily so gut es ging zu trösten, fragte sie, ob wir gemeinsam etwas unternehmen wollten, aber sie ignorierte mich und vergrub sich in ihrer Trauer, die aus ihrer Sicht wesentlich tiefer war als meine. Ich hatte meinen Vater und seine heitere, beglückende Liebe verloren und damit, wie es aussah, auch Lilys.

Nachts lag ich mit hämmerndem Herzen wach, während die Tränen mir in die Haare rollten und ich die beiden so schmerzhaft vermisste, dass es alles andere überschattete. Meine Kindheit war vorbei, und ich hatte nicht einmal die Möglichkeit gehabt, mich von ihr zu verabschieden.

4. Kapitel

Jake half mir, von der Fähre zu steigen. Eine dreistündige Fahrt lag hinter uns, und ich war ein wenig seekrank. Oder die Übelkeit kam von meinem pochenden Knie.

Vielleicht lag es auch nur daran, dass ich wieder zu Hause war.

Ohne ein Wort holte Jake meine Koffer und führte Boomer von Bord. Ich hoppelte auf meine Krücke gestützt die Gangway hinunter und auf den alten Anleger.

Obwohl es schon Mitte April war, hatte der Frühling sich auf der Insel noch nicht eingefunden. Meine Mom war noch nicht da, und im Ort war es ruhig. Ein rauer Wind blies den Geruch von Fisch und Salz und Donuts aus Lala’s Bakery in meine Richtung, und mit ihm kamen Kindheitserinnerungen. An kalten Wintersonntagen hatte mein Vater Lily und mich immer um fünf Uhr morgens geweckt, damit wir die ersten Donuts von Lala bekamen. Sie waren beinahe zu heiß, um sie in den Händen zu halten, und der Zucker verkrustete unser ganzes Gesicht, während die Hitze in der Winterluft dampfte.

Bald würde ich sie sehen – meine Schwester. Ich würde alles wiedergutmachen. Das war die Chance, die mir die Beantown Bug Killers gegeben hatten, und ich war entschlossen, sie zu nutzen.

Ich würde auch herausfinden, was mit meinen Eltern passiert war. Wo mein Vater war. Ob er noch lebte. Ich würde ihn finden, verdammt noch mal.

In meinem ersten Jahr am Krankenhaus hatte ich einen ehemaligen Polizisten aus Boston zusammengeflickt, der inzwischen als Privatdetektiv gearbeitet hatte. Ich hatte ihn engagiert, um meinen Vater zu finden, doch er war mit leeren Händen zurückgekommen. Mit einem so gewöhnlichen Namen – William Stuart – und keinen weiteren Ansatzpunkten seit dem Tag seines Verschwindens hatte der Cop nichts finden können. Es war an der Zeit, es erneut zu versuchen.

Doch im Moment musste ich erst mal vom Anleger herunterkommen. Eins nach dem anderen.

Mit Schlinge, Kniemanschette und Krücke musste ich über jeden Schritt genau nachdenken, und das raue, gesplitterte Holz des Anlegers machte die Sache nicht leichter. Schritt, Schlurf, Krücke. Schritt, Schlurf, Krücke. Es ging nur langsam voran.

Jake hatte Boomer bereits am Fahrradständer angeleint – und ich hatte noch nicht einmal die Hälfte des Weges dorthin geschafft. Er kehrte zu seinem Boot zurück. »Ich danke Ihnen vielmals, Mr. Ferriman«, sagte ich, als er an mir vorbeikam. Er grunzte, sah mich aber nicht an, der alte Charmeur.

Leicht außer Atem erreichte ich das Ende des Anlegers und tätschelte meinem Hund den Kopf. Eine Möwe landete auf einem Holzpfahl, und Boomer bellte leise. Ansonsten herrschte auf der Insel eine unheilvolle Stille wie in einer von Stephen Kings Städten. Ich vermisste die fröhlichen Duck-Boats aus Boston, die eleganten Geschäfte auf der Newbury Street. Hier hatte nichts geöffnet.

Das Scupper Island Clam Shack, in dem ich zwei Sommer lang gearbeitet hatte, lag am Ende der Main Street direkt am Wasser. Wenn alles noch so war wie früher, würde es erst am Memorial Day, dem letzten Montag im Mai, öffnen.

Ich hatte dort mit Sullivan Fletcher zusammengearbeitet, einem der beiden Fletcher-Jungen aus meiner Klasse. Sully hatte in unserem letzten Schuljahr, kurz bevor ich Scupper verließ, einen Autounfall erlitten, und ich fragte mich, wie so oft in den letzten Jahren, wie es ihm ging. Ich hatte gehört, dass er sich erholt hatte, aber nie nach Einzelheiten gefragt (nun ja, meine Mutter war auch nicht gerade der Typ für Einzelheiten).

Ich schaute nach rechts, und da bog gerade der alte Subaru meiner Mutter auf die Main Street ein. Ich winkte – als ob sie mich verfehlen könnte. Ich war die Einzige hier. Sie fuhr vor, stellte den Motor ab und stieg aus. Sie sah so aus wie immer, und mit einem Mal stiegen mir Tränen in die Augen. »Hi Mom«, sagte ich und humpelte auf sie zu, um sie zu umarmen.

Sie nickte stattdessen nur und hievte meine beiden Koffer in den Kofferraum. »Ich wusste nicht, dass du deinen Hund mitbringst«, sagte sie. Boomer wedelte fröhlich mit dem Schwanz. »Ich hoffe, er lässt Tweety in Ruhe.«

Tweety war Moms Sittich (und ihr liebstes Lebewesen auf der ganzen Welt). »Tweety lebt also noch?«

»Natürlich tut er das. Wo soll der Hund schlafen?«

»Ich freue mich auch, dich zu sehen, Mom«, sagte ich. »Mir geht es gut, danke. Okay, ich habe fürchterliche Schmerzen, aber das wird schon. Ich wurde auf der Straße von einem Lieferwagen überfahren und habe verschiedene Verletzungen davongetragen, falls du das vergessen hast.«

»Ich habe es nicht vergessen, Nora«, erwiderte sie. »Steig ein.«

Bei den magischen Worten sprang Boomer ins Auto und füllte die gesamte Rückbank aus.

Eine füllige Frau mit gelbstichigen Haaren näherte sich unserem Wagen. »Hey Sharon. Wen hab’n wa denn da?« Es war schön zu hören, dass der Maine-Akzent hier noch sehr lebendig war. Die Sprecherin war Mrs. Hurley, Mutter von Carmella Hurley, einem der gemeinen Mädchen von der Highschool. Ich hatte sie damals die Cheetos genannt (natürlich nicht laut) – die beliebten, fiesen Mädchen, die nach Portland fuhren, um dort im Solarium dem Hautkrebs zu huldigen, was mit einem Teint endete, den man in der Natur nicht finden konnte.

»Das ist meine Tochter«, antwortete Mom.

»Lily, du bist zurück, Süße?«

»Äh, nein. Ich bin Nora. Hi, Mrs. Hurley. Schön, Sie zu sehen. Wie geht es Carmella?«

Ihre Miene versteinerte sich. Richtig. Ich war keine Einheimische, auf die ihre Heimatstadt stolz war. Ich war das Mädchen, das dem Prinzen die Krone gestohlen hatte. Außerdem sah ich ganz anders aus als früher, als ich ein fetter, klobiger Teenager mit schlechten Haaren und noch schlechterer Haut gewesen war.

»Cahmella geht es wunderbar«, stieß Mrs. Hurley aus. »Nun. Habt einen schönen Tag, Sharon. Nora.«

Bald würde jeder in der Stadt wissen, dass ich wieder zurück war.

Mom setzte sich hinters Lenkrad, und ich ließ mich ziemlich unelegant auf den Beifahrersitz fallen, wobei ich mir die Krücke ins Gesicht stieß.

»Also, wie geht es Carmella wirklich?«, fragte ich, während ich mich anschnallte.

»Gut. Fünf Kinder. Im Sommer ist sie Zimmermädchen im Hotel und Barkeeperin im Red’s. Sie arbeitet hart.« Als ich so zuhörte, wie meine Mom die Silben dehnte und verschluckte, wurde mir bewusst, dass mein Akzent stärker nachgelassen hatte, als es mir bewusst gewesen war. In den letzten Jahren hatte ich nicht sehr oft mit Mom gesprochen. Oberflächliche Telefonate, ihr jährlicher Zwölf-Stunden-Besuch in Boston.

»Du teilst dir ein Zimmer mit Poe«, sagte sie.

»Ach ja?«

»Was hast du denn gedacht, wo du schläfst?« Mom fuhr los.

Guter Punkt. Ich unterdrückte einen Seufzer und schaute aus dem Fenster. Die Gentrifizierung hatte auch vor der Main Street nicht haltgemacht. Es gab einen Buchladen, den ich noch nie gesehen hatte und der sich The Cracked Spine nannte. Süßer Name. Lala’s Bakery, vor der die Warteschlange im Sommer jeden Tag bis um die Ecke reichte, lag verlassen da. Ein Laden für Küchenartikel. Huch.

»Wie geht es Poe?« Ich hatte meine Nichte seit fünf Jahren nicht mehr gesehen.

Meine Mutter zuckte mit den Schultern.

»Mom, kannst du mir einfach mal antworten?« Na toll, keine fünf Minuten hier, und ich war schon genervt.

»Sie ist launisch. Sie hasst es hier.« Mom bog auf die Perez Avenue ein, die nach dem Mann benannt worden war, der seit einem Vierteljahrhundert jedes Jahr ein Kind von Scupper Island aufs College schickte … darunter mich. Wir kamen an dem typischen Made-in-China-Souvenirladen vorbei, der vollkommen fantasielos Scupper Island Gift Shoppe hieß (ich hatte diese Schreibweise von Shop schon immer gehasst), an einem Restaurant, das ich nicht kannte, einer Kunstgalerie und noch einem Restaurant.

Wir würden nie Martha’s Vineyard sein – zu weit weg, zu kalt, zu klein –, aber wie es aussah, war meine Heimatstadt aufgeblüht.

»Ist in Seattle alles gut gelaufen?«, fragte ich und bezog mich damit auf den kürzlichen Besuch meiner Mom dort, um Poe abzuholen.

»Eine dreckige Stadt«, sagte sie. »Viel Müll. Und Bettler.«

Natürlich. Immer auf die düstere Seite schauen, war das Motto meiner Mutter. Da sie selber in armen Verhältnissen aufgewachsen war, konnte sie Bettelei nicht ausstehen. Aber ihre Version von Armut war lückenhaft. Sie bedeutete, die eigene Nahrung zu jagen oder zu angeln, wenn man musste, zu wissen, wie man das Gemüse aus dem Garten einlegte, Fisch trocknete, Fleisch räucherte. Wenn man nichts hatte, musste man sich zu helfen wissen.

Ich war viermal in Seattle gewesen, um meine Schwester zu treffen. Ich wäre öfter hingefahren, aber Lily war immer etwas wankelmütig gewesen, was Besuche bei meiner Nichte anging. Einmal hatte mich Roseline begleitet, was gut war, denn Lily war mit einem Mal »zu beschäftigt« gewesen, um mich zu treffen, sodass ich Poe nur eine knappe Stunde sehen konnte. Ich war am Boden zerstört, denn ich hatte mir vorgestellt, wie wir zu viert Kuchen essen gehen, den Pike Place Market besuchen, in der Spitze der Space Needle etwas essen. Rosie hatte dafür gesorgt, dass wir trotzdem Spaß hatten – wir aßen Krebse und Lachs, bis wir selber ganz orange waren, fuhren mit dem Kajak auf dem Puget Sound, machten uns beinahe in die Hose, als keine hundert Meter von uns entfernt eine Gruppe Orcas auftauchte, und kicherten hysterisch vor Angst und Begeisterung.

Aber im Hinterkopf war immer dieser Gedanke: Wenn Lily nur hier wäre. Das nenne ich mal ein Abenteuer! Wenn es nur wieder wäre wie in alten Zeiten. Tatsache war, die alten Zeiten waren zu dem Zeitpunkt schon über zehn Jahre alt gewesen.

»Und wie geht es Lily?«, fragte ich, als klar war, dass meine Mutter sie nicht erwähnen würde.

Sie hielt den Blick fest auf die Straße gerichtet. »Sie sitzt im Gefängnis, Nora. Was glaubst du wohl?«

Ich atmete tief ein, bevor ich weitersprach. Ich wusste, dass sie im Gefängnis war. Da musste meine Mom nicht so arschig sein. »Kommt sie einigermaßen klar? Hast du sie besucht?«

»Jaja, ihr scheint es ganz gut zu gehen.«

Gut? Wirklich? War sie am Boden zerstört? War ihr Herz gebrochen? War sie von Reue erfüllt oder wütend? Ja, vermutlich war sie wütend. Das war sie ja seit vierundzwanzig Jahren, zumindest soweit ich das beurteilen konnte. Seit dem Tag, an dem unser Vater uns verlassen hatte.

Innerhalb von drei Monaten nach ihrer Ankunft in Seattle hatte Lily sich tätowieren, piercen und schwängern lassen. Sie hatte eine ganze Reihe Liebhaber gehabt. Poes Vater hatte ich nie kennengelernt, und soweit ich weiß, hatte Poe das auch nicht. Lilys beruflicher Lebenslauf war ziemlich bunt – Barista (natürlich, immerhin lebte sie in Seattle), Managerin für eine örtliche Band, Zeitarbeiterin, noch mal Barista, Tattookünstlerin.

Außerdem war meine Schwester eine Kleinkriminelle. Identitätsdiebstahl, Kreditkartenbetrug und Drogenhandel, wobei die Legalisierung von Marihuana ihrem Geschäft einen erheblichen Schlag versetzt hatte. Ich hatte nichts davon gewusst und es erst letzten Monat erfahren, als meine Mutter mir erzählte, sie müsse nach Seattle fliegen und Poe zu sich holen, weil meine Schwester zu zwei Jahren Knast mit Aussicht auf Entlassung im August bei gutem Betragen verurteilt worden war.

Die Beantown Bug Killers hatten mir einen Plan geschenkt: auf Scupper Island bleiben, bis Lily aus dem Gefängnis kam. Dann würde sie entweder hierherkommen, um ihre Tochter zu holen, oder ich würde mit Poe zu ihr fliegen. Und die Dinge … geraderücken.

Wie, war mir allerdings noch nicht ganz klar.

Wir bogen auf den Schotterweg ein, der zu unserem Haus führte, und ich presste meinen Arm fest an meine Brust, um die Erschütterungen so gut es ging abzufedern. Mein Schlüsselbein schmerzte. Mom warf mir einen Blick zu, sagte aber nichts. Boomer jaulte auf dem Rücksitz vor Aufregung, weil er spürte, dass wir unserem Ziel ganz nah waren. Der Wagen fuhr durch ein Schlagloch, und ich atmete scharf ein. In meinem Knie und in meiner Schulter flammte glühend heißer Schmerz auf. Mein Rücken tat auch weh und fühlte sich dank der geprellten Nieren schwer und dumpf an. Hoffentlich würde ich nachher kein Blut im Urin haben.

Und da war es. Mein Zuhause. Ein bescheidenes, mit grauen Schindeln gedecktes Cape-Haus mit einer überdachten, von Fliegengittern eingerahmten Terrasse auf der einen Seite. Es sah beinahe noch genauso aus wie an dem Tag, an dem ich es verlassen hatte. Nur die Büsche davor waren größer als in meiner Erinnerung.

Ich war so lange fort gewesen.

Meine Mom bog auf die ungepflasterte Einfahrt ein – wir hatten keine Garage – und stellte den Wagen ab. Sie stieg aus und öffnete die hintere Tür, um Boomer herauszulassen, der sofort aus dem Auto sprang, um zu schnüffeln und sein Territorium zu markieren.

Lily und ich dachten eine Zeitlang, unser Zuhause wäre der magischste Ort auf Erden – das Geräusch der Meisen und Krähen und Möwen, das eiskalte Meer, das ein paar Hundert Meter entfernt gegen die Felsen schlug, die grauen Seelöwen, die mit ihrem Nachwuchs die Küste besuchten. Der Wind kratzte und röhrte beinahe konstant über den Himmel, und im Winter gesellte sich ein Heulen dazu. Der Garten bestand aus einem Teppich aus Kiefernnadeln, und dahinter gab es nur den Wald und das Meer. Die Krazinskis waren unsere nächsten Nachbarn, und ihr Haus befand sich eine halbe Meile entfernt. Lily und ich – und manchmal auch Dad – saßen oft stundenlang auf den Bäumen oder in unseren selbst gebauten Festungen und warteten darauf, Tiere zu sehen – Füchse, Rehe, Fasane, Streifenhörnchen, Stachelschweine und Waschbären.

Ich öffnete die Wagentür, und sofort stieg mir der dichte, reiche Duft von Kiefern und Holzrauch in die Nase.

Auch wenn ich nicht so weit gehen würde zu sagen, es war gut, wieder daheim zu sein – noch nicht –, so wusste ich doch, dass ich genau hier sein musste.

Mein Versuch auszusteigen endete dank der Manschette, die es mir unmöglich machte, mein Knie zu beugen, damit, dass ich sofort wieder auf den Sitz zurückplumpste, was mein Schlüsselbein so erschütterte, dass der Schmerz mir bis in die Fingerspitzen schoss.

Hilflos zu sein war ätzend.

Und meine Mutter war nicht die liebevollste Pflegerin. Sie hatte mit meinen Koffern bereits den halben Weg zum Haus zurückgelegt. »Mom? Kannst du mir kurz helfen?«

»Poe!«, rief sie. »Komm raus und hilf deiner Tante!« Damit verschwand sie im Inneren des Hauses.

Der Wind wehte in Böen, schnitt durch meine Jacke, presste mich in den Sitz, während ich versuchte, doch noch alleine auszusteigen. Der Hund aller Hunde kam, um nach mir zu sehen, und ich tätschelte seinen Kopf mit meiner guten Hand. Hunde schlugen Menschen jedes Mal um Längen. »Bist du mein Hübscher?«, fragte ich, und er wedelte zustimmend mit dem Schwanz, bevor er wieder davontrottete.

Endlich ging die Tür auf, und meine Schwester kam heraus.

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