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Die Liebe trägt Giraffenpulli

Als Buch hier erhältlich:

In ihren Träumen wird die Wildhüterin Carol Lund von ihrem sexy Nachbarn leidenschaftlich geküsst. Aber leider sieht der Künstler Mathias Mitchell in ihr nur eine gute Freundin. Kein Wunder, denn sie passt nicht in sein Beuteschema. Sie will sich verlieben, bevor sie jemanden küsst. Und doch kommt sie Mathias sehr viel näher, als sie ihm mit einem eigensinnigen Beagle hilft. Im Gegenzug unterstützt er sie dabei, für ihre Giraffe Millie eine Gefährtin zu finden. Ob für Carol doch alle Träume wahr werden?


  • Erscheinungstag: 03.09.2018
  • Aus der Serie: Happily Serie
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955768126
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Danksagung

Als »Frauchen« von zwei wundervollen Katzen und einem süßen Welpen weiß ich, wie viel Freude Tiere in unser Leben bringen. Ich unterstütze daher seit mehreren Jahren verschiedene Tierhilfsorganisationen – speziell »Seattle Humane«. Bei deren Spenden-Veranstaltung 2016 gab es eine Auktion. Und mein Beitrag war: »Dein Tier in einem Liebesroman«.

Und so kommt es, dass hier in diesem Buch ein witziger, süßer Beagle namens Sophie auftauchen wird, der es faustdick hinter den Ohren hat. Sophie war schon einmal der Superstar in einem meiner Bücher – nämlich in »Wer früher küsst, ist länger verliebt«. Aber Sophies Besitzer haben erneut überaus großzügig gespendet, damit sie in ihrer unvergleichlichen Sophie-Art auch in diesem Buch auftauchen kann. Ich liebe es, über Sophie zu schreiben. Diesmal habe ich sie auf eine Reihe von Abenteuern geschickt: Sie wird nicht nur eine Giraffe auf Abwege bringen, sondern auch einen großen Auftritt bei einer Hochzeit haben – passendes Kleid inklusive.

Was ich am Schreiben liebe, ist, dass ich mit vielen verschiedenen Menschen auf ganz unterschiedliche Weise in Kontakt komme. Manche helfen mir bei der Recherche für einen Roman. Andere sind Leser, die mit mir über bestimmte Figuren oder einen Plot sprechen wollen. Und wieder andere sind fabelhafte Tierbesitzer. Sophies Familie liebt sie heiß und innig – und sie hat ihr schon viele unvergessliche Stunden beschert.

Mein Dank geht deshalb an Sophies Besitzer, an Sophie selbst und an Seattle Humane (www.seattlehumane.org). Weil jedes Tier ein liebevolles Zuhause verdient.

1. Kapitel

Von einer Gazelle in den Bauch getreten zu werden war grundsätzlich keine schöne Erfahrung. Besonders unschön war es allerdings, wenn die Treterei um halb zwei Uhr nachts stattfand.

Carol Lund starrte Bronwen an. Die Gazelle starrte ungerührt zurück.

»Kein Grund, sich so aufzuführen, junge Dame«, sagte Carol zu ihr. »Ich bin nicht diejenige, die unbedingt auf irgendwelchen Felsvorsprüngen herumspazieren wollte. Und ich bin auch nicht diejenige, die sich dabei das Bein furchtbar aufgeschürft hat. Trotzdem stehe ich jetzt hier, mitten in der Nacht, um zu überprüfen, ob sich die Wunde entzündet hat.«

Die Gazelle stampfte einmal mit den Vorderhufen auf und drehte Carol dann den Hintern zu. Offenbar war Bronwen weder von dieser Rede noch von Carols nächtlichem Einsatz besonders beeindruckt.

»Ja, das sagst du jetzt«, murmelte Carol. »Aber warten wir mal ab, bis es Zeit für deine Fütterung ist. Dann liebst du mich plötzlich wieder heiß und innig. Du bist ganz schön wankelmütig, weißt du das eigentlich?«

Sie begann, ihre Utensilien einzupacken. Die Wunde an Bronwens Bein schien gut zu heilen. Mit etwas Glück würden weitere nächtliche Kontrollen nicht nötig sein. Dann konnte Carol morgen Nacht in ihrem Bett liegen bleiben und endlich den versäumten Schlaf nachholen.

Sie schloss die Tür des Gazellen-Stalls hinter sich zu und ging zu ihrem Jeep. Die Nacht war kühl und klar. Am Himmel funkelten Millionen von Sternen. Natürlich wäre es ihr lieber gewesen, Bronwen hätte sich nicht verletzt und sie beide hätten die Nacht durchschlafen können. Aber wenn man schon aufstehen musste, dann war so ein perfekter Sternenhimmel zugegebenermaßen eine ziemlich gute Entschädigung. Der Trick war, nicht zum Horizont zu schauen und nicht auf die genaue Position der Sternbilder zu achten. Dann konnte man sich nämlich einbilden, irgendwo auf der Welt zu sein. Der Nachthimmel war schließlich überall zu sehen.

Ja, sicher. Es gab Unterschiede zwischen den verschiedenen Hemisphären. Und die Jahreszeiten spielten ebenfalls eine Rolle. Trotzdem … die Sterne waren immer und überall einfach wundervoll.

Sie stieg in den Jeep und machte sich auf den Heimweg. Doch kurz bevor sie den kleinen Bungalow erreichte, in dem sie wohnte, fuhr sie auf den Randstreifen und hielt an. Sie schaltete den Motor aus und löschte das Licht. Dann stieg sie aus, setzte sich auf den Boden und gab sich ganz dem Anblick des nächtlichen Himmels hin.

Es war Oktober, was in der Wüste bedeutete, dass die Tage warm und die Nächte angenehm lau waren. Regen fiel in dieser Jahreszeit so gut wie nie – das war eher etwas für den Frühling und den Sommer. Die einzige Stadt hier in der Gegend war Happily Inc – und die war nicht besonders groß. Daher war es nicht allzu schwierig, dem Neonlicht zu entkommen und in die ganz große Dunkelheit einzutauchen. Links und rechts von der Straße befanden sich nur die Berge, der Golfplatz und etwas weiter hinten die sanften Hügel des Happily-Inc-Wildtierreservats. Nichts und niemand störte sie, wenn sie den Blick nach oben richtete, auf die Sterne.

Sie nahm ihre Jacke und faltete sie zusammen. Dann legte sie sich auf die Straße und schob das improvisierte Kissen unter ihren Kopf. Sehr schön! Das war die ideale Position, um in Ruhe das nächtliche Himmelswunder zu betrachten.

Carol wusste nicht, wie lange sie schon so dagelegen hatte, als plötzlich grelle Scheinwerfer die Dunkelheit durchschnitten. Die Lichter kamen näher und näher, bis sie ihr irgendwann direkt ins Gesicht schienen.

Als sie sich aufrichtete, entdeckte sie einen mitternachtsblauen Mercedes, der hinter ihrem Jeep zum Halten kam.

Na toll, dachte sie und beobachtete den großen dunkelhaarigen Mann, der jetzt aus seinem Auto stieg und zielstrebig auf sie zukam. Inzwischen musste es nach zwei Uhr sein. Trotzdem wirkte Mathias Mitchell kein bisschen schläfrig. Was nicht weiter verwunderlich war. Sein Adrenalin-Pegel war vermutlich noch immer ziemlich hoch, nachdem er den Abend mal wieder mit Brautjungfern-Aussuchen und Brautjungfern- Flachlegen verbracht hatte.

Ein paar Schritte entfernt von ihr blieb er stehen. Es war zu dunkel, um seinen Gesichtsausdruck zu erkennen. Aber Carol vermutete, dass Mathias ziemlich amüsiert wirkte. Er war ein Mann, der das Leben insgesamt für eine angenehme und amüsante Erfahrung zu halten schien. Und wieso auch nicht? Mathias sah extrem gut aus, er war charmant und beruflich erfolgreich. Also hatte er keinen Grund, irgendetwas anderes anzunehmen.

Sie dagegen war einfach nur ganz normal. Ihr Aussehen und ihr Charakter waren ungefähr so spannend wie ihr Name. Nämlich gar nicht.

»Lass mich raten: Du hast eine Kontaktlinse verloren?«, fragte er.

»Bronwen hat sich verletzt. Also musste ich nachsehen, wie es ihr geht. Und auf dem Rückweg habe ich angehalten, um die Sterne anzusehen.«

Er setzte sich neben sie auf den Boden und blickte ebenfalls hinauf zum Himmel. »Und damit kannst du nicht warten, bis du zu Hause bist?«

»Könnte ich. Aber das hier ist die Stelle mit der besten Aussicht.«

»Alle anderen Stellen hast du schon ausprobiert?« Er seufzte. »Carol Lund, du bist eine merkwürdige Frau. Und wer ist überhaupt Bronwen? Ein Zebra?«

»Eine Gazelle.«

»So nennst du deine Kühe jetzt also?«

Sie spürte, wie sich ihre Lippen verzogen. Zum Glück konnte er im Dunkeln nicht erkennen, dass sie gegen das Lachen ankämpfte. Es war nicht das erste Mal, dass sie beide diese Unterhaltung führten. Denn im Gegensatz zu den meisten Bewohnern von Happily Inc bekam Mathias keine romantischen Anwandlungen, sobald es um die Wildtiere ging, die direkt neben der Stadt lebten. »Gazellen sind keine Kühe.«

»Klar sind sie das. Okay, ich gebe zu: Sie sehen eleganter aus. Vermutlich sind sie auch schneller. Aber das hübsche Äußere täuscht nicht darüber hinweg, dass sie Kühe sind. Genau wie Millie.«

Carol warf ihm einen finsteren Blick zu, den er im Dunkeln natürlich nicht sehen konnte. »Hey! Sag nichts gegen Millie.«

»Das würde ich nie wagen. Millie ist eine Giraffe mit Charakter. Außerdem hat sie die längsten Beine in ganz Happily Inc. Trotzdem muss ich auf die Tatsache hinweisen, dass sie … na ja, ein Wiederkäuer ist.« Er beugte sich zu Carol hinüber, wodurch sie den teuren Frauenduft wahrnahm, der noch immer an seinem Körper hing. »Und das heißt«, flüsterte er ihr zu. »Millie ist eine Kuh.«

Sie wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. »Es riecht hier so komisch.«

»Ja«, entgegnete er ungerührt. »Beim Parfüm hat sie etwas übertrieben.«

»Aber ihre großen Brüste haben den Fehler ausgeglichen?«

»Ach, weißt du – ich bin kein Mann, der nur nach der Oberweite geht. Worauf es mir ankommt, ist das Gesamtpaket.«

»Verstehe. Sie muss nur willig wirken, und – zack – schon erfolgt der Vorstoß?« Sie räusperte sich. »Sozusagen.«

»Zack?« Er schüttelte den Kopf. »Du unterschätzt mich, Carol. Da findet natürlich eine gewisse Entwicklung statt.«

»Ach so? Na ja, an deiner Stelle würde ich jedenfalls vor dem Schlafengehen noch duschen. Sonst haben deine Laken morgen diesen Entwicklungsgeruch.«

»Gute Idee. Vielen Dank für den Tipp.«

»Mein Nachbar, das männliche Flittchen.«

Sie sagte das ohne großen Nachdruck. Es war sowieso zwecklos, das wusste sie. Nichts schien Mathias jemals aufzuregen oder aus dem Konzept zu bringen. Obwohl er Künstler war, entsprach er so gar nicht dem Klischee von einem Mann, der düster vor sich hin brütete. Mal abgesehen von seinem etwas fragwürdigen Frauengeschmack, gab es insgesamt wenig, was man an ihm nicht mögen könnte. Und natürlich hätte Carol das niemals zugegeben – aber heimlich war sie ein Fan von ihm.

»Ist dir das schon mal aufgefallen? Nur Frauen, die gerne Sex mögen, bekommen dafür irgendwelche Bezeichnungen verpasst«, machte Mathias prompt mit dem Thema weiter. »Ich meine, was ist mit uns Männern? Warum ›männliche Schlampe‹? Da müsste doch dringend mal eine eigene Beleidigung erfunden werden.«

»Die gibt es doch, oder? ›Frauenheld‹ zum Beispiel. Oder ›Schürzenjäger‹.«

»Kein Mann ist beleidigt, wenn man ihn ›Frauenheld‹ nennt. Und ›Schürzenjäger‹ ist ein Wort, das 1979 zum letzten Mal über menschliche Lippen gekommen ist.«

Sie musste lachen. »Das stimmt nicht. Die Leute sagen das die ganze Zeit.«

Er sah sie nur schweigend an.

»Okay, vielleicht nicht die ganze Zeit. Aber oft.«

»Carol, Carol. Du überraschst mich immer wieder. Wer hätte gedacht, dass du so eine reine, unschuldige Seele bist.«

»Tja, rein und unschuldig muss doch sehr erfrischend für dich sein, nachdem du den Abend mal wieder mit einer von diesen Brautjungfern verbracht hast.«

»Das stimmt, du bist … sehr erfrischend. Wobei ich mich frage, was du eigentlich gegen Brautjungfern hast.«

»Ich habe überhaupt nichts gegen Brautjungfern. Mir ist nur nicht klar, was du an ihnen findest. Oder sie an dir.«

Letzteres war gelogen. Ihr war durchaus klar, was die Frauen an ihm fanden: Mathias war witzig, aber auch charmant. Und er war so sexy, dass man sich seiner gefährlichen Anziehungskraft nur schwer erwehren konnte. Carol musste zugeben, dass auch sie schon ein- oder zweimal von ihm geträumt hatte. Wobei sie nicht vorhatte, irgendetwas in der Hinsicht zu unternehmen. Dafür war sie viel zu vernünftig und zu realistisch. Um mal ein Bild aus der Tierwelt zu verwenden: Mathias war der wunderschöne Pfauenmann. Und sie eine äußerst unauffällige Henne. Es gab keinerlei Grund für ihn, Notiz von ihr zu nehmen. Und selbst wenn er es doch tun sollte – Mathias war nur an One-Night-Stands interessiert, und das war einfach nicht ihr Ding. Sie war eher eine Frau, die sich erst verliebte, bevor sie Sex hatte.

»Du willst wissen, was ich an ihnen finde? Tja, dann verrate ich es dir: Sie sind am nächsten Morgen wieder verschwunden. Und was sie an mir finden – das dürfte wohl klar sein, oder?«

Er stand auf und streckte ihr seine Hand entgegen. Carol ergriff sie. Mathias zog sie hoch. Sobald sie sicher auf den Beinen stand, ließ er sie los. Dann bückte er sich und hob ihre Jacke vom Boden auf.

Er legte ihr die Jacke um die Schultern. »So, meine seltsame kleine Tierfreundin. Jetzt müssen wir dich ins Bett verfrachten. Der Morgen naht. Und deine Kühe bestehen vermutlich darauf, gefüttert zu werden.«

»Ich sollte dir mal so richtig gegen das Schienbein treten«, murmelte sie.

»Also wirklich. Warum so gewalttätig? Verstößt das nicht gegen das heilige Kuh-Mantra, dass man in Frieden mit der Natur leben soll?«

»Wenn du noch einmal Kuh sagst, dann schwöre ich, dass ich …«

Er öffnete die Fahrertür für sie. Carol stieg ein und ließ sich auf ihren Sitz sinken. Da der Jeep ziemlich hoch war, befanden Mathias und sie sich jetzt fast auf Augenhöhe.

»Dann tust du was?«, erkundigte er sich interessiert.

Dank der Innenbeleuchtung konnte sie zum ersten Mal heute Nacht sein Gesicht deutlich erkennen. Sie registrierte die dunklen Augen und das leicht amüsierte Lächeln. Er hatte die breiten Schultern und den meisterhaft geformten Körper eines Mannes, der seine Muskeln regelmäßig bei der Arbeit einsetzte.

Prompt bekam Carol mal wieder einen dieser Momente – was in Mathias’ Gegenwart leider häufiger geschah. Plötzlich fiel ihr wieder ein, dass sie eine gesunde Frau in ihren Zwanzigern war. Eine Frau, die viel zu lange mit keinem Mann mehr zusammen gewesen war. Und Mathias war ein Mann, der definitiv wissen würde, was zu tun war. Genügend Übung hatte er ja.

Wobei das ein idiotischer Gedanke war. Unter anderem, weil er sich natürlich nicht für sie interessierte. Sie entsprach zum einen nicht seinem Morgen-früh-ist-sie weg-Kriterium. Und zum anderen war sie einfach viel zu gewöhnlich. Männer wie Mathias – vom Typ Jäger und Sammler – waren auf der Suche nach besonderen Frauen. Und zu denen zählte sie nun mal nicht.

»Was ich dann tue? Ich werde den Zebras beibringen, deinen Garten für gewisse Zwecke zu verwenden. Hast du schon mal Zebra-Scheiße gerochen? Dagegen wird dir dieses Parfüm wie eine Wohltat vorkommen.«

Er grinste. »Verstehe. Dann ist es jetzt wohl an der Zeit, gute Nacht zu sagen.«

»Genau. Gute Nacht.«

Er schloss die Tür des Jeeps und ging dann zu seinem Wagen hinüber. Als Carol losfuhr, sah sie im Rückspiegel, dass der Mercedes ihr folgte. Kurz darauf erreichte sie die Einfahrt zu ihrem Haus und bog ab. Mathias ließ einmal kurz seine Scheinwerfer aufblitzen und fuhr weiter. Eine Sekunde lang verschwand sein Wagen hinter einem kleinen Hügel, um dann wieder aufzutauchen. Carol beobachtete, wie Mathias die kurze Strecke bis zu seinem Haus zurücklegte, in die Einfahrt einbog und mit einem weiteren Scheinwerfergruß in seiner Garage verschwand.

Obwohl sie müde war, blieb Carol weiter in der Dunkelheit sitzen, bis sie erneut Licht aufflammen sah – diesmal in dem großen Haus, das am Rand des Wildtier-Reservats stand. Irgendwie komisch, dachte sie. Ihr schlichter, kleiner Bungalow hätte mühelos in Mathias’ Garage gepasst. Unterschiedlicher konnten zwei Häuser kaum sein. Trotzdem war Mathias ihr nächster Nachbar. Besser gesagt: Er war ihr einziger Nachbar. Abgesehen von den Tieren lebten sie beide ganz allein hier draußen.

Apropos Tiere: Carol stieg seufzend aus dem Auto und ging ins Haus. Sie streifte ihre Stiefel ab und ging dann direkt ins Schlafzimmer. Es gelang ihr gerade noch, ihre Jeans auszuziehen, bevor sie auf die Matratze sank.

Dank des Besuchs bei Bronwen und der Folgen würde die Nacht sehr kurz werden. Denn im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten, die nach ihren nächtlichen Aktivitäten ausschlafen konnten, musste sie mit der Sonne aufstehen. Millie und die anderen Tiere warteten nur ungern auf ihr Frühstück.

Carol schlief rasch ein. Sie träumte irgendwelche seltsamen Dinge über fliegende Kühe. Außerdem tauchte Mathias in ihrem Traum auf und bat sie, ihn zu küssen. Wenig später wurde sie von ihrem Wecker aus dem Schlaf gerissen. Tja, dachte sie, als sie sich beim Aufstehen an den Traum erinnerte: zwei sehr unwahrscheinliche Szenarien. Wobei die fliegenden Kühe noch die wahrscheinlichere Variante waren.

Mathias ging barfuß hinaus auf die Veranda. Es war früh am Morgen; über dem Boden hing noch leichter Nebel – vermutlich weil die Bewässerungsanlage des Reservats bis eben gelaufen war. Keine sehr romantische Erklärung. Also ignorierte er den Gedanken und konzentrierte sich stattdessen auf die Farben und Formen dieses fantastischen Naturschauspiels. Das war der Künstler in ihm.

Er setzte sich auf seinen Lieblingsstuhl, stellte die Kaffeetasse auf den Tisch neben sich und griff nach dem Skizzenblock. Dann wartete er.

Wann genau das sein Morgen-Ritual geworden war, konnte er gar nicht so genau sagen. Vermutlich kurz nachdem er Millie entdeckt hatte – am dritten Tag nach seinem Einzug hier. Irgendwie seltsam, dass sie ihn viel mehr faszinierte als alle anderen Tiere im Reservat. Eigentlich sollte er sich ebenso sehr für die leichtfüßigen Gazellen oder den mächtigen Wasserbüffel interessieren.

Als er das Haus gekauft hatte, war ihm vage bewusst gewesen, dass irgendwelche exotischen Tiere dahinter herumspazierten. So richtig hatte ihn das damals allerdings nicht interessiert. Das war erst gekommen, nachdem er Carol getroffen und mehr über das Wildtier-Reservat von Happily Inc erfahren hatte.

Die meisten anderen Städte verbargen ihre Mülldeponien hinter hohen Mauern und bauten sie weit entfernt von sämtlichen Wohngegenden. Nicht so Happily Inc. Hier befand sich die Sammelstelle für Müll hinter dem südwestlichen Ende der Innenstadt – wobei die Stadtplaner sorgfältig darauf geachtet hatten, dass die Mülldeponie auf der windabgewandten Seite lag.

Die beiden Männer, die diese Deponie leiteten, hatten dort ein Recycling-Center errichtet, das inzwischen im ganzen Land berühmt war. Zudem hatten die beiden aber noch mehrere Hundert Hektar Land rund um die Deponie gekauft. Dort waren Büsche, Gräser und Bäume angepflanzt worden. Und als sich gezeigt hatte, dass die Pflanzen in der neuen Umgebung tatsächlich überlebten, waren die Tiere hinzugekommen. Zuerst die Gazellen, dann die Zebras. Einige Stelzvögel und ein riesiger Wasserbüffel wurden gekauft. Und ganz zum Schluss Millie.

Mathias kannte die ungefähren Zusammenhänge: Die beiden Männer, die eine afrikanische Savanne am Rand einer kalifornischen Wüste erschaffen hatten, waren Carols Vater und ihr Onkel. Nachdem Carol ihren Abschluss gemacht hatte, hatte sie begonnen, ebenfalls im Reservat zu arbeiten. Vor etwa einem Jahr war dann der alte Mann, der sich bisher um die Tiere gekümmert hatte, in Rente gegangen. Also hatte Carol die Leitung übernommen. Und dann war Millie eingetroffen.

Manchmal fragte sich Mathias, warum er diese Frau und ihre Giraffe immer als Einheit sah. Er konnte es nicht richtig erklären. Aber in seiner Vorstellung gehörten die beiden einfach zusammen. Und jetzt tauchten die zwei also aus dem Morgennebel auf. Zuerst wurde Millie sichtbar, die langsam herangeschritten kam.

Sie war eine viereinhalb Meter große Netzgiraffe, deren Vorfahren aus Somalia stammten – und sie war eine echte Schönheit: Millies Fell hatte ein elegantes Flecken-Muster, und das Gesicht war fast herzförmig. Ihre riesigen braunen Augen lagen weit auseinander und betrachteten die Welt um sie herum mit neugierigen Blicken.

Mathias trank noch einen Schluck Kaffee, bevor er seinen Skizzenblock öffnete. Inzwischen hatte er bestimmt schon an die hundert Zeichnungen von Millie und Carol angefertigt. Aber dieser eine perfekte Moment fehlte ihm immer noch. Er wusste, dass er ihn erkennen würde, wenn es so weit war. Also saß er Morgen für Morgen hier auf seiner Veranda und wartete darauf, dass es passierte.

Nachdem Millie eine Baumgruppe umrundet hatte, kam neben ihr auch Carol in Sicht. Sie ging ganz selbstverständlich neben der Giraffe her, obwohl sie Millie nicht mal bis an die Schultern reichte. Im Sonnenlicht wirkten Carols rote Locken fast blond. Ihre Haare trug sie kurz. Sie war praktisch veranlagt, kümmerte sich nicht um Trends oder irgendwelche Konventionen, sondern war einfach sie selbst. In anderen Worten, dachte Mathias, Carol Lund ist überhaupt nicht mein Typ. Weshalb er sich auch nicht weiter für sie interessierte. Oder: interessieren sollte. Denn irgendwie tat er es doch. Etwas an Carols eigenständiger, ungekünstelter Art faszinierte ihn.

Da war zum Beispiel dieser Millie-Spaziergang: Anfangs hatte er angenommen, dass Carol der Giraffe nur helfen wollte, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Doch auch nachdem Millie sich längst im Reservat eingewöhnt hatte, schlenderte Carol jeden Morgen mit ihr durch die Savanne. Irgendwann waren Mathias schließlich die Spendendosen aufgefallen, die überall in der Stadt standen. Und dann war es ihm klar geworden: Seine eigenwillige Nachbarin ging mit ihrer Giraffe spazieren, damit die sich nicht einsam fühlte.

Einige Minuten Internet-Recherche hatten ihn belehrt, dass männliche Giraffen meist Einzelgänger waren. Die Weibchen hingegen lebten in losen Gruppen zusammen. Mütter betätigten sich häufig als Babysitter für ihre Freundinnen, sodass die restliche Gruppe auf Futtersuche gehen konnte. Carol versuchte offenbar, Millie das Gefühl zu geben, dass sie eine Herde hatte.

Mathias zeichnete fast eine halbe Stunde lang. Dann kehrte er ins Haus zurück. Bevor er sich auf den morgendlichen Weg ins Studio machte, ging er noch kurz in den Wintergarten. Das war der Raum, in dem er hier zu Hause arbeitete – allerdings nicht mit Glas, wie im Studio. Denn dazu hätte er eine ganz andere Ausrüstung und vor allem einen sehr verständnisvollen Versicherungsvertreter gebraucht. Nein, im Wintergarten arbeitete er mit Zeichenstift und Block oder manchmal auch mit Farbe und Leinwand.

Jetzt ging er aber nur zu dem Stapel mit den alten Skizzen hinüber. Er blätterte sie durch: Millie allein. Millie und Carol, die spazieren gingen. Millie mit den Zebras. Es ist irgendwo da drin, dachte er und versuchte die Frustration zu ignorieren, die in ihm aufkommen wollte. Ein paarmal war er ganz dicht dran gewesen. Fast hätte er das Bild eingefangen, das da vage in seiner Vorstellung herumgeisterte. Aber es würde ihm noch gelingen – daran musste er einfach glauben. Und sobald er den perfekten Moment auf Papier gebannt hatte, würde er ihn in Glas umwandeln.

Immer vorausgesetzt, dachte Mathias mit einem leicht spöttischen Lächeln, dass ich dazu überhaupt noch in der Lage bin.

Ulrich Sherwood, Duke of Somerbrooke, starrte aus dem Fester des Konferenzraums im achten Stock. Im Westen befanden sich Santa Monica und der Pazifik, im Osten nebelverhangene Berge. Wobei … Vielleicht war das kein Nebel, sondern einfach nur Smog, der da zu sehen war. Bisher war er erst zweimal in Los Angeles gewesen. Beide Male hatte er die Zeit in dieser Stadt nicht besonders genossen. Dieses Mal war er hier, um mit den Anwälten zu sprechen. Was auch nicht gerade das allergrößte Vergnügen war. Aber es war in diesem Fall ein notwendiges Übel. Eine erfolgreiche und finanziell sehr solide Produktionsfirma wollte eine moderne Version von Downton Abbey in England filmen. Und Battenberg Park, Ulrichs Familiensitz, war als Drehort ausgewählt worden. Was bedeutete, dass die Produktionsfirma nicht nur eine hübsche Summe dafür zahlen würde, das weitläufige Anwesen einige Wochen lang zu mieten. Battenberg Park würde zudem eine »Schönheitskur« bekommen, wie die Anwältin es genannt hatte. Darunter verstand die Filmfirma offenbar, dass dem alten Gemäuer ein komplett neuer Anstrich verpasst werden sollte. Und dass mehrere Dutzend Landschaftsgärtner auf die Parkanlagen losgelassen werden würden. Ja, dachte Ulrich. Zusammengenommen machten die Mieteinnahmen und die »Schönheitskur« eine Reise nach Los Angeles mehr als wett.

Linda, die ungefähr vierzigjährige Anwältin in einem schicken Kostüm, kam zurück in den Konferenzraum. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Euer Lordschaft.«

»Ulrich, bitte«, korrigierte er sie. Die korrekte Anrede hätte »Euer Gnaden« gelautet, aber er unterließ es, die Frau darauf hinzuweisen. Selbst zu Hause versuchte er, diese Art von Formalitäten auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Und jetzt war er immerhin in den USA. In diesem Land bestand der wahre Adel doch aus Filmstars. Wen kümmerten da schon irgendwelche uralten Abstammungslinien oder Titel?

»Hier ist eine unterzeichnete Kopie des Vertrags«, erklärte Linda. »Zusammen mit einem Beleg für die Zahlung der ersten Rate. Wie gewünscht, haben wir das Geld auf Ihr Konto in England überwiesen.«

»Sehr schön. Besten Dank.«

Linda hatte den schlanken, durchtrainierten Körper einer Frau, die Fitness ernst nahm. Sie wirkte auf den ersten Blick deutlich jünger, und vermutlich hatte sie sehr viel Erfahrung in sämtlichen Liebesdingen. Er dagegen hatte jung geheiratet und war dann vor zwei Jahren geschieden worden. Seitdem ging er allen Verwicklungen aus dem Weg. Wahrscheinlich hätte er sich geehrt fühlen sollen, als sie sagte: »Okay, nachdem der Deal jetzt erfolgreich abgeschlossen ist, würde ich Sie gerne zum Essen ausführen. Ich kenne da ein wunderbares Restaurant in der Nähe meiner Wohnung.«

Ihm war klar, dass er nur Ja sagen musste. Und warum sollte er das nicht tun? Er war Single und weit weg von zu Hause – niemand würde es jemals erfahren. Außerdem hielt er Linda für eine Frau, die tatsächlich genau das wollte, was sie anbot: eine einzige Nacht. Was also hätte perfekter sein können?

Das Problem war nur, dass er irgendwie nicht genug Interesse aufbringen konnte. Es lag nicht so sehr daran, dass Linda beinahe zehn Jahre älter war als er. Es lag eher an … nun ja, an allem.

»Vielen Dank für die Einladung«, erwiderte er und bemühte sich um ein höfliches Lächeln und einen möglichst bedauernden Tonfall. »Es tut mir leid, aber ich habe noch einen Termin im Osten von Kalifornien. Und ich fürchte, ich sollte mich umgehend auf den Weg machen.«

»Oh. Wo müssen Sie denn hin?«

Ulrich versuchte, seinen Mund nicht angewidert zu verziehen. »In eine kleine Stadt namens Happily Inc.«

Linda lachte. »Da war ich schon mal. Eine Freundin von mir hat dort geheiratet. Die Feier wurde von einer Firma ausgerichtet, die auf Themenhochzeiten spezialisiert ist. Sie hieß Weddings in a Box oder so ähnlich – es ist schon ein paar Jahre her. Auf jeden Fall ist Happily Inc ein etwas ungewöhnliches Reiseziel für einen Mann wie Sie. Planen Sie zu heiraten?« Sie klang eher fasziniert als enttäuscht.

»Wie? Nein. Ich muss dort, ähm, eine Bekannte der Familie treffen.«

Genauer gesagt: eine Gaunerin, die seine Großmutter bestohlen hatte.

Linda warf ihm einen eindringlichen Blick zu. »Schade, dass wir den Abend nicht zusammen verbringen können.«

»Ja, das finde ich auch«, log er. »Wirklich.« Er hob die Vertragsmappe hoch. »Und danke noch einmal hierfür.«

»Es war mir ein Vergnügen.«

Ulrich nickte und verließ dann eilig den Konferenzraum. Zwanzig Minuten später bog er auf die I-10 ein – den Highway Richtung Happily Inc. Das Navi seines Mietwagens verkündete, dass er sein Ziel in unter vier Stunden erreichen würde.

Auf dem Sitz neben ihm lag seine Aktentasche. Darin befand sich der Vertrag, den Linda ihm überreicht hatte. Und der Umschlag mit einem Namen und einer Adresse.

Seine achtzigjährige Großmutter hatte vor etwa fünf oder sechs Jahren begonnen, regelmäßig Pakete nach Happily Inc zu schicken. Empfängerin war immer eine gewisse Violet Lund. Zunächst hatte Ulrich sich keine großen Gedanken darüber gemacht. Aber dann hatte ihn seine Haushälterin um eine Unterredung gebeten. Die Frau hatte erklärt, dass schon seit einiger Zeit Gegenstände aus Battenberg Park verschwanden – hier ein antiker Kerzenständer, da ein kleines Gemälde. Für sich genommen waren all diese Dinge zwar wertvoll, aber kein dramatischer Verlust. Doch wenn man die Beträge mal zusammenzählte, sah die Sache schon ganz anders aus …

Nach der Unterredung mit der Haushälterin hatte er seine Großmutter vorsichtig auf die Pakete angesprochen. Die verwitwete Duchess hatte prompt erklärt, dass es sich um eine Privatangelegenheit handelte, die sie nicht zu diskutieren wünschte.

Ulrich hatte immer ein sehr enges Verhältnis zu Winifred – seiner Großmutter – gehabt. Sie hatte ihn mit aufgezogen, nachdem seine Mutter viel zu früh gestorben war. Und als sein Vater vor ein paar Jahren dahinschied, hatten Ulrich und seine Großmutter sich gegenseitig getröstet. Er liebte sie sehr. Sie war die einzige Familie, die er noch hatte. Und deshalb würde er niemals zulassen, dass irgendjemand der alten Frau schadete. Eine direkte Konfrontation in Sachen Pakete würde zu keinem Ergebnis führen, das hatte das erste Gespräch mit seiner Großmutter gezeigt. Aber gut. Dann musste er die Sache eben auf andere Weise regeln. Denn eines war klar: Er würde diese abscheuliche Person stoppen, die eine hilflose alte Dame bestahl. Und wenn es das Letzte war, was er tat!

Als er an diesem Punkt angelangt war, hielt Ulrich kurz inne. Vielleicht, dachte er, ist es doch ganz gut, dass ich gerade so weit von zu Hause weg bin. Denn dass er seine Großmutter für eine hilflose alte Dame hielt, würde sie garantiert schwer empören. Er konnte sich ihre Reaktion genau vorstellen: Sie würde ihn zu einem Gespräch vorladen und ihm ein paar Takte zum Thema »Alt und hilflos« erzählen. Dass er dreißig Jahre alt und der Duke of Somerbrooke war, würde ihm da wenig helfen.

Aber zum Glück musste sie das ja gar nicht erfahren. Weil er nämlich sehr diskret vorgehen würde: Er würde in diese seltsame kleine Stadt fahren und die Betrügerin mit den Beweisen konfrontieren. Dann würde er ihr sagen, dass sie nie wieder Kontakt zu seiner Großmutter aufnehmen durfte. Und das war’s. Danach konnte er zurück nach Hause fliegen und sich auf die Hollywood-Invasion vorbereiten, die schon bald über seinen wunderschönen – leicht bröckelnden – Familiensitz hereinbrechen würde.

Natürlich, seine Mission war nicht besonders angenehm. Aber das spielte keine Rolle. Seine Vorfahren hatten jahrhundertelang unerschrocken ihre Pferde oder Schiffe bestiegen, um in den Kampf zu ziehen. Irgendwelche Unannehmlichkeiten oder kurzfristigen Konsequenzen spielten keine Rolle, wenn es darum ging, das Richtige zu tun. In diesem Geist war er erzogen worden. Und nun würde er dem Beispiel seiner Vorfahren folgen und seine Pflicht tun. Er gab Gas und steuerte auf den Gegner zu: die mysteriöse Violet Lund in Happily Inc.

2. Kapitel

Mathias hielt die Form bereit, während Ronan begann, mit höchster Konzentration das Glas zu erhitzen. Bei der Arbeit eines Glaskünstlers kam es auf Sekundenbruchteile an. Das Material musste heiß genug sein, um weich und formbar zu werden. Aber es durfte auf keinen Fall zu heiß sein, sonst würde das Gebilde nämlich zu einem unförmigen Klumpen zusammenschmelzen, und all die Arbeit, die Ronan bereits in sein Kunstwerk gesteckt hatte, wäre umsonst gewesen.

An einer Wand des weitläufigen Studios hing eine Zeichnung, die zeigte, wie die Skulptur später einmal aussehen sollte. In fertigem Zustand würde sie fast zehn Meter breit und drei Meter hoch sein. Am linken Ende befand sich ein großer grüner Drache, während das rechte Ende von einem eleganten weißen Schwan eingenommen wurde. Zwischen den beiden würden sich abstrakte Glasgebilde in allen Formen und Farben befinden, die beim Betrachter den Eindruck erweckten, dass diese beiden Fabeltiere langsam ineinander übergingen.

Ronan hatte erst vor einigen Tagen mit der Arbeit an der Skulptur begonnen. Ihm blieb ein Jahr Zeit, um sein Werk zu vollenden. Sobald er fertig war, würde er nach Japan reisen und dort den Aufbau der Skulptur in einem Luxushotel überwachen. Obwohl er neuerdings hauptsächlich zu Hause arbeitete – unterstützt durch allerhand Assistenten und Praktikanten –, begann Ronan seine Projekte meistens in dem Studio, das sie beide sich mit ihrem Bruder Nick teilten. Bisher hatte Mathias angenommen, dass Ronan die Zusammenarbeit mit ihnen und die gemeinsamen Adrenalinschübe ziemlich wichtig waren. Doch inzwischen war er sich da nicht mehr so sicher. Früher hatten er und sein Bruder sich sehr nahegestanden. Aber vor ein paar Jahren hatte sich all das geändert.

Ronan zog den Glasstab aus dem Ofen. Mathias nahm seine Position ein und hielt die Form, in der sein Bruder den Stab mit der Glasmasse drehte. Nick trat zu ihnen und drückte einen Metallauftreiber in die rot glühende Masse. Das Glas gab unter dem Druck der scharfen Metallkante nach und begann, Form anzunehmen.

Die Hitze im Raum war enorm – ebenso wie ihre Konzentration. Eine schlichte Drehung des Handgelenks konnte über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Fehler waren kaum rückgängig zu machen, weil die Masse außerhalb des Ofens innerhalb kürzester Zeit erhärtete. Ronan musterte ihr Werk, dann steckte er den Stab zurück in den Ofen, nur um ihn gleich darauf wieder hinauszuziehen und zu beobachten, wie das Glas an der Luft abkühlte.

Die Skulptur bestand aus Hunderten von Einzelteilen, die am Ende sorgfältig zusammengefügt werden mussten – ein gigantisches Puzzle aus Glas. Spätestens wenn dieser Punkt erreicht war, würde Ronan mehrere Wochen lang kaum noch ansprechbar sein und völlig in seiner Arbeit versinken. Mathias hatte es schon mehrmals miterlebt: Der Anfang eines Projekts verlief vergleichsweise ruhig, aber dann nahm das Tempo immer weiter zu und die Anspannung stieg. Normalerweise war er in dieser letzten, stressreichen Phase immer an Ronans Seite. Doch ob das diesmal auch so ablaufen würde, war zweifelhaft.

Rein rational konnte er verstehen, wie es zu der Distanz zwischen ihm und Ronan gekommen war. Alles hatte sich geändert. Ronan und er waren nicht mehr zwei der fünf Mitchell-Brüder. Er legte die Form in einen Container und ging zu seinem Arbeitsplatz. Dann schüttelte er den Kopf. Okay, das stimmte nicht. Sie waren immer noch die fünf Mitchell-Brüder. Aber Ronan und er … Tja, das war wohl vorbei.

Mathias senkte den Blick und betrachtete das, was er heute Morgen erschaffen hatte: zwei Servierschalen in Dutzenden von Orangetönen, Moosgrün und Gelb. Im Gegensatz zu Ronans Kreationen hatte seine Arbeit eher einen praktischen Wert. Er fertigte Pendelleuchten an und riesige Schüsseln, die sich als Waschbecken verwenden ließen. Außerdem war er spezialisiert auf Vasen, Servierplatten und Teller. Letztere in verschiedenen Farbtönen, sodass sie zur jeweiligen Jahreszeit passten. Weiß, Blau und Silber für den Winter. Hellgrün, Pink und Pfirsichgelb für den Frühling. Die Farben des Sommers waren Rot, Orange und Violett, während im Herbst Moosgrün, Kastanienbraun und verschiedene Gelbtöne dominierten.

Früher hatte auch er Skulpturen erschaffen. Aber dann war ihm klar geworden, dass das hier der richtige Weg für ihn war. Er mochte, was er tat. Er brachte Schönheit in den Alltag der Menschen. Und wenn er sich ab und zu mal danach sehnte, wieder mehr künstlerisch zu arbeiten – na und?

Wieder musterte er die Schüssel. Dann nickte er, zufrieden mit dem Anblick. Vor einiger Zeit hatte er beschlossen, jedes Jahr etwas zu erschaffen, das für ihn selbst eine Herausforderung darstellte. Dieses Jahr bestand die Aufgabe darin, dem Geschirr eine neue, ungewöhnliche Form zu verleihen. Die Herbst-Schüsseln waren geformt wie ein Blatt. Im Sommer war es eine Erdbeere gewesen und im Frühling eine Wiesenblume. Die Winter-Schüsseln sollten wie eine Schneeflocke geformt sein – das war zumindest der Plan. Denn leider wusste er noch immer nicht, wie er das hinkriegen sollte. Bisher waren all seine Versuche kläglich gescheitert – aber das machte nichts. Der Spaß lag ja gerade darin, längere Zeit herumprobieren zu müssen.

Sein Handy gab einen zirpenden Ton von sich. Er schaute auf das Display und sah, dass ihm seine Mutter eine Nachricht geschickt hatte.

»Code Red«, sagte er und blickte zu seinen Brüdern hinüber, um zu sehen, ob einer von ihnen ebenfalls eine Nachricht von ihr erhalten hatte.

Nick griff nach seinem Handy, während Ronan ihn ignorierte.

»Nichts«, verkündete Nick. »Sieht so aus, als wärst du heute der Glückliche.«

»Na toll«, murmelte Mathias, während er die kurze Nachricht las.

Ich komme dich besuchen.

Eine interessante Aussage, die ihn unter anderen Umständen unruhig gemacht hätte. Aber zum Glück wusste er, dass seine Mutter mehr als vierhundert Meilen weit entfernt war.

Wann?

Er starrte auf das Display und wartete auf die Antwort. Vermutlich würde sie erklären, dass sie nächste Woche käme oder Ende des Monats, wenn sein Bruder Del heiratete.

Zehn Minuten. Bin in der Stadt.

Mathias fluchte. Sein erster Gedanke war »Warum ich?«, gefolgt von »Auf keinen Fall« und »Höchste Zeit zu verschwinden«. Aber statt seinem Fluchtinstinkt nachzugeben, rief er sich ins Gedächtnis, dass er seine Mutter liebte – trotz aller Probleme, die es mit ihr gab. Nein, dachte er, sich vor einem Treffen mit Elaine zu drücken ist keine Option.

Super.

Er drückte auf »senden« und sagte sich, dass das nicht direkt gelogen war.

»Was ist?«, wollte Nick wissen.

»Sie ist auf dem Weg hierher.«

»Dann bleiben uns immerhin noch acht Stunden. Wieso kommt sie?«

»Keine Ahnung.« Er richtete den Blick auf Ronan. »Übrigens schreibt sie, dass sie in zehn Minuten hier ist.«

Das Schauspiel, das Ronans Miene gleich darauf bot, war sehr interessant. Eine Vielzahl von Emotionen huschte über sein Gesicht: Schock, Widerwille und dann Panik gepaart mit Fluchtgedanken. Also genau die gleiche Reaktion, die er selbst eben gehabt hatte.

Noch vor fünf Jahren hätte er gesagt, dass die Ähnlichkeit im Verhalten davon herrührte, dass sie Zwillinge waren. Keine eineiigen Zwillinge, aber trotzdem. Zwischen ihnen gab es eine Verbindung, die weder Zeit noch Raum zerstören konnten. Nur hatte sich dann leider herausgestellt, dass das alles nicht stimmte. Ronan und er waren nie Zwillinge gewesen. Ihre gesamte Kindheit und Jugend beruhte auf einer Lüge. Und seitdem sie mit dieser Wahrheit konfrontiert worden waren, war nichts mehr wie zuvor.

Er bemerkte aus dem Augenwinkel, wie Ronan sein Glasobjekt, das noch immer am Abkühlen war, zurück auf die hitzebeständige Bank stellte. Dann schnappte er sich seine Schlüssel und machte sich aus dem Staub.

»Den sehen wir die nächsten drei Tage nicht wieder«, grummelte Nick. »Aber er wird sich früher oder später mit ihr auseinandersetzen müssen.«

»Ja, ich weiß.«

Mathias ging zur Eingangstür des Studios, um dort auf das Unvermeidliche zu warten. Er sah, dass Ronan schon im Auto saß und dabei war, sich eilig vom Acker zu machen – besser gesagt vom Parkplatz. Sein Bruder bog auf die Hauptstraße ein und entschwand dann mit großem Tempo in Richtung Berge. Nick hatte recht – es würde mehrere Tage dauern, bis sie ihn wieder zu Gesicht bekamen.

Der Oktobernachmittag war warm und klar. Da sie sich in der Wüste befanden, regnete es nur selten. Und momentan war nicht die richtige Jahreszeit dafür. Von jetzt ab bis zu den Weihnachtsfeiertagen würde nicht mal ein Wölkchen am Himmel zu sehen sein. Im Frühling konnte das Wetter etwas launisch werden – aber selbst wenn es mal regnete, dann nicht sehr oft und nicht sehr lange.

Happily Inc befand sich in der Mitte der kalifornischen Wüstengebiete. Weiter östlich lag Arizona, im Süden Mexiko. Trotz der Wüstenlage gab es immer genügend Trinkwasser für Bewohner und Touristen, da unterirdische Höhlensysteme tief im Gestein für eine stetige Wasserzufuhr sorgten. Wer nicht gerne in der Ebene lebte, konnte sich in die nahe gelegenen Berge zurückziehen. Und dann gab es da noch die seltsam starken Energieströme, die Happily Inc zu einem magischen Ort machten – jedenfalls in den Augen jener Menschen, die an derartige Dinge glaubten. Wichtiger für das alltägliche Leben war allerdings, dass die Stadt sich zu einer sehr populären Location für Hochzeiten entwickelt hatte. Daher waren fast alle Geschäfte auf den Bedarf von Hochzeitsgesellschaften und Touristen ausgerichtet. Es gab nur zwei größere Ausnahmen: das Schlaflabor im Norden der Stadt und Carols Wildtierreservat südwestlich von Happily Inc.

Ein unbekanntes Auto bog auf den Parkplatz ein und hielt genau da, wo Ronans Wagen eben gestanden hatte. Es war ein Allerweltswagen, Mittelklasse. Ein typisches Mietauto. Seine Mutter saß am Steuer, und sein Vater war nirgendwo zu sehen. Falls Ceallach sich nicht auf dem Rücksitz versteckt hatte, würde dieser Besuch vielleicht doch nicht so schrecklich werden.

»Hey, Mom«, sagte er, als Elaine Mitchell aus dem Auto gestiegen war und ihn umarmte.

»Was für eine süße kleine Stadt! Und man kann sich ganz leicht orientieren. Erst war ich nicht sicher, ob ich den Weg vom Flughafen hierher finden würde. Aber das war gar kein Problem.« Sie drehte sich zu dem Wagen um. »Sweetie, wo bleibst du denn?«

Mathias verspürte einen Anflug von Panik. Vielleicht hatte er mit diesem Witz, dass sein Vater sich auf dem Rücksitz versteckte, das Schicksal herausgefordert? Doch dann sah er statt des Familienoberhaupts einen braun-weißen Beagle aus dem Auto springen. Kaum hatte ihn der Hund erblickt, kam er mit wehenden Ohren und wild wedelndem Schwanz auf ihn zugeschossen.

»Hey, Sophie«, sagte er und kniete sich hin, um die Hündin zu begrüßen.

Sie umkreiste ihn ein paarmal voller Begeisterung, bevor sie hochsprang, ihre Vorderpfoten auf seine Schultern legte und ihm ein paar ziemlich feuchte Hundeküsse verpasste. Er lachte, dann stand er eilig auf, um ihrer Zunge zu entkommen.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie Nick aus dem Studio kam. Sein Bruder blickte ihn fragend an. Mathias schüttelte den Kopf. Daraufhin entspannte Nick sich sichtlich und ging auf seine Mutter zu, um sie zu begrüßen.

»Mom«, sagte er mit Wärme in der Stimme. »Das ist ja eine Überraschung.« Er beugte sich hinunter, um Sophie zu begrüßen.

»Ich weiß. Ich hätte vorher anrufen sollen. Tut mir leid.«

Mathias schoss der unbehagliche Verdacht durch den Kopf, dass Elaine ihnen absichtlich keine Vorwarnung gegeben hatte. Denn wenn Ronan, Nick und er geahnt hätten, dass ihre Mutter kommen würde, hätten sie vermutlich alle die Flucht angetreten – was sie nicht gerade zu den besten Söhnen des Jahrhunderts machte.

Dabei ist das Problem ja gar nicht Elaine, dachte Mathias grimmig. Das Problem war Ceallach, ihr Vater. Der Mann, nach dem sie sich gar nicht erst erkundigen mussten, denn Elaine würde ihnen garantiert voller Begeisterung alles über ihn erzählen. Und zwar in sämtlichen Details.

Sie gingen zu dritt zum Studio zurück. Sophie folgte ihnen, noch immer ziemlich aufgedreht vor lauter Wiedersehensfreude. Gerade rechtzeitig fielen Mathias all die Werkzeuge, das Glas und die heißen Öfen ein, die sich im Studio befanden. Eilig griff er nach der Leine, die der Beagle hinter sich herzog. Elaine blickte sich um, als würde sie erwarten, eine weitere Person zu sehen. Als sie bemerkte, dass da niemand war, verlor ihr glückliches Lächeln ein wenig an Strahlkraft.

Mathias bedachte Ronan im Stillen mit einer Reihe unschöner Bezeichnungen. Wieso musste sein Bruder ausgerechnet der Frau wehtun, die ihn immer geliebt hatte? Das hatte sie nicht verdient. Aber Ronan würde das garantiert anders sehen, und leider hatte es seit dem Vorfall niemand geschafft, zu ihm durchzudringen – auch wenn sie es alle oft genug versucht hatten.

»Das ist aber nett«, sagte seine Mutter mit falschem Enthusiasmus und schaute sich im Studio um. »So groß und hell. Arbeitet ihr alle hier?«

Nick und Mathias wechselten einen Blick. Sie schienen beide zu hoffen, dass der andere zuerst sprach.

»Ronan hat sein eigenes Studio bei sich zu Hause«, erwiderte Mathias schließlich. »Dort arbeitet er den größten Teil der Zeit.«

»Oh, verstehe. Und die Galerie ist hier in der Nähe?«

»Auf der anderen Seite vom Parkplatz. Du solltest unbedingt Atsuko treffen, bevor du wieder gehst. Sie ist diejenige, die unsere Arbeit verkauft.«

»Das werde ich auf jeden Fall tun. Aber erst nächstes Mal. Heute muss ich leider schon bald zurück zum Flughafen, um meine Maschine noch zu kriegen.«

Bevor Mathias fragen konnte, warum sie sich dann die Mühe gemacht hatte, extra vorbeizukommen, fuhr Elaine fort: »Euer Vater und ich gehen gemeinsam auf eine Reise. Er wird an verschiedenen Orten unterrichten – Theorieseminare und Praxiskurse. Ich finde es wunderbar, dass er jetzt die Aufmerksamkeit bekommt, die er verdient.«

Mathias unterdrückte ein Augenrollen. Wenn es eines gab, von dem Ceallach Mitchell schon immer mehr als genug bekommen hatte, war das Aufmerksamkeit. In seinem Universum war Ceallach die Sonne, während alle anderen ihn umkreisten – erleuchtet von seinem strahlend hellen Glanz

»Wir werden einen Monat unterwegs sein. Aber rechtzeitig zu Dels und Mayas Hochzeit sind wir wieder zurück.«

»Klingt toll, Mom«, entgegnete Nick. »Aber … ähm… warum genau bist du jetzt vorbeigekommen?«

Elaine wandte sich zu Mathias um. Ihr Gesichtsausdruck besagte, dass die Antwort auf diese Frage doch glasklar war. »Nun, irgendjemand muss auf Sophie aufpassen, während wir weg sind.«

Mathias ließ hastig die Leine fallen, die er in der Hand gehalten hatte. Der Beagle nutzte sofort seine Chance und begab sich auf eine kleine Erkundungstour. »Nein. Auf keinen Fall. Das kann ich nicht.«

»Aber natürlich kannst du das. Sie ist so süß, und du liebst sie.«

Lieben ist in diesem Zusammenhang vielleicht ein wenig übertrieben, dachte Mathias. Klar, er mochte Sophie … aus der Entfernung. Sie war an sich kein schlechter Hund. Sie besaß einfach nur eine Menge Abenteuerlust und war der festen Ansicht, dass man auf Menschen ausschließlich dann hören sollte, wenn es den eigenen Zwecken diente. Wenn es im Umkreis von fünf Meilen ein Problem gab, konnte man sicher sein, dass Sophie es aufspüren, sich genüsslich darin wälzen und es dann mit stolzgeschwellter Brust nach Hause schleppen würde.

Der Blick seiner Mutter nahm eine gewisse Schärfe an. »Dein Bruder kann sie nicht nehmen. Er und Pallas sind frisch verliebt. Da würde Sophie nur stören.«

Nick schien sich ein zufriedenes Grinsen zu verkneifen. »Stimmt, Mom.«

»Du hast ein großes Haus«, fuhr Elaine fort. »Mit eigenem Garten. Sophie wird es bei dir gut gehen, Mathias. Und es ist ja nur für einen Monat. Außerdem schadet es nicht, wenn du lernst, dich um ein anderes Lebewesen zu kümmern. Damit du weißt, was auf dich zukommt, wenn du mal …«

Irgendwo hinter ihnen ertönte das Geräusch von zersplitterndem Glas. Als sie sich alle drei hastig umdrehten, bemerkten sie Sophie, die winselnd hinter dem Regal mit den fertigen Schüsseln, Tellern und Gläsern hervorgeschossen kam. Mathias hatte nicht gesehen, was genau passiert war. Aber er war sich ziemlich sicher, dass es etwas mit dem wilden Schwanzwedeln der kleinen Hündin zu tun hatte.

Elaine eilte zu Sophie, und Mathias folgte ihr fluchend. Sie mussten es irgendwie schaffen, den Hund von all dem Glas fernzuhalten, sonst würde er sich noch ernsthaft verletzen. Doch als sie Sophie fast erreicht hatten, entschied der Beagle, dass dies wohl ein aufregendes neues Spiel sein musste, und rannte begeistert bellend davon.

»Hab dich!« Nick warf sich mit ausgestreckten Armen nach vorne.

Leider war Sophie schneller. Sie machte einen Satz zur Seite und stieß dabei mit dem Schwanz eine der beiden Glasschüsseln zu Boden, die Mathias heute Vormittag angefertigt hatte. Es klirrte erneut, und der Beagle raste zur anderen Seite des Studios hinüber. Nach ein paar weiteren Fehlversuchen gelang es Mathias schließlich, nah genug an Sophie heranzukommen, um auf die Leine zu treten, die sie noch immer hinter sich herzog. Er stoppte Sophies nächsten Fluchtversuch und nahm die Hündin auf den Arm. Sichtlich zufrieden kuschelte sie sich an ihn und bedeckte sein Kinn mit feuchten Hundeküssen.

Elaine lächelte. »Siehst du. Ich wusste es doch: Sie liebt dich. Du wirst großartig mit ihr zurechtkommen.«

Großartig war nicht das Wort, das er hier verwendet hätte. Aber egal. Er war klug genug, um zu wissen, wann es Zeit war, sich geschlagen zu geben. Natürlich hätte er jetzt argumentieren, schreien und sich auf andere Art zum Idioten machen können. Doch am Ende sah die ganze Sache noch immer so aus: Elaine war seine Mutter. Er liebte sie, und deshalb konnte er zu ihr nicht Nein sagen.

Tja, dachte Mathias, manchmal gibt es eben solche Tage. Tage, an denen es sich verdammt blöd anfühlte, ausgerechnet man selbst zu sein.

Montagabend war Turnierabend im Boardroom Pub. Da Happily Inc von Hochzeiten lebte, arbeiteten die meisten Leute an den Wochenenden. Dafür war Montag dann der Tag, an dem man entspannen und abends feiern konnte – oder das, was man in einer winzigen Wüstenstadt eben feiern nannte. Für viele Einwohner von Happily Inc war es inzwischen zur Tradition geworden, am Montagabend auszugehen und ein wenig Spaß zu haben, bevor kurz darauf die nächsten Hochzeitshorden über die Stadt hereinbrachen.

The Boardroom, ein Pub, in dem die Fans von Gesellschaftsspielen voll auf ihre Kosten kamen, lockte am hochzeitsfreien Montag die Einwohner der kleinen Stadt mit verschiedenen Wettbewerben. Im Sommer hatte es Monopoly-Turniere für die Jüngeren gegeben. Der Hippo-Flipp-Abend fand regelmäßig statt, und auch sonst wurden neben Dame und Schach Wettkämpfe in allen erdenklichen Brettspielen angeboten.

Carol hatte diese Montagabende schon immer gemocht. Früher hatte sie sich vor allem mit ihren Freunden amüsiert, doch inzwischen interessierte sie sich auch für die anderen Menschen, die sich bei den Wettbewerben im Boardroom versammelten. Der Grund dafür war eine Giraffe. Besser gesagt, eine einsame Giraffe, die dringend etwas Gesellschaft brauchte. Also versuchte Carol, den Kauf einer Giraffenherde über eine Spendensammlung zu finanzieren. Zu diesem Zweck hatte sie überall in der Stadt Spendenbüchsen aufgestellt und das Boardroom-Team überredet, einen kleinen Teil der Montagseinnahmen der Aktion »Eine Herde für Millie« zu spenden.

Als sie sich jetzt zwischen den Tischen durchschlängelte, begrüßte sie links und rechts all die Leute, die sie kannte. Nach einiger Zeit hatte sie es endlich geschafft, sich bis zur Bar vorzuarbeiten. Carol blieb stehen, schüttelte die Spendenbüchse mit dem Giraffen-Muster und registrierte befriedigt, wie schwer sich der Inhalt anfühlte. Ja, das Geld für die Herde floss nur langsam, aber immerhin floss es. Mehrere Giraffen zu kaufen war kein besonders billiges Vorhaben. Der Anschaffungspreis war schon sehr hoch, dazu kamen noch die Kosten für den extrem komplizierten Transport in das Wildtierreservat. Sobald die Giraffen erst einmal dort angekommen waren, brauchten sie Unterkünfte und spezielles Futter, wobei Carol hoffte, dass nicht alle Giraffen solche Gourmets wie Millie sein würden. Denn die Vorliebe ihrer Giraffe für Brombeerblätter – genauer gesagt für die Blätter der Marionberry – war ein ziemlich teures Vergnügen.

Sie brauchte also sehr viel Geld. Und ein derartig hoher Betrag war nicht ganz einfach zusammenzubekommen. Doch langsam, aber sicher ging es voran. Und nur darauf kam es an. Schließlich hatte ihr Lieblingsgiraffenmädchen es verdient, glücklich zu sein.

Nachdem sie die volle Dose an der Theke abgegeben hatte, schaute Carol zu der großen Tafel hinüber, um herauszufinden, welches Turnier an diesem Montag dran war. Dann begann sie zu grinsen.

»Da sieht aber jemand schwer erfreut aus«, kommentierte ihre Freundin Pallas, als sie sich zu ihr gesellte. Die beiden Frauen umarmten einander.

»Ich liebe Cluedo.«

Pallas, eine Brünette mit haselnussbraunen Augen und einem unbeschwerten Lächeln, stöhnte. »Lass mich raten: Du findest immer heraus, wer der Mörder war und wo der Mord begangen wurde. Mir gelingt das nie. Ich kann mir all die vielen Details einfach nicht merken.«

»Deshalb bekommt man ja einen Block und einen Stift.«

»Aber wenn man alles aufschreiben muss, macht es nicht so viel Spaß. Okay, du Meisterdetektivin, willst du heute Abend bei uns am Tisch sitzen?«

»Klar.«

Sie machten sich auf den Weg zu dem Tisch. Kurz bevor sie dort ankamen, fiel Carol ein, dass früher oder später bestimmt auch Pallas’ Verlobter auftauchen würde. Nick war ein echt netter Typ – sie mochte ihn sehr. Das Problem war sein Bruder. Die große Frage war, ob der heute ebenfalls hier sein würde. Denn Carol war sich ganz und gar nicht sicher, ob sie Lust hatte, einen Abend neben Mathias Mitchell, dem großen Frauenschwarm von Happily Inc, zu verbringen.

Er wird mich doch sowieso nicht bemerken, rief sie sich ins Gedächtnis. Dafür war sie viel zu schlicht und unauffällig. In einer Tierherde hätte sie zu jenen Weibchen gehört, die von dem Alpha-Männchen schlichtweg übersehen werden. Und obwohl sie Mathias immer mit seiner Vorliebe für alle Brautjungfern aufzog, war es in Wahrheit keineswegs so, dass er sich für sämtliche Frauen einer Hochzeitsgesellschaft interessierte. Nein, sein Interesse war sehr viel spezifischer. Es galt nur der schönsten, der verführerischsten Single-Frau in der gesamten Gruppe.

Kurz gesagt: nicht ihr.

Carol setzte sich gegenüber von Pallas an den Tisch und griff nach der Karte. An den Turnierabenden gab es im Boardroom immer Fingerfood und spezielle Drinks – passend zum Spiel du jour. Carol begnügte sich trotz der sehr verlockenden Cocktails zumeist mit geeistem Kräutertee. Schließlich musste sie verdammt früh aufstehen, um ihre Tiere zu füttern.

Pallas blickte zur Tür hinüber, und Carol sah, wie das Gesicht ihrer Freundin plötzlich erstrahlte. »Okay«, sagte sie, »ich rate mal: Chris Pine ist gerade eben zur Tür hereingekommen.«

»Besser.« Pallas sprang auf. »Nick ist da.«

Das verlobte Paar umarmte sich. Nicks Kuss dauerte ein klein wenig länger, als der Anstand gebot. Nachdem er es schließlich doch geschafft hatte, sich von Pallas zu lösen, grinste er Carol an. »Wie geht’s dir? Und hast du schon von dieser Sache mit Mathias gehört?«

Nicks Laune ist viel zu gut, es kann nichts wirklich Schlimmes sein, sagte Carol sich. Sie schüttelte den Kopf. »Ich war den ganzen Tag draußen in der Savanne. Also habe ich nichts mitbekommen. Was ist passiert?«

Pallas verdrehte die Augen. »Ignoriere ihn einfach. Er ist gemein.«

»Das bin ich nicht«, protestierte Nick, während er sich neben sie setzte. »Aber ich gebe es zu: lieber er als ich.« Sein Grinsen kehrte zurück. »Unsere Mutter hat uns heute einen Besuch abgestattet. Und sie hat Sophie mitgebracht.«

Carol versuchte herauszufinden, was daran so witzig sein sollte. Sie hatte zwar schon von Elaine Mitchell gehört, sie aber nie getroffen. Und diese Sophie kannte sie ebenfalls nicht. Soweit ihr bekannt war, hatten Nick und Mathias keine Schwester. Also war Sophie vielleicht eine Cousine? Oder eine Exfreundin? Plötzlich spürte Carol, wie es ihr kalt den Rücken hinablief. Der Gedanke, dass Mathias eine Exfreundin vor die Haustür geliefert bekam, hatte etwas ziemlich Beunruhigendes an sich.

Pallas legte ihre Hand auf Nicks. »Sie hat keine Ahnung, wer Sophie ist, Sweetie. Also kann sie den Witz an der Sache gar nicht verstehen.«

»Sophie ist ein Beagle. Moms Hund. Meine Eltern werden einen Monat lang durch die Weltgeschichte reisen, deshalb hat Mom Sophie vorbeigebracht. Mathias soll auf sie aufpassen.« Er lachte herzhaft. »Ich bin frisch verliebt, deshalb wurde ich verschont.«

Ein Hund? War das nicht etwas Schönes? Carol mochte Hunde. »Aber was ist daran so komisch?«

»Du hast Sophie noch nicht getroffen«, erwiderte Nick grinsend. »Sie ist süß und sehr freundlich. Aber man sollte sich nicht von diesen großen braunen Augen täuschen lassen. Sophie terrorisiert alle in ihrer Umgebung. Sie ist eine Entfesselungskünstlerin, extrem eigenwillig und eine absolute Chaos-Queen. Der Hund war gerade einmal zehn Minuten in unserem Studio und hat es geschafft, in der Zeit etwa ein Dutzend unserer Glaskunstwerke zu zerstören. Und dabei war das noch nicht mal Absicht. Du glaubst gar nicht, was sie anrichten kann, wenn sie es wirklich darauf anlegt.«

Carol zuckte zusammen. »Geht es ihr gut? Hat sie sich Glassplitter in die Pfoten getreten oder sonst irgendwie verletzt?«

»Sophie geht es bestens. Wie immer. Bei all ihren Aktionen hat sie sich noch nie ernsthaft wehgetan. Jeder in ihrer Umgebung wird in den Strudel hineingerissen. Aber der Hund taucht jedes Mal wohlbehalten wieder daraus auf.«

»Nick übertreibt«, mischte sich Pallas ein. »Ich habe ja nur Fotos gesehen, aber Sophie ist wirklich ein süßer Hund. Mathias wird keinerlei Probleme mit ihr haben. Da bin ich mir ganz sicher.«

Nick schnaubte. »Sag ihm das.« Er deutete mit dem Kopf Richtung Tür.

Carol drehte sich um und entdeckte Mathias, der ein Hundebett unter dem Arm trug und von einem kleinen Beagle begleitet wurde. Sophie betrachtete ihre Umgebung voller Begeisterung und wedelte unablässig mit dem Schwanz. Sie war das Abbild eines liebenswerten, glücklichen Hundes.

»O ja, jetzt sehe ich es auch. Dieser Hund ist der reinste Teufel«, murmelte Carol. »Los, lass uns schnell fliehen, bevor es zu spät ist.«

»Spotte du nur. Du wirst schon sehr bald sehen, was ich meine«, entgegnete Nick in warnendem Tonfall.

Als Mathias und Sophie näherkamen, bemerkte Carol, dass die Beagledame eine Weste für Assistenzhunde trug, wie sie zum Beispiel auch Blindenführhunde anhatten. Unwillkürlich musste sie grinsen.

Mathias kam zu ihnen und ließ das Hundebett auf den Boden neben den Tisch fallen. »Ich will nichts hören. Kein einziges Wort«, knurrte er. »Ihr glaubt gar nicht, was das für ein Theater in den letzten Stunden war.«

Carol ließ ihren Blick von dem Beagle in seiner Begleithundeweste zurück zu Mathias gleiten. »Brauchst du den Hund als emotionale Unterstützung?«, erkundigte sie sich mit gespieltem Verständnis. »Hilft sie dir, mit den Flashbacks umzugehen, oder ist ihre Aufgabe eher, die sexy Brautjungfern auf Abstand zu halten?«

»Sehr witzig.« Mathias ließ sich auf den Stuhl neben ihr sinken. »Ich konnte sie ja schlecht allein zu Hause lassen. Die ganze Umgebung ist neu für sie. Laut meiner Mutter ist Sophie ein ausgebildeter Assistenzhund. Also habe ich ihr die Weste angezogen und sie mitgenommen.«

»Das ist so süß von dir«, erklärte Pallas. Dann drehte sie sich zu Nick um. »Siehst du? Alles läuft bestens.«

Nick lachte. »Mhm. Erzähl ihr den Rest der Geschichte.«

Mathias’ Miene nahm einen düsteren Ausdruck an. »Ich habe jetzt fünf Stunden mit ihr verbracht. Auf keinen Fall kann ich einen ganzen Monat lang auf sie aufpassen. Ich weiß wirklich nicht, was Mom sich dabei gedacht hat. Dieser Hund hat eine größere Ausrüstung dabei als ein komplettes NFL-Team: Leinen und Halsbänder, Kissen und Körbchen, massenhaft Spielzeug. Und dazu noch diese alberne Weste. Bevor Mom weggefahren ist, hat sie mir noch ein Notizbuch mit Anmerkungen gegeben. Es hat sechsundzwanzig Seiten voll mit Hinweisen, was ich alles zu beachten habe. Sechsundzwanzig!« Er schüttelte den Kopf und fuhr dann mit gesenkter Stimme fort: »Es gibt Dosenfutter, Trockenfutter und sogenannte ›Leckerli‹. Außerdem irgendein Zeug gegen Flöhe.«

»Und Gassibeutel?«, fragte Carol, während sie sich bemühte, das Lachen zu unterdrücken. »Dir ist klar, dass ein Hund ab und zu mal muss? Das geschieht zumeist bei einem Spaziergang. Deshalb brauchst du Plastikbeutel – damit du die Hundehaufen einsammeln und mit dir herumtragen kannst, bis ein Mülleimer auftaucht. Oh, und denk immer daran, die Beutel richtig gut zuzubinden, nachdem du den Haufen eingesammelt hast. Denn da ist dieser Geruch – du weißt schon.«

Mathias starrte sie an. »Hör sofort damit auf!«

Nick schüttelte den Kopf. »Bro, die Sache mit der Scheiße stimmt. Das hat sie sich nicht ausgedacht. Ist doch ganz normal. Wir müssen alle ab und zu.«

»Vielen Dank für die Info.« Mathias gab der Bedienung ein Zeichen. »Ich hätte gern ein Bier. Und wenn ich es möglichst schnell bekommen könnte, wäre das wirklich super. Vielen Dank!«

Auch die anderen bestellten Getränke. Nachdem die Bedienung weg war, schaute Pallas lächelnd zu Mathias. »Das klappt schon, ganz sicher. Du wirst sehen: Sophie ist bestimmt ein braves Mädchen. Am Ende wirst du sie gar nicht wieder hergeben wollen.«

»Und vielleicht kannst du auch etwas von ihr lernen«, erklärte Carol. »Hunde sind sehr loyale, aufmerksame Partner. Wobei … Vielleicht macht dich das eher nervös.«

»Du glaubst, das ist alles schrecklich witzig.«

»Ich weiß, dass es witzig ist«, entgegnete sie. »Komm schon. Sie ist einfach nur ein Hund. Menschen halten sich seit Tausenden von Jahren Hunde als Haustiere. Also wirst du es doch einen Monat lang schaffen.«

Mathias sah nicht sehr überzeugt aus.

Ihre Getränke kamen, und der Spieleabend begann. Die Regeln für Turniere im Boardroom sahen vor, dass an jedem Tisch so lange gespielt wurde, bis ein Gewinner feststand. Dann mussten diese Gewinner gegeneinander antreten, bis schließlich der Sieger des Abends ermittelt werden konnte.

Während sie würfelten und mit ihren Figuren auf dem Spielfeld von Raum zu Raum zogen, um Verdächtige auszuschließen und die Mordwaffe zu ermitteln, kamen Freunde und Bekannte am Tisch vorbei, um kurz Hallo zu sagen. Von den Besuchen profitierte Sophie, die mehr als einmal ein Stück Bacon oder Hamburger bekam. Der kleine Beagle nahm jede Spende behutsam entgegen und bedankte sich danach mit einem schnellen Handlecken.

Ja, dachte Carol, nachdem sie den Beagle eine Zeit lang beobachtet hatte. Sophie war eindeutig ein Hund, der gut erzogen und zudem daran gewöhnt war, mit fremden Menschen umzugehen. Die Horrorgeschichten der beiden Mitchell-Brüder waren total übertrieben. Typisch Mann mal wieder. Außerdem war ein Monat in Gesellschaft eines süßen kleinen Hundes genau das, was Mathias jetzt brauchte.

3. Kapitel

Mathias hatte Sophie die Regeln mehrfach erklärt: Sie war ein Gast in diesem Haus. Ein Tier, das zu Besuch war. Also war sie verpflichtet, auf ihn zu hören und zu tun, was er ihr sagte. Dazu gehörte unter anderem, dass sie im Wohnzimmer schlief und nicht bei ihm im Schlafzimmer. Okay, er hatte seine eigenen Regeln ein wenig aufgeweicht. Denn als es Zeit geworden war, ins Bett zu gehen, war ihm zum ersten Mal aufgefallen, was für ein großer dunkler Raum sein Wohnzimmer war. Noch dazu lag es ziemlich weit von seinem Schlafzimmer entfernt. Um seine Kompromissbereitschaft zu zeigen, hatte er daher das Hundebett in den Flur verschoben. Direkt vor seine Schlafzimmertür.

Alles war gut gegangen – zumindest acht bis zehn Sekunden lang. Dann hatte Sophie begonnen zu jaulen. Zuerst waren es nur ein paar vereinzelte Wimmerlaute gewesen, um zu zeigen, wie einsam sie sich fühlte. Doch aus dem Wimmern war bald darauf ein Heulen von ungeahnten Ausmaßen geworden. Schreckliche Laute drangen aus dem Flur ins Schlafzimmer herein. Laute, die von Schmerz, Leid und dem Gefühl totaler Verlassenheit erzählten.

Mathias zog das Kissen über den Kopf. Doch das half leider nicht. Er sagte sich, dass es bestimmt bald aufhören würde. Er musste nur kurz abwarten, der Hund würde sich garantiert an die neue Situation gewöhnen. Außerdem konnte Sophie das ja nicht ewig durchhalten. Fünfzehn Minuten später musste er sich jedoch eingestehen, dass Sophies Lungen offenbar ziemlich gut trainiert waren. Er stand auf, ging zur Tür und öffnete sie mit einem Ruck. Augenblicklich verstummten die Laute, und der Beagle wedelte erfreut mit dem Schwanz, als wolle er sagen: »Hey, da bist du ja. Ich wusste doch, dass du mich nicht im Stich lässt. Kann ich reinkommen?«

»Nein«, erwiderte er in bestimmtem Tonfall. »Sei leise. Und schlaf jetzt.«

Das Schwanzwedeln verlor etwas von seinem Schwung.

Er schloss die Tür hinter sich. Doch bevor er auch nur sein Bett erreicht hatte, begann das Geheul von Neuem.

Zehn Minuten später stand er auf, schnappte sich das verfluchte Hundebett und ließ es in einer Ecke des Schlafzimmers fallen. »Nur heute Nacht«, sagte er so streng wie möglich. »Du vermisst dein Frauchen, das verstehe ich. Aber du musst lernen, auch mal etwas unabhängiger zu werden, okay?«

Sophie saß in ihrem Hundebett und wedelte mit dem Schwanz.

»Gute Nacht.«

Er knipste das Licht aus.

Aus einer Sekunde wurden zehn, während er angespannt dalag und wartete. Sophie verhielt sich völlig ruhig. Nach einer Weile begann Mathias, sich zu entspannen. Er schloss die Augen. Doch plötzlich war das leise Klicken von Pfoten zu hören und ein Kratzen am Fußende der großen Matratze, als ob irgendjemand ins Bett klettern würde. Das Kratzen wurde abgelöst von einem weiteren Geräusch, als der kleine Beagle damit begann, auf der Bettdecke herumzuscharren und sich dabei immer wieder im Kreis zu drehen. Schließlich ließ sich Sophie auf die Decke plumpsen – ungefähr auf halber Höhe des Betts und deutlich mehr auf seiner Matratzenseite als auf ihrer. Mathias holte tief Luft. Doch bevor er herausfinden konnte, was zum Teufel er jetzt tun sollte, seufzte sie einmal und begann dann zu schnarchen.

Mathias starrte an die Decke und sagte sich, dass es ja nur für einen Monat war. Damit würde er klarkommen. Natürlich würde er das. Schließlich konnte es kaum noch schlimmer werden, als es jetzt schon war.

Es wurde schlimmer. Mathias gelang es immerhin, einige Stunden Schlaf zu bekommen – trotz des Schnarchens, Schnaufens und Zuckens, während Sophie ihre Hundeträume träumte. Am nächsten Morgen ließ er sie hinaus, bevor er sie fütterte. Der Geruch des Dosenfutters war widerlich, und aus irgendeinem absurden Grund musste er das Zeug dann noch mit Trockenfutter mischen. Zu trocken durfte es allerdings auch nicht sein, weshalb er dann wiederum sechzig Milliliter Wasser hinzugeben musste (warm, aber nicht zu warm), bevor er die ganze Angelegenheit umrührte. Laut der Notizen seiner Mutter hätte die Mischung noch mit einer kross gebratenen Bacon-Scheibe verfeinert werden sollen. Aber an diesem Punkt hatte er entschieden, dass es jetzt genug war.

Sophie hatte ihr Frühstück verschlungen, bevor es der Keurig-Kaffeemaschine gelungen war, auch nur eine einzige Tasse zu brauen. Sogleich blickte der Beagle ihn erwartungsvoll an. Offenbar hatte Sophie noch Hunger.

»Schau mal, das musst du mit deinem Frauchen klären«, sagte er zu ihr. »Ich habe alles genau abgemessen. Das war dein Frühstück. Mehr gibt es nicht.«

Die Hoffnung in ihren großen braunen Augen erstarb, und das Schwanzwedeln wurde langsamer. Mathias bemühte sich, den betrübten Hundeblick und seine eigenen Schuldgefühle zu ignorieren, schnappte sich seine Kaffeetasse und ging zurück ins Schlafzimmer.

Sich für die Arbeit fertig zu machen war deutlich komplizierter, wenn ein Hund anwesend war. Zum einen schaffte es Sophie, ihm ständig zwischen die Füße zu laufen. Zum anderen musste sie alles beschnüffeln. Und als er sich dann auszog, um zu duschen, hätte er schwören können, dass sie ihn mehr als nur leicht kritisch beäugte.

»Niemand hat dich nach deiner Meinung gefragt«, erklärte er ihr, bevor er unter die Dusche flüchtete. »Im Ernst, schau mich nicht so an.«

Als er fertig geduscht hatte, versuchte sie, nach seinem Handtuch zu schnappen. Dann trank sie Wasser aus der Toilettenschüssel. Und als er zur Gassirunde mit ihr aufbrach, hätte der Haufen, den sie produzierte, einem ausgewachsenen Elch zur Ehre gereicht. Also ging er zurück ins Haus und holte einen zweiten Beutel.

Nachdem das alles vollbracht war, setzte Mathias sich auf die Veranda, um ein wenig Morgenstille zu genießen. Er sah, wie am anderen Ende des Grundstücks Millie zwischen ein paar großen Bäumen hervortrat. Sophie warf einen Blick auf die Giraffe. Dann begann sie zu bellen, als würde es um ihr Leben gehen.

Er befahl ihr aufzuhören. Dann wiederholte er den Befehl, nur wesentlich lauter. Schließlich sperrte er sie im Haus ein, aber selbst durch die geschlossene Tür konnte er noch immer das hysterische Jaulen, Bellen und Knurren hören.

Mathias setzte sich auf seinen Lieblingsverandastuhl. Dann schloss er die Augen und stellte sich vor, er wäre irgendwo anders. Egal wo. Nur nicht hier.

»Sie hatte Glück. Vermutlich wird nicht mal eine Narbe zurückbleiben«, sagte Carol am Dienstagnachmittag sichtlich erfreut.

Violet Lund versuchte, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Lunch mit ihrer Schwester war etwas, auf das sie sich immer freute. Obwohl sie in derselben Kleinstadt lebten, hatte sie beide viel zu tun. Deswegen hatten sie sich irgendwann auf einen festen Termin geeinigt, da sonst erfahrungsgemäß nichts aus den geplanten Treffen wurde.

Heute war Violet extra früh aufgestanden, um Geflügelsalat zu machen und noch schnell in der Bäckerei vorbeizuschauen und die Kekse zu kaufen, die Carol so sehr mochte. Jetzt saßen sie an dem großen Tisch in Violets Apartment, das sich über ihrem Laden befand. Und leider musste sie feststellen, dass ihre Aufmerksamkeit ständig abschweifte.

Es ist nicht deine Schuld, versicherte sie sich. Bei einer derartigen Verlockung hätte sich kein normaler Mensch auf ein Gespräch konzentrieren können. Denn dort drüben auf der Arbeitsplatte, fast in Reichweite, befand sich ein Paket von der Größe einer Schuhschachtel.

Die vielen bunten Briefmarken hatten ihr verraten, dass das Paket aus England kam – von der verwitweten Duchess of Somerbrooke, um genau zu sein. Violet hatte eine ungefähre Vorstellung, was sich in dem Paket befand. Aber genau wusste sie es nicht. Wie sollte sie auch, sie hatte es ja noch nicht geöffnet.

Oh, wieso ist die Post nicht nach dem Lunch mit Carol gekommen, dachte Violet. Dann würde sie jetzt nämlich nicht völlig hibbelig auf ihrem Stuhl herumrutschen wie ein vierjähriges Kind am Weihnachtsmorgen.

»Für ihre Modelkarriere«, beendete Carol, was auch immer sie bisher erzählt hatte. »Du weißt schon, mit der großen Kaffeerösterei.«

Violet konzentrierte sich auf ihre Schwester und versuchte, im Eilverfahren die Informationsfetzen zusammenzusetzen, an die sie sich noch erinnern konnte. Sie war sich relativ sicher, dass Carol zuletzt über Bronwen und deren Verletzung gesprochen hatte. Bronwen war eine Gazelle. Und zwar in dem Wildtierreservat, das Carol betrieb … oder managte … oder wie immer man den Job der Person bezeichnete, die für all die Tiere verantwortlich war. Tierpfleger?

Stopp! Das ist jetzt nicht wichtig, rief sie sich selbst zur Ordnung. Also noch mal: Sie hatten über Bronwen gesprochen. Aber wie zum Teufel waren sie von da zu der Sache mit der Modelkarriere gekommen? Und wer war …

Die Puzzlestücke wollten einfach nicht an ihren Platz fallen. Violet seufzte.

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