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Der Stoff, aus dem Träume sind

Als Buch hier erhältlich:

Efeugrün, verwoben mit einem hauchzarten himmelblauen Faden – als Claire das Jackett in einem Londoner Vintage-Laden entdeckt, weiß sie sofort, dass es von der kleinen schottischen Hebrideninsel Barra stammt. Fast ein ganzes Leben ist es her, dass sie dort aufgewachsen ist. Ein Leben für die Mode, voller großer Pläne, Hoffnungen und Fehler. Und plötzlich lassen Claire die Erinnerungen nicht mehr los. Vielleicht ist jetzt endlich die Zeit gekommen, sich ihrer Vergangenheit zu stellen und verschüttete Träume zu bergen.

  • »Ein sehr emotionaler und spannender Roman mit Rückblenden, die ins Nachkriegs-England und in die Modewelt entführen.« Mainhattan Kurier
  • »Eine schöne und unterhaltsame Geschichte.« Schweizer Familie

  • Erscheinungstag: 01.08.2018
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955767952
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

I will not cease from mental fight,

Nor shall my sword sleep in my hand,

Till we have built Jerusalem,

In England’s green and pleasant land.

William Blake

We are such stuff

As dreams are made on,

and our little life

Is rounded with a sleep.

Shakespeare

Prolog

Claire 1946

Mein Großvater wandte sein Profil dem Meer zu, und so nutzte ich die seltene Gelegenheit, ihn in dieser Umgebung zu betrachten. Sein zerfurchtes Gesicht glich den zerklüfteten Steinen um ihn herum. Es sah aus, als hätte es die Zeit genauso aus Wind und Wellen geformt wie die Landschaft. Mir fiel auf, wie selten ich ihn bei Tageslicht sah. Fast immer saß er an seinem Webstuhl in seinem kleinen Haus, wenn er sich nicht gerade um seine Hühner und Schafe kümmerte. Er hatte nicht viel Gelegenheit, aufs Wasser zu schauen. Die Menschen auf den Äußeren Hebriden waren Überlebenskünstler, die ein einzelner Job nicht ernährt hätte. Wer seine groben, starken Hände ansah, konnte sich nicht vorstellen, wie sanft er zarte Fäden hindurchfließen lassen konnte. Wenn mein Großvater neues Garn erhielt, dann zeigte er es mir, und ich staunte jedes Mal. Es war unglaublich, dass daraus ein so unverwüstliches Gewebe wie der Tweed entstehen würde. Doch ich konnte dem Stoff beim Entstehen zusehen, wenn mein Großvater an seinem Webstuhl arbeitete.

Am Ende würde jemand einen Mantel besitzen, der ein Leben lang hielt. Es scherte meinen Großvater nicht, dass er mit der perfekten Qualität seiner Arbeit den eigenen Untergang einläutete. Ich vermute, dass ihm der Gedanke, dass sich niemand neue Kleider kaufte, wenn die alten zu gut gemacht waren, nicht einmal gekommen war. Wenn er webte, dann tat er es mit allen Sinnen, mit seinem ganzen Geist. Seine vollkommene Hingabe ließ keinen Raum für müßige Gedanken. Doch an jenem Tag hatte er sich die Zeit genommen, mich auf einen Spaziergang mitzunehmen. Er wolle mich etwas fragen, hatte er gesagt. Doch vorerst schwieg er und schaute aufs Wasser.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, und ich, die weniger Geduld hatte als der alte Mann, wurde unruhig. Schließlich aber sprach er doch. »Ich mache mir Sorgen.«

»Warum?« Ich sah ihn verdutzt an.

»Behandelt dein Vater euch gut?«

Ich senkte überrascht den Blick, um nachzudenken. Dafür all der Aufwand, die Wanderung ans Meer und all das Schweigen?

»Er ist für mich da«, sagte ich dann. Das war nicht ganz die Antwort auf das, was er gefragt hatte. Aber es war die Wahrheit. Seit mein Vater vor einem halben Jahr aus dem Krieg heimgekehrt war, machte er keinen Hehl daraus, dass ich ihm von allen Familienmitgliedern das liebste war. Doch das wollte ich nicht sagen, es hätte zu eitel geklungen. Und schließlich war es doch mein Großvater, der mir die Kraft der sparsamen Worte vorlebte. Schlichte Sätze ohne ein einziges Wort zu viel ließen kaum Raum, in den man dringen konnte. Sie schienen ihm zu genügen, diese wenigen Worte. Ohne den Blick vom Meer zu wenden, nickte er knapp. Ich sah es aus den Augenwinkeln, während auch ich meinen Blick über den Horizont schweifen ließ. Ich fragte mich, ob mein Großvater sich in dieser Stille auch manchmal so unruhig fühlte wie ich selbst jetzt in diesem Moment. Doch für ihn schien das Gespräch beendet zu sein.

Diese Insel drückte einfach allem ihren Stempel auf, ging es mir durch den Kopf. Was mit ihr in Berührung kam, wurde schroff, rau und wetterbeständig. Die Felsen und die Vegetation, die Gesichter und der Stoff, der den Körper verbarg. Der oberflächliche Betrachter sah nur das. Doch es machte sich sowieso kaum jemand die Mühe, auf die Inseln zu kommen und genau hinzuschauen. Wenn man ganz nah an die Dinge herantrat und sich Zeit nahm, offenbarte sich einem ein kleines Wunder. Das Farbenspiel, die vielen Facetten der Schönheit in dieser Kargheit. Mir waren sie früh aufgefallen, und mein Großvater hatte mir immer mehr davon gezeigt. Ich dachte, wir wären so etwas wie Partner. Nur einmal hatten wir einen Streit.

Er hatte ein Buch gelesen. Bücher waren sein einziger Luxus und eine ungewöhnliche Beschäftigung für einen Weber. Doch wenn er ein wenig Zeit erübrigen konnte, steckte er seine Nase zwischen die staubigen Seiten. Er liebte alte Sagen und alles, was ihm die Natur erklärte. Doch letztendlich war es ihm egal. Er las das vollständige Sortiment gebrauchter Bücher, das ihm der Besitzer der Stoff-Fabrik, die mein Großvater belieferte, jedes Jahr zu Weihnachten in einer Kiste auf die Insel schickte. Es war dessen besonderer Dank an seinen zuverlässigsten Weber. Vielleicht hing die Schwäche meines Großvaters für bestimmte Werke mit seiner Berufung zusammen – dichten war wie weben, und Gott war in seinen Augen wohl der größte Dichter.

Mit einem dieser Bücher hing unser Streit zusammen. Mein Großvater hatte mir in einem ungewohnten Redefluss voll frischer Faszination zu erklären versucht, dass keine der Farben existierte, die wir sahen. Das Moos-, Efeu-, Lind- und Farngrün des Stoffs, an dem er an dem Tag gearbeitet hatte – alle diese Farben sollte es nicht geben, ebenso wenig wie das Pink, Magenta und Violett der gepunkteten Hebriden-Orchideen, die ich so oft zu einem Strauß band, um den Tisch zu schmücken.

»Ein Gegenstand«, so sagte er, »scheint nur deshalb eine bestimmte Farbe anzunehmen, weil er alle anderen Farben des Lichts verschluckt. Nur unser Gehirn erschafft das Graublau des Wassers und die weißen Schaumkronen darauf.«

Zuerst glaubte ich ihm nicht. Märchen oder Wissenschaft – beides existierte für mich nur in Büchern, eines so wirklich wie das andere. Schwarze Zeichen auf weißem Grund, deren Verfasser man nicht kannte. Warum sollte man also an das eine glauben und an das andere nicht?

Weil mein Großvater aber darauf beharrte und weil er nie log und sich selten irrte, vermutete ich schließlich, dass es wahr sein musste. Doch in einem letzten Aufbäumen wehrte ich mich, indem ich ihn weinend anschrie. Noch nie zuvor hatte ich so etwas getan, einen Erwachsenen angeschrien. Noch dazu meinen Großvater. Der alte Mann war entsetzt gewesen. Er hatte geglaubt, seiner Lieblingsenkelin eine neue Welt zu eröffnen. Stattdessen hatte es sich für mich angefühlt, als hätte er mir meine Welt für immer verschlossen.

»Was ist mit dir?«, hatte er mich gefragt.

Ich fühlte mich betrogen und beraubt. »Heißt das, ich kann all das niemals wirklich sehen – ich meine, so wie es ist?« Niemals würde ich meine Insel durch die Facettenaugen einer Biene betrachten können oder mit dem scharfen Weitblick des Seeadlers, damit hatte ich mich abgefunden, aber dass mir das wahre Antlitz unserer Erde unbekannt bleiben sollte, weil kein Auge jemals die Wahrheit sah, traf mich zutiefst. »Ich werde nie wieder Spaß daran haben, weißt du das? An den Farben, die wir uns immer ansehen, meine ich.« Mein Großvater strich mir sanft über das Haar, während ich weiter weinte. »Warum musstest du mir alles verderben?«

»Alles verderben?«, fragte er. Dann schwieg er wieder eine Weile, bis ihm anscheinend ein Gedanke kam: »Was wäre denn eine Welt ohne Geheimnisse? Ist dir das Wunder, dass wir leben und auf diese Art sehen können, nicht groß genug? Gönnst du den Dingen nicht auch ein kleines Geheimnis, das sie mit niemandem teilen möchten?«

Ich schüttelte den Kopf, allerdings nicht mehr mit der gleichen Überzeugung wie zuvor. Seine Worte hatten mich in einen Zwiespalt gestürzt – ich fühlte mich undankbar in dieser aufkeimenden Gier nach mehr, doch zugleich gab ich ihm die Schuld daran. Hätte er wie so oft einfach geschwiegen, hätte ich nicht gewusst, dass es mir an etwas mangelte.

Mittlerweile war unsere Auseinandersetzung fast ein Jahr her. Mein Großvater hatte kurz darauf begonnen, mich in den verschiedenen Nuancen des »Lichtwunders« zu schulen – bis ich seine Faszination nicht nur verstand, sondern sie mir am Ende sogar zu eigen machte.

Der alte Mann brachte mir bei, mehr zu sehen als die meisten Menschen. Und so gab er mir das Gefühl, dass ich die menschliche Gabe, auf eine bestimmte Art auf meine Umgebung zu blicken, zumindest voll ausnutzte. Auch die Insel sah ich mit neuen Augen, und so konnte sie wieder zu dem werden, was sie vor der beunruhigenden Entdeckung gewesen war, nämlich nicht nur die schönste von allen, sondern überhaupt der einzig denkbare Ort. Dies hier war alles. Die Insel war mit dem Meer verbunden und darüber mit der ganzen Welt. Ich hatte alles, was ein Mädchen sich nur wünschen konnte. Meine Großeltern, meinen Bruder, meine Eltern, die Landschaft, die Farben und die Stoffe meines Großvaters, die ich immer wieder ehrfürchtig berührte, bevor er sie an die Fabrik versandte.

Nur manchmal zweifelte ich an dieser Endgültigkeit. Meist dann, wenn ich nachts allein im Dunklen lag. Aber dann sagte ich mir, dass es nur daran lag, dass ich von meinem wichtigsten Sinn abgeschnitten war und er mir fehlte, so unvollkommen er auch sein mochte. Dass allein die Dunkelheit mir die Gewissheit nahm. Und manchmal sah ich dann am Tag tatsächlich klarer.

1. Kapitel

Vivian 2017

Die Minuten, bevor sie den Laden öffnete, waren für Vivian die schönsten ihres Arbeitstages. Sie nutzte die Ruhe im »Vintage Rose«, um ein Foto ihres Sohnes Ethan in ein Album einzukleben, das sie mit himmelblauem Stoff überzogen hatte. Dieses Album war schon das fünfte seiner Art, für jedes seiner bisherigen Lebensjahre besaß sie eines. Jeden Morgen knipste sie ein Bild von ihm, ließ es auf dem Arbeitsweg ausdrucken und klebte es ein.

Wehmütig blätterte sie durch die Seiten. Wie konnte es sein, dass ihr kleiner Sohn heute genauso aussah wie am Tag zuvor – und doch ganz anders als auf jenem allerersten Bild, das ihn am Tag seiner Geburt zeigte? Wann genau hatte sein Gesicht diese Veränderungen vom pausbäckigen Baby zum zierlichen Kleinkind vollzogen? Es musste in einem Moment passiert sein, in dem sie und die Kamera weggeblickt hatten. Einem Moment, in dem sie keinen Einfluss darauf gehabt hatte, was mit ihm geschah. Diese Augenblicke, in denen sie ihn nicht erreichen konnte, machten ihr immer noch Angst.

Jede Nacht, wenn er in den Schlaf und damit von ihr weg in eine eigene Welt glitt, hoffte sie, dass er dort auf schöne Bilder traf oder dass ihn eine Traumversion von ihr beschützte, wenn er einmal in dunklere Gefilde geriet.

Vivian klappte seufzend das Album zu und ließ ihren Blick schweifen, betrachtete pastellfarbene Brokatmäntel aus den Fünfzigern, kastenförmige Kleider mit harten Farbkontrasten aus den Sechzigern und die bodenlangen Polyester-Gewänder der Siebziger. Auch die Schaufensterpuppen hatte ihre Chefin Rose gebraucht gekauft, sodass sie die Kleidung für jedes Jahrzehnt am passenden Körper drapieren konnten. Die 1920er- und 1960er-Jahre waren spindeldürr und die Fünfzigerjahre mindestens genauso unnatürlich kurvig. Es gab Frauen, die hätten sich hier im Paradies gewähnt. Für Vivian waren es alte Klamotten, sonst nichts.

Dieser Job war zu ihr gekommen, als sie Geld gebraucht hatte, und dafür war sie dankbar, nicht mehr und nicht weniger. Sie musste ihr Kind versorgen. Kaum etwas anderes beschäftigte sie, seit Ethan auf der Welt war.

Die Idee zu dem Fotoalbum hatte sich bereits in Vivians Kopf eingenistet, als Ethan gerade einmal eine halbe Stunde auf der Welt gewesen war und schläfrig in ihren Armen gelegen hatte. Diese Augenblicke würden zu schnell vergehen, das war ihr trotz ihrer Erschöpfung schlagartig bewusst geworden. Diese überwältigenden ersten Stunden mit diesem kleinen Menschen – so fremd, so vertraut, so verknautscht, so wunderschön, so unschuldig, so fordernd.

Nichts hatte sie auf dieses Wunder vorbereitet. Vor lauter Staunen hatte Vivian sogar vergessen, dass Ethans Vater sie vier Wochen zuvor verlassen hatte. Er wollte doch kein Kind, sondern lieber eine neue Freundin. Bis zum Abend vor der Geburt hatte sie deswegen so sehr gelitten, dass sie gerade so viel gegessen hatte, dass das Wesen in ihr keinen Nährstoffmangel erleiden musste. Und auch wenn sie es niemandem erzählt hatte, insgeheim hatte sie sich vor Ethans Ankunft gefürchtet. Es war ein befremdlicher Gedanke gewesen, ihr restliches Leben mit einem noch völlig unbekannten männlichen Wesen zu verbringen.

Die besten Voraussetzungen für eine Wochenbett-Depression, hatte sie gedacht. Doch es war anders gekommen. Statt Leere oder gar Abneigung zu empfinden, sah sie sich aus dem Nichts von einer so tiefen Liebe überrumpelt, dass sie diese im Alltag oft verbarg, um keinen Spott zu ernten. Um die kostbaren Momente mit ihrem Sohn zu bewahren, klebte sie jeden Morgen die Fotos ein. Sie wollte gerade noch einmal zu dem Album greifen, da betrat eine Kundin den Laden.

»Guten Morgen«, rief Vivian mit ihrer immer fröhlichen Verkäuferinnenstimme. Sie versuchte, die richtige Mischung aus Offenheit und Zurückhaltung in ihren Blick zu legen. Zu oft hatte sie beobachtet, dass Menschen sich unbehaglich fühlten, wenn sie die einzigen Kunden in einem Geschäft waren. Diese Frau – eine alte Dame – gehörte nicht zu ihnen. Stattdessen grüßte sie knapp und musterte Vivian mit einer Unerbittlichkeit, bei der diese sich wie ein Insekt unter einem Mikroskop fühlte.

Nachdem die Kundin ihr Revier abgesteckt hatte – und ihr Revier war sicher überall dort, wo sie sich gerade aufhielt –, schenkte sie Vivian keinen zweiten Blick. Zielstrebig ging sie zum Schaufenster und untersuchte die Rückseite des schwarzen Spitzenkleides, das eine der glatzköpfigen Puppen trug. Vivian beobachtete sie unauffällig. Diese Frau war nicht häufig Gast in Läden wie diesem, das sah man auf den ersten Blick. Sie trug einen Wollmantel, den vor ihr ganz sicher keine andere getragen hatte. Er war beige und hätte den biederen Chic verströmen können, für den sich viele ältere Frauen entschieden. Doch irgendetwas an der Farbe ließ die Haut der Dame leuchten und sie frisch aussehen. Und er machte einen maßgeschneiderten Eindruck – als wäre er Teil der Frau und könne nur von ihr getragen werden.

Plötzlich hielt die Kundin inne, und Vivian wollte schon ertappt die Augen senken. Doch nicht sie, sondern etwas auf dem Garderobenständer vor ihr hatte die Aufmerksamkeit der Frau erregt. Bestimmt und doch leichtfüßig ging sie durch den Raum. Vivian hörte kaum das Klappern ihrer Absätze. Als die alte Dame den Ärmel eines Herren-Tweed-Jacketts in die Hand nahm, schien sich etwas im Raum zu verändern. Leise und nicht greifbar, wie die Luft kurz vor einem Gewitter. Vivian wurde nervös. Die Frau nahm das Jackett in beide Hände, schlug es auf und betrachtete das Etikett. Nach einer längeren Zeit des Versunkenseins blickte sie Vivian so direkt in die Augen, dass diese zusammenzuckte.

Die Frau hängte das Jackett zurück und deutete auf das schwarze Kleid. »Das hier nehme ich.« Ihre Ungeduld war deutlich zu spüren, als Vivian die Schaufensterpuppe entkleidete. Ein Hauch von Rosenduft wehte ihr entgegen, als Vivians Ellbogen den Mantel der Kundin streifte.

Der dezente Duft wirkte so echt, dass er Bilder von blühenden Sommergärten in Vivians Kopf malte. Schnell zog sie der Puppe das Kleid über den Kopf, legte es sich sorgfältig gefaltet über den Arm und fragte: »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

»Nein«, entgegnete die Frau und sah Vivian an, als hätte sie eine überaus dumme Frage gestellt. »Ich brauche die Knöpfe«, erklärte die Kundin plötzlich. Vivian blinzelte verwirrt.

Warum rechtfertigte sich die Frau für ihren Kauf? Kundinnen wie diese war sie nicht gewohnt. Meist kamen junge Frauengruppen. Sie kicherten viel, während sie sich vor den Umkleidekabinen gegenseitig in den Kleidern betrachteten, und fotografierten sich mit ihren Handys, von denen Vivian wusste, dass sie hinterher auf allen Kanälen im Internet zu sehen sein würden. Vivian konnte den Drang, alles zu teilen, nicht nachvollziehen. Sie selbst behielt die erinnerungswürdigen Momente lieber für sich. Es kam ihr vor, als würde eine endlose Vervielfältigung sie ihrer Kraft berauben.

Manche Frauen suchten hier aber auch ein Stück, das ihrem Outfit den besonderen Schliff verleihen sollte. Sie trugen ihr Vintage-Kleid dann mit einem nachlässig hochgebundenen Dutt oder der Flechtfrisur ihres Lieblings-Promis, vielleicht kombinierten sie es außerdem mit einer Lederjacke oder schweren Stiefeln – wie sie es auf irgendeinem Blog gesehen hatten.

Vivian war nie in Gefahr gewesen, für trendbewusst gehalten zu werden. Sie trug jetzt mit dreißig die gleiche, nicht besonders akkurat geschnittene Bob-Frisur wie mit sechzehn. Meine Haare könnten mal wieder geschnitten werden, dachte Vivian plötzlich. Die Frau musterte sie schon wieder so abschätzig, während sie das Kleid verpackte. Vivian mochte den Hauch von Nostalgie, der von den rosafarbenen Papiertüten ausging, auf die in schnörkeliger Schrift der Name des Ladens gedruckt war. An diesem Tag, unter dem strengen Blick ihrer Kundin, war Vivian sich nicht mehr so sicher, ob sie wirklich geschmackvoll waren.

Nachdem die Frau den Laden verlassen hatte, holte Vivian erleichtert Luft. Gleichzeitig war ihr der Raum noch nie so leer erschienen wie in diesen Minuten, nachdem die Glocken erneut gebimmelt hatten und die Tür langsam zugefallen war. Neugierig ging sie zu dem alten Jackett. Sie zupfte am Ärmel, dann sah sie auf das Etikett. Enttäuscht entdeckte sie – gar nichts. Nichts, was dieses Kleidungsstück in irgendjemandes Augen zu etwas Besonderem hätte machen können. Ein kratziges Altherren-Jackett. Es roch auch so – nach nassem Hund und modrigem Duftwasser. Trotzdem zog das Jackett den ganzen Tag lang immer wieder Vivians Blick auf sich.

2. Kapitel

Claire 2017

Claires Kleiderschrank war verglichen mit dem anderer Frauen winzig. Sie brauchte nicht viel Platz, denn sie bewahrte nichts auf, was überflüssig war. Für jede Jahreszeit hatte sie eine eigene kleine Garderobe. Die Stücke für Frühling, Sommer, Herbst und Winter unterschieden sich farblich nur durch winzige Nuancen. Ein ungeschultes Auge hätte sie nicht wahrgenommen. Doch Claire wusste, dass diese winzigen Abweichungen dafür sorgten, dass die Kleidung ihrem Hautton sowohl in der Frühlingssonne als auch im Herbstlicht schmeichelte. Ihre Farben waren immer Creme, Beige, Feuerrot und Grün gewesen. Das Wollgras, die Flechten, die Fackel-Lilien und das Moos ihrer alten Heimat.

Der Kleiderschrank war eine Spezialanfertigung aus Buchenholz. Claire fand, Buche passe zu ihr. Sie war hart und wenig biegsam. Dort, wo sie ursprünglich herkam, auf den Äußeren Hebriden, gab es viele Buchen, auch wenn die Leute dachten, es handele sich um karge Landschaften am Rande der Welt. Sie irrten sich.

Als sie in dem Vintage-Laden das Jackett gesehen hatte, hatte sie es sofort erkannt, das Efeugrün, das mit einem hauchzarten himmelblauen Faden verwoben war. Beinahe hätte sie das Kleidungsstück gekauft, wenn der neugierige Blick der jungen Verkäuferin sie nicht plötzlich aus ihrem Schwebezustand zwischen Vergangenheit und Gegenwart gerissen hätte. Stattdessen hatte sie sich dann für das einzige Stück entschieden, das ihr in diesem Moment wirklich von Nutzen schien.

Sie hatte am Morgen die Einladung zu einer Beerdigung erhalten, und an ihrem schwarzen Kleid fehlte ein Knopf. Es war ihr schleierhaft, wie der einfach so hatte verschwinden können, denn sie pflegte ihre Kleidung akribisch. Nun würde sie alle Knöpfe ersetzen müssen. Nur deswegen hatte sie das Stück aus dem Vintage-Laden gekauft.

Sie zog ihr altes schwarzes Kleid an und betrachtete sich im Spiegel. Es saß wie früher. Ihr Gewicht hatte sich kaum verändert, vielleicht wirkten deshalb ihre Konturen ein wenig eingefallen. Eine Bekannte von ihr, Catherine, sollte einmal gesagt haben, dass eine Frau sich in höherem Alter zwischen ihrem Gesicht und ihrem Hintern entscheiden müsse. Catherine, die von manchen nur ehrfürchtig »la Deneuve« genannt wurde, sah heute sogar fast jünger aus als vor zehn Jahren.

Claire selbst hatte sich für ihre Garderobe entschieden. Alles andere hätte geheißen, sich gehen zu lassen.

Ich hätte mir heute Nachmittag den Friseurbesuch sparen sollen, stellte sie ärgerlich fest. Das Silbergrau hatte elegant gewirkt, das neue Rehbraun hingegen sah der Haarfarbe ihrer Jugend zwar ähnlich, wich aber dennoch so sehr ab, dass es nicht vorteilhaft für ihr Gesicht war. Ich sehe aus wie eine alte Frau, die sich vergeblich an ihre Jugend klammert. Sie verzog angewidert das Gesicht.

Claire hatte sich nie lange mit Illusionen aufgehalten. Wasser und chemische Verbindungen – das ist der menschliche Körper. Claire wusste, dass es nicht der Mühe wert war, sich an irgendetwas zu klammern, schon gar nicht an eine Haarfarbe. Irgendwo im Schatten wartete er schon, der Sensenmann.

Claire sah ihr Spiegelbild spöttisch lächeln. Der Sensenmann, so hatte ihn ihre Großmutter immer genannt. Er saß schon in Claires Augen, die immer weniger sahen, im leichten Stechen im Oberbauch, das womöglich auf Herzprobleme hindeutete, in der Steifheit ihrer Gelenke, die auch im Lauf des Tages nicht mehr verschwand. Vielleicht bleiben mir noch zehn Jahre, vermutete sie. Zehn Mal Frühling, Sommer, Herbst und Winter, das ist so gut wie nichts. Und nicht viel länger danach würde es bedeutungslos sein, dass sie jemals existiert hatte. Dieses Wissen hatte sie nie melancholisch gemacht, sondern immer ermutigt, Dinge zu tun, die sich andere nicht trauten.

Nur in letzter Zeit verspürte sie bei dem Gedanken ein leichtes Flattern in der Magengegend. Vielleicht hatte sie deshalb in Erwägung gezogen, der Einladung zu Mr. Browns Beerdigung zu folgen.

Die Karte in ihrer Tasche war von Lydia verschickt worden. Mit dem Hinweis, dass Claires Erscheinen auf dem Friedhof ausdrücklich Mr. Browns letzter Wunsch gewesen sei. Claire hörte förmlich, wie Lydia sie anschrie: »Mein Wunsch war es nicht, hörst du?«

Die Tochter, die Claire mit Charles Brown bekommen hatte – vor einer Ewigkeit. Mittlerweile war Lydia selbst schon sechsundfünfzig Jahre alt. Ganz sicher wollte sie Claire, ihre Mutter, nicht sehen.

Als sie die schwarzen Knöpfe für ihr Kleid gesehen hatte, hatte Claire den Entschluss gefasst, sich von der widerwilligen Einladung nicht abschrecken zu lassen. Zumindest hatte sie jetzt die Gelegenheit, ein perfekt dezentes Kleid für diesen Anlass zu tragen. War es mutig, sich ihrer Tochter zu stellen? Oder war es ein Zeichen von Schwäche, sich noch etwas zu erhoffen?

Claire war sich nicht sicher. Letzteres erschien ihr wahrscheinlicher. Es war Unsinn, plötzlich mit dem Gedanken zu spielen, was hätte sein können oder was in Zukunft sein könnte. Zumal sie die Antwort kannte: Nichts würde sein. Und da sie, seit sie ihr erstes Paar Knickerbockers aus den Soldatenhosen ihres Vaters geschneidert hatte, nie eine Verschwenderin von Zeit, Geld oder Gefühlen gewesen war, fasste sie den Entschluss, das gekaufte Kleid morgen zurückzubringen.

Sie würde sich nicht mit einer Trauer schmücken, die ihr nicht zustand, und deshalb der eigentlichen Feier fernbleiben. Charlie. Charlie Brown, der Mann, der wie eine Cartoon-Figur hieß. Für einen Moment sah sie ihn vor sich und spürte überrascht, wie ihre Augen feucht wurden. Ein kräftiges Blinzeln löste das Problem.

Sie würde jetzt einfach mit einem Buch ins Bett gehen und dann einschlafen. Schon seit vielen Jahren las sie nur noch Bücher, die sie bereits kannte, als lohne es sich nicht, noch etwas Neues zu erfahren oder einen fremden Gedanken nachzuvollziehen. Mittlerweile beruhigten sie Wiederholungen. Die Zeit der Abenteuer war vorbei.

3. Kapitel

Vivian 2017

Manchmal fühlte Vivian sich einsam. Nicht an den Abenden, an denen sie allein in ihrem Wohnzimmer saß, weil ihr Sohn schon schlief. Es waren eher Abende wie dieser, an denen sie vor allem sich selbst vermisste.

Ihre Freundin Sally war zu Besuch gekommen. »Er hat gesagt, er trennt sich von seiner Frau.«

Wieder dieses Gefühl, vor einem gläsernen Bildschirm zu sitzen und den abgedroschenen Phrasen einer Realityshow zu folgen.

»Das sagt er doch schon seit über einem Jahr«, wandte Vivian schließlich ein – zum bestimmt hundertsten Mal. Aber was sollte sie auch sagen?

Hätte sie den Mann in Schutz genommen, der seine Familie nicht verlassen wollte, hätte Sally das als Verrat aufgefasst. Gäbe sie Sally recht, würde diese ihren Liebhaber mit allen Geschossen verteidigen.

Vivian war sich mittlerweile sicher, dass Richard seine Frau und seine Kinder niemals verlassen würde. Im Gegensatz zu Tim, der keine Hemmungen gehabt hatte, Vivian im letzten Monat der Schwangerschaft für eine Frau, die er kaum kannte, zu verlassen, war Richard offenbar verantwortungsbewusster – oder auch einfach nur fauler, feiger.

»Es ist nicht so einfach«, sagte Sally gerade.

»Wenigstens behauptet er nicht, sie sei an einen Rollstuhl gefesselt oder sonst irgendwie schwer erkrankt.« Vivian selbst erschrak über den bissigen Kommentar, der ihr einfach so rausgerutscht war. Doch Sally ignorierte sie ohnehin.

»Ich werde Weihnachten mal wieder allein verbringen.« Sally seufzte.

Ich langweile mich, dachte Vivian betrübt. Und dann: Ich will nach Hause. Obwohl das Unsinn war, denn schließlich befand sie sich in ihrer Wohnung.

Vivian vermutete außerdem, dass Sally wusste, wie gut ihr Kummer stand – und ihn deshalb mit schwarzem Kajal betonte.

»Vielleicht verlässt er sie ja doch noch«, murmelte Vivian schließlich, angetrieben von schlechtem Gewissen.

»Meinst du wirklich?« Sally sah erfreut aus.

»Aber vielleicht erst nach Weihnachten«, sagte Vivian. Schon wieder eine boshafte Bemerkung, wo kamen die an diesem Tag nur her? »Vielleicht will er seinen Kindern das Fest nicht verderben«, ergänzte sie matt.

»Wir haben Juli«, sagte Sally empört. »Warum sollte er jetzt schon an das Weihnachtsfest denken?«

Vivian sah Sally ungläubig an und unterdrückte mühsam ein Lachen. Beinahe war sie erleichtert, als Sally auf die Uhr sah.

»Oh, ich muss los. Ich bin ganz spontan mit den Mädels verabredet, Krisensitzung. Das von Helen habe ich dir noch gar nicht erzählt. Das mache ich irgendwann mal in Ruhe. Du musst sicher noch einiges erledigen, einen Kuchen für den Kindergarten backen oder so …«

Vivian wusste, dass Sally ihr damit keine Retourkutsche verpassen wollte, sondern den Satz einfach gedankenlos ausgesprochen hatte.

Die »Mädels« waren mal ihre gemeinsamen Freundinnen gewesen – damals, vor dem Kind. Sie werden einen draufmachen, dachte Vivian, sich gemeinsam über Richard empören, viel trinken und dabei jede Menge Spaß haben. Manchmal besuchte eine von ihnen Vivian. So wie jetzt Sally, wenn sie sich über Richard ausweinen wollte, oder Betty, wenn sie mal wieder mit ihren Kolleginnen nicht klarkam. Nur Helen kam gar nicht mehr zu ihr nach Hause. Helen war ihr die liebste ihrer Freundinnen gewesen. Doch seit einer Weile bemühten sie und ihr Mann sich immer verzweifelter, ein Kind zu bekommen. Bei ihren letzten Besuchen hatte sie nur noch schlecht gelaunt auf Ethan geblickt und Vivians Erziehungsmethoden kritisiert. Zuerst hatte Vivian nächtelang darüber gegrübelt, ob sie eine schlechte Mutter war. Doch dann hatte Sally ihr von ihrer Vermutung erzählt, dass Helen neidisch war. Es hatte in Vivians bisherigem Leben nur wenig gegeben, was Missgunst hervorrufen könnte. Deswegen war die Erfahrung neu für sie und schwerer auszuhalten als die mitleidigen Blicke, die ihr als alleinerziehender Mutter ohne nennenswerten beruflichen Erfolg vertrauter waren. Dass es einem anderen in ihrer Gegenwart schlecht ging, wollte sie bestimmt nicht.

Sie war die eifrigste Unterstützerin ihrer Freundinnen, und dass sie heute genervt auf Sally reagiert hatte, lag weniger daran, dass sie deren Affäre verurteilte, als daran, dass sie sich während des Gesprächs in einer Endlosschleife gefangen gefühlt hatte. Vivian verurteilte ohnehin selten andere Menschen.

»Moral ist nur eine Frage der Sympathie«, hatte Vivians Mutter Linda immer gesagt und dabei ihr nonchalantes Lächeln aufgesetzt, mit dem sie ihre sonst so ausgeglichene Tochter zur Weißglut bringen konnte.

Vielleicht hatte ihre Mutter ja in diesem Punkt ausnahmsweise gar nicht so falschgelegen, überlegte Vivian. Sie dachte an eine Sally, die Tim auf offener Straße beschimpft hatte, nachdem er Vivian verlassen hatte. Doch weil Vivian im Gegensatz zu Sally nicht gerne im Mittelpunkt eines Dramas stand, hatte sich bei dem Gedanken an diese Szene noch eine Woche später ihr Magen verkrampft. Ob Sally klar war, dass Richards Frau sich nun in einer ähnlichen Lage befand wie Vivian damals?

»Sehen wir uns am nächsten Wochenende?«, fragte Sally, als sie schon im Flur vor Vivians Wohnungstür stand. Die Freundinnen trafen sich seit dem Studium mindestens einmal im Monat immer in derselben Bar, doch Vivian war schon lange nicht mehr dabei gewesen.

»Ich melde mich noch mal«, sagte Vivian.

»Sicher.« Sally verdrehte die Augen. Ihr Blick streifte dabei das Graffito an der Wand auf dem Flur. »Sag mal, willst du dir nicht endlich mal eine neue Wohnung suchen?«, fragte Sally. »Es kann doch nicht gut für ein Kind sein, so aufzuwachsen. Ich meine, mit neunundzwanzig sind wir doch etwas zu alt, um noch als Hausbesetzer zu leben, oder?«

»Ich arbeite daran«, sagte Vivian mit einem lockeren Lachen, das sogar in ihren Ohren aufgesetzt klang, und umarmte Sally, bevor diese im Treppenhaus verschwand und dabei über den Fahrstuhl fluchte, der nie funktionierte.

Vivian schloss die Haustür. Sally hatte recht. In den vier Jahren, in denen Ethan auf der Welt war, waren die beiden dreimal umgezogen – und es konnte ihr sofort wieder passieren, dass sie innerhalb von zwei Wochen eine neue Bleibe suchen musste. Doch zumindest war es ihr bislang gelungen, Unterkünfte zu ergattern, die im selben Umfeld lagen, sodass Ethan nicht den Kindergarten wechseln musste und zumindest etwas Stabilität erhielt. Bislang schien es ihm nichts auszumachen. Und sie besaßen nicht so viel, dass es besonders anstrengende Umzüge waren. Dennoch legte Vivian jeden Cent zur Seite, um sich etwas anderes leisten zu können, bevor Ethan merkte, dass ihre Wohnsituation ungewöhnlich war. Vorsichtig ausgedrückt. Vermutlich wäre es das Beste, London einfach zu verlassen. Doch Vivian liebte die Stadt, auch wenn sie deren Vorzüge so gut wie nie nutzte. Dennoch mochte sie die unzähligen Möglichkeiten, die sie versprach. Es gab so viele Dinge, die einem das Gefühl vermitteln konnten, ein Teil all dieser Möglichkeiten zu sein. Sie kosteten nicht einmal Geld. Die Museen, die Parks und die vielen kleinen Läden. Sie musste sie nicht betreten, um zu genießen, dass man in einer schwedischen Bäckerei frühstücken und den Tag mit gegrilltem Yak in einer nepalesischen Garküche beenden konnte. Die Gerüche von Zimt und Teig, Curry und Reis, die durch die zur Straße hin geöffneten Fenster der Geschäfte drangen, genügten ihr.

Und Ethan sollte später Zugang zu allem haben, was diese Welt bot, auch wenn ihr der Gedanke manchmal fürchterliche Angst machte. Erst gerade wieder hatte es eine Messerstecherei vor dem Pub um die Ecke gegeben. Dabei war Lambeth ein Bezirk, der sich im Aufschwung befand – wie so viele einstmals verrufene Gegenden in Innenstadtnähe. Und trotz der Graffiti im Treppenhaus war das Haus, in dem sie lebten, keine Bruchbude. Ganz im Gegenteil. Es war ein georgianisches Stadthaus mit Blick auf den Park samt dem Museum of Imperial War. Dass sie und Ethan nie wussten, wie lange sie an einem Ort bleiben durften, war eben der Preis dafür, dass sie hier lebten und nicht in einem der riesigen Häuserblocks voller Sozialwohnungen und Wäsche, die neben der Satellitenschüssel vor dem Fenster auf der Leine flatterte.

Vivian hatte einmal in einer solchen Wohnung gelebt und erinnerte sich an Zigarettenqualm in den Fluren, an den moderigen Gestank des Mülls, der vor den Haustüren verrottete, und an ihre Mutter, die fast den ganzen Tag auf dem Sofa herumlag. Dass sie dabei nicht aufgedunsen und fett gewesen war wie andere Mütter in dem Haus, sondern auf den ersten Blick zart und hübsch, hatte das Bild noch schlimmer gemacht.

Irgendwann hatte Vivian zwar verstanden, dass der flatterhafte Schmetterling, als den sie ihre Mutter sah, der sie mal zart küsste und dann wieder beschimpfte, im Innern unbeugsam war. Es war die Zeit gewesen, in der ihr Vater keinen Job fand. Wegen seiner Rückenprobleme konnte er nicht mehr auf Montage in zugigen Fabrikhallen arbeiten. Später bekam er einen Job als Hausmeister, doch da war ihre Mutter schon seit einem Jahr weg. Hatte sie verlassen, weil sie mit der Situation nicht mehr klargekommen war und ihre Familie ihr offenbar nichts zu bieten hatte, was sie hätte zurückhalten können.

Für Vivians Vater hatte der neue Job bedeutet, dass er seiner kleinen Tochter eine gemütliche kleine Erdgeschosswohnung bieten konnte. Mit der damals neunjährigen Vivian war er in den Häuserblock gezogen, in dem er dafür zuständig war, dass Reparaturen verrichtet und Stromzähler abgelesen wurden. Die beiden hatten nun Zugang zu einer winzigen Grünfläche, aus der er den schönsten Garten zauberte, den Vivian bis dahin gesehen hatte.

Vivian war froh, jetzt mit Ethan in einem Haus wie diesem zu leben, doch Sallys Kommentar nagte an ihr. Sie war keine Hausbesetzerin. Sie war eine Haushüterin. Das war nichts Verwerfliches. Im Gegenteil. Sie half, Häuser wie dieses vor dem Verfall zu bewahren. Für ihre 2,5-Zimmer-Wohnung mit getäfelten Wänden zahlte sie nur dreihundert Pfund im Monat. Die Vertäfelung wirkte vielleicht ein wenig düster, aber es war echtes Eichenholz. Die Besitzer hatten außerdem grüne Bankerlampen und ein angestaubtes Chesterfield-Sofa hinterlassen, das Vivian wirklich gefiel. Trotz all dieser Vorzüge beneidete sie manchmal die Agentur, die ihr diese Wohnung vermittelt hatte, um ihre Gewitztheit. Die kassierte kurzerhand an zwei Fronten ab. Sie bekam nicht nur die kleinen Summen von den Bewohnern, sondern erhielt von den Besitzern der leer stehenden Häuser jeweils noch den vierfachen Betrag dafür, dass sie Mieter fand, die Hausbesetzer fernhielten. Solche wieder zu vertreiben war nach britischem Recht nämlich fast unmöglich, so hatte man Vivian erklärt. Deshalb war es wichtig, dass man unter Kontrolle behielt, wer in den Häusern wohnte. Vivians erste Wohnung dieser Art – in einem ehemaligen Sanatorium – war ein wenig beklemmend gewesen, aber seither hatte sie Glück gehabt. Was machte es da schon, dass Vivian laut Vertrag nicht ohne Ankündigung Urlaub machen, keine Partys feiern und innerhalb von vier Wochen auf die Straße gesetzt werden durfte? Auch dass es in ihrem Schlafzimmer weder Heizung noch elektrisches Licht gab, nahm sie in Kauf. Sie mochte ohnehin keine Heizungsluft im Schlafzimmer.

Und das Graffito im Flur war keine Schmiererei, sondern kunstvoller Ausdruck der Sehnsucht eines Stadtbewohners. So hatte es ihr der Nachbar erklärt, der es aufgesprüht hatte, und Ethan gefiel es. Es zeigte den Weltraum, in dem zwischen den Sternen Urwälder, Strände und Wasserfälle in Seifenblasen schwebten.

Natürlich würde sie nicht immer Haushüterin sein, irgendwann würde Ethan das befremdlich finden.

Vivian schaute auf die Uhr. Gleich würde das Telefon das erste Mal klingeln. Abends arbeitete sie für ein Sorgentelefon, so war ihr Psychologie-Bachelor zumindest ein wenig nützlich, auch wenn sie das Studium kurz vor ihrer Masterarbeit abgebrochen hatte.

Alle Mitarbeiter des Sorgentelefons hatten in irgendeiner Form eine psychologische Ausbildung. Dadurch war die Einrichtung kein ehrenamtliches Angebot von Laien, und den Anrufern durfte eine Gebühr berechnet werden. Auf der Homepage des Anbieters konnte man die Fotos und Qualifikationen derjenigen einsehen, die aktuell für ein Gespräch zur Verfügung standen. So konnten die Anrufer wählen, welcher der Mitarbeiter ihnen am passendsten erschien oder am sympathischsten wirkte.

Vivian sah auf ihrem Foto sehr freundlich, aber nicht zu hübsch aus. Vielleicht bekam sie deshalb so viele Anrufe von Frauen. Die Anrufe gingen in der Zentrale ein und wurden dann zu ihr umgeleitet, damit der Arbeitgeber erfassen konnte, wie viele Stunden sie arbeitete. Nur weil das möglich war, hatte man Vivian die Ausnahmeregelung gewährt, die Gespräche von zu Hause zu führen – und weil ein ehemaliger Kommilitone die Abteilung leitete.

Auch den Job im »Vintage Rose« hatte Vivian indirekt ihrem Studium zu verdanken. Rose war ebenfalls eine Kommilitonin gewesen – bis sie überraschend eine Erbschaft gemacht hatte. Danach hatte sie, ohne zu zögern, die Universität hinter sich gelassen, um sich ihrer wahren Leidenschaft zu widmen: Kleidung mit Mottenkugelduft.

Sie waren sich zufällig wiederbegegnet, kurz nachdem Vivians eigenes Leben eine unerwartete Wendung genommen hatte. Ihr Bauch war zu dem Zeitpunkt schon recht rund und ihr Studium Vergangenheit gewesen. Zum Glück hatte Rose nie das Risiko gescheut und Vivian spontan angeboten, in dem Laden als Aushilfe anzufangen. Auf keinen Fall hatte Vivian geplant, dauerhaft zu bleiben, doch als Ethan ein Jahr alt wurde und in den Kindergarten gehen konnte, hatte sie ihre Arbeitsstundenanzahl erhöht. Andere Unternehmen standen nicht gerade Schlange, um sie abzuwerben.

Alle in ihrem Umfeld, sogar ihr Vater, vermuteten, dass ihre Schwangerschaft sie davon abgehalten hatte, sich beruflich zu verwirklichen. Sie hatte ihnen allerdings nichts von der anderen Sache erzählt, die schon einige Monate zuvor geschehen war. Andere an den Bildern teilhaben zu lassen, die sie verfolgten, hätte die Angelegenheit noch mehr zu einem Teil von ihr gemacht. Solange sie den Irrtum nicht auflöste, spiegelten die Augen der anderen ihr nur eine beruhigend langweilige junge Frau, und sie fügte sich gerne in diese Rolle, die ihr ohnehin zu einem großen Teil entsprach.

Doch in einem anderen Teil von Vivian lag etwas verborgen, was sich ihr in ihren Träumen zeigte. Dann sah sie einen Jungen mit großen blauen Augen und einer blutenden Wunde am Kopf. Und seit ihr Sohn auf der Welt war, trug dieser Junge in ihren schlimmsten Nächten Ethans Gesicht.

Sie selbst wusste, dass Ethan sie ganz sicher von nichts abhielt, außer davon, sich in Verzweiflung zu verlieren.

Vor ihrer Schwangerschaft, als ihr Studium bereits gescheitert war – wegen dieser Sache –, hatte sie sich gefühlt wie jemand, der hilflos im Meer trieb. Unter sich nichts als dunkle Tiefe, in der sich alles Mögliche verbergen könnte. Sie hatte die Panik gespürt und dennoch keinen Versuch unternommen, zu entkommen. Denn in welche Richtung sie sich auch drehte – am Horizont gab es nichts außer der Linie zwischen Himmel und Wasser. Was also, wenn jede Bewegung sie noch weiter abtrieb von den unsichtbaren Ufern? So war es gewesen, als sie die Sache noch nicht in ihre Träume verbannt hatte, sondern sie auch tagsüber nichts anderes sah als das Gesicht dieses Jungen und die blutende Wunde an seinem Kopf.

Damals hatte sie sich in die Affäre mit Ethans Vater gestürzt. Sie hatte sich an ihn geklammert, weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte tun sollen. Ein Atemzug von ihm hatte deshalb ausgereicht, um sie umzupusten, und wenn er etwas Freundliches gesagt hatte, hatte sie es auf die Waage gelegt und sich selbst stets als zu leicht empfunden im Vergleich zu seinem Bild von ihr.

Sein Verschwinden aus ihrem Leben hatte sie deshalb zunächst in Schockstarre versetzt, aber sie am Ende weder verwundert noch eine allzu große Lücke hinterlassen.

Jetzt drehte sich alles in ihrem Leben um Ethan, auch wenn sie versuchte, ihn das nicht zu sehr merken zu lassen. Niemals sollte er sich für das Wohlbefinden seiner Mutter verantwortlich fühlen. Nein, sie würde sich um ihn kümmern, solange er sie brauchte, und ihn dann ziehen lassen, ohne ihm Schuldgefühle einzuflößen, wie sie es bei Freundinnen beobachtet hatte, deren Mütter nicht schweigend verwinden konnten, dass ihr Nest plötzlich leer war.

Das Geld, das Vivian im Laden verdiente, reichte aus, um die Miete und die Lebensunterhaltskosten für Ethan und sich zu decken. Deshalb konnte sie jeden Cent ihres Telefon-Jobs zur Seite legen. Vielleicht würde es bald reichen. Natürlich nicht, um ein Reihenhäuschen oder wie ihr Vater eine Erdgeschosswohnung mit kleinem Garten zu bezahlen. Das würde ihr vermutlich niemals gelingen, aber sie würde es hoffentlich schaffen, dass man ihr immerhin einen Kredit dafür bewilligte.

Das Telefon klingelte, und sie atmete zwei Mal tief durch, damit ihre Stimme tiefer und ruhiger klang. Sie versuchte an nichts zu denken, damit nichts ihren Anrufern den Raum nahm. Es war Vivian wichtig, ihnen ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken. Viele von ihnen mochten zunächst unsympathisch wirken. Sie sagten verbitterte und gehässige Dinge über ihre Schwiegertöchter, Eltern, Partner oder sich selbst. Doch fast immer hörte Vivian eine so tief gehende Einsamkeit heraus, dass sie die notwendige Empathie aufbringen konnte, um ihnen zur Seite zu stehen. Nur heute schien es ihr nicht zu gelingen, in ihrem Kopf genügend Platz dafür freizuräumen. Obwohl sie passende Antworten gab und versuchte, ihren Anrufern weiterzuhelfen, gingen die Gespräche an diesem Abend nicht in die Tiefe. Seit Sally ihre Wohnsituation bemängelt hatte, sah Vivian immer nur Ethan in seinem eigenen kleinen Garten vor sich. Vielleicht wäre ja Platz für ein kleines Indianerzelt und einen Blaubeerstrauch. Oder noch lieber für einen Apfelbaum – mit einem Ast, der sich für eine Schaukel eignete.

4. Kapitel

Das Bild verließ Vivian auch nicht, als sie am nächsten Vormittag wieder im Laden stand. Sie kam erst auf andere Gedanken, als unerwartet die Kundin mit dem beigefarbenen Mantel erneut das »Vintage Rose« betrat. Vivian erkannte sie sofort wieder. Ohne Umschweife kam die Frau auf sie zu und stellte die rosafarbene Tüte auf den Tisch, die Vivian ihr am Tag zuvor in die Hand gedrückt hatte. »Ich möchte das Kleid zurückbringen.«

»Wir tauschen eigentlich nicht um«, entgegnete Vivian.

»Eigentlich?« Die Frau hob ihre Brauen.

»Es sei denn natürlich, wir hätten einen Mangel übersehen.«

»Ich habe das Kleid nicht angerührt«, sagte die alte Dame bestimmt. Sie sah sich im Laden um. Eigentlich müssten die Kleidungsstücke vor Scham erröten unter diesem abfälligen Blick, dachte Vivian.

»Hätte ich es getan«, nun glitt der gleiche Blick über Vivians Oberkörper und ihr Gesicht, »hätte ich sicher einen gefunden. Seien Sie also froh, dass wir darüber nicht diskutieren müssen. Nehmen Sie es einfach zurück. Das spart uns beiden Zeit und Energie.«

Es bimmelte, als die Tür erneut geöffnet wurde und eine Gruppe junger Frauen in den Laden kam; die erste stürzte sich gleich auf einen Overall mit Paisley-Muster.

»Ist der geil, oder ist der geil?«, rief sie ihren Begleiterinnen zu.

Vivian sah nervös zu den Mädchen hinüber. Sie wollte keine Auseinandersetzung vor diesen Zeugen riskieren, aber zugleich ärgerte sie sich über den Tonfall ihrer Kundin. Umständlich fingerte sie an der Tüte herum, um Zeit zu gewinnen, und sah dann hinein.

»Die Knöpfe sind selbstverständlich noch dran«, sagte Claire, bevor Vivian das Kleid aus der Tüte nehmen konnte.

»Also gut«, entgegnete Vivian schließlich betont freundlich. »Ich denke, dann kann ich das Kleid umtauschen.«

Vivian wusste nicht, womit sie den Unmut der Frau auf sich gezogen hatte, doch diese sah sie an, als könnte sie nur mit Mühe eine Bemerkung zurückhalten, die Vivian ohne Bewährung in die Sphäre der Unwürdigen verbannen würde. Doch was blieb Vivian anderes übrig, als die zusammengepressten Lippen zu ignorieren?

»Das kann einen ganz kleinen Moment dauern«, sagte sie und schaute vorsichtshalber nur auf die Kasse.

Während Vivian die notwendigen Zahlen eingab, trommelte die Kundin mit den Fingern der rechten Hand auf ihrer Handtasche herum. Das Geräusch machte Vivian so nervös, dass sie sich vertippte und noch einmal von vorn beginnen musste. Als plötzlich Stille eintrat, sah Vivian auf. In dem Blick der alten Dame lag jetzt ein seltsam weicher Ausdruck. Der galt allerdings nicht Vivian, sondern dem Jackett, das noch an derselben Stelle hing wie am Tag zuvor. Und wieder wurde Vivian bei ihrer Beobachtung ertappt.

Die Frau wandte sich ihr abrupt zu. »Gehört der nicht ins Bett?« Mit dem Zeigefinger deutete sie hinter Vivian. Dort saß Ethan. Arglos zog er auf dem Boden Kreise mit seinem neuen Spielzeugauto und machte leise »Brumm-Brumm«-Geräusche. Vivian hatte den Jungen noch nie mit ins Geschäft genommen, doch an diesem Morgen war er so erkältet gewesen, dass die Krippe sich geweigert hatte, ihn aufzunehmen. Vivian hatte danach einfach nicht gewusst, wohin mit ihm.

Ethan blickte zu den beiden Frauen und lächelte sie an. Anders als seine Mutter schien er Menschen, die ihn böse ansahen, als herrliche Herausforderung zu betrachten. Er hatte nicht die geringste Angst vor ihnen. Vielleicht sah er in ihnen eine Abwechslung zu den vielen älteren Damen, die unbedingt seine blonden Löckchen im Nacken streicheln wollten. Ethan wischte sich mit dem Handrücken den Schnodder unter der Nase weg. Ein Großteil davon landete auf seinem Auto, doch das kümmerte ihn wenig, als er auf die beiden Frauen zuging und der alten Dame stolz sein feuchtes Spielzeug anbot. »Schau mal, wie findest du das? Es ist mein Lieblingsauto.«

Eine Handvoll Schnodder, dachte Vivian voller Schrecken und war zugleich zu gebannt von seiner Unbefangenheit, um einzugreifen.

Ethan kannte noch keine Zurückweisung. Die eine ganz große, die seines Vaters, nahm er zum Glück noch nicht wahr. Die Dinge waren, genau wie sie in diesem Moment waren, vollkommen für ihn. Wie, bitte schön, sollte sich denn irgendjemand nicht für seinen knallroten Flitzer begeistern?

Doch die Frau ignorierte die ausgestreckte Hand, die Ethan ihr hinhielt, und fixierte einen Punkt über seinem Kopf. Als Ethan seine schmutzige Hand nach dem Ärmel der Kundin ausstreckte, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, griff Vivian ein und hielt sein Handgelenk sanft, aber bestimmt fest.

»Die Dame möchte nicht mit deinem Auto spielen, Schatz«, sagte sie zu ihrem Sohn. Dann wandte sie sich wieder der Frau zu. »Ich muss arbeiten. Und im Kindergarten nehmen sie keine kranken Kinder auf.«

»Und deswegen lassen Sie ihn mit seinem Schnodder zwischen all der Kleidung spielen? Und wundern sich, wenn sie hinterher Mängel hat?« Die Dame schnaubte verächtlich. »Drücken Sie ihm doch einfach noch einen Burger und eine Cola in die Hand.«

»Haben Sie eine bessere Idee?« Vivians Widerstandsgeist regte sich, aber ohne viel Kraft, denn die Kundin hatte ja recht.

»Bin ich Ihre Sozialberaterin? Aber wenn Sie schon fragen: Bleiben Sie mit dem Jungen zu Hause, suchen Sie sich einen Babysitter, oder bekommen Sie einfach gar keine Kinder, wenn Sie Ihren Alltag dann nicht mehr organisiert kriegen.«

Ethan sah schnell von der Frau zu seinem Auto. Er blinzelte ein paar Mal, dann blickte er verwirrt zu seiner Mutter auf, mit diesem Blick, der jede Mutter dazu zwang, ihre Krallen zu wetzen, um ihr Kind vor der ganzen idiotischen Welt zu schützen. Vivian beugte sich zu ihm herunter.

»Mama, wann geht die Frau wieder?«, flüsterte er ihr so laut zu, dass es auch für die andere Frau deutlich zu hören war. Schnell richtete Vivian sich auf und blickte ihr Gegenüber beschämt an.

»Bitte schön«, sagte sie deshalb so laut, dass sich die Mädchen nach ihr umdrehten und kicherten. Sie hielt der schrecklichen Frau das Geld hin. »Gratulieren Sie sich dafür, dass Sie keine Kinder haben.«

Die Dame schaute Vivian wieder an und schien sie zum ersten Mal wirklich wahrzunehmen. Ein Muskel in ihrem Gesicht zuckte, und beinahe konnte man darin ein schwaches Lächeln erahnen. »Sie sollten wirklich etwas mit Ihrer Frisur machen, Kleines«, sagte sie dann beinahe sanft, drehte sich schwungvoll um und verließ den Laden. Mit dem Gefühl, gerade ausgelacht worden zu sein, betrachtete Vivian das Geld, das die Kundin ihr nicht aus der Hand genommen hatte. Ärgerlich wurde ihr klar, dass sie ihr nun auch noch hinterherlaufen musste.

Sie riss die Tür auf und rief: »Sie haben etwas vergessen.«

Die Kundin drehte sich im Gehen um, mit einem Bein schon auf der Straße. Und dann geschah es – in weniger als einer halben Minute und doch wie in Zeitlupe. In jedem Sekundenbruchteil wusste Vivian, was als Nächstes passieren würde, und konnte es nicht verhindern.

Ein plötzlicher Windstoß ließ den großen Aufsteller umfallen, auf dem in einer verschlungenen Schnörkelschrift »Vintage Rose« geschrieben stand. Er geriet zwischen die Beine der Frau, sodass sie strauchelte, versuchte ihr Gleichgewicht wiederzufinden und dabei auf die Straße stolperte. Im selben Moment näherte sich ein Auto. Gleich würde es die Frau erfassen, und das wäre allein Vivians Schuld. Am Morgen hatte sie vor Müdigkeit vergessen, den Aufsteller ordentlich zu sichern. Als sie das Geräusch des Aufpralls hörte, schloss Vivian die Augen. Sie wollte nichts sehen. Doch dann erklangen hinter ihr Ethans kleine Trippelschritte. Sofort richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. Sie öffnete die Augen wieder und streckte die Hand nach ihrem Sohn aus, um ihn festzuhalten. »Oh Gott«, rief eines der Mädchen, die sofort herausgelaufen waren, und hielt sich die Hand vor den Mund.

Dann hob sie ein mit Strass-Steinen besetztes Handy hoch, vermutlich um zu filmen.

Vivian hätte sich am liebsten mit ihrem Sohn im Laden versteckt. Doch sie wusste, dass sie zu dem Auto laufen musste, vor dem die Frau lag. Der Autofahrer riss die Wagentür auf und stürzte heraus.

»Ich konnte nichts machen«, rief er immer wieder den Leuten zu, die sich um sie versammelten. Vivian bat ihn, so ruhig, wie es ihre Panik und ihr Schuldgefühl zuließen, einen Krankenwagen zu rufen. Ihr eigenes Handy lag im Laden, ganz unten in ihrer Handtasche.

Dann endlich wandte sie sich der Frau zu, die eben noch bei ihr am Tresen gestanden hatte. Ethan hatte sich neben ihren Kopf gekauert, um mit ihr zu reden. Erleichtert sah Vivian, wie die Frau die Augen öffnete und den Jungen fragend ansah.

»Das Auto hat dich angefahren«, half er ihr höflich weiter. »Genau so.« Mehrmals fuhr er mit seinem verrotzten Wagen über den Mantelärmel, begleitet von quietschenden Geräuschen.

Langsam schien die alte Dame zu sich zu kommen. Sie wandte sich Vivian zu und sagte endlich etwas. »Ist er Autist?«

Vivian brach in hysterisches Gelächter aus. Ethan, der immer noch in jedem Lachen einen Ausdruck der Freude sah, kicherte fröhlich mit.

Viel erstaunlicher war die Andeutung eines Lächelns in den Mundwinkeln der Fremden, bevor sich deren Augen wieder schlossen. Nun war sich Vivian ganz sicher: Die alte Dame musste verrückt sein, deswegen würde Vivian ihr verzeihen, dass sie ihren Sohn einen Autisten genannt hatte.

In diesem Moment raste endlich der Krankenwagen auf sie zu. Fest nahm Vivian ihren Sohn an die Hand, um ihn zu sich auf den Bordstein zu ziehen. Wie durch einen Nebel verfolgte sie, wie die Frau auf eine Trage geschnallt wurde.

An dem getroffenen Bein, das vom Kotflügel des Autos verdeckt gewesen war, war die Hose gerissen. Obwohl viel Blut zu sehen war, schien noch alles da zu sein, wo es hingehörte.

»Ich werde ganz sicher nicht ins Krankenhaus fahren, lassen Sie mich gefälligst runter«, hörte Vivian die alte Dame laut sagen. Als Antwort erklang ein beschwichtigendes Murmeln. Dass man der Frau keine Wahl ließ und beruhigend auf sie einredete, störte Vivian, obwohl es sie eigentlich hätte befriedigen müssen, nachdem sie so herablassend mit ihr umgesprungen war.

»Wir fahren mit«, hörte sie sich plötzlich rufen und erschrak selbst darüber. Vorsichtig kletterte sie mit Ethan an der Hand in den Wagen.

»Sie sind die Tochter?«, fragte einer der Sanitäter.

»Nein«, antworteten beide Frauen zugleich. Ihre Stimmen klangen dabei auch gleichermaßen entsetzt. Darüber musste Vivian lächeln, doch die andere Frau verzog keine Miene.

»Dann können wir das leider nicht erlauben.« Der Mann zuckte bedauernd die Achseln.

»Wohin bringen Sie sie?«, fragte Vivian.

»Ins St. Thomas’ Hospital«, antwortete der Sanitäter.

»Gut«, beschloss Vivian. »Wir kommen nach.«

Die alte Dame verdrehte die Augen, sagte aber nichts weiter.

Für Vivian kam das beinahe einer Einladung gleich. Das St. Thomas’ war nicht weit entfernt. Die Strecke würde sie sogar mit Ethan an ihrer Seite zu Fuß zurücklegen können. Sie rief Rose an und erklärte, dass sie Zeugin eines Unfalls geworden war und deshalb für eine Weile den Laden schließen musste.

»Kannst du noch eine halbe Stunde warten?«, bat Rose. »Ich kann gleich bei dir sein. Ich war gerade bei einer Haushaltsauflösung und habe den Kofferraum voller Schätze aus den Siebzigerjahren.«

»Natürlich«, sagte Vivian. »Gar kein Problem.«

Es wurde eine lange halbe Stunde, die Vivian immer noch aufgewühlt im abgeschlossenen Laden verbrachte.

Sie hatte Ethan gebeten, einfach weiterzuspielen, und saß nun auf dem Boden, hatte die Beine angezogen und verbarg ihren Kopf zwischen ihren Knien.

Das durfte nicht sein. Schon wieder war ein Mensch ihretwegen zu Schaden gekommen. Und diesmal gab es keinen Spielraum für Interpretationen.

Sie hatte das Schild nicht ordentlich gesichert. Sie musste sich unbedingt vergewissern, dass der Frau nichts Schlimmes passiert war. Als Rose endlich kam, machte sie Vivian nicht einmal Vorwürfe dafür, dass sie während der letzten halben Stunde keinen Kunden bedient hatte.

»Du siehst wirklich fertig aus, war es schlimm?«

Vivian nickte. »Aber morgen bin ich wieder pünktlich da, versprochen!«

Dann nahm sie Ethan an die Hand und eilte los.

»Nicht so schnell, Mama«, schimpfte ihr Sohn, und erst da bemerkte sie, wie sehr sie an seinem Handgelenk zerrte. Sie zwang sich, langsamer zu gehen. Doch schon kurz darauf verfiel sie wieder in einen unruhigen Trab.

Sie hätte sich nicht so beeilen müssen. Noch zwei Stunden nach ihrer Ankunft saßen Vivian und Ethan auf unbequemen Plastikstühlen in der Notaufnahme. Der Flur war unangenehm grell ausgeleuchtet. Vivian bestach Ethan mit Automaten-Kakao und ließ sich kleine Rate-Aufgaben für ihn einfallen, ohne wirklich auf seine Antworten zu hören.

»Warum müssen wir hier sein?«, fragte Ethan, der die Unaufmerksamkeit seiner Mutter wie immer sofort spürte und sie ihr nicht durchgehen lassen wollte.

»Wir müssen doch schauen, wie es der Frau geht.«

»Sie hat sich schlimm wehgetan, oder?«

»Ich hoffe, nicht zu doll«, entgegnete Vivian bedrückt.

»Magst du sie sehr gerne?«

Vivian überlegte. »Ja, sehr«, sagte sie dann, weil jede andere Erklärung zu kompliziert für einen kleinen Jungen gewesen wäre.

Ethan setzte sich auf ihren Schoß und legte kurz tröstend seine Arme um sie. Er nieste zweimal.

»Tut mir leid, Ethan«, murmelte sie in sein Haar. Sie sollte einen erkälteten Jungen nicht dieser Umgebung aussetzen. Und nachdem sie nun einmal angefangen hatte, über ihre Verfehlungen zu sinnieren, fiel ihr ein, dass Ethan womöglich die Patienten anstecken könnte. Außerdem war es allein ihre Schuld, dass die alte Dame hier lag – und auch, dass ihre Chefin einen Verdienstausfall hinnehmen musste. In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen, bis ihr schließlich übel wurde. Was sollte sie tun?

Zum Glück unterbrach eine junge Ärztin genau in diesem Moment das Stimmengewirr in Vivians Kopf. »Sie gehören zu Mrs. Claire Holloway?«

Der Name kam Vivian irgendwie vertraut vor, doch sie wusste nicht, woher. Deswegen konnte sie nur hoffen, dass es sich dabei um ihre Kundin handelte, und nickte.

»Sie möchte heute keinen Besuch mehr empfangen. Sie ist sehr erschöpft«, sagte die Ärztin, die ebenfalls müde aussah.

»Wie geht es ihr denn?«

»Sie hat keine bleibenden Schäden davongetragen. Zwei Wochen muss sie aber hierbleiben. Sie hat einen komplizierten Schienbeinbruch erlitten«, sagte die Ärztin. »Das ist eine ganz typische Verletzung bei Autounfällen, an denen Fußgänger beteiligt sind. Leider liegen in Frau Holloways Fall Knochenfragmente gegeneinandergelagert, deswegen müssen wir gleich operieren. Und danach wird sie Zeit brauchen, um wieder richtig auf die Beine zu kommen.«

»Wird jemand benachrichtigt?«, fragte Vivian dann.

Die Ärztin schüttelte den Kopf, und Vivians Übelkeit verstärkte sich.

»Schon traurig, oder?«, sagte die Ärztin, die Vivians niedergeschlagenen Gesichtsausdruck wohl falsch deutete. »Was nützt all die Berühmtheit, wenn niemand da ist, wenn es einem wirklich schlecht geht?«

Vivian starrte die Frau überrascht an.

»Ach, Sie wissen es gar nicht? Ich habe sie aber auch nur am Namen erkannt. Das ist Claire Holloway. Jahrzehntelang die britische Mode-Designerin überhaupt, sie hat sogar zu einigen Anlässen die Queen eingekleidet.« Nun wirkte die Ärztin hellwach und fast ein wenig aufgeregt.

»Oh«, sagte Vivian leise, weil sie nicht wusste, wie sie auf den erwartungsvollen Blick der anderen Frau reagieren sollte. Der plötzliche Glorienschein des Ruhms machte aus der Frau keinen anderen Menschen. Und Vivians Neugierde war ohnehin bereits so stark, dass nichts sie noch mehr hätte entfachen können. Aber wenigstens kannte sie jetzt den Namen ihrer Kundin: Claire.

Wieso hatte diese Claire Holloway ein altes Kleid wegen seiner Knöpfe gekauft, nur um es am nächsten Tag unberührt zurückzugeben? Und wieso hatte ein altes Jackett sie so aus der Fassung bringen können?

Als Vivian am nächsten Nachmittag den Laden an Rose übergab, folgte sie einem weiteren Impuls. Sie nahm das Jackett vom Haken. »Das nehme ich mit. Ich habe einer Kundin versprochen, es ihr vorbeizubringen. Sie wohnt auf meinem Heimweg, und sie war so schwer beladen.«

»Alles klar«, sagte Rose. »Das ist nett von dir.«

Verlegen musste Vivian an die Ärztin vom Vortag denken. Es schien ihr Schicksal zu sein, sogar dann noch für nett gehalten zu werden, wenn sie es gerade gar nicht war. Aber Rose konnte ja auch nicht wissen, warum sie das Jackett wirklich einsteckte. Sie wusste es schließlich selbst nicht genau.

Wenn ich herausgefunden habe, was es damit auf sich hat, werde ich das Jackett zurückbringen – oder tatsächlich die Kosten dafür begleichen, dachte Vivian. Es wäre der Lohn eines ganzen Arbeitstags. Schmerzensgeld für Claire Holloway, falls diese das Jackett behalten wollte.

Vivian schwang sich auf ihr Fahrrad. Während sie so schnell wie möglich zum Krankenhaus radelte, dachte sie die ganze Zeit an das Kleidungsstück, das sie sorgsam gefaltet in einer Papiertüte auf ihrem Gepäckträger befestigt hatte. Wie würde Claire darauf reagieren?

Als sie kurz darauf am Besuchereingang des Krankenhauses stand und nach Mrs. Holloways Zimmernummer fragte, pochte Vivians Herz – und das nicht nur, weil sie so kräftig in die Pedale getreten hatte. Würde Claire Holloway sie überhaupt noch einmal sehen wollen? Und was, wenn wieder jemand Vivian fragte, in welcher Verbindung sie zu der Patientin stand? Vielleicht durften ja auch nur Angehörige den Kranken Besuche abstatten? In Filmen war das manchmal so, und dann war es immer sehr dramatisch für den Besucher, der aus irgendeinem Grund unbedingt in das Zimmer musste.

Im wahren Leben schaute allerdings nur eine schlecht gelaunte und sicher unterbezahlte Tresenkraft auf ihren Monitor und bellte: »C 242.«

Vivian konnte nur vermuten, dass es sich dabei um die Zimmernummer handelte. Auf ihr Zögern hin seufzte die andere Frau, bevor sie sich doch noch eine Auskunft abrang. »Geradeaus, dann ist links der Fahrstuhl. Zweiter Stock, Station  C. Dann einfach den Schildern folgen.«

»Danke«, sagte Vivian zu dem Scheitel der Frau, da diese sich nicht noch einmal die Mühe machte, den Blick zu heben.

Schließlich stand sie vor der verschlossenen Tür von Zimmer 242. Claire Holloway musste verheiratet gewesen sein, schoss es Vivian plötzlich durch den Kopf. Die Ärztin hatte sie »Mrs.« genannt und nicht »Ms.«. Wenn man die erste und letzte Zahl der Zimmernummer addierte, ergab das die mittlere Zahl, überlegte Vivian. Dann fiel ihr nichts mehr ein, um das Unvermeidliche hinauszuzögern, und sie beschloss, anzuklopfen.

Hoffentlich würde Claire sie nicht gleich hochkant hinauswerfen. Das wäre sehr peinlich. Vor allem wenn es unter den Augen von Mitpatientinnen geschah, die eventuell ebenfalls im Zimmer lagen und an die Vivian bis eben gerade gar nicht gedacht hatte. Aber vielleicht ist sie am Ende ja doch nur eine einsame alte Frau, versuchte sie sich schließlich selbst zu beruhigen.

Niemand antwortete auf ihr Klopfen, was Vivian vollends aus dem Konzept brachte. Dass vielleicht gar keiner da sein könnte, daran hatte sie nicht gedacht.

5. Kapitel

Claire 2017

Claire zögerte, als sie das Klopfen hörte. Sie wollte niemanden sehen und zog deshalb in Erwägung, sich schlafend zu stellen.

Seit dem Unfall herrschte in ihrem Kopf ein Durcheinander, das sie nicht ordnen, sondern lieber vergessen wollte. Vielleicht war das auch der Grund, warum sie schließlich doch laut »Herein!« rief. Eine willkommene Möglichkeit zur Zerstreuung.

Gleich darauf hätte sie ihre Einladung am liebsten widerrufen. Die Verkäuferin aus dem miefigen Laden steckte ihren Kopf herein. Warum nur hatte sie nicht ihre Augen geschlossen und sich schlafend gestellt?

Abschätzig musterte sie Vivians T-Shirt-Kleid in einem unauffälligen Schlamm-Ton, der sie fahl aussehen ließ. Was wollte sie hier?

Zwei Meter vom Bett entfernt blieb die junge Frau stehen.

»Ich wollte sehen, wie es Ihnen geht«, sagte sie. Damit, dass sie ihre Augen nicht senkte, sondern Claires bohrendem Blick standhielt, errang sie einen winzigen Pluspunkt. Scheu, aber zumindest nicht unterwürfig, dachte Claire.

»Warum?«, fragte sie.

Sie dachte gar nicht daran, Vivian den Stuhl neben ihrem Bett anzubieten.

»Der Unfall sah schlimm aus. Und er ist direkt vor dem Laden passiert. Irgendwie fühle ich mich verantwortlich.«

Claire ging nicht auf die Erklärung ein. »Und wo ist Ihr Sohn? Schleudert er draußen im Gang mit Keimen um sich und lyncht damit ein paar Bettlägerige?«

»Nein, er ist bei meinem Vater.«

»Aha.«

Mit einem Anflug von boshafter Freude beobachtete Claire, wie Vivian unruhig wurde. Doch dann spürte sie wieder das Jucken der Haut unter den Verbänden und die Schmerzen, und sie entschied, dass sie wirklich Ablenkung gebrauchen konnte.

»Na, dann setzen Sie sich doch«, presste sie schließlich hervor und deutete auf den Stuhl neben sich.

»Und wie geht es Ihnen?«, fragte Vivian, nachdem sie sich vorsichtig in dem Plastikstuhl niedergelassen hatte.

»Bestens natürlich«, sagte Claire, und ihre Stimme triefte vor Ironie.

»Entschuldigung.« Vivian lächelte. »Das war eine dumme Frage.«

Claire schwieg.

»Sie sind berühmt«, stellte Vivian fest, um die peinliche Stille zu füllen.

»Ja. Ich war es. Kennen Sie meine Arbeit?«

Noch einmal maß sie mit ihrem Blick Vivians Körper, angefangen bei den Turnschuhen bis zu dem schmucklosen Haar.

Vivian ging nicht auf die Provokation ein. »Nein, ich kenne mich mit Mode nicht sehr gut aus. Aber die Ärztin hat es mir erzählt.«

Kill them with kindness, dachte Claire. Sie wusste, dass ihre eigene Sprödheit wie ein undurchdringlicher Panzer wirken konnte, doch sie bezweifelte, dass Vivian bewusst war, dass dies auch auf ihre beharrliche Freundlichkeit zutraf.

Vielleicht war sie doch nicht so langweilig, wie es zunächst den Anschein hatte. Claires Blick fiel auf Vivians Tüte.

»Wollten Sie mir nicht noch Geld geben? Oder schleppen Sie jetzt stattdessen das Kleid wieder mit?«

Vivian errötete, doch ihre Stimme blieb fest. »Das ist nicht das Kleid. Und das Geld bekommen Sie natürlich wieder. Ich wollte etwas mitbringen. Aber ich wusste nicht, ob Sie Blumen oder Schokolade mögen. Mir ist aufgefallen, dass Sie dieses Teil interessiert hat, und deshalb …« Sie reichte Claire die Tüte.

Gegen ihren Willen packte Claire die Neugierde. Sie lugte hinein, und für einen Moment hielt sie den Atem an. Es war das Jackett aus dem Laden. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie zog es aus der Tüte, nahm es in beide Hände und hielt es sich näher vor das Gesicht.

Die Enttäuschung tat beinahe weh. Es war, als würde man eine Schokoladencreme erwarten und plötzlich auf eine Schuhsohle beißen. Die Jacke roch ganz falsch. Wie eines dieser Rasierwasser, die während der gesamten Neunzigerjahre die Luft verpestet hatten. Der süßlich-moderige Geruch sollte wohl eine Ozeanbrise nachstellen. Claire schüttelte sich. Das Meer roch ganz anders. Sie wusste es. Sie war dort aufgewachsen.

»Warum haben Sie das getan?«, fragte Claire beinahe erzürnt.

»Ich hatte das Gefühl, die Jacke gefällt Ihnen. Und dass Sie sie vielleicht haben wollen, weil sie so gut zu Ihrer Tasche passt.«

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